Geschichtlicher Überblick
Estland -die nördlichste der drei baltischen Republiken -ist ein relativ junger, erst im 20. Jahrhundert entstandener Nationalstaat. Seine Geschichte reicht jedoch, wie Lennart Meri, einer der führenden Politiker des Landes, einmal sinngemäß formulierte, 50 Jahrhunderte zurück. So lange leben die Esten bereits in den auch heute noch bestehenden Siedlungsgebieten; ein für europäische Verhältnisse ungewöhnlich langer Zeitraum. Die Geschichte der Esten ist sehr eng mit der der Liven und Letten verknüpft, wiewohl die Esten selbst keine baltische, sondern eine finno-ugrische Sprache sprechen und somit mit den Finnen, Ungarn und anderen uralaltaischen Völkerschaften verwandt sind
Bereits im 10. und 11. Jahrhundert wurden die baltischen Siedlungsgebiete zum Ziel mitteleuropäischer Händlerunternehmungen. Während es den autochthonen Völkerschaften zunächst noch gelang, die Schweden, Dänen und auch Russen abzuwehren, waren sie den deutschen Missionsbestrebungen seit dem Ende des 12. Jahrhunderts -beginnend 1184 mit Meinhard von Segeberg -nicht gewachsen. Unter dem norddeutschen Domherren und späteren Bischof von Livland, Albert von Buxhoeveden, fanden mehrere Kreuzzüge ins „Marienland“ statt. Mit Hilfe des Schwertbrüderordens und der Dänen erfolgte die blutige, von 1208 bis 1227 währende Unterwerfung der Letten, Liven und Esten, die für die kommenden Jahrhunderte in ein immer drückender werdendes Abhängigkeitsverhältnis zu den neuen Herren im Land gezwungen werden sollten.
In der Georgsnacht (Jüriöö) des Jahres 1343 wurden viele Kleriker, Mönche, Ritter und Vasallen des Ordens von den Esten, die sich zu einem landesweiten Aufstand zusammengeschlossen hatten, ermordet; doch in den folgenden Jahren konnte der livländische Ordenszweig des Deutschen Ordens, in dem der Schwertbrüderorden aufgegangen war, das Land „befrieden“. Während es Wolter von Plettenberg, dem berühmtesten Ordens-meister Alt-Livlands (1494-1535), noch gelang, die immer deutlicher werdenden Expansionsgelüste des Moskauer Großfürstentums abzuwehren, fand der Ordensstaat im Livländischen Krieg (1558-1582) dann ein recht rasches Ende; der estnische Landesteil wurde schwedisch, der livländische polnisch, die Insel Ösel (Saaremaa) dänisch und Kurland Lehnsherzogtum Polens
Für Estland begann ein Jahrhundert, das -trotz aller Kriege zwischen Polen und Schweden im 17. Jahrhundert -im Bewußtsein der Esten als „die gute alte schwedische Zeit“ verhaftet blieb. Die Anstrengungen der Herrscher auf dem Gebiet der Schulbildung (Gründung der Universität Dorpat [Tartu] 1632) wie auch die gegen die bisherige ständische Oberschicht der Deutschbalten gerichtete Politik muß wohl zu dieser Einschätzung maßgeblich beigetragen haben.
Der Kampf um die Vorherrschaft im Baltikum erreichte eine neue Qualität, als Peter L, „Zar aller Reußen“, im Verlauf des Nordischen Krieges (1700-1721) die schwedische Vormachtstellung zerschlug. (Tallinn), 1710 kapitulierte Reval und die schwedischen Gebiete Estland und Livland wurden dem Russischen Reich inkorporiert, wobei der Zar die Privilegien der deutschbaltischen Oberschicht (Ständeverfassung, evangelisch-lutherischer Glaube, Landesautonomie, deutsches Recht, deutsche Sprache, deutsche Verwaltung) bestätigte. Für die folgenden 200 Jahre blieb Estland nun von Kriegen verschont
Im 19. Jahrhundert fanden maßgebliche politische, ökonomische und soziale Veränderungen im Baltikum statt, die auch die Entwicklung im 20. Jahrhundert prägen sollten. Nachdem Dorpat seine Universität wieder eröffnen durfte (1802), wurde die drückende Leibeigenschaft in Estland (1816) sowie in Livland (1819) aufgehoben; die estnischen Bauern erhielten ihre persönliche Freiheit. In der Mitte des Jahrhunderts folgten weitere Agrarreformen, die es den Bauern erlaubten, nun auch eigenes Land zu erwerben. Die estnischsprachige Presse und Literatur, Theater und Musik, das Vereinswesen hatten ihre erste Blüte, so daß man für die Zeit von 1850 bis ca. 1890 vom „nationalen Erwachen“ der Esten, von der Bewußtwerdung des Bauernvolkes als eigenständige Nation sprechen kann. Sinnbildlicher Ausdruck hiervon war das 1869 in Dorpat stattfindende erste allgemeine estnische Sängerfest, dessen Tradition bis in die Gegenwart reicht. Gleichzeitig begann der politische Niedergang der bisher dominierenden deutschbaltischen Bevölkerungsschicht, die im Zuge der Russifizierungsmaßnahmen der zarischen Regierung in St. Petersburg immer mehr Privilegien verlor, die ihr bislang gewährt worden waren
