I. Einleitung
Auf der außenpolitischen Agenda der Bundesrepublik Deutschland droht die Rolle Lateinamerikas zu verblassen. Es gibt keine Reibungsflächen, aber auch keine besonderen Berührungspunkte, welche die Aufmerksamkeit auf die Region lenkten. Zumindest die Lateinamerikaner nehmen das mit Sorge wahr. Denn für sie geht es nicht nur darum, eine unverbindliche Freundschaft zu pflegen. Gerade von Deutschland erhoffen sie sich eine nachhaltige Unterstützung ihrer Reformanstrengungen, die sie in den letzten Jahren durch Demokratisierung, die Öffnung und Exportorientierung ihrer Volkswirtschaften und neue Ansätze regionaler Integration und Kooperation verwirklicht haben. Deshalb hat man mit Überraschung und Enttäuschung zur Kenntnis genommen, daß auch der deutsche Agrarminister im Juli 1998 die Vorschläge der EU-Kommission für die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit dem Mercado Comün del Cono Sur (MERCOSUR) und Chile zurückgewiesen hat
Das empfindet man in Lateinamerika nicht zuletzt auch deshalb als schwerwiegend, weil die Bemühungen um eine Diversifizierung der Außenbeziehungen in Richtung Ost-und Südostasien aufgrund der dortigen Finanz-und Wirtschaftskrise und wegen des Preisverfalls auf den Rohstoffmärkten einen Rückschlag erlitten haben. Es ist daher angebracht, wieder einmal nach dem Stand und den Perspektiven der deutschen Beziehungen zu Lateinamerika zu fragen. Dabei sind selbstverständlich auch die deutschen Interessen anzusprechen.
Die Antwort auf diese Fragen kann sich an fünf Thesen orientieren:
Im Rahmen des internationalen Beziehungsgeflechts der Bundesrepublik Deutschland spielt Lateinamerika für die deutsche Außenpolitik keine zentrale Rolle.
Im Gegensatz zur deutschen Haltung sind die lateinamerikanischen Staaten -spätestens seit Ende der sechziger Jahre -fast ausnahmslos um eine Intensivierung ihrer Beziehungen zu Deutschland und den Ländern der Europäischen Union bemüht. Dadurch will man die als einseitig empfundene Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ausgleichen und die eigenen Autonomieräume erweitern sowie die politischen und wirtschaftlichen Reformen konsolidieren.
In den deutschen Beziehungen zu Lateinamerika ist ein bemerkenswerter Wandel eingetreten: Bestand seit vielen Jahren ein gutes und enges Verhältnis auf der Ebene der sogenannten transnationalen Beziehungen im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft, ohne daß es eine sehr deutlich ausformulierte, profilierte oder definierte offizielle Lateinamerikapolitik gegeben hätte, so hat die Politik in den letzten Jahren deutliche Anstrengungen unternommen, um dieses Defizit aufzuarbeiten -doch da sind plötzlich Einbrüche in den anderen Bereichen festzustellen.
Die „Europäisierung“ der deutschen Beziehungen zu Lateinamerika kann das bilaterale Verhältnis schon deshalb nicht ersetzen, weil es einerseits einen Wettbewerb mit europäischen Partnern um Marktanteile in Lateinamerika gibt, der auch durch engere europäische Kooperation nicht aufgehoben wird, und weil andererseits sich manche Defizite der bilateralen Beziehungen auf der europäischen Ebene reproduzieren oder sogar noch verschärfen.
Deutschland hat aus verschiedenen Gründen ein besonderes Interesse an engen Beziehungen zu Lateinamerika. Allerdings müssen politische und gesellschaftliche Eliten aus Deutschland und Lateinamerika stärkere Anstrengungen unternehmen, die Chancen im beiderseitigen Verhältnis zu nutzen.
