Chile als Modell für Lateinamerika? Die Wirtschaftsreformen in Argentinien, Brasilien und Chile im Vergleich
Hartmut Sangmeister
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Zusammenfassung
Die meisten Länder Lateinamerikas befinden sich in einem doppelten Transformationsprozeß: in einem Prozeß der politisch-institutionellen (Re-) Demokratisierung sowie in einem wirtschaftlichen Reform-und Modernisierungsprozeß. Bei einem Vergleich dieser Entwicklung in Chile mit derjenigen in Argentinien und Brasilien zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede. Am weitesten sind die Wirtschaftsreformen in Chile gediehen. Die wirtschaftliche Erfolgsstory hält bereits seit mehreren Jahren an. Insgesamt signalisieren die gesamtwirtschaftlichen Indikatoren für die chilenische Volkswirtschaft Solidität und Dynamik, so daß das Land bestens gerüstet erscheint, sich den Herausforderungen des Globalisierungsprozesses zu stellen. Aber das chilenische „Wirtschaftswunder“ hat auch Schattenseiten. Insbesondere die soziale Bilanz der chilenischen Reformpolitik bleibt bislang zwiespältig. Auch der politische Transformationsprozeß kann kaum als Modell für Lateinamerika gelten, solange in Chile demokratisch fragwürdige Institutionen des Militärregimes legal fortbestehen. Argentinien hat sich seit dem Amtsantritt von Präsident Menem stärker verändert, als es die meisten Beobachter für möglich gehalten hätten; in politischer und ökonomischer Hinsicht fanden wichtige Weichenstellungen für die zukünftige Entwicklung statt. Wie dringlich der weitere Reformbedarf für den Finanzsektor des Landes und seine Außenwirtschaft war, zeigte sich 1995, als Argentinien von der mexikanischen Peso-Krise schwer getroffen wurde. Argentinien erwies sich aber als fähig, erfolgreich den Tequila-Effekt zu überwinden, das Vertrauen ausländischer Kapitalanleger wiederzugewinnen, die Inflationsrate nahe Null zu bringen und auf gesamtwirtschaftlichen Wachstumskurs zu gelangen. In Brasilien ist erst später gelungen, was in Chile und Argentinien schon früher erfolgreich vorgeführt worden war: die Rückgewinnung von Geldwertstabilität und gesamtwirtschaftlicher Wachstumsdynamik sowie Fortschritte bei der demokratischen Konsolidierung. Während der Redemokratisierungsprozeß Mitte der achtziger Jahre einsetzte, gelang es erst 1994/95 mit dem Plano Real -dem ambitiösen Stabilisierungsprogramm für die brasilianische Volkswirtschaft des Präsidenten Cardoso -, in relativ kurzer Zeit deutliche Erfolge bei der Wiedergewinnung makroökonomischer Stabilität zu erzielen. Brasilien hat seit einigen Jahren auch wieder Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten gewonnen; in der Wiederaufnahme des privaten Kapitalzuflusses schlägt sich eine gegenüber den achtziger Jahren positiv veränderte Bewertung des wirtschaftlichen Potentials der größten lateinamerikanischen Volkswirtschaft nieder. Nachhaltiger Erfolg kann den wirtschaftspolitischen Reformen aber nur dann beschieden sein, wenn sie auch sozial abgesichert werden.
I. Der doppelte Transformationsprozeß in Chile, Argentinien und Brasilien
Lateinamerika befindet sich in einem doppelten Transformationsprozeß: in einem Prozeß der politisch-institutionellen (Re-) Demokratisierung sowie in einem wirtschaftlichen Reform-und Modernisierungsprozeß. Allerdings zeigen sich länder-spezifische Unterschiede sowohl im zeitlichen Ablauf als auch in der Ausgestaltung dieses doppelten Transformationsprozesses. Besonders deutlich wird dies bei einem Vergleich der Entwicklung in Chile mit derjenigen in Argentinien und Brasilien.
In Chile erfolgten die grundlegenden Wirtschaftsreformen neoliberaler Prägung bereits während der Militärdiktatur des General Pinochet, d. h. während der siebziger Jahre und damit zeitlich wesentlich früher als der politische Redemokratisierungsprozeß, der formal erst mit der Präsidentschaft von Patricio Aylwin (seit März 1990) einsetzte Das Pinochet-Regime unterzog Chile unter Ausschaltung jeglicher Opposition einer „neoliberalen Roßkur“, d. h. einer kurzfristigen radikalen Strukturanpassung, der eine tiefe Rezession mit zahlreichen Unternehmenszusammenbrüchen folgte; dennoch kann in Chile seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre von einem „neoliberalen Konsens“ bis hinein in die Reihen der Klein-und Mittelunternehmen gesprochen werden
In Argentinien wurde mit dem Beginn der Redemokratisierung im Jahre 1983 unter der Regierung von Präsident Raül Alfonsin eine rechtliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen der. Militärs eingeleitet. Die neue zivile Regierung leistete wichtige Beiträge zur Herstellung rechtsstaatlicher und demokratischer Verhältnisse; aber die wirtschaftliche Dauerkrise des Landes bekam die Regierung Alfonsin nicht in den Griff. Erst mit der Wahl des Peronisten Carlos Saul Menem 1989 zum neuen Präsidenten, die viele Beobachter einen Rückfall in den Populismus befürchten ließ, begann der wirtschaftliche Reformprozeß mit einem radikalen Übergang zu einer marktorientierten Wirtschaftspolitik. Die erfolgreiche Wiedergewinnung gesamtwirtschaftlicher Stabilität verschaffte der peronistischen Regierung bei den Wahlen nach 1989 einen deutlichen Rückhalt in der Bevölkerung und ermöglichte -nach einer nicht unumstrittenen Verfassungsreform -im Mai 1995 auch die Wiederwahl Menems für eine zweite Amtszeit.