Am Ende des 19. Jahrhunderts setzten auch in Estland gravierende ökonomische Umbrüche ein: Mechanisierung, Industrialisierung und Urbanisierung veränderten die baltischen Ostseeprovinzen des Russischen Reiches von Grund auf. Die Russische Revolution von 1905 griff auch auf Estland über; die dortigen Unruhen, die bei weitem nicht so blutig verliefen wie z. B. in Livland oder Kur-land, wurden von zaristischen Truppen und Deutschbalten gemeinsam niedergeschlagen. Bis zum Ersten Weltkrieg gelangten infolge der zaghaften politischen Reformen des Zarenreiches Esten in politische Ämter, in Stadtverwaltungen, ja sogar in die Reichsduma. Während des Krieges erfolgte die Zwangsliquidierung des deutschen Grundbesitzes, die Verwaltungsgrenzen der Gouvernements wurden -nun schon unter der Provisorischen Regierung -analog den Sprachgrenzen im April 1917 neu geordnet. Die sich im Folgemonat anschließenden Wahlen zum estnischen Landtag (Maapäev) waren die ersten demokratischen Wahlen im Gouvernement Estland. Im Verlauf der Revolutionswirren im Oktober und November 1917 errangen fürs erste die Bolschewiki die Macht in großen Teilen Estlands. Während Truppen des Deutschen Kaiserreiches im Februar 1918 auf estnischem Gebiet vorrückten, proklamierte das aus drei Personen bestehende Rettungskomitee (Päästekomitee), das vom Ältestenrat des Maapäev die höchste Gewalt übertragen bekommen hatte, am 24. Februar 1918 den selbständigen Freistaat Estland -wenige Stunden vor dem Einmarsch der Deutschen.
Deren Pläne zur Gründung eines baltischen Herzogtums wurden im Verlauf der letzten Kriegsmonate obsolet; nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches wurden große Teile Estlands -genau ein Jahr nach Verkündung der Unabhängigkeit -von den Einheiten der Roten Armee besetzt. Dennoch gelang es estnischen Verbänden innerhalb weniger Monate -unterstützt von finnischen, weißrussischen und deutschbaltischen Kräften -, die Bolschewiki im sogenannten Freiheitskrieg aus dem Land zu vertreiben und mit Sowjetrußland am 2. Februar 1920 in Tartu einen Friedensvertrag zu schließen, in dem „für immer und auf ewige Zeit“ die Grenzen der Republik Estland vom östlichen Nachbarn anerkannt wurden
Bereits im Oktober 1919 hatte das estnische Parlament ein Gesetz über die Enteignung des Groß-grundbesitzes verabschiedet, das vor allem für die deutschbaltische Bevölkerungsschicht, die sich nach 1918 als nationale Minderheit in einem von ihr ca. 700 Jahre lang dominierten Land wiederfand, drastische ökonomische und soziale Auswirkungen beinhaltete. Gegen eine unzureichende staatliche Entschädigung verlor sie ihre wirtschaftliche Basis, so daß Teile dieser Minderheit für sich keine Zukunft in Estland mehr sahen und ins Reich auswanderten; der Staat verteilte das enteignete Land an estnische Neusiedler und Kleinbauern.
Ein weiteres, eminent wichtiges Gesetz für die Republik Estland in der Zwischenkriegszeit wurde im Februar 1925 verabschiedet: das über die Kulturautonomie der nationalen Minderheiten Aufgrund ihrer Liberalität besaßen die Gesetzesregelungen in bezug auf die Minderheitenfragen Vorbildcharakter über den baltischen Raum hinaus und fungierten quasi als „Eintrittskarte“ Estlands in den Völkerbund. Für die dreißiger Jahre läßt sich auch in Ostmitteleuropa die Hinwendung zu autoritären Regierungs-und Herrschaftsformen feststellen, Estland machte hierbei keine Ausnahme. Durch den Staatsstreich von Konstantin Päts im März 1934 wurde eine autoritäre Regierung installiert, die sich bis zum Zweiten Weltkrieg an der Macht hielt
Im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 sowie in den geheimen Zusatzprotokollen vom August und September 139 9 war das Baltikum der sowjetischen Einflußsphäre zugeschlagen worden. Im Oktober 1939, der Zweite Weltkrieg hatte schon begonnen, wurden unter dem Schlagwort „heim ins Reich“ die Deutschbalten Estlands (und Lettlands) umgesiedelt und fanden eine -vorübergehende -Heimat im neugeschaffenen Reichsgau Wartheland Estland, das -wieder einmal in seiner Geschichte -Spielball der Großmächte geworden war, ergab sich in sein Schicksal: Nach der Gewährung von ersten Stützpunkten für die Rote Armee folgten im Juni 1940 ein sowjetisches Ultimatum und der Einmarsch der sowjetischen Truppen; im Juli 1940 fanden Wahlen statt, und im August 1940 wurde Estland als Teilrepublik (ESSR) in den Staatsverband der Sowjetunion integriert Bereits in den Folgemonaten wurde eine massive Sowjetisierung durchgeführt; Inhaftierungen, Verbannungen und Hinrichtungen Tausender kennzeichneten das erste Jahr der Sowjet-zeit. Von 1941 bis 1944 war Estland von den Deutschen okkupiert; auf die Rückkehr der Roten Armee wurde in den folgenden zehn Jahren mit einem erbitterten Partisanenkrieg durch die „Waldbrüder“ reagiert 70 000 Esten gelang die Flucht in den Westen: nach Schweden, Deutschland und weiter nach Großbritannien, Kanada, Australien und in die USA.
