I. Herrschaft und Gesellschaft: Profile der DDR
Vorschläge zur Analyse der DDR und ihrer Geschichte sind zahlreich und nicht selten kontrovers. Das Angebot scheint sich immer noch zu erweitern Diese Vielzahl sollte aber nicht verdekken, daß die Deutungen in den letzten Jahren wieder vermehrt unter den Einfluß von „Entwederoder" -Polaritäten geraten sind. Danach war die DDR entweder eine „SED“ -bzw. „zweite deutsche Diktatur“ -in vielem ein „verlängertes Besatzungsregime“, in dem letztlich nur die Bajonette und Panzer der Sowjets für Ruhe im Lande sorg: ten und eine Art Stabilität erzwangen. Das „Oder“
hieß: Es entwickelten sich spätestens .seit der Zäsur des Mauerbaus von 1961 Formen des innergesellschaftlichen Mitmachens und Akzeptierens, auch der ausdrücklichen Unterstützung, die industriegesellschaftliche Normalität ermöglichten i oder suggerierten.
Diese Polarität ist nicht identisch mit einer zweiten. Fragen nach Diktatur, genereller: nach Herrschaft fördern immer wieder das Mißverständnis, dafür tauge nur Politikgeschichte. Man konzentriert sich dann nur auf „Institutionen“, Machtelii ten und „Ideologien“ Spiegelbildliches gilt bei Interessen an sozialen Mustern und Beziehungen, an dem Maß oder der Blockade gesellschaftlicher Modernisierung: Sozial-und alltagsgeschichtliche Zugriffe dominieren.
Die Skepsis gegenüber Fragen nach Gesellschaft, Alltag und Lebensweisen beruft sich häufig auf die Blindheit einer bestimmten Richtung innerhalb der Sozialwissenschaft. In den siebziger und achtziger Jahren haben strukturalistische Perspektiven fraglos zweierlei an der DDR, generell am „real existierenden Sozialismus“ verkannt: die Dauerhaftigkeit der Repression und ihrer (geheim-) polizeilich-juristischen wie militärischen Formen; das offenbar flächendeckende „Fahren auf Verschleiß“ in Industrie-wie Agrarwirtschaft. Durch die Konzentration auf eine angeblich systemübergreifende Modernisierung in West und Ost wurden spezifische Verschränkungen von Gesellschaft und Herrschaft in der DDR ignoriert. Daß die (partei-) politische Führung und ihre „Staatsmacht“ nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch im Innern Verletzungs-und Tötungsgewalt gezielt und fortwährend einsetzte, verschwand zumindest in den siebziger und achtziger Jahren im sogenannten „Wettkampf der Systeme“.
Für die weitere historische Rekonstruktion der DDR ist es jedoch geboten, „Herrschaft“ und „Gesellschaft“ weder als Gegensätze noch als Momente einer Rangordnung vorzustellen. Zentral sind vielmehr die Formen und Praktiken, in denen die „Apparate“, d. h.deren Akteure ebenso wie die vielen außerhalb der Schaltstellen der Macht, ihre Wirklichkeit wahrnahmen, und wie sie sich verhielten. In welchen Kräftefeldern wurden von wem (und wie) Fremd-und Selbstkontrolle, Übermächtigung und Distanz angemeldet und ein-gefordert, versagt oder verwirklicht? Herrschaft wird gesellschaftlich produziert -Gesellschaft und Individuen werden herrschaftlich geformt. Das Thema sind die Formen des unvermittelten Nebeneinanders wie der Verflechtungen von Repression und , Lockerung, von Mitmachen wie von Eigensinn, womöglich auch Widerständigkeit Die Konjunkturen von Zwang, Mangel und Angebot sind nachzuzeichnen. Es geht um Gleichzeitigkeiten von Angst und Hoffnung, von „Kuscheligkeit" und Ausgeliefertsein, von Haß und Liebe. 1. „Unterschichtengesellschaft" -oder „zwei soziale Logiken“?
Für alle Besatzungszonen in Deutschland gilt, daß nicht erst die letzten Wochen des Krieges einen gewaltsamen Umbruch bedeuteten: Bombenkrieg und Evakuierungen ab Sommer 1942, dann die endgültige Rückkehr der Kriegsgewalt auf deutschen Boden ab Januar 1945, Flüchtlingsmassen und „Zusammenbruch“, der direkt überging in Aussiedlungen und Vertreibungen: Ungeachtet aller regionalen Unterschiede war die große Mehrheit der Reichsdeutschen direkt und massiv geund betroffen. Sie erlebten „revolutionären Umbruch, extreme Ausnahmesituation, Über-gangs-und Inkubationszeit“ Es sind vor allem die sozialstrukturellen Folgen dieser Umwälzung, die hier im Zentrum stehen.
Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik haben diese Migrationen wesentliche Merkmale der sozialen Schichtung verändert. Insgesamt aber blieb die Hierarchie der Positionen und der Status erhalten. Anders stand es um die konfessionelle Komposition; die Flüchtlinge verschoben die Relationen in vielen Gegenden erheblich. Letzteres galt auch für die damalige SBZ, später die DDR. Hier aber wurde schon bald eine „qualitative Veränderung der Sozialstruktur“ sichtbar Das kommerzielle, aber auch erhebliche Teile des freiberuflichen und des Bildungsbürgertums wurden sozial anders bewertet: Sie sahen sich schikaniert, wanderten ab oder wurden vertrieben. Es blieben die „unterbürgerlichen“ Schichten, d. h. „Arbeiter, kleine Bauern und Angestellte“
Der Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg hat darauf aufmerksam gemacht, daß in der SBZ NS-Belastete zu Zehntausenden interniert wurden, weit mehr aber flohen in den Westen. Geschäftstüchtige aller Herkünfte gingen bald ebenfalls; Bildungswillige hingegen stiegen zunächst nicht selten in der jungen DDR auf. In jedem Fall blieb „der Rest“, zumal Frauen, meist mit kleinen Kindern und häufig alleinerziehend. Angesichts der geltenden Normen über Familien und die Alltags
Verantwortlichkeit für Kinder waren sie weder sozial noch geographisch mobil. Das bedeutete für die ersten Nachkriegsjahre ein Verhältnis von etwa fünf Männern auf acht Frauen in der SBZ, und jede fünfte Erwachsene war eine alleinstehende Frau (im Westen nur jede zehnte!).
Daraus lassen sich, so Mühlberg, zwei mittelfristige Tendenzen sozialer Verhaltensweisen wie kultureller Selbstdeutung ableiten. Zum einen eine an ihren Verhaltensstandards erkennbare „Unterschichtengesellschaft“, in der „fast alles nach den Maßstäben und Bedürfnissen der kleinen Leute reguliert [war]“ Dem widerspreche keineswegs, daß Frauen seit den späten sechziger Jahren ihre Selbständigkeit beanspruchten und auch zunehmend selbstverständlich praktizierten (dies die zweite Tendenz). Unverkennbar sei der Verzicht auf eine (eheliche) Dauerpartnerschaft. Parallel habe sich allerdings die Bedeutung der Ehe für die individuelle Lebensplanung sogar noch gesteigert. Ehe gelte dabei nicht nur als Ausdruck einer Partnerbeziehung; ihre Wertschätzung speise sich vielmehr aus Erwägungen materiellen Nutzens wie kultureller Respektierlichkeit. In der Tat blieb niedriges Heiratsalter ein Charakteristikum der DDR-Gesellschaft. Die parallel zunehmende Akzeptanz von Ehescheidungen widerspricht dem nicht -denn es scheint, daß häufig erneute Heirat folgte oder angestrebt war
Der Verweis auf die Wirkmächtigkeit einer „Kleine Leute“ -Orientierung ist anregend -jedoch nur von begrenzter Erklärungskraft. Unerläßlich sind Präzisierungen: Zu prüfen wären Formen des Konsumverhaltens, von Kollegialität und Nachbarschaftsbeziehungen; Geschlechterkonstruktionen und ihre Imaginationen müßten einbezogen werden, ebenso Erziehungsmaximen, vor allem Vorstellungen von Disziplin und „Ordnung“, nicht zuletzt in ihren militärischen Formen. Meine These ist, daß sich die Zähigkeit und Durchschlagskraft des Musters, das gemeint ist, weithin bestätigt: die Mischung aus häuslicher Spießigkeit, nachbarschaftlicher Wißbegierde und Kontrollwut -gekoppelt mit Gleichförmigkeit und Hinnahme in scheinbar entfernten Öffentlichkeiten. Es geht um jene „gesamtgesellschaftliche“ Rigorosität, mit der „Helden wie wir“ (Thomas Brussig) anderen und sich selbst jede Intimität und jeden „Eigensinn“ auszutreiben suchten
Der Soziologe Wolfgang Engler hat „hautnahe Beziehungsarbeit“ als spezifische Signatur sozialer Alltagswirklichkeit in der DDR bezeichnet. Die damit verbundene „Befreiung von Selbstrücksichten“ ist für ihn -der ebenso wie Mühlberg im DDR-Alltag gelebt und gearbeitet hat -eine der Innenseiten jener „aufgezwungenen Informalisierung“, die neben der Logik „herrschaftlicher Verfügung über die Menschen“ eine zweite Logik angeregt habe. Diese Logik der „selbstentworfenen Biographien“ habe zum Teil alternativ gewirkt, aber auch mit den herrschenden Vorgaben koexistiert 2. Die DDR als „Arbeitsgesellschaft“
