I. Neues Leitbild oder neue Ausrede?
Bürgergesellschaftliche Traditionen sind in Deutschland nicht eben ausgeprägt. Das gilt übrigens für die meisten Länder Europas. Frankreich und Österreich, Schweden und Deutschland zum Beispiel hatten ihre Erfolge dank einer erfolgreichen Wirtschaft und/oder durch einen starken Staat, nicht als lebendige und selbstbewußte Bürgergesellschaften. Civil Society: Das ist keine deutsche, keine europäische, es ist eine amerikanische Praxis.
Frühen Beobachtern der alten Bundesrepublik wie etwa den amerikanischen Politikwissenschaftlern Gabriel Almond und Sidney Verba ist das recht deutlich aufgefallen; sie beschreiben deren politische Kultur als ausgesprochen outputorientiert. In den fünfziger und sechziger Jahren haben die Deutschen (West) die ungewohnte und früher auch ungeliebte Demokratie vor allem deshalb akzeptiert, weil sie mit ihren ökonomischen und sozialen Folgen und Erfolgen, die sie so rasch nicht erwartet hatten, höchst zufrieden waren. An ihren Früchten haben sie die Demokratie erkannt -und sie deshalb angenommen. Später erst schlug die Demokratiezufriedenheit dann eigenständige Wurzeln, und die gleichen Beobachter konnten etwas erstaunt feststellen, daß sich auch in Deutschland eine politische Partizipationskultur auszubreiten begann. Das Wurzelwerk der Demokratie ging nicht mehr nur in die Breite der ökonomischen und sozialen Zufriedenheit, es reichte auch in die Tiefen eines Bewußtseins, das aus der Vergangenheit gelernt hatte. Von außen fand sie überdies Halt und Stabilität durch den Wettbewerb der Systeme im Kalten Krieg.
Es ist offensichtlich: Die Zeiten haben sich geändert. Zwei Veränderungsschübe haben die Einstellungen der Deutschen zur Demokratie ins Mark getroffen -und vielerorts einen oberflächlichen Kult um die „Bürgergesellschaft“ entstehen lassen. Der Ost-West-Gegensatz ist weggefallen. Für die einen -die im Westen -ist die Alternative zur Demokratie räumlich (und auch zeitlich) nicht mehr nahe. Für die anderen -die im Osten -rückt die SED-Diktatur zeitlich in immer weitere Ferne, und in der milden Abendsonne der Erinnerung erscheint ja bekanntlich, wie Milan Kundera einmal treffend bemerkt hat, selbst die Guillotine in einem warmen Licht. Die andere Veränderung: Die alten Quellen der Demokratiezufriedenheit sprudeln nicht mehr so wie früher. Eine Politik, Regierung wie Opposition, die über Jahrzehnte den Menschen immer mehr versprochen und von ihnen immer weniger -außer Steuern und Abgaben -verlangt hatte, sieht schlecht aus, wenn die Versprechen nicht mehr zu halten, Legitimation und Glaubwürdigkeit für eine andere politische Praxis aber verbraucht sind. Politikverdrossenheit ist verschwunden, als Begriff, nicht als Zustand. Man erwartet einfach nicht mehr viel von der Politik. Und das in einer Lage, in der sich, zum ersten Male seit langem, die Demokratie ganz aus sich selbst heraus begründen muß. Was Francis Fukuyama und andere als das „Ende der Geschichte“ beschrieben haben, als den ultimativen Triumph der liberalen Demokratie und der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, erweist sich langsam als der Beginn einer unsicheren politischen Reise durch unwegsames Gelände und mit unbekanntem Ziel.