In Brasilien begann der Redemokratisierungsprozeß Mitte der achtziger Jahre mit dem Übergang von der Militärherrschaft zu einer Regierung der zivilen Opposition aufgrund von Absprachen mit den Militärs über Grenzen und Formen des transitorischen Prozesses Das Erneuerungspotential der „Neuen Republik“ erwies sich allerdings als sehr begrenzt, da das Arrangement des Regimewechsels einen Bruch mit den ehemaligen Träger-gruppen der autoritären Herrschaft verhinderte und die personelle Erneuerung des Staatsapparates verlangsamte. Nach mehreren gescheiterten Versuchen mit gesamtwirtschaftlichen Stabilisierungsprogrammen wurden grundlegende wirtschaftspolitische Reformen erst im Frühjahr 1990 mit dem Plano Brasil Novo des neugewählten Präsidenten Fernando Collor de Mello in Gang gesetzt Das neoliberale Reformprojekt der Colloreconomics erwies sich jedoch sehr rasch als politisches und ökonomisches Debakel; statt der versprochenen finanziellen Solidität und wirtschaftlichen herrschten Rezession Prosperität und Hyperinflation. Der Reformversuch endete mit der Amtsenthebung des Präsidenten. Erst 1994/95 gelang es Präsident Fernando Henrique Cardoso, mit seinem Plano Real in relativ kurzer Zeit deutliche Erfolge bei der Wiedergewinnung makroökonomischer Stabilität zu erzielen -nachdem in den zehn Jahren zuvor ein halbes Dutzend Versuche zur Währungsstabilisierung gescheitert waren
Unübersehbar hat sich nicht nur in den drei hier betrachteten Ländern, sondern in den meisten Staaten Lateinamerikas ein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel vollzogen. An die Stelle der importsubstituierenden Industrialisierungsstrategie, die in einigen Volkswirtschaften der Region mehr als fünf Dekaden verfolgt wurde, ist das Konzept der Weltmarktintegration getreten. Das Grundschema der lateinamerikanischen Wirtschaftsreformen läßt sich durch die zentralen Begriffe des Washingtoner Konsensus skizzieren: makroökonomische Stabilisierung, Privatisierung der unternehmerischen Aktivitäten des Staates, Deregulierung der Marktbeziehungen sowie Liberalisierung der nationalen Kapitalmärkte und der Außenwirtschaft. Hinzu kommt als spezifisch lateinamerikanische Komponente die bi-und multilaterale Konzertation, d. h. die politische Abstimmung der neuen Kooperations-und Integrationsdynamik im (sub-) regionalen Verhältnis
Der Gedanke regionaler Integration und enger wirtschaftlicher Kooperation hat im Zuge der konzeptionellen Neuorientierung der lateinamerikanischen Wirtschaftspolitik eine neue Interpretation erhalten. Den zahlreichen bi-und multilateralen Projekten (sub-) regionaler Integration und Kooperation, die derzeit in Lateinamerika und in der Karibik gestaltet werden, ist gemeinsam, daß sie -anders als früher -nicht mehr als „Integration gegen den Weltmarkt“ konzipiert sind, sondern als pragmatische Zwischenschritte auf dem Weg zu dem weitergehenden Ziel der Weltmarktintegration. Vor allem mit dem Mercado Comün del Cono Sur (MERCOSUR) entsteht im südlichen Lateinamerika ein sich außerordentlich dynamisch entwikkelnder integrierter Wirtschaftsraum. Innerhalb Lateinamerikas stellt MERCOSUR gegenwärtig das mit Abstand wirtschaftlich potenteste Süd
Süd-Integrationsprojekt dar Über 200 Millionen Menschen leben in den vier MERCOSUR-Mitgliedstaaten, das sind rund 42 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung; an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung Lateinamerikas sind die MERCOSUR-Staaten derzeit mit rund 57 Prozent beteiligt Bei anhaltendem Wirtschaftswachstum wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der vier Gründungsstaaten des MERCOSUR am Ende dieses Jahrhunderts zusammen etwa 1, 3 Billionen US-Dollar erreichen Eine entsprechende Wirtschaftskraft würde beispielsweise die VR China erst erlangen, wenn ihr BIP bis zum Jahre 2000 jährlich um 16 Prozent wüchse Der MERCO-SUR ist auch im Vergleich zu anderen Wirtschaftsräumen in vielerlei Hinsicht ein Markt mit Zukunft. Durch Bündelung und Kanalisierung der finanziellen Mittel und des Know-how, die vor allem in Argentinien und Brasilien bereits vorhanden sind, könnte die „kritische Masse“ erreicht werden, die für eine dynamische ökonomische und technologische Entwicklung in der Region erforderlich ist.
Ein wichtiges Ergebnis der Wirtschaftsreformen in Lateinamerika ist die Redynamisierung seiner Volkswirtschaften, die spätestens seit Beginn der neunziger Jahre eingesetzt hat. Lateinamerika ist derzeit eine der wichtigsten Wachstumsregionen der Welt, und auch für die kommenden Jahre werden die wirtschaftlichen Wachstumschancen des lateinamerikanischen Subkontinents überwiegend als günstig eingeschätzt. Diese positive Beurteilung schlägt sich u. a. in der marktmäßigen Bewertung des Anlegerrisikos nieder: Während Lateinamerika in den achtziger Jahren zu einem (Netto-) Kapitalexporteur geworden war, konnte es in den zurückliegenden Jahren wieder einen bemerkenswerten Zufluß privaten ausländischen Kapitals registrieren.
So wie die „kleinen Tiger“, die erfolgreichen süd-ostasiatischen Ökonomien, den Sprung in den Weltmarkt geschafft haben und sich ein immer größeres Stück der Beute nehmen konnten (auch wenn sie inzwischen unübersehbar Zeichen nachlassender Sprungkraft zeigen), so wird auch den südamerikanischen „Jaguaren“ zugetraut, sich in den Weltmarkt zu integrieren und im globalen Wettbewerb durchaus vorteilhaft zu bestehen.
II. Modellfall Chile?
Am weitesten sind die institutioneilen und funktionellen Reformen der Wirtschaft und des öffentlichen Sektors in Chile gediehen. Das Wall Street Journal hat in dem zusammen mit der Heritage Foundation veröffentlichten „ 1998 Index of Economic Freedom“ Chile auf dem 17. Rang plaziert und damit weit vor Argentinien (39. Rang) und Brasilien (96. Rang) In dem Ranking des World Economic Forum der 30 konkurrenzfähigsten Länder im Jahre 1997 lag Chile gar an 13. Stelle, deutlich vor Deutschland (25. Stelle) Chile gilt heute vielen Beobachtern als Modell für ganz Lateinamerika, als erfolgreichster der lateinamerikanischen Jaguare, die zum Sprung in den Club der reichen Länder angesetzt haben.
Die wirtschaftliche Erfolgsstory Chiles währt nun bereits mehrere Jahre. Mit einem durchschnittlichen jährlichen Zuwachs des BIP von 7, 3 Prozent konnte Chile in der ersten Hälfte der neunziger Jahre (1990-1995) die höchsten gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten in ganz Lateinamerika registrieren 13. Hatte die chilenische Volkswirtschaft in den siebziger Jahren einen Anteil von knapp drei Prozent an dem lateinamerikanischen BIP, so tragen heute -nach fast zwei Dekaden ununterbrochenen Wirtschaftswachstums -die 14, 6 Millionen Chileninnen und Chilenen (ca. drei Prozent der lateinamerikanischen Gesamtbevölkerung) 3, 5 Prozent zu der regionalen Wertschöpfung bei. Die chilenische Volkswirtschaft hat nicht nur eine bemerkenswert stetige Wachstumsdynamik erlangt, sondern sie weist auch relative Stabilität auf; 1997 war die Inflationsrate mit 5, 6 Prozent (gegenüber noch 26 Prozent im Jahre 1990) auf den niedrigsten Stand seit 35 Jahren gesunken 14.
Die Vorzüge des Wirtschaftsstandorts Chile wissen ausländische Kapitalbesitzer zu schätzen. 1996 floß privates (Netto-) Auslandskapital in Höhe von 6, 8 Mrd. US-Dollar nach Chile; im selben Jahr erreichten die ausländischen (Netto-) Direktinvestitionen in Chile mit rund drei Mrd. US-Dollar einen neuen Höchstwert 15. Zwar ist die chilenische Leistungsbilanz seit Jahren (fast immer) passiv (1997: -2, 8 Mrd. US-Dollar), aber die externen (Netto-) Kapitalzuflüsse übersteigen den Devisen-bedarf zur Abdeckung des Leistungsbilanzdefizits, so daß die zentralen Devisenreserven der Banco Central de Chile allein 1997 erneut um 3, 9 Mrd. US-Dollar zugenommen haben 16. Ende 1997 verfügte die chilenische Zentralbank über Reserven in Höhe von 17, 8 Mrd. US-Dollar, so daß auch eine zeitweilige weitere Verschlechterung der Leistungsbilanzsituation ohne Schwierigkeiten bewältigt werden könnte.