II. Zur Genese der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen
Das Fundament der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen ist solide. Die Deutschen haben inLateinamerika im Gegensatz zu den meisten anderen großen Industriestaaten den Vorteil, daß sie frei sind von den Belastungen einer ehemaligen Kolonialmacht. Zwar kamen mit den Konquistadoren Anfang des 16. Jahrhunderts auch einige deutsche Landsknechte in die Neue Welt doch insgesamt blieb die Präsenz Deutscher im Rahmen der Conquista bedeutungslos. Deutschlands Rolle in Lateinamerika wurde nicht durch Machtpolitik oder Wirtschaftsinteressen geprägt, sondern durch die Kolonisationsleistungen der deutschen Einwanderer, die in verschiedenen Migrationswellen ab 1816 insbesondere die Staaten im Süden des Kontinents erreichten und deren Beitrag zur Entwicklung des Bildungswesens oder des handwerklichen Mittelstandes nachhaltig anerkannt wird. Erst um die Jahrhundertwende wuchs die deutsche Beteiligung am lateinamerikanischen Außenhandel; sie erreichte bis 1914 einen Anteil von 16 Prozent. Diese im 19. Jahrhundert gewachsenen Beziehungen haben den Ersten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden, während dem nur wenige Länder Lateinamerikas dem Deutschen Reich den Krieg erklärten. Selbst der Zweite Weltkrieg hinterließ nur wenige antideutsche Ressentiments, obwohl das Hitler-Regime besonders in Argentinien und Brasilien erhebliche Anstrengungen zur Solidarisierung und Gleichschaltung der Ausländsdeutschen und zum Aufbau von Auslandsorganisationen der NSDAP unternommen hatte.
III. Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Lateinamerika
Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das über die Jahre und Jahrzehnte geknüpfte dichte Beziehungsgeflecht auf politischer und gesellschaftlicher Ebene als Grundlage für die relativ baldige und unkomplizierte Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den lateinamerikanischen Ländern durch die neue Bundesrepublik Tatsächlich konnten viele schwierige Fragen relativ rasch in beiderseitigem Einvernehmen gelöst werden, etwa die Behandlung und eventuelle Rückgabe von während des Krieges konfisziertem deutschem Eigentum. Die Wirtschaftsbeziehungen und auch die akademischen Beziehungen kamen nach 1945 bald wieder in Gang. Zudem zeigte Lateinamerika wie kaum eine andere Region sehr rasch Verständnis für zwei der schwierigsten politischen Fragen der neuen Republik: die deutsche Teilung und den Alleinvertretungsanspruch So erfreulich diese Entwicklung war, hat sie doch dazu beigetragen, daß Lateinamerika im Rahmen der offiziellen deutschen Politik „nur die Rolle eines Neben-schauplatzes“ einnahm; die innere und äußere Lage in den Ländern der Region, vor allem ihre zunehmenden Bemühungen um eine Diversifizierung ihrer Außenbeziehungen, ein Ausgleich der einseitigen Abhängigkeit von den USA zugunsten engerer Anbindung an die Staaten der damaligen EWG wurden nicht unterstützt. Statt dessen wurde Lateinamerika relativ pauschal als Komponente der Dritten Welt wahrgenommen.