Im März 1949 folgte ein weiteres dunkles Kapitel in der estnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Einrichtung von Kolchosen und Sowchosen auf dem Land wurden Tausende von Esten nach Sibirien deportiert -als Klassenfeinde, bourgeoise Elemente, Kapitalisten bezeichnet. Nach dem Tode Stalins 1953 und dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 konnte man auch in Estland eine Periode des „Tauwetters“ verspüren: Gerade in der Kunst und Literatur, in Musik und Theater gelang es den Esten, sich von dem verordneten „sozialistischen Realismus“ immer weiter zu entfernen. Die Breschnew-Ära wiederum, die „Zeit der Stagnation“, ließ das Land bisweilen in den Schlagzeilen der Weltpresse erscheinen: als Austragungsort der Olympischen Spiele, als Vorzeigerepublik der Sowjetunion, in der der Lebensstandard unvergleichlich höher war als in vielen anderen Teilrepubliken des Staates, als „Fenster zum kapitalistischen Westen“. Gleichzeitig wurde die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnene Sowjetisierung fortgeführt, die sich vor allem in hohen Einwanderungszahlen russischer, weißrussischer und ukrainischer Arbeiter nach Estland manifestierte -eine immense Hypothek für die heutige Entwicklung der Republik Estland.
Die Wiedererringung der Unabhängigkeit
Mit der Machtübernahme durch Michail Gorbatschow im Jahre 1985 veränderte sich auch für die Estnische Sowjetrepublik die Entwicklung grundlegend. Der Mann, der mit den Schlagworten Glasnost und Perestroika antrat, um die Sowjetunion im Innern zu reformieren, löste damit aber gleichzeitig einen zentrifugalen Prozeß aus, an dessen Ende der Zusammenbruch des Sowjetimperiums und die Selbständigkeit der baltischen Teilrepubliken stehen sollten. Während der Regierung Breschnews waren kritische Stimmen wie die der estnischen Jugend von 1980, die ihren Unmut in einem „Brief der Vierzig“ artikuliert und sich dabei auf die Helsinki-Schlußakte von 1975 bezogen hatte, fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit unterdrückt worden. Mit dem Jahr 1987 aber entstand in Estland eine Bewegung, die zunächst nicht politisch motiviert war, sondern sich der Umweltschäden im Nordosten Estlands anzunehmen begann. Der extensive Brennschieferabbau im Raum um die Städte Kohtla-Järve und Sillamäe, Rakvere und Toolse -für Estland wie für die Sowjetunion ein wichtiger Industriezweig zur Energieerzeugung -hatte in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, daß die Region buchstäblich in Asche und Abbauschutt versunken war.
Die Pläne der Moskauer Zentrale für den Tagebau der Vorkommen hätten zur Folge gehabt, daß einem Drittel des estnischen Territoriums der Abstieg zur Industriewüste drohte
Im Folgejahr wurde im April ein „Plenum der schaffenden Verbände“ ins Leben gerufen; am 22. Oktober folgte die Gründung der Volksfront, und am 16. November 1988 deklarierte der Oberste Sowjet der ESSR die Souveränität Estlands. Ziel war in diesem Herbst und Winter 1988 auch die politische, wirtschaftliche und kulturelle Souveränität Sowjetestlands innerhalb einer erneuerten sowjetischen Föderation Wenige Monate später verabschiedete das Parlament ein Sprachgesetz, mit dem Estnisch wieder zur Staatssprache erklärt wurde In den Folgemonaten wurde immer deutlicher, daß ein Verbleib in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken um so unwahrscheinlicher wurde, je radikaler die Forderungen der Esten und je strikter die Reaktionen der Moskauer Zentrale wurden. Im Februar 1990 fanden die ersten Wahlen zu einem „Kongreß von Estland“ statt, dessen Abgeordnete (bei einer Wahlbeteiligung von 98 Prozent) nun Resolutionen beschlossen, die Republik Estland auf der Basis der estnischen Verfassung von 1938 wiederherzustellen, die Okkupationstruppen abzuziehen, die Staatsmacht einer Nationalversammlung zu übergeben und die Wiederherstellung der Republik in den Grenzen des Vertrages von Tartu voranzutreiben.