Chile zeigt sich nicht nur außenwirtschaftlich erfolgreich, sondern auch die binnenwirtschaftlichen Reformen sind weit vorangekommen. Als Ergebnis der soliden chilenischen Finanzpolitik wird seit 1987 kontinuierlich ein Überschuß im Staatshaushalt erwirtschaftet, der in den letzten fünf Jahren (1992-96) durchschnittlich rund 3, 2 Prozent des BIP betrug 17. Damit ist Chile innerhalb Lateinamerikas Spitzenreiter. Als ein positiver Effekt der surplus budget policy gilt die dadurch mögliche Ausweitung der gesamtwirtschaftlichen Spar-und Investitionsquoten. Und in der Tat: Die Bruttoinlandsinvestitionen haben in Chile während der Zehnjahresperiode von 1987 bis 1996 real um durchschnittlich Prozent pro Jahr zugenommen; die Investitionsquote erreichte Mitte der neunziger Jahre einen Wert von 28 Prozent des BIP (gegenüber 21 Prozent im Jahre 1980) 18. Da auch die Bruttoinlandsersparnis kräftig gestiegen ist (1996 erreichte sie 26 Prozent des chilenischen BIP, gegenüber nur Prozent im Jahre 1980), konnte die „Sparlücke“ -ein für Lateinamerika typisches Entwicklungshemmnis -nahezu geschlossen werden; damit ist die chileni-sehe Volkswirtschaft weniger als andere Ökonomien der Region auf die Inanspruchnahme ausländischer Ersparnis angewiesen.
Chile gehört -neben Argentinien, Kolumbien, Panama und Peru -zu den (wenigen) lateinamerikanischen Staaten, die damit begonnen haben, ihre Arbeitsgesetzgebung zu reformieren und zu vereinfachen bereits 1979 wurden Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen mit dem Plan Laboral an das neoliberale Paradigma der Wirtschaftspolitik angepaßt. Hingegen gilt beispielsweise in Brasilien noch immer das antiquierte, korporatistisch geprägte Arbeitsrecht ConsolidaQäo das Leis do Trabalho (CLT) aus dem Jahre 1943. Durch die Liberalisierung des chilenischen Arbeitsrechts und der Arbeitsmarktbeziehungen hat sich das geltende System der Abfindungszahlungen bei Entlassungen sozialpolitisch als nicht mehr tragfähig erwiesen, so daß die Einführung einer gesetzlichen Arbeitslosenversicherung (PROTAC) notwendig wurde. Nach dem Vorbild der reformierten Altersversicherung wird auch die neue chilenische Arbeitslosenversicherung auf der Basis eines individuellen Kapitalstockverfahrens gestaltet
Insgesamt signalisieren die gesamtwirtschaftlichen Indikatoren für die chilenische Volkswirtschaft Solidität und Dynamik, so daß das Land bestens gerüstet erscheint, sich den Herausforderungen des Globalisierungsprozesses zu stellen, in den auch Chile zunehmend einbezogen wird. Chile verfolgt dabei die Politik, sich den Zugang zu möglichst vielen Wirtschaftsblöcken offenzuhalten. Im Oktober 1996 ratifizierte der chilenische Kongreß das Assoziierungsabkommen mit dem MERCO-SUR. Ende 1996 wurde ein Freihandelsabkommen mit Kanada geschlossen, das im Juni 1997 in Kraft getreten ist. Durch dieses bilaterale Abkommen soll die Assoziierung mit dem North American Free Trade Agreement (NAFTA) -der Freihandelszone zwischen Kanada, den USA und Mexiko -erleichtert werden, die Chile in absehbarer Zeit zu erreichen hofft; außerdem unterstützt Chile die Free Trade Area of the Americas-Initiative (FTAA).
Anhaltend stetiges Wirtschaftswachstum und niedrige Inflationsraten sind unbestreitbare Erfolge der chilenischen Wirtschaftspolitik. Dennoch hat das chilenische „Wirtschaftswunder“ auch seine Schattenseiten. Nach wie vor bestehen tiefgreifende sektorale, regionale und soziale Ungleichgewichte. Insbesondere die soziale Bilanz der chile-nischen Reformpolitik bleibt bislang zwiespältig: Einerseits ist die Zahl der Armen nach offiziellen Angaben bis Ende 1996 auf 23, 2 Prozent (3, 3 Mio.) der Bevölkerung zurückgegangen, andererseits hat sich die Einkommensverteilung weiter zugunsten der reichen Chilenen verschoben. Hatten 1989 die 20 Prozent der ärmsten Einwohner Chiles noch einen An 2 Prozent (3, 3 Mio.) der Bevölkerung zurückgegangen, andererseits hat sich die Einkommensverteilung weiter zugunsten der reichen Chilenen verschoben. Hatten 1989 die 20 Prozent der ärmsten Einwohner Chiles noch einen Anteil von 3, 7 Prozent des Gesamteinkommens, so ist ihr Anteil 1994 auf 3, 5 Prozent gesunken; im selben Jahr flossen den 20 Prozent an der Spitze der Einkommenspyramide 61 Prozent des Gesamteinkommens zu 21. 1993 betrug das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der 20 Prozent an der Spitze der Einkommens-pyramide mehr als das Siebzehnfache des chilenischen Durchschnittseinkommens 22.
Eine von dem chilenischen Planungsministerium MIDEPLAN in Auftrag gegebene Studie kam zu dem Ergebnis, daß Ende 1996 5, 8 Prozent der chilenischen Bevölkerung in extremer Armut lebten, d. h. nicht in der Lage waren, ihre materiellen Grundbedürfnisse zu befriedigen; von den unter 15jährigen lebten rund 45 Prozent in Armut, und rund 13 Prozent der zwischen 12-und 14jährigen verrichteten regelmäßig Arbeit 23.
Die sozialen Spannungen innerhalb der chilenischen Gesellschaft zeigen sich verstärkt in Streiks und ähnlichen Konflikten: im Gesundheitssektor, im Kohlebergbau, bei den Lehrern, im Transport-sektor, in der Landwirtschaft. So konnten beispielsweise die zunehmend konfliktbereiten Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst 1996 Lohn-und Gehaltserhöhungen von 9, 2 Prozent durchsetzen, die damit deutlich über der Inflationsrate (und wohl auch über dem Produktivitätszuwachs des öffentlichen Dienstes) lagen. Dem strikten Konsolidierungskurs der staatlichen Wirtschafts-und Finanzpolitik stehen die zunehmend lauter zu hörenden Forderungen entgegen, daß die Demokratie in Chile zu einem Abbau der sozialen Probleme führen müsse und daß das Schicksal des Landes nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit gesehen werden dürfe Mit dem Fondo de Solida-ridad y Inversion Social (FOSIS) hat sich die chile-nische Sozialpolitik ein neues, wenn auch finanziell bislang noch relativ gering ausgestattetes Instrument geschaffen. Dem Präsidenten direkt unterstellt und vom Planungsministerium verwaltet, soll FOSIS zur Bekämpfung der extremen Armut dienen und Kleinstunternehmen des informellen Sektors fördern
Neben der zwingenden Notwendigkeit einer sozialen Absicherung neoliberaler Wirtschaftsreformen zeigt das Beispiel Chile zudem auch sehr deutlich, daß eine ressourcenbasierte Spezialisierung zu den Konditionen des Weltmarktes zu einer starken Übernutzung der Umwelt (Wasser, Böden, Wald) führen kann; die Forcierung eines weitgehend unregulierten privatwirtschaftlichen Zugriffs auf die natürlichen Ressourcen zwecks „Inwertsetzung“ für den Weltmarkt könnte längerfristig katastrophale ökologische Folgen haben. Eine staatliche Umweltschutzpolitik ist in Chile bislang aber nur ansatzweise erkennbar. Immerhin 89 Prozent der Chilenen sind Meinungsumfragen zufolge der Ansicht, daß das Problem der Umweltverschmutzung jetzt und nicht erst in Zukunft in den Blick genommen werden müsse In Chile ist spätestens nach erfolgreicher Beendigung des doppelten Transformationsprozesses und bei anhaltendem Wirtschaftswachstum der Augenblick gekommen, in dem das Thema Umweltschutz und ökologisch verträgliches Wirtschaften auf die politische Agenda gesetzt werden muß.