Es ist diese Lage von Politik und Gesellschaft, welche die unerwartete Konjunktur der „Bürgergesellschaft“ erklären dürfte. Allenthalben, in Zeitungen und Büchern, in Akademien und sogar in Parteiprogrammen, ist von ihr die Rede. Wer freilich etwas genauer hinschaut, wird rasch entdekken: Sie wird meistens gesucht und gepredigt als Ausfallbürge und als Kompensation für alle möglichen Ausfallerscheinungen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Bürgergesellschaft soll’s wieder richten: Wie alles, was gegenwärtig im Lande gedacht oder gemacht wird, muß sie sich natürlich auch als Heilmittel gegen die Arbeitslosigkeit empfehlen. „Bürgerarbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren!“, so lautet das Motto. Wo die Sozialkassen in Schwierigkeiten geraten, soll das freiwillige soziale Engagement helfen. Wenn Nachbarn Angst vor Dieben und Einbrechern haben, sind Bürgerwehren zur Stelle. Wen die Frage umtreibt, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält, der sucht mehr Bürger-und Gemeinsinn. So vernünftig einzelne Vorschläge auch immer sein mögen (und so unsinnig andere), allen diesen Denkfiguren ist doch eines gemeinsam, der falsche Kern im Wahren: Man trägt die Mode der Bürgergesellschaft, um Blößen zu verbergen. Die neuen Kleider sollen vergessen lassen, daß der Kaiser nackt ist. Die „Bürgergesellschaft“ wird gefeiert als Mittel zum Zweck; als Reparaturbetrieb; als Billigangebot. Sie wird, etwas freundlicher gesagt, angerufen wie manche Heilige in der katholischen Liturgie: immer dann, wenn sonst nichts mehr hilft. Solange es auch ohne sie geht, fühlt man sich eigentlich besser.
Solange es auch ohne sie ging, war von Bürgergesellschaft in Deutschland keine Rede, und die Deutschen haben sich gut gefühlt dabei. Solange sie sich auf die klassischen Systeme für Wohlfahrt und Wohlstand, also auf Staat, Wirtschaft und Familie, verlassen konnten, brauchten und vermißten sie keine Bürgergesellschaft. Seit aber die Wirtschaft nicht mehr jedem einen Erwerbsarbeitsplatz zur Verfügung stellen kann; seit der Staat nicht länger immer mehr soziale Güter, Dienste und Leistungen bezahlen kann; seit die Familien(frauen!) nicht mehr wie seit Bismarcks Zeiten als freie soziale Ressource betrachtet werden können, rühren sich allenthalben Denker und Macher, die das soziale Haus der Bundesrepublik reparieren und erweitern, anbauen oder um eine Etage aufstocken wollen; und über dem Ganzen wird dann die „Bürgergesellschaft“ aufgepflanzt. Es ist die These dieses Beitrages, daß dieser Versuch nicht gelingen kann. Die Bürgergesellschaft wird gelingen als ein Akt der Neubegründung und der Wiederaneignung der Demokratie und des Sozialen, oder sie wird nicht gelingen. Nur als Bild, als Leitbild einer aktiven und guten Gesellschaft, das zu gemeinsamen Anstrengungen zu motivieren vermag, dürfte sie auch die erwünschten Folgen zeitigen. Als eine Art rhetorisch , aufgemotzte 4 Kompensation von Defiziten in Politik und Gesellschaft wird sie keine Zukunft haben -zum Glück, möchte man sagen. Dafür aber wäre sie selbst bei vollen Kassen und bei Vollbeschäftigung ein erstrebenswerter Zustand, besser als alle denkbaren Alternativen.
Im folgenden werden die Idee der Bürgergesellschaft beschrieben (II), ihre Potentiale und Möglichkeiten aufgezeigt (III), die Voraussetzungen genannt (IV), aber auch die Widerstände und die Grenzen markiert (V).