Erst in den siebziger Jahren kam es zu einer vorsichtigen Aktivierung der deutschen Lateinamerika-Politik. In Deutschland und Europa, vor allem aber auch in den USA und in Lateinamerika selbst gab es dafür neue Umstände und Voraussetzungen. Das Interesse der Nordamerikaner an der Region ließ spürbar nach, und die Entspannungspolitik gab einerseits den Lateinamerikanern und andererseits den Europäern mehr Handlungsspielräume in den internationalen Beziehungen. In der Bundesrepublik setzte sich in diesem Kontext mehr und mehr die Überzeugung durch, daß die Stabilität in vielen Weltregionen und auch in Lateinamerika vor allem durch die Verweigerung von politischen und gesellschaftlichen Reformen bedroht sei. Dieser Meinungswandel ging einher mit dem allmählichen Verzicht auf den Alleinvertretungsanspruch, so daß die sogenannte Hall-stein-Doktrin erstmals gegenüber einem lateinamerikanischen Land aufgegeben wurde
Angesichts der zunehmenden Installation von Militärregierungen in Lateinamerika, die von gravierenden Menschenrechtsverletzungen begleitet waren, kam es seit Ende der sechziger Jahre in Deutschland zu einem neuen Schub der Solidarität bei gesellschaftlichen Gruppen, vor allem aber auch bei den Parteien, was wiederum die offizielle Politik nicht unbeeindruckt lassen konnte. Die Erhöhung der Zuwendungen für die entwicklungspolitische Arbeit der politischen Stiftungen ist in diesem Zusammenhang eine zwar selten bemerkte, aber durchaus bemerkenswerte Reaktion der Politik. Besuche hoher Politiker aus Deutschland in Lateinamerika waren dagegen eher selten. Zum ersten Mal besuchte 1979 ein deutscher Bundeskanzler die Region Im Auswärtigen Amt war man mit der Entwicklung der Beziehungen trotz des allmählichen Ausbaus des diplomatischen Netzes offensichtlich nicht zufrieden, denn 1979 plädierte ein damaliger Staatssekretär für eine überzeugendere Konzeption deutscher Lateinamerikapolitik
Im Rahmen dieser etwas intensiveren Aktivitäten sind die deutlichen Spannungen mit den USA bemerkenswert, die es Mitte der siebziger Jahre wegen des Abschlusses eines Nuklearvertrages mit Brasilien und des Verkaufs von Atomkraftwerken an Argentinien gab. Auch wenn hier der Wille zu mehr Eigenständigkeit zum Ausdruck kommt, erscheint es fraglich, ob man das als Beleg für eine aktivere Lateinamerikapolitik verbuchen soll
Vor allem anderen waren dies zunächst einmal in einer wirtschaftlichen Rezensionsphase in Deutschland Maßnahmen zur Förderung der einheimischen Industrie.
Wichtiger erscheint da schon das zunehmende politische Engagement, das sich insbesondere gegen die Militärregime und auf eine Unterstützung der demokratischen Oppositionsgruppen richtete Die USA reagierten auf dieses Engagement ambivalent. So sehr sie die entwicklungsund wirtschaftspolitischen Bemühungen der Europäer begrüßten -solange diese die eigenen Interessen nicht so sehr beeinträchtigten -, verfolgten sie das politische Engagement zumal der Parteien und Stiftungen aus Deutschland bei der Schulung und Organisation lateinamerikanischer Partei-, Jugend-und Bauernführer sowie Gewerkschafter doch mit Mißtrauen. In den achtziger Jahren sollte aus diesem Mißtrauen bezüglich der Krise in Zentralamerika eine offene Meinungsverschiedenheit erwachsen.
IV. Emanzipation und Europäisierung der deutschen Lateinamerikapolitik
Die achtziger Jahre waren in Lateinamerika einerseits die Jahre des Zusammenbruchs der autoritären Regime und des Übergangs zur Demokratie, andererseits aber auch das „verlorene Jahrzehnt“ der Wirtschafts-und Schuldenkrise. Zugleich waren es Jahre großer kriegerischer Konflikte, welche die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Region lenkten. Dies betrifft den Zentral-amerika-Konflikt aber auch den Krieg zwischen Argentinien und Großbritannien von 1982 um die Falkland/Malwinen-Inselgruppe der die Europäer in eine unbequeme Situation brachte. Denn ihre Solidarisierung mit Großbritannien belastete nicht nur das Verhältnis zu Argentinien, sondern auch zu den meisten übrigen Ländern Lateinamerikas, die die argentinische Position unterstützten. Dennoch hat das deutsche Ansehen in der Region im Kontext dieser Episode offensichtlich nicht dauerhaft gelitten.