Auf der Grundlage des Wahlgesetzes von 1989 wählten die Esten am 18. März 1990 ein neues Parlament. Bei einer Wahlbeteiligung von 78 Prozent erhielten die Befürworter der Unabhängigkeit, zusammengeschlossen in der Volksfront, 79 von 105 Sitzen; das Parlament wählte am 1. April Edgar Savisaar zum Ministerpräsidenten. Die neue Regierung machte Gorbatschow den Vorschlag, unverzüglich mit Verhandlungen über die Unabhängigkeit Estlands zu beginnen. Das 21. Gesamtestnische Sängerfest vom 30. Juni 1990 geriet schließlich zu einer Manifestation des Unabhängigkeitsbestrebens, an dessen Ende die Ankündigung Arnold Rüütels stand: „Das nächste Sängerfest werden wir in einem freien Land feiern.“
Im Januar 1991 richtete sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit vor allem auf Litauen. Dort kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Truppen und für die Unabhängigkeit demonstrierenden Litauern. Der „Blutsonntag“ (13. Januar) forderte in Vilnius 14 Menschenleben. In Estland selbst blieb die Lage gespannt, aber ruhig. Vertreter Estlands, Lettlands, Litauens und der Präsident der Russischen Föderation, Boris Jelzin, unterzeichneten gleichfalls am 13. Januar eine Erklärung, in der sie das Vorgehen der sowjetischen Führung verurteilten und gegenseitig ihre Souveränität anerkannten. Gewaltausbrüche in Lettland folgten am 20. Januar und machten deutlich, wie machtlos die Zentrale Moskau gegenüber dem Militär vor Ort war. Am 3. März 1991 wurde in Estland eine Volksbefragung über die Zukunft des Landes abgehalten. Bei einer Beteiligung von 83, 9 Prozent stimmten 77, 8 Prozent der Befragten für die Wiederherstellung der staatlichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Republik Estland -auch rund 30 Prozent der in Estland lebenden Russen stimmten also für die Republik
Eine letzte Wendung hin zur Selbständigkeit der baltischen Staaten folgte knapp ein halbes Jahr später. Am 19. August 1991 kam es in Moskau zu einem Putsch, der nach drei Tagen scheiterte. Am 21. August beschloß das estnische Parlament die sofortige Unabhängigkeit, Jelzin bestätigte sie umgehend. Selbst Gorbatschow erkannte Estland am 6. September an, nachdem die nördlichste Republik des Baltikums bereits eine breite Welle der Anerkennung aus dem Westen erfahren hatte. Am 9. Oktober 1991 nahmen die UdSSR und Estland diplomatische Beziehungen zueinander auf -Estland war wieder eine selbständige Republik.
Die innenpolitische Entwicklung in Estland seit 1991
Nachdem in einem Referendum am 28. Juni 1992 die neue Verfassung breite Unterstützung bei der Bevölkerung gefunden hatte, begannen die eigentlichen politischen Reformen mit dem Zusammentreten des ersten freigewählten Parlaments im September 1992. Innerhalb der ersten, absichtlich kürzer gehaltenen Legislaturperiode (sie wurde im März 1995 beendet) wurden von der Regierung unter Ministerpräsident Mart Laar mehr als 400 neue Gesetze verabschiedet; doch bereits vor 1992 war es zu wichtigen gesetzgeberischen Reformorientierungen gekommen, wie Parlamentssprecher Ülo Nugis 1995 feststellte
Das aktive Wahlrecht erhielten nur estnische Staatsangehörige, das aktive kommunale Wahlrecht auch Nichtstaatsbürger. Das Parlament (Riigikogu) zählt 101 Abgeordnete, wobei sich die Wahlrechtsbestimmungen sehr stark am deutschen Wahlrecht orientieren Einer Zersplitterung der Parteienlandschaft im Parlament wurde durch Einführung einer Fünf-Prozent-Klausel Einhalt geboten. Ein Westeuropa vergleichbares Parteiensystem konnte sich bislang noch nicht herausbilden, weder inhaltlich noch formal. Die Mitgliederzahl ist relativ niedrig, eine Orts-und Kreisarbeit existiert praktisch kaum. So gerieten und geraten Wahlen sehr stark zu Persönlichkeitswahlen, bei denen weniger die Programme einzelner Gruppierungen im Vordergrund stehen Die Exekutive wurde durch Schaffung des Präsidentenamtes gegenüber der Legislative gestärkt. Erster Präsident der Republik Estland wurde am 5. Oktober 1992 Lennart Meri: Historiker, Schriftsteller, vormals Botschafter seines Landes und Außenminister. Bei der zweiten Wahl am 20. September 1996 konnte sich Meri nach fünf Wahlgängen erneut durchsetzen
Während in der ersten Legislaturperiode die konservativen Parteien, Koalitionen und Wählerbündnisse dominierten -allen voran die Vaterlandspartei (Isamaa) des Ministerpräsidenten -, sind es seit der zweiten Parlamentswahl vom März 1995 die gemäßigten Parteien der Mitte wie Reformpartei, Zentrumspartei und Sammlungspartei (Koonderakond), die die Politik bestimmen. Deren Führer Siim Kallas, Edgar Savisaar oder Tiit Vähi sind zwar gleichzeitig als Vertreter der alten Nomenklatura bekannt, doch realisierten diese auch die Loslösung Estlands von der Sowjetunion. Mit dem Wahlbündnis „Unsere Heimat ist Estland“ (Meie Kodu on Eestimaa) gelangten erstmals russischsprachige Staatsbürger ins Parlament.