III. Der verunsicherte „Jaguar“: Argentinien
Argentinien hat sich seit dem Amtsantritt von Präsident Menem stärker verändert, als die meisten Beobachter erwartet und für möglich gehalten hätten. In politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht fanden Weichenstellungen statt, welche die weitere Entwicklung nachhaltig prägen werden. Paradoxerweise schaffte es erst der zum Staats-präsidenten gewählte Peronist Menem, das rigide argentinische System der Quasi-Staatsgewerkschaften aufzubrechen und weitreichende Reformen im Sinne einer neoliberalen Wirtschaftspolitik zu erzwingen. Charakteristisch für die argentinische Volkswirtschaft war (und ist) ihr ausgeprägter Dualismus: auf der einen Seite moderne, exportorientierte Unternehmen und auf der anderen Seite kleine, traditionelle Betriebe mit antiquierten Produktionsmethoden, die in erster Linie für den Binnenmarkt produzieren. Der neoliberale Reformkurs und die Öffnung des argentinischen Binnenmarkts für ausländische Anbieter haben zu einem starken Abbau von Arbeitsplätzen im industriellen und öffentlichen Sektor geführt, der nur zu geringen Teilen durch den privaten Dienstleistungsbereich kompensiert wird. Das Problem der Hyperinflation hat die Regierung Menem bislang relativ erfolgreich in den Griff bekommen, u. a. durch die Bindung des Peso an den US-Dollar Allerdings mußte der Preis für die Wechselkursfixierung in der Handelsbilanz bezahlt werden: der überbewertete Peso verteuerte die Exportprodukte und schadete den ausfuhrorientierten Wirtschaftszweigen, während billige Importe die Kosten drückten und den binnenmarktorientierten Produzenten Konkurrenz machten. Zeitweise (1994) wurden in der argentinischen Handelsbilanz Defizite von über vier Mrd. US-Dollar registriert. Ohnehin weist die argentinische Leistungsbilanz seit langem einen Passivsaldo aus, der aber seit Beginn der neunziger Jahre durch ausländische Nettokapitalzuflüsse (über-) kompen-siert wird. Allerdings handelt es sich bei diesen externen Kapitalzuflüssen in hohem Maße um Portfoliokapital (Wertpapiere), das sehr schnell wieder abgezogen werden kann, wenn das Vertrauen der internationalen Anleger schwindet.
Wie prekär eine Zahlungsbilanzsituation ist, in der ein hohes Leistungsbilanzdefizit hauptsächlich durch ausländische Portfolioinvestitionen (Kapitalanlagen in Wertpapieren) ausgeglichen wird, mußte Argentinien sehr schmerzlich Anfang 1995 erleben, als es als erstes Land von der mexikanischen Peso-Krise betroffen wurde und den Tequila-Effekt (Beeinträchtigung der Börse durch die Peso-Abwertung) am stärksten zu spüren bekam. Argentinien hatte -nach Mexiko -in den Jahren von 1990 bis 1993 die höchsten Kapitalzuflüsse in Lateinamerika zu verzeichnen. 1993 war Argentinien das Anlageland für 18 Prozent des Auslandskapitals, das nach Lateinamerika floß wobei es sich dabei allerdings überwiegend um Portfolioinvestitionen (26, 4 Mrd. US-Dollar) handelte. Nach der drastischen Abwertung des mexikanischen Peso zogen internationale und inländische Anleger in großem Maße auch Kapital aus Argentinien ab -sieben Mrd. US-Dollar innerhalb weniger Wochen Der argentinische Börsenindex fiel in der Zeit vom 20. Dezember 1994 bis Anfang März 1995 um 41 Prozentpunkte Um den Investoren eine höhere Risikoprämie für ihre Kapitalanlagen bieten zu können, reagierte die argentinische Wirtschaftspolitik mit drastischen Zinserhöhungen; so stieg z. B. die Interbankenrate vom 19. Dezember 1994 bis zum 3. März 1995 von 9, 5 Prozent auf 65 Prozent Die durch den Tango-Effekt (Abzug von Kapital an der Börse) infolge des Tequila-Effekts verursachte Einschränkung der monetären Basis führte in eine akute Liquiditätskrise des argentinischen Bankensektors; der starke Abzug von Depositen, der Verfall der Aktienkurse und der Preise von Staatsschuldverschreibungen mündeten 1995 in der Zahlungsunfähigkeit von 47 Banken, immerhin ca. ein Viertel des argentinischen Bankensektors
Nach vier Jahren hoher gesamtwirtschaftlicher Wachstumsraten mußte Argentinien 1995 einen Einbruch verzeichnen; die Industrieproduktion sank um sieben Prozent, das BIP um 4, 6 Prozent. Als Hauptgründe für den starken Einbruch lassen sich ähnliche makroökonomische Eckdaten nennen, wie sie auch Mexiko 1994 aufwies: vor allem ein hohes Leistungsbilanzdefizit, ein real überbewerteter Wechselkurs sowie eine geringe inländische Sparquote
Die Gewährung eines umfangreichen Kredits als Teil eines internationalen Hilfsprogramms sowie die Ankündigung verstärkter Bemühungen der argentinischen Regierung zur Haushaltskonsolidierung durch Einnahmesteigerungen (u. a. Mehrwert-steuererhöhung) und Ausgabenkürzungen halfen, das Vertrauen ausländischer Anleger wiederzugewinnen; vor allem die Entscheidung der Regierung, trotz des wachsenden Drucks auf die argentinische Währung die Wechselkursfixierung des Peso gegenüber dem US-Dollar beizubehalten (um der Inflation keinen Raum zu geben), brachte ihr international Anerkennung ein. Bereits im März 1996 waren die internationalen Kapitalzuflüsse nach Argentinien wieder auf dem Stand vom November 1994
Die wichtigsten Ergebnisse in der makroökonomischen Erfolgsbilanz der argentinischen Wirtschaftsreformen sind: -Das argentinische Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt (BSP) war 1996 mit 8 380 US-Dollar mehr als zweieinhalbmal höher als 1990, fast doppelt so hoch wie der brasilianische Vergleichswert (4 400 US-Dollar) bzw. wie das chilenische Pro-Kopf-BSP (4 860 US-Dollar); 1990 hatte das chilenische Pro-Kopf-BSP noch 66 Prozent des argentinischen Vergleichswertes betragen.