II. Die Idee der Bürgergesellschaft
Die Idee der Bürgergesellschaft hat ihren Ursprung in einer politischen Anthropologie, in deren Mitte der einzelne und einzigartige, auf Gemeinschaft hin angelegte Mensch steht. Durch ihre soziale Praxis erschaffen Menschen, lange vor aller politischen oder gar staatlichen Intervention, Gemeinschaften der verschiedensten Art: Freundschaften und Familien, religiöse, wirtschaftliche, politische Gemeinschaften. Letztere wird in der Tradition der klassischen politischen Philosophie verstanden als jene „höchste“ und „umfassende“ Ordnung, die alle anderen Teilordnungen umgreift, ohne diese zu dominieren. Am Anfang der Bürgergesellschaft steht also nicht der Staat oder die Wirtschaft, sondern das Individuum in seinen sozialen Bezügen. In diesem Verständnis hat die politische Gemeinschaft eine doppelte Aufgabe: Sie wird einmal auf die richtige Beziehung zwischen den verschiedenen Teilordnungen, also zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, achten und -dies vor allem -zu verhindern suchen, daß sich eine Gemeinschaft, der Staat etwa oder die Wirtschaft, der ganzen Gesellschaft bemächtigt; und die politische Gemeinschaft wird sich zum andern all jener Aufgaben annehmen, die alle gemeinsam betreffen und die alle nur gemeinsam lösen können. Bei beiden Aufgaben wird sich die politische Gemeinschaft leiten lassen von der regulativen Idee eines „guten Lebens“, einer „guten Gesellschaft“. Die katholische Soziallehre wird später vom „Gemeinwohl“ sprechen, von den „kollektiven Gütern“ die neuere politische Ökonomie. Wie auch immer: Der Idee der Bürgergesellschaft, ob als Polis, Res publica oder Civil Society, liegen stets Vorentscheidungen, ein idealistischer Vorgriff sozusagen, zugrunde, der die Menschen als aktive und autonome, als freie und verantwortliche Bürger setzt; und stets hat die Idee der Bürgergesellschaft normativ-kritische Konsequenzen für die verschiedenen Teilsysteme wie für die Gesellschaft, den herrschenden Status quo, als Ganzes. Dazu gehören -die Idee eines sozialen Individualismus (Personalismus), welche besagt, daß Ordnungen und Politiken stets im Hinblick auf ihre Folgen für einzelne und einzigartige Menschen beurteilt werden sollten, nicht für Rassen oder Klassen oder Geschlechter oder andere Kollektive;
-die Vorstellung von einer Pluralität von Ordnungen, deren Beziehungen untereinander gestaltet werden müssen, deren je eigene Logik aber nicht unterlaufen und deren Eigensinn nicht anderen geopfert werden dürfen;
-die Idee des Primates der Politik als jenes Mediums, „mit dem die Gesellschaft auf sich selbst einwirkt“ (Habermas), um basale morali23 sehe und Gerechtigkeitsvorstellungen durchzusetzen
Und nicht zuletzt meinen Leitbilder wie Polis, Res publica, Bürgergesellschaft, daß es ein weites soziales Feld jenseits des ökonomischen und staatlichen Zugriffs geben sollte; Aktivitäten und Unternehmungen, die freiwillig sind, aber nicht privat, öffentlich, aber nicht staatlich.
So stehen Begriff und Idee der „Bürgergesellschaft“ für das Ganze und den Teil:
-für eine Gesellschaft, in der die Menschen in möglichst vielen Rollen an unterschiedlichen sozialen Spielen teilnehmen können, als Staatsbürger und Wirtschaftsbürger, als Kulturbürger und Sozialbürger; und der Begriff steht -für einen Teil, für jenes soziale Feld der Gesellschaft jenseits von Markt und Staat, das gegenwärtig nicht nur in Deutschland weitgehend brachliegt, aber in Zukunft immer bedeutender werden dürfte für das Schicksal und die Lebensqualität der Menschen
III. Chancen und Möglichkeiten einer Bürgergesellschaft oder: Warum wir eine Bürgergesellschaft brauchen
Die Bürgergesellschaft ist erstrebenswert, weil es in ihr den Menschen und der Gesellschaft insgesamt besser geht. Damit sind nicht alleine die materiellen Lebensbedingungen gemeint, so wichtig diese auch sind, sondern vor allem auch die Lebensqualität. Nicht nur der Wohlstand, sondern auch die Wohlfahrt der Menschen. Nicht nur das soziale Wohlbefinden der einzelnen Menschen, sondern die soziale Qualität des Gemeinwesens insgesamt. Beides hängt zusammen: Es geht den Menschen besser, wenn sie das Gefühl haben, in einer Gesellschaft zu leben, in der es gerecht zugeht, die gut organisiert ist und die auch etwas von ihnen erwartet. Ebenso gilt: Die Menschen sind insgesamt aktiver, flexibler, auch risikobereiter, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und wenn sie sich darauf verlassen können, unterwegs mit ihren „riskanten Freiheiten“ (Ulrich Beck) nicht ins Bodenlose abzustürzen.