Nachdem bis 1995 eine relativ große Stabilität in der Regierungspolitik festzustellen war, ist für die folgenden Jahre eine immer kürzer werdende Zeitspanne bis zum nächsten Regierungswechsel zu beobachten, ohne daß die Grundlinien der Politik hierbei verändert würden. Bedenklich erscheinen jedoch die Skandale und Skandälchen, die immer wieder das Parlament erschüttern: der Abhörskandal um den Innenminister Edgar Savisaar im September 1995, der Korruptionsverdacht gegenüber Ministerpräsident Tiit Vähi im Februar 1997 oder Vorwürfe des Amtsmißbrauchs wie bei Siim Kallas in seiner Funktion als oberster Währungshüter. Während das politische System 1995 nach Umfragen noch von 84 Prozent der estnischsprachigen und 56 Prozent der russischsprachigen Bevölkerung getragen wurde geben die Umfrageergebnisse im März 1997 eine andere Stimmung wieder
Seit März 1997 steht Mart Siimann, der stellvertretende Vorsitzende der Sammlungspartei, einer Minderheitskoalition vor. Eine stabile Grundlage für diese Regierung war seiner Ansicht nach im Mai 1998 nicht mehr gegeben, weshalb er vorschlug, den regulären Termin für Neuwahlen zum Parlament vom März 1999 auf den Juni 1998 vorzuziehen -ein Ansinnen, das auch Meris Zustimmung fand. Die Opposition erklärte sich bereit, gegen die Erfüllung von Bedingungen die Regierung durch ein Mißtrauensvotum zu stürzen und so den Weg zu Neuwahlen freizumachen. Der Ministerpräsident mußte sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, man könne eine Regierung nicht ernst nehmen, welche die Opposition bitte, sie zu stürzen Siimanns eigene Partei verweigerte die Unterstützung dieser Pläne, so daß er sein Minderheitskabinett wohl bis zum vorgesehenen Wahltermin wird weiterführen müssen.
Interessengruppen und gesellschaftliche Organisationen haben sich seit 1991 nur sehr zögerlich entwickelt -ein Indiz für die allgemeine Politikverdrossenheit der Bevölkerung angesichts 50jähriger Bevormundung. Gewerkschaften bestehen zwar, treten aber nicht durch besondere Aktivitäten hervor; langsam bilden sich Ansätze lokaler Gruppen zur Förderung von Dialog und gemeinsamer Politik innerhalb der Bevölkerung. Der Aufbau der örtlichen Verwaltung ist im wesentlichen abgeschlossen; was große Probleme bereiten dürfte, sind die kommunalen Finanzen, die über die Einkünfte der jeweiligen Landkreise geregelt werden müssen.
Die außenpolitische Entwicklung seit 1991
Bereits wenige Wochen nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit und nach der Anerkennung der Eigenstaatlichkeit durch viele westliche Regierungen unternahm die Regierung Estlands intensive Anstrengungen, die Orientierung des Landes nach Westen hin voranzutreiben: Es ist Mitglied der UNO seit 17. September 1991, der OSZE seit 15. Oktober 1991, Vollmitglied im Europarat am 15. Mai 1993, Freihandelsabkommen mit den anderen baltischen Staaten im Juni 1993.
Aufgrund der geographischen Lage Estlands muß ein Schwerpunkt seiner Außen-und Sicherheitspolitik auf Rußland gerichtet sein. Es erschien den estnischen Politikern zugleich aber notwendig, die Annäherung auch an das westliche Militärbündnis der NATO zu suchen. Fürs erste jedoch kann diese Annäherung nur im Rahmen der „Partnership for Peace“ geschehen, da Rußlands Doktrin vom „nahen Ausland“ den baltischen Staaten eine Integration in die NATO zu verwehren sucht, sofern nicht der Westen die sicherheitspolitischen Bedenken Moskaus zu zerstreuen versteht. Gegenüber dem östlichen Nachbarn verfolgt Estland inzwischen eine Politik des „positiven Engagements“, nachdem es bis in das Jahr 1996 hinein immer wieder zu Friktionen mit Moskau gekommen war. Einer der strittigen Verhandlungspunkte war die Forderung Tallinns, Rußland solle bei den anstehenden Grenzverhandlungen den Friedensvertrag von Tartu aus dem Jahr 1920 anerkennen. Obwohl inzwischen diese Forderung nicht mehr aufrechterhalten wird und das Parlament in Tallinn dem Vertrag zugestimmt hat, unterblieb bislang dessen Ratifizierung durch Moskau (vgl. unten).
Ein außenpolitischer Erfolg des Staatspräsidenten war die vertragliche Vereinbarung über den Rückzug noch im Lande befindlicher russischer Truppen zum 31. August 1994. Diese als Juli-Abkom-men bezeichnete Regelung präzisiert u. a. auch den Status der russischen Militärpensionäre, ihre Belange und Lebensverhältnisse auf estnischem Territorium.
Wesentlich für die estnische Außenpolitik war und ist das Bestreben, eine Annäherung an bzw. die Aufnahme in die EU zu erreichen. Dem Vertrag über Zusammenarbeit in Wirtschaft und Handel mit der EU vom 11. Mai 1992, dem Freihandelsabkommen mit der EU vom 18. Juni 1994, der Vorbereitung eines Europa-Abkommens mit der EU Ende 1994 und dem Assoziierungsabkommen mit der EU vom 12. Juni 1995 folgte am 28. November 1995 Estlands offizieller Antrag auf Beitritt zur EU. Als bislang größten außen-und wirtschaftspolitischen Erfolg kann man bewerten, daß Estland im Juli 1997 von der EU-Kommission als einer der sechs zukünftigen osteuropäischen Kandidaten für eine EU-Erweiterung und als einzige der baltischen Republiken vorgeschlagen wurde. Die Beitrittsverhandlungen begannen am 1. Januar 1998 und dauern an. Vor allem aufgrund der wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der Jahre seit 1991 und der auf einen EU-Beitritt ausgerichteten Politik wurde dieses außenpolitische Ziel erreicht.