In der Bundesrepublik trugen diese Auseinandersetzungen zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für Lateinamerika bei. Das zeigt sich anhand verschiedener Äußerungen von Bundeskanzler Kohl ab 1983, der 1984 seine erste Lateinamerikareise unternahm (Mexiko und Argentinien) und sich in seiner Regierungserklärung von 1987 nicht mehr darauf beschränkte, lediglich die traditionell guten Beziehungen zu Lateinamerika zu zitieren, sondern eine „wachsende Bedeutung dieses Subkontinents“ hervorhob: Dabei betonte er insbesondere die Verbesserung der Beziehungen zu den wichtigsten Partnerländern Argentinien, Brasilien und Mexiko sowie die Überwindung der Krise in Zentralamerika
Gegenüber dieser Krise hatten seit Beginn der achtziger Jahre die Europäer und insbesondere auch die Deutschen eine eigenständige Rolle zu spielen versucht. Während die Reagan-Administration die Entwicklungen in Zentralamerika weitgehend aus der Perspektive des Ost-West-Konflikts interpretierte und die Krise mit Waffengewalt lösen wollte, haben die Europäer schon früh erkannt, daß dieser Konflikt nur politisch zu lösen war. In Deutschland gab es mit dem Regierungswechsel von 1982 insofern auch einen Politik-wechsel gegenüber Zentralamerika, als nun die Wirtschaftshilfe für Nicaragua eingefroren wurde, weil das Land die gewaltsamen Konflikte in den Nachbarländern unterstützte und damit zur Destabilisierung der gesamten Region beitrug. Dagegen wurde der vorsichtige Reformkurs des 1984 zum Präsidenten gewählten salvadorianischen Christdemokraten Napoleon Duarte (1984-1989) unterstützt und die eingefrorene Entwicklungshilfe für El Salvador wiederaufgenommen
Daneben kam es unter deutscher Ägide seit September 1983 zu einer eigenständigen Initiative der EG-Staaten, die politische Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien anregen wollten. Auch wenn der Einfluß dieser Initiative auf die letztlich gefundene Friedenslösung zumindest fraglich ist denn die USA lehnten die „Einmischung“ der Europäer kontinuierlich ab, wurde damit ein permanentes Abstimmungsforum zwischen Europa und Zentralamerika geschaffen.
Die Reaktion auf den Zentralamerikakonflikt steht in zweifacher Hinsicht für eine Änderung der deutschen Lateinamerikapolitik: zum einen für ein größeres Maß an Eigenständigkeit gegenüber den USA, zum anderen aber auch für eine zunehmende Europäisierung der deutschen Beziehungen zu Lateinamerika. Zugleich ist der Zentralamerikakonflikt ein Hinweis darauf, daß bis Ende der achtziger Jahre in den meisten lateinamerikanischen Ländern Militärregierungen an der Macht waren, zu denen es nur sehr unterkühlte politische Beziehungen geben konnte. Erst im Verlauf der Demokratisierungsprozesse in nahezu allen Ländern der Region waren die Voraussetzungen für intensivere Kontakte und weitergehende Kooperationsformen vorhanden Tatsächlich waren der Bundeskanzler und der Bundespräsident ab Mitte der achtziger Jahre wiederholt in Lateinamerika und viele lateinamerikanische Präsidenten haben die Bundesrepublik besucht. Zudem gab es eine Reihe von weiteren Initiativen, die eine größere Bereitschaft zur Kooperation mit Lateinamerika signalisierten.
Hervorzuheben sind in diesem Kontext die Anstrengungen zugunsten neuer Konzepte der deutschen Lateinamerika-Politik, die innerhalb der Bundesregierung unternommen wurden. Zum einen sind hier das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 1992 erstellte „Konzept für die Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika“ zu nennen sowie die „Thesen zur Lateinamerikapolitik“, die von einer Botschafterkonferenz am 10. Oktober 1993 unter Leitung von Außenminister Klaus Kinkel aufgestellt wurden Darin wird für eine Verstärkung des politischen Dialogs, von einem Angebot zur umfassenden Zusammenarbeit und einer „zukunftsgewandten Fortentwicklung der deutschen Gesamtbeziehungen zu Lateinamerika“ gesprochen, bei denen „ein immer breiteres Spektrum der politischen und gesellschaftlichen Kräfte“ einzubeziehen sei. Zum anderen ist auf das im Mai 1995 vom Bundeskabinett verabschiedete „Lateinamerikakonzept der Bundesregierung“ zu verweisen, das der erste Versuch ist, konzeptionelle und programmatische Vorgaben für die Ausgestaltung der Beziehungen zu dem Subkontinent in einer Vielzahl von Politikfeldern zu formulieren. Von den politischen Schwerpunkten der Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Friedenssicherung bis hin zur wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit und zur Wahrung der hohen deutschen kulturellen Präsenz spannt sich der Bogen. Der Schwerpunkt des Konzepts liegt auf dem notwendigen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, weshalb die Bundesregierung für eine weitere Liberalisierung von Handel und Investitionen und für mehr private Direktinvestitionen eintritt. Der Verabschiedung des Lateinamerikakonzeptes folgte eine Regierungserklärung im Deutschen Bundestag sowie die erste parlamentarische Debatte über Lateinamerika überhaupt im September 1995. Von einer „faktischen Vernachlässigung“ Lateinamerikas durch die deutsche Politik konnte somit nicht mehr die Rede sein. Im Gegenteil läßt sich feststellen, daß -mit Ausnahme von Spanien und Portugal -in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten lateinamerikanische Politiker öfter in Deutschland waren als in irgend einem anderen Land der Erde einschließlich der USA ebenfalls hielten sich mehr Politiker aus Deutschland in Lateinamerika auf als in irgend einer anderen Region außerhalb Europas und den USA.