Es sind insbesondere vier positive Wertziele, die eine Bürgergesellschaft begründen und legitimieren: 1. Demokratie erneuern: Die neue demokratische Frage Die Bürgergesellschaft gibt eine Antwort auf die neue demokratische Frage. Sie ergänzt den demokratischen Verfassungsstaat um eine eigenständige Dimension. Demokratie bedeutet ja nicht nur, daß Menschen von Zeit zu Zeit abstimmen und jene wählen, die dann für sie die Entscheidungen treffen. Diese Form demokratischer Elitenherrschaft ist zwar alternativen Formen der Volksdemokratie vorzuziehen, aber sie enthält nicht das ganze Versprechen der Demokratie. Dezentralisierung, Teilhabe, Selbstverwaltung, Selbstorganisation der Gesellschaft umschreiben jene andere Dimension der Demokratie, die in der deutschen Tradition fast durchgängig ausgeblendet blieb. Der Ort für eine solchermaßen „starke Demokratie“ (Benjamin Barber), der primäre Ort der Bürgergesellschaft sind Städte und Gemeinden.
Diese Perspektive ergänzt den demokratischen Diskurs der vergangenen 200 Jahre um eine dritte Dimension. Der demokratische Verfassungsstaat der Neuzeit hat Antworten gesucht und gefunden auf zwei Fragen:
-auf die Frage der Souveränität: Wie können wir erreichen, daß der Staat nach innen und nach außen souverän, also handlungsfähig und durchsetzungsstark ist?
-auf die Frage der Legitimation: Wie können wir erreichen, daß die solchermaßen „souveräne“
staatliche Herrschaft im Interesse aller und nicht nur weniger ausgeübt wird?
Diese beiden Fragen beherrschen nach wie vor den demokratischen Diskurs. Die Stichworte lauten Regierbarkeit und Legitimationsverlust. Entsprechend treten auch nur zwei mögliche Gefahren in den Blick: die Handiungsschwäche und die autoritäre Versuchung einer demokratischen Ordnung. Ein Scheitern der dritten Art: die schleichende Entfremdung der Bürger, die auf ihre Rolle als Stimmbürger reduziert werden; die leise Erosion der Demokratie, wenn sie nicht mehr durch sichtbare und schnelle Erfolge überzeugen kann; das Verdorren der demokratischen Wurzeln in der Gesell-schäft: all diese Ausfallerscheinungen kamen dem staatsfixierten Begriff von Demokratie gar nicht erst in den Blick Das Konzept der Bürgergesellschaft sprengt die Engführung der Debatte auf die demokratische Staatlichkeit, indem sie nach Wegen einer demokratischen Selbstorganisation der Gesellschaft fragt mit dem Ziel, daß sich möglichst viele Leute einbringen können mit ihren Fähigkeiten, Interessen und Leidenschaften -und möglichst wenige ausgegrenzt werden. 2. Ausgrenzung verhindern:
Die neue soziale Frage Die Bürgergesellschaft gibt eine Antwort auf die neue soziale Frage, wie die Spaltung der Gesellschaft und die soziale Exklusion vieler Menschen zu verhindern seien. Auch wenn man noch beträchtliche Wachstumspotentiale des Arbeitsmarktes, etwa im Bildungs-, Gesundheits-und Dienstleistungsbereich, einräumen mag; auch wenn die Möglichkeit einer anderen Verteilung von Arbeit -vor allem dadurch, daß kürzere Arbeitszeiten sozial und ökonomisch attraktiver gemacht werden -noch lange nicht ausgeschöpft sind: Es wird in Zukunft eine große Anzahl von Menschen geben, die nicht über die Erwerbsarbeit in die Gesellschaft integriert werden (können oder wollen) Die alte soziale Frage bestand darin, die Ausbeutung der arbeitenden Menschen zu verhindern. Die Antwort auf diese Frage ist als ein eindrucksvolles Werk zu besichtigen: Tarifautonomie, Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Sozialstaat. Die neue soziale Frage besteht darin, die Ausgrenzung der nicht arbeitenden Menschen zu verhindern. Die Antwort besteht vor allem in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Der Unterschied in den Antworten, die die alte und die neue soziale Frage gefunden haben, kommentiert sich selbst. 