Die ökonomische Entwicklung in Estland seit 1991
Bis heute lassen sich drei Schwerpunkte in der Wirtschaftspolitik der jeweiligen Regierungen feststellen: die Liberalisierung der Preise, die Privatisierung und die wohl wichtigste, gleichzeitig riskanteste wirtschaftspolitische Maßnahme: die Währungsreform im Juni 1992. Mit Schaffung der Estnischen Krone (EEK) löste man sich aus der Rubel-Zone und nahm dabei in Kauf, die bislang bestehenden ökonomischen Beziehungen aufs Spiel zu setzen. Immerhin waren noch 1992 90 Prozent des Außenhandels mit der Sowjetunion bzw.den GUS-Staaten abgewickelt worden, für 1997 jedoch konnte Estland eine vollkommene Wende vermelden: 75 Prozent des Außenhandels wurden nunmehr mit dem Westen getätigt wobei die Europäische Union hier zum Haupthandelspartner wurde: 54 Prozent der Ausfuhren gingen in die Union, 66 Prozent der Einfuhren kamen aus der Union Gleichzeitig ist die Währung seit 1992 fest an die D-Mark gekoppelt (Wechselkurs: 1 DM = 8 EEK).
Die positive außenwirtschaftliche Entwicklung verdankt Estland in erster Linie seinen guten ökonomischen Beziehungen zu Finnland sowie zu den anderen skandinavischen Staaten, die sich sehr stark im Baltikum engagieren. Deutlich wird dies an der Export-bzw. Importstruktur des Landes im Vergleich der Jahre 1995 und 1996 Bei den Exporten Estlands liegen Finnland, Rußland, Schweden, Lettland und Deutschland mit insgesamt 64, 5 Prozent bzw. 61, 9 Prozent an der Spitze; bei den Importen sind es wiederum Finnland, Ruß-land, Deutschland, Schweden und Italien mit 69, 4 Prozent bzw. 64, 1 Prozent, wobei Finnland bereits doppelt so viel nach Estland exportiert wie Ruß-land. Für 1997 liegen die Zahlen bei ähnlichen Prozentwerten, wobei der Gesamtumfang der Im-und Exporte weiter ansteigt. Zu verdanken ist dies der liberalen Außenhandelspolitik, die keine Zölle bzw. Quotenbeschränkungen kennt, wenn auch die Vertreter der Landwirtschaft auf Zölle für Agrarprodukte drängen. Ein Resultat des boomenden Außenhandels ist jedoch das wachsende Außen-handelsdefizit, das 1993 1, 2 Mrd. EEK und 1995 bereits 8, 1 Mrd. EEK betrug; für 1997 ist von einem Defizit in zweistelliger Milliardenhöhe auszugehen. Neben der Währungsreform war es die Liberalisierung der Preise, die 1992 dafür verantwortlich war, daß Estland eine Inflationsrate von 953, 5 Prozent hatte. Mit Hilfe einer außerordentlich restriktiven Geldpolitik der Zentralbank gelang es, die Rate bis 1997 auf 16 Prozent zu drücken für 1998 ist ein einstelliger Wert nicht ausgeschlossen. Gleichzeitig hat Estland in den Jahren seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit und einem abrupten Rückgang unmittelbar nach 1991 seit dem zweiten Halbjahr 1993 ein nach europäischen Maßstäben recht hohes jährliches Wirtschaftswachstum zu vermelden, das bis zu 5 Prozent (1997) betrug. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Estland beläuft sich derzeit auf etwa 23 Prozent des EU-Durchschnitts.
Der dritte Bereich der drastischen Wirtschaftsreformen betrifft die Privatisierung, beginnend mitdem Gesetz über die Grundlagen der Eigentums-reform 1992. Nach der Phase der Privatisierung von Handels-und Dienstleistungsunternehmen in den Jahren 1993 bis 1995 begann im Anschluß daran die Veräußerung staatlicher Großunternehmen. Die Maßnahmen orientierten sich eng am deutschen Treuhand-Modell, und bereits 1994 konnte Estland einen Anteil des Privatsektors am BIP von 60 Prozent vermelden
Der Auslandsanteil am Privatsektor ist gesondert zu berücksichtigen und beträgt ca. 20 Prozent. Wieder sind es die skandinavischen Länder, die bei Direktinvestitionen in Estland führen: Auf Finnland und Schweden entfallen 61, 6 Prozent bzw. 5 151, 8 Mio. EEK, ihnen folgen Rußland, Großbritannien, Österreich und die USA, während Deutschland erst die neunte Stelle mit 1, 5 Prozent bzw. 126, 5 Mio. EEK einnimmt Eine so starke Unternehmensbeteiligung innerhalb Estlands durch das Ausland dürfte durch die -im Vergleich zu anderen westeuropäischen Standorten -immer noch vorteilhaften Produktionsund Lohnkosten verursacht werden; zudem favorisiert die estnische Regierung ein lineares Besteuerungsmodell, bei dem für Einkommen und Gewinne 26 Prozent an den Staat abzuführen sind. Zwar gibt es Pläne, von einem einheitlichen Steuersatz für Privatpersonen und Körperschaften zugunsten einer progressiven Besteuerung Abschied zu nehmen, doch dürfte die Durchführung einer Steuerreform angesichts der innenpolitischen Kräfteverhältnisse noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Insgesamt ist für Estlands wirtschaftliche Entwicklung -nicht nur im Vergleich mit den beiden anderen baltischen Republiken -festzuhalten, daß die seit 1991/92 betriebene rigorose Finanz-und Wirtschaftspolitik der wechselnden Regierungen wesentlich dazu beigetragen hat, daß Estland heute bei fast allen relevanten Daten Erfolge aufweisen kann, selbst wenn diese bisweilen durch große Opfer der Bevölkerung erkauft wurden.