V. Einschnitte auf der trans-nationalen Ebene
1. Einbußen bei den Wirtschaftsbeziehungen Eingebettet waren diese politischen Initiativen in neue Anstrengungen zur Belebung der Wirtschaftsbeziehungen. So wurde die Jahrestagung der Interamerikanischen Entwicklungsbank im März 1993 erstmals in Deutschland (Hamburg) veranstaltet, und 1994 wurde die Lateinamerika-initiative der deutschen Wirtschaft begründet, die seither neben der Einberufung eines. Lateinamerika-Gesprächskreises verschiedene deutsch-lateinamerikanische Wirtschaftskonferenzen und Industriemessen organisierte. Dennoch ist das deutsche Profil im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen schwächer geworden. Lateinamerika hat für Deutschland und Deutschland hat für Lateinamerika als Wirtschaftspartner an Bedeutung verloren. Das gilt für Investitionen und Handelsbeziehungen gleichermaßen.
Lateinamerika war traditionell wichtigste Bestimmungsregion deutscher Direktinvestitionen außerhalb der OECD-Mitgliedsländer. Das hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Die neu industrialisierten Länder Asiens, vor allem aber die Staaten Osteuropas haben seit Beginn der neunziger Jahre deutlich mehr Investitionen absorbiert. Lag der Anteil Lateinamerikas 1987/88 noch bei 40 Prozent der Investitionen außerhalb der OECD, so sank er bis 1992/93 auf 15 Prozent. Deutsche Unternehmen haben sich an den Privatisierungen in Lateinamerika in den vergangenen Jahren nur wenig beteiligt Der Anteil Lateinamerikas an den gesamten deutschen Direktinvestitionen im Ausland lag Ende der neunziger Jahre bei nur noch etwa fünf Prozent, während er 1980 noch bei zehn Prozent lag. Es besteht die Gefahr, daß die deutsche Wirtschaft ihre gute Position in Lateinamerika auf längere Sicht verliert. Die Investitionsstrategien der deutschen Unternehmen sind durch die Veränderungen in Europa beeinflußt, wo sich innerhalb des EU-Raums nach Vollendung des Binnenmarktes und in Vorbereitung der Währungsunion die Investitionsbedingungen verbessert haben. Zudem verhinderten die neuen Möglichkeiten in den ost-und mitteleuropäischen Ländern sowie die -bis zur Finanzkrise letzten Jahres -vermeintlich besseren Standortqualitäten der ost-und südostasiatischen Länder ein stärkeres Engagement in Lateinamerika.
Gleichwohl bleibt Deutschland nach den USA wichtigster Investor in der Region. Der deutsche Anteil an den europäischen Investitionen in Lateinamerika lag bei 25 Prozent. Um die Mitte der neunziger Jahre war ein Anstieg der Investitionssumme zu verzeichnen, die ungefähr zwei Milliarden DM betrug. Davon entfielen aber zwischen 80 und 90 Prozent auf die drei Länder Brasilien, Mexiko und Argentinien Die deutschen Firmen haben ihr Investitionsverhalten den neuen Umständen der regionalen und subregionalen Integration angepaßt, dabei aber auch Produktions-und Distributionskapazitäten konzentriert.