3. Soziale Anstalten in sozial lebendige Orte verwandeln In den vergangenen drei Jahrzehnten haben die sozialen und andere Dienste eine durchgängige Professionalisierung erfahren: in Schulen, Krankenhäusern, Altenheimen, Bibliotheken usw. In diesen Einrichtungen leisten Hauptamtliche professionell gute Arbeit. Gleichzeitig hat sich der Rest der Gesellschaft daran gewöhnt, soziale Probleme an soziale Einrichtungen zu delegieren -und damit oft genug zu entsorgen. Von Ausnahmen abgesehen herrscht in solchen Einrichtungen jenseits der professionellen Maßnahmen eine soziale Ödnis; sozial lebendige Orte sind es jedenfalls nicht. Wer alte Menschen beobachtet hat, wie sie sonntagsnachmittags im Aufenthaltsraum ihres Heimes Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, derweil die Cafeteria direkt daneben öd und leer ist, weil keine Freiwilligen da sind. Hauptamtliche aber zu teuer und die Alten angeblich zu „inkompetent“ sind, diese zu betreiben; wer Menschen im Krankenhaus, die Angst vor der Operation im Gesicht, hat umherirren sehen, bis sie nach einiger Zeit eingewiesen waren; wer sich von der Leiterin einer Stadtbibliothek hat erzählen lassen, wie im Winter Obdachlose vor der Kälte in die Bücherstube flüchten, wo es dann von der jeweiligen Bibliothekarin abhängt, ob sie hinausgeworfen werden oder etwas sozial Vernünftiges mit ihnen geschieht, der kann sich auf all diese disparaten Beobachtungen einen gemeinsamen Reim machen: Es gibt in unserem Lande hinter gut ausgestatteten und finanziell gut „befestigten“ Mauern von Einrichtungen oft genug eine soziale Wüste. Warum wird nicht an allen staatlichen und auch privaten (Unternehmen!) Einrichtungen je eine kleine soziale Taskforce eingerichtet, ein Team von drei, vier hauptamtlichen Sozialarbeitern, deren doppelte Aufgabe darin besteht, Freiwillige zu mobilisieren und die Anstalten zu motivieren (und zu beraten), sich für das soziale Engagement Freiwilliger zu öffnen, eine soziale Taskforce, deren Stärke, Bezahlung und Ansehen sich danach richten (und mehren) könnten, wie erfolgreich sie bei der Aktivierung sozialer Ressourcen in der Gesellschaft ist? Man darf vermuten, daß es den Menschen drinnen und draußen unter solch veränderten Umständen besser ginge. Die soziale Qualität der Einrichtungen und damit des Gemeinwesens zu verbessern: darin besteht das dritte Ziel einer aktiven Bürgergesellschaft. 4. Das Leben der Menschen bereichern:
Sinn, Abwechslung, Abenteuer Die Bürgergesellschaft kann, wenn sie gelingt, das Leben der Menschen bereichern. Damit sind nicht nur die Empfänger guter Taten und sozialer Barmherzigkeit gemeint, sondern gerade auch all jene, die sich für andere oder für das Gemeinwohl engagieren. Die katholische Caritas und die evangelische Diakonie kannten diese Motivation schon immer, wenn sie die Gläubigen anspornten, Gutes zu tun,. . . denn Euer Lohn wird groß sein im Himmel. Wer die Bürgergesellschaft auf eine breite Grundlage stellen will, der wird auch innerweltliche Motivationen und Gratifikationen für soziales Engagement als legitim anerkennen müssen: Wer sich um andere und nicht nur um sich selbst kümmert, der führt möglicherweise ein interessanteres, ein abwechslungsreicheres Leben. Der amerikanische Soziologe Robert Wuthnow hat Beispiele einer solchen Praxis des altruistischen Individualismus, bei der die Grenzen zwischen Altruismus und Individualismus fließend werden, einer Praxis, in der „die Sorge für andere als Sorge für uns selbst“ aufscheint, zusammengestellt und ausführlich beschrieben Man kann an allen Ecken und Enden Belege für diese Zusammenhänge finden. Der Wiener Psychiater Viktor E. Frankl spricht in einem seiner Bücher vom „Leiden am sinnlosen Leben“, weil viele keine Aufgabe, keinen Menschen, keine Aktivität mehr haben, die über sie selbst hinaus-weist. Der Havard-Politologe Robert D. Putnam konnte in seinem bekannten Bowling-alone-\\itsatz