Die soziale Entwicklung in Estland seit 1991
In den aktuellen „United Nations Development Papers“ von 1996 wird festgehalten, daß sich die Lebensbedingungen der Mehrheit der estnischen Bevölkerung noch nicht verbessert hätten, daß der schnelle Übergang zum freien Markt und die forcierte ökonomische Entwicklung nicht einhergingen mit der Errichtung eines Sozialstaates und daß innerhalb der Bevölkerung seit 1995 allmählich das Schwinden eines optimistischen Grundgefühls festzustellen sei. Nur 0, 1 Prozent der Bevölkerung betrachteten sich als reich, 11 Prozent als ökonomisch abgesichert -1991 waren es noch 2 Prozent bzw. 59 Prozent gewesen Die Gewinner der rigorosen Wirtschaftspolitik waren und sind junge, gut ausgebildete Personen, die schnell lukrative Arbeitsmöglichkeiten erhalten, während die „kleinen Leute“ -Rentner, Pensionäre und kinderreiche Familien -als Verlierer des Umschwungs bezeichnet werden müssen und oft am Rande des Existenzminimums leben Bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 2 649 EEK im 1. Quartal 1996 -staatlicherseits festgelegt, betrug der Mindestlohn 680 EEK monatlich -belief sich die einheitliche Grundrente auf 492 EEK 1996 waren bei einer Einwohnerzahl von insgesamt 1, 56 Millionen 644 000 Personen erwerbstätig; die offizielle Arbeitslosenquote betrug 1996 nach Angaben des Statistischen Amtes 4, 4 Prozent, 1997 im Mai 4, 2 Prozent Für den Fall der Arbeitslosigkeit zahlt der Staat einen symbolischen Betrag von 180 EEK Bei den zur Verfügung stehenden Arbeitslosenzahlen, die zwischen 2 und 12 Prozent schwanken, ist zwischen amtlichen Angaben und inoffiziellen, der Realität sehr viel näher kommenden Schätzungen zu unterscheiden. Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen in den offiziellen Statistiken erklärt sich dadurch, daß jeder, der länger als ein Jahr ohne Arbeit ist, automatisch nicht mehr als arbeitslos geführt wird Des weiteren sind regionale Unterschiede nicht von der Hand zu weisen: Während die Zentren Tallinn, Tartu und Pärnu geringe Arbeitslosenzahlen haben, ist der Prozentsatz im strukturschwachen Südosten des Landes (Vörumaa) erschrekkend hoch. Die Entwicklung findet vorrangig in der Metropole Tallinn (450 000 Einwohner) stätt, während die ländlichen Regionen verarmen und die Bevölkerung ihr Heil in der Migration sucht.
Die Bildung wird zum wichtigsten Indikator für die eigene soziale Position, für Prestige und Reichtum. Nur wer eine gute Ausbildung vorweisen kann, hat Chancen in der estnischen Gesellschaft. Zwar unternimmt der Staat immense Anstrengungen, in den Schulen für die neuesten technischen Standards zu sorgen und alle Schulen mit Computern auszurüsten doch muß gleichzeitig eingeräumt werden, daß 1995/96 3 Prozent der Kinder die Grundschule nicht besuchten, Lehrmaterial fehlt bzw. veraltet ist und junge, ausgebildete Lehrer in besser bezahlte Berufe in Industrie und Dienstleistungsunternehmen abwandern
Die Lebensverhältnisse im allgemeinen haben sich wohl gebessert, doch sind die Lebenshaltungskosten für die oben angesprochenen Bevölkerungsschichten zu stark in die Höhe geschnellt Durchschnittlich wurden 1996 zwar nur 13-16 Prozent des Einkommens für die Wohnung, vor allem für Heizung und Warmwasser, aufgewendet gleichzeitig haben aber 58 Prozent der Bevölkerung Zahlungsprobleme Seit 1992 entstanden pro Jahr ca. 500 Privathäuser, wobei staatlicherseits die Mittel für den Wohnungsbau bis 1995 fast eingestellt wurden.
Die Lebenserwartung der estnischen Bevölkerung ist -verglichen mit 1981 -bis 1990 um 4, 3 Jahre zurückgegangen, bis 1993 um 7 Jahre; die Kindersterblichkeit nimmt zu, erste Maßnahmen der staatlichen Gesundheitspolitik greifen nur sehr langsam. Ein weiteres Konfliktfeld ist die innere Sicherheit. Der Anstieg der Verbrechenszahlen wird verschärft durch Straftaten, die bislang in Estland unbekannt waren: Bandenkriminalität, Sprengstoffanschläge, Drogen, organisiertes Verbrechen
Auf dem Gebiet der Sozialpolitik ist allgemein festzuhalten, daß hier die Anstrengungen der bisherigen Regierungen nicht weit genug gediehen sind. Nach dem Machtwechsel 1995 waren die gemäßigten Parteien der Mitte mit dem Programm angetreten, die Wirtschaftsreformen „sozial abzufedern“, doch bis 1998 kann von durchschlagenden Erfolgen auf diesem Gebiet nicht die Rede sein. Dies hängt u. a. auch damit zusammen, daß die Staatseinnahmen durch das geringe Steueraufkommen bislang ein stärkeres Engagement noch nicht erlauben. In der Gesellschaft Estlands besteht die Gefahr, daß auseinanderbricht, was nicht mehr zusammengehören will: Junge -Alte, Reiche -Arme
Die Frage der Minderheiten -nur ein innenpolitisches Problem?