Im Handelsbereich ist ebenfalls ein kontinuierlicher Verlust von Marktanteilen Deutschlands und der EU in Lateinamerika zu konstatieren. Während die Exporte aus Deutschland und der EU nach Lateinamerika zwischen 1990 und 1995 um acht Prozent zunahmen, stiegen die Exporte Japans, der neuen asiatischen Industrieländer und der USA um 20 Prozent. Der Anteil der EU am Handel mit Lateinamerika fiel von 22, 6 im Jahr 1990 auf 15, 9 Prozent im Jahr 1996, während der Anteil der USA im gleichen Zeitraum von 38, 3 auf 44, 8 Prozent anstieg An den deutschen Ausfuhren ist der Anteil Lateinamerikas auf nur etwa 2, 5 Prozent, zurückgefallen, nachdem er Ende der fünfziger Jahre bei knapp zehn Prozent gelegen hatte. Die Einfuhren aus Lateinamerika fielen im gleichen Zeitraum noch stärker und machen nur etwa zwei Prozent der deutschen Importe aus, nachdem der Anteil der Region 1960 bei 12, 5 Prozent gelegen hatte. An dem Anstieg der lateinamerikanischen Exporte hatte Deutschland keinen Anteil. Da Lateinamerika weiterhin Produkte mit relativ geringer Wertschöpfung und vergleichsweise wenige Industriegüter (Anteil am Welthandel nur 2, 5 Prozent) exportiert, bleibt die EU-Agrarmarktordnung ein bleibendes Hindernis, ja Ärgernis für lateinamerikanische Exporteure. Das belastet das Image der EU in der Region, und daran kann auch die normalerweise recht vernünftige Haltung Deutschlands wenig korrigieren, wie sich im Fall der Importbeschränkungen für lateinamerikanische Bananen gezeigt hat.
Eine deutliche Konzentration auf die Länder Brasilien, Mexiko und Argentinien ist bei den Handelsbeziehungen ebenfalls feststellbar. 1996 ging mehr als die Hälfte der EU-Exporte nach Lateinamerika in den MERCOSUR, der auch bei den Importen aus Lateinamerika einen Anteil von über 50 Prozent hatte. 2. Einschnitte bei den kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen Den Einbußen im Hinblick auf die Wirtschaftsbeziehungen entspricht eine Lockerung im Bereich der kulturellen Beziehungen. Das ist deshalb besonders bedenklich, weil das Gefühl der kulturellen Zusammengehörigkeit traditionell das stärkste Band zwischen den beiden Kontinenten gewesen ist.
In bezug auf den Studentenaustausch sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten wie bei den Wirtschaftsbeziehungen: In absoluten Zahlen hat sich zwar einiges verbessert, doch insgesamt verliert Lateinamerika nahezu dramatisch an Bedeutung. Der Anteil der lateinamerikanischen Studenten in Deutschland bleibt hinter denen aus anderen Herkunftsregionen deutlich zurück. Studierten 1983/84 2 898 Studenten aus Lateinamerika in der Bundesrepublik, so waren es 4 635 in 1993/94 und drei Jahre später 1996/97 kaum mehr, nämlich 4 693. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Studenten aus Afrika südlich der Sahara mehr als verdreifacht: von 4 120 in 1983/84, auf 11 774 in 1993/94 und 14 462 in 1996/97. Die Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in vielen lateinamerikanischen Ländern, mit der die Begründung neuer nationaler Stipendienprogramme und erweiterte Möglichkeiten von Auslandsstudien für Latein-amerikaner verbunden waren, kommt der Intensivierung der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen kaum zugute. Daß hier auch die Lateinamerikaner selbst gefordert sind, ist offen-'sichtlich. Dabei sollte die Sprachbarriere als Hemmschwelle nicht überbetont werden, da sie ja auch von Studenten aus anderen Herkunftsregionen überwunden werden muß
Auch im Bereich der gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen vollzieht sich ein allmählicher Wandel Viele Menschen in Deutschland, die sich für ärmere Länder engagieren wollen, haben dies in den letzten Jahren in Ost-und Südosteuropa getan. Da die ideologischen Kämpfe in Europa und Lateinamerika vorerst zum Stillstand gekommen sind und selbst Castros Kuba kaum noch Anhänger mobilisieren kann, ist von den früher so aktiven Solidaritätsgruppen wenig übriggeblieben. All das trägt zu einer Schwächung der gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen bei. Und es fördert die besorgniserregende Tendenz, wonach sich die künftigen lateinamerikanischen Eliten nicht mehr in der gleichen Weise Europa verbunden fühlen werden wie in der Vergangenheit. Daß es in Deutschland immer weniger Lehrstühle mit einem Lateinamerikaschwerpunkt gibt, signalisiert und fördert das nachlassende Interesse an der Region.