zeigen, daß Menschen, je besser sie mit anderen „vernetzt“ sind, um so weniger anfällig für soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Drogenkonsum, Krankheiten sind. Wer von seinem Leben noch etwas erwartet und mit anderen noch etwas unternimmt, hat eine längere Lebenserwartung. Leben und Tod hängen (vertikal) auch von der sozialen Leiter ab, auf der sich Menschen befinden, und sie hängen (horizontal) auch von der Qualität der Gemeinschaften ab.deren Teil sie sind Wer etwas für andere tut, hilft sich damit selbst, kann sich gerade dadurch verwirklichen. Mit einem manichäistischen Weltbild, das die soziale Welt einteilt in zwei Lager -in die Kinder des Lichts und in die Kinder der Finsternis, in jene, die sich selbstlos für andere aufopfern, und in jene, die sich egoistisch und hedonistisch selbst verwirklichen -, lassen sich diese Beobachtungen nicht erklären. Eine sozial aktive Bürgergesellschaft trägt dazu bei, setzt aber auch voraus, Individualismus und soziales Engagement in einem neuen Licht zu sehen; sie läßt sich auch als Einladung verstehen, für sich selbst ein erfülltes Leben zu leben, indem man etwas für andere, für das Gemeinwesen tut. Eine Brücke über den Abgrund, der Menschen trennt, eine Brücke aber auch, die Emanzipation und Engagement verbinden könnte.
IV. Voraussetzungen und Veränderungen: Was eine Bürgergesellschaft braucht
Über das Ziel einer Bürgergesellschaft läßt sich noch einigermaßen leicht ein unverbindlicher Konsens herstellen. Das ändert sich rasch, wenn man die Wege zum Ziel näher betrachtet. Die Bürgergesellschaft ist nicht voraussetzungslos zu haben. Die Schritte der Reform betreffen insbesondere vier Bereiche und Akteure: den Staat und die Wirtschaft; den Auf-und Ausbau eines Dritten Sektors und natürlich die Bürger selbst, ohne die eine Bürgergesellschaft schlecht zu haben ist. 1. Auf dem Weg zu einem aktivierenden Staat Auch die Bürgergesellschaft braucht einen Staat, aber sie braucht einen anderen Staat. Sie erfordert ein neues Nachdenken darüber, welche Aufgaben er -und nur er -erfüllen kann und auf welche Weise er sie am besten erfüllen sollte. Nur der Staat kann, beispielsweise, die zur Bekämpfung der Armut notwendigen finanziellen Transfers organisieren. Eine intelligente Umverteilungspolitik, die dazu beiträgt, daß alle von den Veränderungen profitieren, bleibt eine wichtige Aufgabe des Staates vor allem in den Zeiten der Globalisierung und der dritten industriellen Revolution, welche die Gesellschaft insgesamt ökonomisch reicher, aber auch sozial ungleicher machen werden, wenn nichts geschieht. Sozialer Ausgleich, etwa bei der Förderung bedürftiger Studenten, bedeutet aber nicht, daß die Hochschulen als staatliche Veranstaltungen betrieben werden müssen und daß Bildung und Studium für alle „freie Güter“ sein müssen. Das führt nämlich eher zu einer Umverteilung von unten nach oben, wenn der Facharbeiter über seine Steuern das freie Studium der Kinder von Gutverdienenden mitfinanziert. Zu den Schutz-und Sicherungsfunktionen des Staates wird künftig gleichberechtigt seine aktivierende Aufgabe hinzukommen müssen Die Idee der Bürgergesellschaft verlangt einen Staat, der sich bei all seinen Strukturen und Tätigkeiten fragt, ob sie zur Aktivierung der Menschen beitragen oder ob sie diese eher lahmlegen. Das fängt an bei den Sozial-und Arbeitsämtern, die vielerorts zu einer Art Renten-kasse zur Daueralimentierung passiver Menschen verkommen sind, und es hört bei den Schulen noch nicht auf, die wenig Anreize bieten, daß Lehrer, Eltern und Schüler mehr Aktivitäten entfalten. 