Etwa ein Drittel der Bevölkerung Estlands nach 1991 sind Nicht-Esten, die zum Großteil nicht einmal estnische Staatsangehörige sind -eine problematische Folge fünfzigjähriger Sowjetischer Annexion und Besiedlung Estland -und nicht Rußland -ist hierbei recht schnell und zu Unrecht ins Kreuzfeuer der internationalen Kritik geraten. Ein Blick auf die rechtlichen Bestimmungen zeigt, daß die Situation weit besser ist als in vielen anderen Staaten und zweifellos über dem europäischen Standard liegt Die Einbürgerung ist vergleichsweise einfach: Nach Wiedereinführung des Staatsbürgerschaftsgesetzes vom 11. April 1938 im November 1991 konnte jeder die estnische Staats-bürgerschaft erlangen -sofern er sie nicht schon besaß der sich bereits zwei Jahre lang in Estland aufhielt, estnische Sprachkenntnisse mittels einer Prüfung nachweisen konnte und kein Angehöriger der sowjetischen Sicherheitsorgane war. Die Neu-fassung des Gesetzes von 1995 sah die Verlängerung der Aufenthaltsdauer auf fünf Jahre vor und umfaßte des weiteren ein Treuegelübde zur Verfassung und eine Prüfung zur estnischen Sprache.
Nach Erlangung der Selbständigkeit und Auflösung der Sowjetunion war das russischsprachige Drittel der estnischen Gesamtbevölkerung staatenlos geworden. Bis zum Sommer 1996 erhielten ca. 80 000 Personen durch Einbürgerung die estnische Staatsangehörigkeit; mehr als 100 000 entschieden sich für die russische -die Mehrheit blieb also nach wie vor staatenlos Besonders problematisch aber war und ist die Frage der russischsprachigen Minderheit im Nordosten des Landes, zumal in der Stadt Narva, aber auch an anderen Orten im Land, wo der russischsprachige Bevölkerungsanteil über 90 Prozent beträgt. Populistische Parolen -von welcher Seite auch immer -können die Problemlage nicht entschärfen, sondern schüren eher noch die Konflikte, die Jahre lang von einer Diktatur durch die Siedlungspolitik hervorgerufen und durch Repressalien unterdrückt worden sind.
Weitere Gesetzesregelungen in Estland gewähren Nicht-Staatsbürgern auch das aktive Wahlrecht bei Kommunalwahlen sowie nationalen Minderheiten die volle Kulturautonomie 50. Gesetze allein reichen jedoch oft nicht aus, um die bestehenden Konfliktpotentiale abzubauen. Die konkrete Durchführung stößt oftmals auf Hindernisse, wenngleich keine groben Benachteiligungen, die man als ethnisch motiviert bezeichnen könnte, festgestellt worden sind. Allein die Umfrageergebnisse von Ende 1994 zeigen, wie es um die Integrationswilligkeit der Nicht-Esten bestellt ist: Über 90 Prozent von ihnen wollen nicht auswandern bzw. zurückkehren, schon gar nicht nach Rußland
Fazit
Bei der Anpassung des politischen Systems an EU-Normen weist Estland unbestreitbare Erfolge auf. Ungeachtet der auch für das frühere Estland typischen raschen Regierungswechsel haben sich die Regierungsinstitutionen bewährt. Das Parteiensystem muß als grundsätzlich stabil gelten. Gesellschaftliche Organisationen wie z. B. Gewerkschaften sind hingegen noch wenig entwikkelt. Die Kommunalverwaltung kann als konsolidiert gelten. Das Rechtssystem wurde schnell transformiert. Die Verfassung entspricht westlichen Standards.
Auch bei den ökonomischen Grunddaten -Inflation, Bruttoinlandsprodukt, Export-und Import-zahlen und Arbeitslosigkeit -kann Estland den zurückgelegten Reformkurs als Erfolg verbuchen. Die Integration in den europäischen Markt und die europäische Staatenwelt ist gelungen. Die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen, Erschwernisse, Disparitäten in der Gesellschaft können jedoch nicht nur unter Verweis auf statistische Erfolge minimiert werden. Die Teilung der Gesellschaft in Reich und Arm, Jung und Alt muß als drängendes Problem erkannt und angegangen werden, die „soziale Abfederung“ ist bislang noch keiner politischen Kraft im Lande gelungen.
Ein weiteres, unbedingt zu entschärfendes Problem -das der russischsprachigen Nicht-Staatsbürger -muß allein schon deshalb in Kürze einer Lösung zugeführt werden, weil gerade unter Berufung auf die angebliche „Unterdrückung“ der russischen Minderheit in Estland die russische Seite die Unterzeichnung des Grenzvertrages bislang verweigert hat und weil mit dieser Bevölkerungsgruppe immer ein Potential für Moskau vorhanden ist, sich in innere Angelegenheiten Estlands einzumischen. So lange hier kein „Silberstreif am Horizont“ erkennbar ist, wird auch die weitere Integration Estlands in die EU -geschweige denn eine größere Annäherung an die NATO -nur fernes Zukunftsdenken bleiben.