VI. Die deutschen Interessen an Lateinamerika
Angesichts dieses ernüchternden Befundes im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der deutschen Beziehungen zu Lateinamerika erscheint es dringend geboten, ganz nüchtern nach den deutschen Interessen gegenüber dieser Region zu fragen Aus der Antwort ergeben sich eine Reihe von Gründen, warum Deutschland um intensivere Beziehungen zu Lateinamerika bemüht sein müßte und wie, mit welchen Instrumenten, diese Beziehungen unterhalten und ausgebaut werden sollten.
Ein im engeren Sinne sicherheitspolitisches Interesse an Lateinamerika, das mit einer potentiellen Bedrohungssituation zusammenhinge, gibt es nicht. Unter Bezug auf einen erweiterten Stabilitäts-und Sicherheitsbegriff aber kann es sehr wohl im deutschen Interesse sein, einen Beitrag zur Stabilität in der westlichen Hemisphere zu leisten. Instabilitäten aus sozialer Not, Migration oder Umweltkatastrophen betreffen zumindest mittelbar auch die Europäer. Im Hinblick auf die Drogenproblematik und Bekämpfung der Drogenkriminalität ist dies besonders augenfällig, aber auch im Hinblick auf die Umweltproblematik, deren Auswirkungen die Europäer viel deutlicher wahrnehmen als die Lateinamerikaner.
Die Finanz-und Wirtschaftskrise in Asien hat die Aufmerksamkeiten der Wirtschaft, die sich in den vergangenen Jahren sehr stark auf diese Region konzentrierte, wieder etwas stärker auf Lateinamerika gelenkt. Ob daraus tatsächlich ein größeres Engagement resultiert, bleibt noch abzuwarten. Selbst wenn Lateinamerika für die deutsche Wirtschaft kein prioritärer Exportmarkt sein wird, sollten die Potentiale der Region positiver eingeschätzt werden: Die weitreichenden Modernisierungsprogramme der lateinamerikanischen Volkswirtschaften und die Erneuerung der Infrastruktur bringen neue Absatzmärkte z. B. im Kapitalgüterbreich mit sich, die nicht leichtfertig aufgegeben werden sollten. Man darf nicht übersehen, daß von den mehr als 500 Millionen Lateinamerikanern etwa 180 Millionen über soviel Kaufkraft verfügen, um auch Produkte aus Deutschland oder deutscher Tochterunternehmen kaufen zu können. Das kann sich noch erhöhen, wenn es gelingt, die Wirtschaftsreformen fortzusetzen und die Wert-schöpfung in Lateinamerika zu steigern. Zudem hat die Finanz-und Wirtschaftskrise in Asien gezeigt, wie nützlich es sein kann, alternative Handelspartner zu haben.
Materiell weniger meßbar, aber nicht weniger wichtig sind die Werteinteressen. Das Ansehen Deutschlands in der Welt hängt nicht zuletzt davon ab, daß es sich weltweit für Frieden und Demokratie einsetzt. Die Lateinamerikaner verstehen sich als Teil einer westlichen Wertegemeinschaft, die sie (noch) viel stärker in Europa als in den Vereinigten Staaten repräsentiert sehen. Auf jeden Fall ist ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa in Lateinamerika viel stärker entwickelt als irgendwo sonst auf der Welt. Diese besonderen Bindungen haben immer wieder dazu geführt, daß die Lateinamerikaner gerade für deutsche Anliegen im internationalen Kontext (Alleinvertretungsanspruch, Wiedervereinigung) viel Verständnis aufbrachten. Auch in Zukunft kann es Situationen geben, in denen diese Bindungen für Deutschland unmittelbar nützlich sein können.