2. Eine neue Synergie zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Wirtschaft und Kapital gehören ohne Zweifel zu den Gewinnern der Entwicklung. Die Spannungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft lassen sich einfach beschreiben und nur schwer gestalten: Eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung ist eine notwendige, aber keine hinrei-chende Bedingung für eine erfolgreiche, gedeihliche Entwicklung der Gesellschaft. Eine erfolgreiche ökonomische Entwicklung erfordert Rationalisierungen, deren „Gewinne“ (im weitesten Sinne) den Betrieben und Unternehmen, den (noch) Beschäftigten und den Aktionären zufallen, deren soziale Kosten aber in die Gesellschaft hinein externalisiert, vor den Toren der Städte und Gemeinden abgeladen werden. Was betriebswirtschaftlich rational ist, kann sich sozial katastrophal auswirken. Die Idee der Bürgergesellschaft bedeutet die Zumutung an Wirtschaft und Unternehmen, sich solchen Zusammenhängen zu stellen, und diese Idee verpflichtet die Politik darauf, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Im Kern geht es dabei um zwei Fragen: Wie und an wen sollen die „Gewinne“, die sich aus den Prozessen der Globalisierung und der Digitalisierung ergeben, verteilt werden, und wer soll die negativen sozialen Folgen, allgemein: die sozialen „Kosten“, die aus ihnen ebenfalls folgen, auf welche Weise tragen? Die Idee der Bürger-gesellschaft konzentriert die öffentliche Aufmerksamkeit auf die zentrale Frage der Zukunft: auf die Organisation der Arbeitswelt und auf den sozialen Zusammenhalt. Sie plädiert für eine Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft, die gleich weit entfernt ist von einem Neo-Merkantilismus, der die Wirtschaft dem Staat, wie von einem Neo-Liberalismus, der die Gesellschaft der Wirtschaft unterwirft. Eine neue, konstruktive Beziehung zwischen diesen beiden Großmächten der Gesellschaft könnte in einem sozialen Deal’ bestehen, daß die ökonomischen Prozesse, auch wenn sie Ungleichheit schaffen, sich optimal entfalten sollen, daß aber die Politik diese Ungleichheiten soweit wieder ausgleicht, daß am Ende basale, in der Gesellschaft virulente Gerechtigkeitsvorstellungen nicht verletzt werden. 3. Das soziale Feld jenseits von Markt und Staat bestellen: Ein Dritter Sektor auf Dauer und aus eigenem Recht Eine Bürgergesellschaft braucht einen vitalen Dritten Sektor. Er umfaßt sämtliche Tätigkeiten, die weder der ökonomischen noch der staatlichen Logik gehorchen und die durch ein hohes Maß an Selbstbestimmung und ideelles Engagement gekennzeichnet sind Ein weites Feld, das genossenschaftliche Unternehmen, Beschäftigungsgesellschaften, Eigenarbeit, soziales und bürgerschaftliches Engagement und natürlich den traditionellen Dritten Sektor, die Familie umfaßt; ein weites Feld, das die traditionelle Erwerbsar-beitsgesellschaft um eine neue Tätigkeitsgesellschaft ergänzt. Sinn und Aufgabe des Dritten Sektors bestehen darin, Gelegenheiten und Strukturen für sinnvolle und notwendige Tätigkeiten jenseits von Markt und Staat zu schaffen. Damit er seine Potentiale entfalten kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Die wichtigsten davon sind eine Ordnungspolitik für den Dritten Sektor, welche Transparenz schafft, Diskriminierungen verhindert, Marktzugänge erleichtert, soziale Existenzgründungen unterstützt; eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechtes, welches die Kapitalbildung erleichtert und das Konkurrenzverbot beseitigt; schließlich eine entsprechende soziale Infrastruktur, die das „Angebot“ von und die „Nachfrage“ nach sozialen Aktivitäten zusammenbringen (soziale Makler). CBOs, Community Based Organisations, werden künftig für die Entwicklung unserer Städte und Gemeinden ebenso wichtig sein wie die NGOs, die Non-Governmental-Organisations, für die internationale Entwicklung. Und schließlich: Eine vitale Bürgergesellschaft wird auf Dauer nicht zu haben sein ohne eine Reform des Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung nach der Maxime: mehr politische Autonomie, mehr Aufgaben und mehr Mittel in die Länder und in die Kommunen. 4. Der Bürger, das unbekannte Wesen? „Idealistisch betrachtet, ist die Idee eine wunderbare Sache. Aber sie funktioniert nicht in der Praxis. Wie überzeugt man apathische Menschen, daß sie, wenn sie aufhören, apathisch zu sein, der Gesellschaft insgesamt und sich selbst viel Gutes tun können?“