-Mit einer Inflationsrate, die 1997 deutlich unter einem Prozent lag, gehört das Land in bezug auf Geldwertstabilität wohl weltweit zu der Spitzengruppe; bereits 1995 registrierte Argentinien die fünftniedrigste Inflationsrate in der Welt und national die niedrigste seit dem Zweiten Weltkrieg
Auch die argentinische Handelsbilanz entwickelte sich zeitweise positiv; nachdem infolge der Import-liberalisierung mehrere Jahre lang ein Defizit im Außenhandel bestanden hatte, konnte 1995 erstmals wieder ein Exportüberschuß (2, 2 Mrd. US-Dollar) registriert werden, der sich jedoch 1996 bereits wieder abschwächte (auf 1, 6 Mrd. US-Dollar), und 1997 entstand erneut ein HandelsbilanzDefizit in Höhe von 1, 3 Mrd. US-Dollar Ohne dauerhaften Erfolg blieben bislang auch die finanzpolitischen Reformbemühungen der argentinischen Regierung: Nach wie vor weist der öffentliche Haushalt ein Defizit auf. das 1996 knapp zwei Prozent des BIP (ohne Privatisierungserlöse) ausmachte.
Ordnungspolitisch hat die Regierung Menem mit ihren strukturellen Reformen viele Forderungen der wirtschaftsliberal orientierten Unternehmer-verbände erfüllt; zumindest für die privaten Unternehmen lassen sich kaum günstigere wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen vorstellen, als dies gegenwärtig in Argentinien der Fall ist. Mit einer gewissen Ironie werden die argentinischen Unternehmerverbände bereits als „columna vertebraP (Rückgrat) des neuen, „postmodernen“ Peronismus ä la Menem bezeichnet Da die Tragweite der Reformen es unwahrscheinlich macht, daß zukünftige Regierungen sie einfach wieder zurücknehmen könnten, dürften grundlegende Interessen der Unternehmen langfristig gesichert sein. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob und wann die Unternehmer einsehen werden, daß eine Marktwirtschaft des sozialen Ausgleichs bedarf und eine tragfähige Sozialpartnerschaft nur mit funktionsfähigen Gewerkschaften möglich ist.
Die Zeiten einer staatlich geschützten, international kaum konkurrenzfähigen Volkswirtschaft mit überteuerten Monopolpreisen sind in Argentinien vorbei, allerdings mit negativen Folgen für den nationalen Arbeitsmarkt. Die strukturellen Reformen seit 1991 haben eine Situation geschaffen, in der das Arbeitsplatzangebot nicht ausreicht, die Nachfrage nach Arbeitsplätzen zu befriedigen. So ist beispielsweise die Produktion im Industriesektor der argentinischen Volkswirtschaft zwischen 1990 und 1996 um 30 Prozent gestiegen, während gleichzeitig die Anzahl der Beschäftigten in diesem Sektor um ca. 20 Prozent abgebaut wurde. Infolge der Rezession kam es 1995 zu einem weiteren, sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit in Argentinien; im Mai 1995 wurde eine Rekordarbeitslosenquote von über 18 Prozent registriert. In den von den staatlichen Sparmaßnahmen besonders hart betroffenen Provinzen mehrten sich die sozialen Proteste. Im Großraum Buenos Aires betrug der Anteil der als arm klassifizierten Personen im Mai 1996 ca. 27 Prozent, gegenüber knapp 17 Prozent im Oktober 1993 Waren 1991 auf die 20 Prozent der Ärmsten der Bevölkerung noch 7, 4 Prozent des Gesamteinkommens entfallen, so erhielten sie 1996 nur noch 7, 1 Prozent; den 20 Prozent an der Spitze der argentinischen Einkommenspyramide flossen 1996 45, 4 Prozent des Gesamteinkommens zu, gegenüber 43, 9 Prozent im Jahre 1991.
Nachdem sich Argentinien als fähig erwiesen hat, erfolgreich den Tequila-Effekt zu überwinden, das Vertrauen ausländischer Kapitalanleger relativ schnell wieder herzustellen, die Inflationsrate nahe Null zu halten und gleichzeitig wirtschaftliches Wachstum von schätzungsweise 7, 8 Prozent im Jahre 1997 zu erreichen, ist es an der Zeit, die zweite Generation der Strukturreformen in Gang zu setzen, Reformen in Richtung auf eine gleichmäßigere Verteilung der Einkommen, Reformen, die auch den bislang Benachteiligten bessere Möglichkeiten der Erzielung von Markteinkommen eröffnen, indem das Erziehungswesen und die berufliche Ausbildung den Erfordernissen einer weltmarkt-orientierten Volkswirtschaft angepaßt werden
Daß für die argentinischen Wähler inzwischen mehr soziale Gleichheit und weniger Korruption in der öffentlichen Verwaltung zu den vorrangigen politischen Forderungen zählen, haben die Parlamentswahlen von 1997 deutlich gemacht: Präsident Menem und seine Regierungspartei Partido Justicialista (PJ) verloren die absolute Mehrheit der Kongreßmandate. Die aus den beiden größten Oppositionsparteien {Union Civica Radical und Frente Pais Solidario) gebildete Alianza por el Trabajo, la Justicia y la Educacion (Alianza) konnte den Wahlsieg in elf der 24 argentinischen Wahlbezirke verbuchen. Allerdings lehnt auch die Alianza die Hauptelemente der bisherigen Wirtschaftsreformen nicht grundsätzlich ab, und sie sieht -ebenso wie Präsident Menem und seine PJ -in dem Ausbau des MERCOSUR ein wichtiges Instrument zur Förderung der nationalen und regionalen Entwicklung.
IV. Der Nachzügler: Brasilien
In Brasilien ist erst später das gelungen, was in Chile und Argentinien schon früher erfolgreich vorgeführt worden war: die Rückgewinnung von (relativer) Geldwertstabilität und gesamtwirtschaftlicher Wachstumsdynamik sowie die Erzielung von Fortschritten bei der demokratischen Konsolidierung. Die hierbei bislang in Brasilien erzielten Erfolge können für die Beurteilung der zukünftigen Entwicklung durchaus (vorsichtigen) Optimismus rechtfertigen. Dies gilt zumindest unter der Annahme, daß es gelingt, die großen Herausforderungen zu bewältigen, die sich der brasilianischen Volkswirtschaft weiterhin stellen.