Die neue Rolle und Verantwortung Deutschlands in der Welt wird in politischen Sonntagsreden häufig hervorgehoben. Dem sollte die außenpolitische Praxis entsprechen. Die gestiegene internationale Verantwortung bedingt eine Gleichzeitigkeit von Problemen und damit auch ein stetes Vorhalten von gleichzeitig oder parallel einsetzbaren Lösungsinstrumenten und Handlungsoptionen. Wer international Verantwortung fühlt und akzeptiert, muß präsent sein. Deutschland und Europa sind keine Insel, die sich gegenüber Einflüssen von außen abschotten kann. Die verfassungs-und demokratiepolitischen Modelle ebenso wie die wirtschaftlichen und sozialen Standards werden Deutschland und Europa nicht bewahren können, wenn sie keine Anstrengungen unternehmen, um die Grundideen ihrer Ordnungsvorstellungen auch in anderen Ländern und Regionen vorzustellen und ihnen zum Durchbruch zu verhelfen. Das Werben für Demokratie, die Verwirklichung der Menschenrechte und eine Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, deren Ordnungselemente eine leistungsfähige Marktwirtschaft ebenso anstreben wie eine auf Gerechtigkeit abzielende Sozial-und Verteilungspolitik, müssen zentrale Themen der internationalen Politik Deutschlands sein. Lateinamerika bleibt hier ein bevorzugter Ansprechpartner im Dialog um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: die demographische Entwicklung, Migration, Umweltzerstörung, Friedenssicherung in regionalem und globalem Maße. Gerade derAustausch der gegenwärtigen und künftigen Eliten ist hier von besonderer Bedeutung.
Zu den neuen Gegebenheiten der deutschen Außenbeziehungen gehört, daß sie gar nicht mehr zu isolieren sind von der Einbindung in die europäische Zusammenarbeit -auch wenn die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäer in weiten Teilen noch ein Zukunftsprojekt ist. Tatsächlich ist spätestens seit den achtziger Jahren eine zunehmende Europäisierung der deutschen Beziehungen zu Lateinamerika festzustellen. Viele Defizite der nationalen Ebene wiederholen sich auf der europäischen, auch wenn es seit einigen Jahren zusätzliche Anknüpfungspunkte gibt; so z. B. die verschiedenen Absichtserklärungen, die auf eine Stärkung der beiderseitigen Kooperation und eine weitere Handelsliberalisierung hinauslaufen, dann aber -worauf eingangs am Beispiel der Verhandlungen um das Freihandelsabkommen mit dem MERCO-SUR verwiesen wurde -sehr rasch von der nationalen Seite her torpediert werden können.
Es sind aber nicht nur die Deutschen oder die Europäer insgesamt, die an der Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen arbeiten müssen. Auch die Lateinamerikaner sind gefordert, sich nicht nur auf Goodwill-Verhalten der Deutschen zu verlassen, sondern ihre eigenen Anstrengungen zugunsten operationaler Politikkonzepte in Richtung Deutschland (ebenso in Richtung anderer europäischer Länder) zu erhöhen. Dazu gehörten beispielsweise eine interessengeleitete Förderung des akademischen Austausches und die Vergabe von Stipendien an Nachwuchswissenschaftler und Studenten für einen Aufenthalt in Deutschland, daneben aber durchaus auch größere Anstrengungen lateinamerikanischer Unternehmen zugunsten von Investitionen in Europa und auch in Deutschland. In der Beziehung zwischen Deutschland und Lateinamerika scheint ein Moment gekommen, wo die Partner sich wieder darum bemühen sollten, neues Interesse aneinander zu finden. Gründe dafür gibt es genug.