Diese Stimme einer amerikanischen Frau, aus dem Mutterland der Bürgergesellschaft, bringt viele kritische Einwände, die auch hierzulande vorgetragen werden, auf den Punkt. Mit den Deutschen sei im Zweifel Staat, ein Sozialstaat und auch ein Wirtschaftswunder zu machen, aber sicher keine Bürgergesellschaft. Eine Bürgergesellschaft also ohne Bürger? Als Erwiderung auf solche Einwände könnte man nun auf deren negativen Rassismus aufmerksam machen, der da durchschlägt: Dem Wesen der Deutschen seien eben durch alle Zeiten bestimmte Merkmale eigen, unter anderem eben politische und bürgerschaftliche Apathie. Man könnte die Empirie dagegenhalten, daß sich Menschen und Kulturen ändern können und daß das soziale Engagement in Deutschland in den vergangenen Jahren eher zu-als abgenommen hat
Vor allem aber erinnert der Einwand fatal an ein anderes Vorurteil: Mit den Deutschen sei keine Demokratie zu machen. Eine Demokratie ohne (genügend) Demokraten hat es in der Tat gegeben, in der Weimarer Republik, aber das lag nicht an der den Deutschen wesenhaft angeborenen Unfähigkeit zur Demokratie, sondern an konkreten Bedingungen, Gruppen, Personen. Inzwischen hat die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine andere Lektion erteilt: Es ist beides möglich. Der politische Charakter einer Gesellschaft kann sich ändern, wenn sie und ihre Eliten nur wollen und wenn sie die richtigen Institutionen hat. Warum sollte, was gestern die Demokratie möglich gemacht hat, nicht auch morgen für eine aktive Bürgergesellschaft möglich sein, vorausgesetzt nur -hier wie dort -, daß sich die Politik nicht selbst abwickelt?
V. Widerstände und Grenzen
Die Idee der Bürgergesellschaft mobilisiert gesellschaftliche Widerstände. Sie wirft die Machtfrage auf. Bei den Gewerkschaften gibt es viele, die eine Bürgergesellschaft skeptisch betrachten aus Angst, sie könnte die Arbeitsgesellschaft und die Suche nach Vollbeschäftigung schwächen. In den Verbänden der Industrie und der Arbeitgeber gibt es viele, die noch immer glauben, der Markt werde schon alles richten. Die Innungen, Zünfte, Kammern fürchten um ihre Privilegien. Aber die Idee der Bürgergesellschaft rührt auch an mentale und ideologische Besitzstände rechts wie links, da jede Politik für den Dritten Sektor marktradikale oder staatsfixierte Reinheitsgebote verletzen wird. Die Bürgergesellschaft ist ein Konzept nicht für die alten Schützengräben, sondern für eine neue Mitte, wenn sie denn mehr ist als ein Slogan zur rechten (Wahlkampf-) Zeit.
Um so wichtiger ist es deshalb, ihre Grenzen zu markieren. Die drei wichtigsten: Der Dritte Sektor bietet keine Wege zurück in die alten Sicherheiten der früheren beruflichen Normalbiographien; er verlangt vielmehr ein soziales Management der neuen Unsicherheiten, die mit flexiblen Lebensläufen verbunden sein werden. „Bürgerarbeit“, Ehrenamt, soziales Engagement sind keine Mittel gegen die Arbeitslosigkeit Sie erreichen vor allem jene, die ohnehin gut in die (Arbeits) Gesellschaft integriert sind. Der Slogan „Bürgerarbeit statt Arbeitslosigkeit“ tut deshalb der Sache keinen guten Dienst. Und schließlich, man kann es nicht oft genug wiederholen: Die Bürgergesellschaft ist kein Konzept gegen den Staat oder die Marktwirtschaft, wird aber, wenn sie erfolgreich ist, beide verändern und -dies vor allem -beide wieder in den richtigen Zusammenhang eines größeren Ganzen bringen, in dem sich dann auch bisher unlösbare Probleme („Arbeitslosigkeit“, „Krise des Sozialstaates“) in einem neuen Lichte zeigen.