Mit dem Plano Real, dem ambitiösen Stabilisierungs-und Restrukturierungsprogramm für die brasilianische Volkswirtschaft, das Präsident Cardoso 1994 -noch als Finanzminister der Regierung Itamar Franco -in Gang gesetzt hatte, konnten bislang beachtliche Resultate erzielt werden. Die Inflationsrate, die 1994 bei weit über 2 000 Prozent gelegen hatte, sank 1995 auf 84 Prozent, 1996 weiter auf 18 Prozent und 1997 auf den seit Jahrzehnten nicht mehr erreichten Tiefstwert von 7, 5 Prozent Die jährliche Wachstumsrate des BIP lag 1994 bis 1997 im Durchschnitt bei 4, 2 Prozent, gegenüber lediglich 0, 2 Prozent pro Jahr während des Zehnjahreszeitraums 1987 bis 1996. Mit der Wiedergewinnung gesamtwirtschaftlicher Wachstumsdynamik ist auch das (reale) Pro-Kopf-BIP gestiegen; 1996 konnte mit einem BIP je Einwoh-ner von 3 007 US-Dollar (in Preisen von 1990) erstmals wieder das Niveau übertroffen werden, das schon Ende der achtziger Jahre erreicht worden war (1987: 2 989 US-Dollar)
Die bisherigen positiven Resultate des Plano Real haben die makroökonomische Beurteilung der brasilianischen Volkswirtschaft gegenüber den achtziger Jahren bei internen und externen Beobachtern in bemerkenswerter Weise verändert: Eine Phase der wirtschaftlichen Redynamisierung wird konstatiert, mit überwiegend günstiger Einschätzung der mittel-bis längerfristigen Wachstums-chancen. So hat beispielsweise die OECD in einer Analyse der brasilianischen Investitionspolitik das Maß an Offenheit gegenüber ausländischem Kapital hervorgehoben, und sie führt mit Brasilien als Dynamic Non-Member Economy einen besonderen wirtschaftspolitischen Dialog
Trotz des Krisenjahrzehnts der achtziger Jahre ist die ökonomische Potenz der brasilianischen Volkswirtschaft nach wie vor beeindruckend. Mit einem BIP von 688, 085 Mrd. US-Dollar im Jahre 1995 lag Brasilien an 8. Stelle im internationalen Ranking der Weltbank Brasilien ist innerhalb Lateinamerikas das wirtschaftlich potenteste Land mit dem größten und leistungsfähigsten Industriepark. Produkte Made in Brazil sind rund um den Globus anzutreffen, und brasilianische Unternehmen sind als global players aktiv. Zu den 30 größten Unternehmen aus Schwellenländern zählten Ende Juli 1995 fünf brasilianische Konzerne mit einem Marktwert von insgesamt 31, 1 Mrd. US-Dollar Die Börse in Säo Paulo, an der 60 Prozent der Finanztransaktionen des Landes abgewickelt werden, konnte 1996 mit sehr viel höheren Kursgewinnen aufwarten als die Börsen in Europa, den USA und Japan.
Brasilien hat seit einigen Jahren auch wieder Zugang zu freiwilligen Finanzierungen auf den internationalen Kapitalmärkten gewonnen. In dieser Wiederaufnahme des privaten Kapitalzuflusses nach Brasilien schlägt sich eine gegenüber den achtziger Jahren positiv veränderte marktmäßige Bewertung des Anlegerrisikos nieder. Allerdings handelt es sich bei den externen Kapitalzuflüssen auch im Falle Brasiliens in hohem Maße um Portfolioinvestitionen, die relativ rasch wieder abgezogen werden können. Bemerkenswerterweise war Brasilien jedoch von den Auswirkungen des mexikanischen Tequila-Effektes weit weniger betroffen als Argentinien. Zwar kam es zwischen November 1994 und April 1995 zu einem deutlichen Abzug von Portfoliokapital und infolgedessen zu einem Rückgang der zentralen Devisenreserven auf 28 Mrd. US-Dollar; durch die Abwertung des Real sowie drastische Zinserhöhungen wurde jedoch das Vertrauen der Anleger so gestärkt, daß das Interesse an Investitionen in Brasilien sich wieder relativ schnell einstellte und die zentralen Devisenreserven schon im Juli 1995 wieder ca. 40 Mrd. US-Dollar betrugen.
Wenn die Auswirkungen des Tequila-Effektes auf Brasilien -im Gegensatz zu Argentinien -relativ gering blieben bzw. nur sehr kurzfristig zu spüren waren, dann läßt sich das auf die flexiblere brasilianische Wechselkurspolitik und die wesentlich höheren Devisenreserven zurückführen, aber auch auf insgesamt bessere makroökonomische Eckwerte. Anders als in den siebziger Jahren und noch zu Beginn der achtziger Jahre, als die letzte inländische Verwendung (d. h. die Summe aus privatem und staatlichem Konsum sowie Bruttoinvestitionen) das BIP überstieg, ist die „Ressourcenlücke“ seit Mitte der achtziger Jahre geschlossen; Brasilien lebt insofern nicht mehr „über seine Verhältnisse"
Nach wie vor hat Brasilien aber eine im Vergleich zu anderen Schwellenländern relativ niedrige Investitionsquote, die u. a. in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der gesamtwirtschaftlichen Sparquote gesehen werden muß. Während die Sparquote der Entwicklungsländer mit mittlerem Einkommen insgesamt im Zeitraum 1984 bis 1993 durchschnittlich 26, 1 Prozent betrug, erreichte sie während dieses Zeitraums in Brasilien lediglich rund 23 Prozent Hatte der Anteil der Bruttoinvestitionen am brasilianischen BIP im Jahre 1980 noch bei 23 Prozent gelegen, so war er 1996 auf 19 Prozent gesunken; die Bruttoinlandsersparnis sank von 21 Prozent des BIP (1980) auf 18 Prozent (1996) Im internationalen Vergleich zeigt sich, daß insbesondere die interne Ersparnisbildung in Brasilien -wie übrigens auch in den meisten anderen Volkswirtschaften Lateinamerikas -gemessen am Investitionsbedarf unzureichend ist Um den Finanzierungsbedarf für den Wachstums-und Entwicklungsprozeß der brasilianischen Volkswirtschaft in größerem Umfange als bisher intern decken zu können und damit auf ein solideres Fundament zu stellen, ist eine Erhöhung der internen Sparquote unumgänglich. Die Rückgewinnung und Erhaltung der Geldwertstabilität durch den Plano Real ist zweifelsohne ein wichtiger Faktor für die Mobilisierung verdeckter oder bislang ungenutzter Sparpotentiale der brasilianischen Volkswirtschaft. Hinzu kommen muß aber auch der Abbau eines entscheidenden strukturellen Hemmnisses, nämlich der extrem ungleichen personellen Einkommensverteilung. Ende der achtziger Jahre entfielen in Brasilien auf die zehn Prozent der Einkommensbezieher an der Spitze der Einkommenspyramide 51, 3 Prozent des Gesamteinkommens -eine Einkommenskonzentration, wie sie in kaum einem anderen Land der Welt gegeben ist Wie die Erfahrung in anderen Ländern (z. B. in Taiwan und Südkorea) gezeigt hat, geht eine gleichmäßigere Einkommensverteilung tendenziell mit einer Erhöhung der internen Sparquote einher.
Aber auch wenn es gelingt, die interne Sparquote der brasilianischen Volkswirtschaft deutlich zu erhöhen, vor allem durch Reduzierung der staatlichen Konsumquote, bleibt das Land auf absehbare Zeit in hohem Maße von Kapitalimporten abhängig. Denn die Notwendigkeit, externe Finanzierungsbeiträge in Anspruch nehmen zu müssen, ergibt sich nicht nur dann, wenn die Investitionsquote 3 Prozent des Gesamteinkommens -eine Einkommenskonzentration, wie sie in kaum einem anderen Land der Welt gegeben ist 49. Wie die Erfahrung in anderen Ländern (z. B. in Taiwan und Südkorea) gezeigt hat, geht eine gleichmäßigere Einkommensverteilung tendenziell mit einer Erhöhung der internen Sparquote einher.
Aber auch wenn es gelingt, die interne Sparquote der brasilianischen Volkswirtschaft deutlich zu erhöhen, vor allem durch Reduzierung der staatlichen Konsumquote, bleibt das Land auf absehbare Zeit in hohem Maße von Kapitalimporten abhängig. Denn die Notwendigkeit, externe Finanzierungsbeiträge in Anspruch nehmen zu müssen, ergibt sich nicht nur dann, wenn die Investitionsquote erhöht werden soll, ohne daß ein entsprechender Anstieg der internen Sparquote stattfindet, sondern sie ist auch durch die derzeit vorhersehbare Saldenmechanik der brasilianischen Zahlungsbilanz bedingt. In den kommenden Jahren muß nämlich mit einem anhaltenden Defizit der brasilianischen Leistungsbilanz gerechnet werden. Auch nach den Umschuldungsvereinbarungen, die Brasilien mit seinen Gläubigern erreicht hat, werden die Zinszahlungen auf die Auslandsschulden in der Leistungsbilanz weiterhin erheblich zu Buche schlagen 50; gleichzeitig wird die Entwicklung der Exporte kaum Schritt halten können mit der Importdynamik, die durch das Liberalisierungs-und Modernisierungsprogramm der brasilianischen Regierung in Gang gekommen ist. Zwar läßt sich der Import von Konsumgütern des gehobenen Bedarfs durch zollpolitische Maßnahmen wirkungsvoll eindämmen -wie beispielsweise 1996 bei Personenkraftwagen geschehen -, aber für die Einfuhr von Kapitalgütern und Technologie besteht in Brasilien ein erheblicher Nachholbedarf, um die für die internationale Konkurrenzfähigkeit unerläßliche Modernisierung der Produktionsanlagen realisieren zu können.
Nachdem die brasilianische Handelsbilanz seit 1981 kontinuierlich Überschüsse aufwies, mit einem Rekordergebnis von über 19 Mrd. US-Dollar im Jahre 1988, verringerte sich der Aktivsaldo in den neunziger Jahre deutlich; seit 1995 weist die brasilianische Zentralbank Passivsalden in der Handelsbilanz aus, 1996 in Höhe von 5, 5 Mrd. US-Dollar 51. Allerdings ist der Ausgleich des brasilianischen Leistungsbilanzdefizits, das sich auch für die kommenden Jahre abzeichnet, weitgehend gesichert, sofern der positive Trend bei dem Zufluß externer Finanzierungsbeiträge anhält. Entscheidend ist dabei, daß sich die derzeitige Struktur der brasilianischen Kapitalimporte wesentlich von derjenigen in den siebziger Jahren und zu Beginn der achtziger Jahre unterscheidet, als externes Kapital überwiegend in Form von Auslandskrediten nach Brasilien floß. Fresh money kommt jetzt verstärkt in Form ausländischer Direktinvestitionen in das Land. Die brasilianische Regierung hat die Notwendigkeit erkannt, verstärkt ausländische Direktinvestitionen für den Wirtschaftsstandort Brasilien zu gewinnen; mit der Einrichtung einer zentralen Beratungsagentur soll ausländischen (und nationalen) Investoren durch Informationsangebote über die regionalen Merkmale der verschiedenen Industriestandorte Hilfestellung geleistet werden. Für den Zeitraum 1995 bis 1999 haben ausländische Unternehmen Direktinvestitionen in Brasilien in Höhe von 23, 4 Mrd. US-Dollar angekündigt, vor allem in der Automobilindustrie sowie im Maschinen-und Anlagenbau Ob die externen Investoren ihre angekündigten Pläne tatsächlich realisieren, hängt freilich maßgeblich von der Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit des wirtschaftspolitischen Reformkurses ab. Brasilien ist zwar durchaus wieder zu einem interessanten Anlageland für Investoren geworden, aber es muß mit anderen emerging markets einen harten Wettbewerb um Auslandskapital führen. Immerhin rangierte Brasilien in der Liste der Hauptzielländer privater Nettokapitalzuflüsse außerhalb der etablierten Industrieländer im Zeitraum 1990 bis 1996 an 3. Stelle (nach der Volksrepublik China und Mexiko)
Zweifelsohne haben die Stabilisierungserfolge des Plano Real günstige Voraussetzungen für private in-und ausländische Kapitalanleger geschaffen. Inoffiziellen Schätzungen zufolge sind in Brasilien bis zum Jahre 2003 Privatinvestitionen in Höhe von fast 250 Mrd. US-Dollar vorgesehen, und zusätzlich will die brasilianische Regierung während dieses Zeitraums mehr als 50 Mrd. US-Dollar in Infrastrukturprojekte investieren Zudem soll die Wettbewerbsfähigkeit der brasilianischen Wirtschaft durch weitere Deregulierung der Marktbeziehungen, durch Liberalisierung der nationalen Kapitalmärkte und der Außenwirtschaft sowie Privatisierung der unternehmerischen Aktivitäten des Staates erhöht werden. Um die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Brasilien zu stärken, setzt die brasilianische Wirtschaftspolitik auch auf Maßnahmen zur Herausbildung und Weiterentwicklung technologischer Kompetenz. Mit dem Programm „Brasil em Agäo^, das 42 richtungsweisende Projekte zur Modernisierung des Landes bis zum Jahre 2000 beinhaltet, sollen auch solche Vorhaben gefördert werden, die Arbeitsplätze und mehr soziale Gerechtigkeit versprechen.
Auch wenn erhebliche Teile der brasilianischen Industrie von den best-practice-Standards des world dass manufacturing noch weit entfernt sind, so hat sich doch die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes in den zurückliegenden Jahren deutlich verbessert. Unübersehbar sind auch die bisherigen Erfolge, die bei Inflationsbekämpfung, Haushaltskonsolidierung, Deregulierung, Liberalisierung und verbesserter Überwachung des Finanzsystems bereits erreicht wurden. Damit sind wichtige Voraussetzungen für mehr Stabilität und Wachstum der brasilianischen Volkswirtschaft geschaffen. Allerdings gibt es unübersehbare Schwachstellen, die den internationalen Finanzmärkten Anlaß geben könnten, auf wirtschaftspolitische Kursänderungen in Brasilien zu spekulieren -spätestens nach der Präsidentschaftswahl im Herbst 1998. Symptome solcher Schwachstellen sind das „Zwillingsdefizit“ im Staatshaushalt und in der Leistungsbilanz, die Überbewertung der brasilianischen Währung, des Real, sowie das extrem hohe Zinsniveau Einer ersten Spekulationsattacke -im Gefolge der Asien-Krise -konnte Brasilien im Oktober 1997 dank hoher Devisenreserven der Banco Central do Brasil erfolgreich begegnen.
Nachhaltiger Erfolg kann den wirtschaftspolitischen Reformen der Regierung Cardoso allerdings nur dann beschieden sein, wenn sie auch sozial abgesichert werden. Soziale Reformen müssen aber auch Demokratisierung , nach unten bedeuten, um den Zugang der Bevölkerung zur staatlichen Administration und zur Justiz zu gewährleisten. Bürgerbeteiligung und soziale Integration der Gesellschaft sind zwar vielerorts in Brasilien angekündigte Reformprojekte, aber deren Realisierung verzögert sich oder scheitert an fehlendem politischem Gestaltungswillen und ungeklärten institutioneilen Kompetenzen.
Zudem sind rechtsstaatliche Institutionalisierung und wirksame gesellschaftliche Legitimierung in Brasilien bislang nicht in notwendigem Maße ausgebildet. Das Fortbestehen zentralistischer Verwaltungs-und Planungsstrukturen sowie klientelistischer Beziehungsmuster gefährdet die politische Konsolidierung der Demokratie in Brasilien und stellt mittelfristig auch die bislang erzielten Erfolge des wirtschaftlichen Reformprozesses in Frage Insofern hat Präsident Cardoso die wichtigsten Aufgaben noch vor sich. Daß er sie bis zum Ende seiner jetzigen Amtszeit bewältigen kann, ist unwahrscheinlich; ob ihm die Wähler für diese Aufgabe im Herbst 1998 das Mandat für eine zweite Amtszeit erteilen werden, muß derzeit als offen gelten.
V. Fazit: Zwischen gesamtwirtschaftlichem Optimismus und politischer Ernüchterung
Der Vergleich wichtiger sozioökonomischer Strukturdaten (vgl. die Tabelle) zeigt, daß Chile mit sei-nen wirtschaftspolitischen Reformen bislang deutlich erfolgreicher war als Argentinien und Brasilien. Chile hat dem übrigen Lateinamerika vorgeführt, daß es möglich ist, anhaltende und hohe gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten zu erreichen. Die wirtschaftlichen Reformen haben nicht nur dazu beigetragen, die Investitionsquote deutlich ansteigen zu lassen und damit das Fundament für zukünftiges Wirtschaftswachstum zu festigen; auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit der chilenischen Volkswirtschaft hat sich deutlich verbessert, wie der Zustrom ausländischer Direktinvestitionen und der wachsende Export zeigen.
Die wirtschaftlichen Reformen in Chile können insoweit also durchaus als Modell für Lateinamerika gelten. Ob das Land auch als Modell für den politischen Transformationsprozeß gelten kann, muß in Frage gestellt werden, solange in Chile demokratisch fragwürdige Institutionen des Militärregimes legal fortbestehen und Pressemeldungen undementiert bleiben (müssen), denen zufolge in der chilenischen Armee (deren Ehrenkommandant Pinochet ist) immer noch Mord und Gewalt herrschen Auch wenn Pinochet und diejenigen Parteien, die sich als seine politischen Erben ausgeben, noch ein beachtliches Wählerpotential mobilisieren können, so scheint doch der „Pakt des Vergessens" jetzt gebrochen, jenes stillschweigende Abkommen, das nach 17 Jahren Diktatur den Übergang Chiles zu einem demokratischen Rechtsstaat erleichtern sollte
Die unvollständige Bewältigung der autoritären Vergangenheit und die Kontinuität autoritärer Enklaven werden auch in Argentinien zunehmend als Belastung des Transitionsprozesses zur Demokratie empfunden. Im März 1998 hatten Zehntausende in Argentinien zum 22. Jahrestag des Militärputsches die Aufhebung der Straffreiheit bzw.der Amnestie für Menschenrechtsverletzungen gefordert, die unteren Chargen bzw. Offizieren der Militärherrschaft von 1976 bis 1983 zugute gekom-men waren Ähnlich wie in Argentinien erodiert auch in Brasilien das traditionelle Repräsentationsmonopol der „alten“ politischen Parteien mit ihren stark personalistischen Strukturen. Für viele traditionelle Akteure der lateinamerikanischen Politik haben sich Handlungsspielräume und Einflußmöglichkeiten im Zuge der ökonomischen Modernisierung deutlich reduziert. So liegt beispielsweise der gewerkschaftliche Organisationsgrad der (nicht-landwirtschaftlichen) Arbeitnehmer in Argentinien und Brasilien nur noch bei rund 20 Prozent, in Chile bei ca. 15 Prozent Angesichts dieser Entwicklung kann durchaus die Gefahr gesehen werden, daß die Logik der ökonomischen Modernisierung mit der Logik der politischen Demokratisierung in Widerspruch gerät
Wirtschaftspolitisch sind in allen drei hier betrachteten südamerikanischen Ländern wesentliche Reformschritte eingeleitet worden, um die Volkswirtschaften an den Globalisierungsprozeß der neunziger Jahre anzupassen und sie für die weltweite finanzielle Integration und die internationalen Kapitalströme zu öffnen. Damit die Volkswirtschaften des südlichen Lateinamerikas ihre bisher erreichten Stabilisierungserfolge sichern und ein stetiges Wirtschaftswachstum gewährleisten, das über der demographischen Zuwachsrate liegt, erscheint die Komplettierung des wirtschaftlichen Transformationsprozesses hauptsächlich in folgenden fünf Bereichen vordringlich -qualitative Verbesserungen der Investitionen in das Humankapital (insbesondere Reformen der Erziehungs-und Gesundheitssysteme);
-Reformen der Finanzsysteme und der Kapitalmärkte;
-Verwaltungsreformen des öffentlichen Dienstes;
-Effizienzsteigerung und Stabilisierung der staatlichen Budgetsysteme sowie -Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen für den privaten Sektor.
Darüber hinaus kommt es jetzt entscheidend darauf an, den sozialen Problemstau abzubauen und die deutlich verbesserte makroökonomische Situation in konkrete soziale Verbesserungen für die Menschen umzuwandeln. Die Glaubwürdigkeit demokratischer Systeme wird auch an ihrer Fähigkeit zu einem sozialen Ausgleich gemessen. Denn die Demokratisierung der politischen Systeme ist nicht nur eine Frage der Institutionenordnung, sondern auch der effektiven Einlösung sozialer Bürgerrechte.
Weitgehende Einigkeit besteht bei den wirtschaftsund entwicklungspolitischen Hauptakteuren darüber, daß für den Abbau der endemischen Armut in Lateinamerika eine „Drei-Säulen“ -Strategie erforderlich ist: -eine auf Wachstum gerichtete Wirtschafts-und Finanzpolitik;
-spezielle Programme, um durch Hilfe zur produktiven Selbsthilfe und den Abbau von Marktzutrittsschranken die marktvermittelten Verdienstmöglichkeiten der Armen zu steigern sowie -gezielte Sozialprogramme für die Armen
Auf der politischen Agenda im südlichen Lateinamerika steht mithin auch eine Klärung und Neudefinition der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft. Der Prozeß einer leistungsorientierten Neuordnung der politischen Institutionen macht entsprechende Anpassungen in den Verhaltensweisen der gesellschaftlichen Akteure unumgänglich: An die Stelle des traditionellen rent-seeking der lateinamerikanischen Eliten muß das wettbewerbsorientierte profit-seeking treten. Oder mit anderen Worten: Solange die grupos econömicos mit ihren tradierten klientelistisch-subventionsgeleiteten Verhaltensweisen noch nicht völlig gebrochen haben und der Staat die ihm neu definierte Rolle nicht konsequent ausfüllt, solange können die Wirtschaftsreformen in Lateinamerika noch nicht als konsolidiert gelten.
Die südamerikanischen Gesellschaften sind zur Lösung ihrer drängenden sozialen Probleme und zur Erfüllung der hohen Erwartungen ihrer Bürger auf ökonomische Erfolge zwingend angewiesen; gerade deswegen können sie keine Schutzzonen gegenüber den Kräften des globalisierten Wettbewerbs bleiben. Aber auch im Zeitalter der Globalisierung müssen viele Probleme einer Gesellschaft im nationalen Kontext gelöst werden. Jedoch lassen sich jetzt nach innen gerichtete Reformen und nach außen gerichtete Politiken noch weniger tren-nen als je zuvor. International mitgestalten können Argentinien, Brasilien und Chile nur, wenn sie auch im Inneren zu den erforderlichen Veränderungen bereit sind. Sich den Herausforderungen des Globalisierungsprozesses anzupassen erfordert einen gesellschaftlichen Such- und Lernprozeß, dessen endgültiges Ergebnis noch nicht erkennbar ist.
Hartmut Sangmeister, Dr. rer. pol. habil., geb. 1945; Professor für Entwicklungsökonomie und Wirtschaftsstatistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu entwicklungsökonomischen und wirtschaftsstatistischen Fragen; u. a.: (Hrsg. zus. mit Detlef Junker und Dieter Nohlen) Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts, München 1994; Mitherausgeber des Lateinamerika Jahrbuchs des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg.
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