Die Bedeutung von „Arbeit“ in der DDR eignet sich als zentraler Punkt der Analyse. Arbeit, in erster Linie Erwerbsarbeit, war danach weit mehr als bloßes Mittel zum Überleben oder zur Erzielung von Wohlstand. Arbeit sei vielmehr „die zentrale Quelle der Strukturierung von Interessen, Institutionen und Identitäten“ gewesen
Für Industriearbeiter, die bereits vor 1945 gelernt bzw. gearbeitet hatten, war der Vergleich mit den „früheren Verhältnissen“ naheliegend. In offiziellen, d. h. von der SED angeregten und gesteuerten Kampagnen wurde seit Sommer/Herbst 1948 zweierlei versucht: die Produktionsleistung zu steigern, aber auch, die herkömmlichen Konkurrenzen an den Arbeitsplätzen zu überwinden. Statt der Konkurrenz unter-und gegeneinander sollten die Älteren ihre Erfahrungen an neue bzw. junge Kollegen weitergeben. Bei der Produktions-(mehr noch Produktivitäts-) steigerung wie in Fragen der Kollegialität zeigte sich allerdings immer wieder, wie hartnäckig Mißtrauen gegen „oben“ wie untereinander vorhanden war. Es dominierte -zumal bei denen, die bereits vor 1945 industrielle Erfahrungen gemacht hatten -die Haltung: „Im Zweifel kann man nur sich selbst vertrauen!“ Die mentale Beharrungskraft dieser Deutung von individueller Kontrolle über Arbeitsverrichtung, Arbeitszeit und -raum stützte sich auf ein Erfahrungswissen, das über Generationen immer wieder neu bestätigt worden war. Arbeitsertrag bzw. Lohn, Befriedigung ebenso wie Respekt bei den anderen schienen an Formen individueller (Selbst-) Kontrolle gebunden. Ohne Distanz gegen die Kollegen und das Beharren auf individuellem „Eigensinn“ konnte sich kaum jemand, zumal in der industriellen Produktion, „gutes Arbeiten“ vorstellen
Die nach 1945/46 ins Erwerbsleben eintraten, nahmen neue die Orientierung emphatisch auf. Eigener Stolz erwuchs daraus, daß man nicht mehr der Maxime der „Alten“ folgte: „Hier muß’de mit den Augen stehlen!“ Selbstbewußtsein und zunehmend auch Verhandlungsmacht der Arbeitskollektive bzw.der Produktionsbrigaden im Arbeitsalltag verknüpfte also beides: Eigensinnigkeit, die aus der (in vielem) gemeinsamen Leistung im Betrieb herrührte, und Stolz darüber, durch Arbeit ökonomische Eigenständigkeit des „neuen Staates“ gegen große Widrigkeiten zu ermöglichen (also öffentliche Anerkennung zu finden und politisch „richtig“ zu liegen). In dieser Kombination von „Nah“ und „Fern“ dürfte eine der Triebfedern für die Arbeiterproteste am 16. und 17. Juni 1953 und in den Wochen danach gelegen haben Bei diesen Protestaktionen wurden neben Forderungen, die sich auf Arbeitsbedingungen und Lohn konzentrierten, bald auch solche nach politischen Veränderungen gestellt, auch nach dem Systemwechsel: Die Potentiale bedürfnisbezogener Selbstmobilisierung waren vielfältig und blieben keineswegs nur auf den Nahbereich begrenzt!
Im Fortgang der DDR erwuchsen aus den Mischungen von herkömmlicher und neuer Eigensinnigkeit fortdauernde Probleme: Es waren insbesondere Industriearbeiter im staatlichen Sektor, den VEBs, die darauf pochten, die „herrschende Klasse“ zu sein Zumal ihre „middle men“ -die Meister und andere Vorgesetzte in den Werkstätten -sahen sich zerrieben zwischen den Vorgaben der Pläne und ihren störrischen Untergebenen, die auf Anweisungen oder Belehrungen nur nach eigenem Gusto zu reagieren schienen. Diese Konfliktlinie verschärfte sich, als mehr und mehr „Kinder der DDR“ seit den späten sechziger Jahren berufstätig wurden. Zumal die Frauen und Männer der „ersten Stunde“ empfanden hier einen mentalen Bruch. Die „Jungen“ relativierten die Basisrechtfertigung für alle Eigensinnigkeit: die Orientierung auf gutes Arbeiten -„deutsche Qualitätsarbeit“. Und auch für die Älteren hieß das immer mehr: widrigsten Umständen „dennoch“ ein vorzeigbares und brauchbares Produkt abgetrotzt zu haben. Souveränes (Er-) Finden und Nutzen von Not-und Aushilfen nutzte jenen Eigensinn, der in gelungenen Produkten eigene Kompetenz wiedererkannte.
Die Beobachtung einer (teilweisen) Neu-Orientierung ist nicht allein Produkt nachträglicher Betrachtungen. In seiner (damals nicht akzeptierten) ökonomischen Dissertation plädierte Rudolf Bahro Mitte der siebziger Jahre für die Dringlichkeit eine „Anatomie des real existierenden Sozialismus“ (natürlich in ironischer Anlehung an Marx’ Projekt der Analyse der „Anatomie“ des „Kapitals“!) Dabei richtete sich sein besonderes Augenmerk auf die Beharrlichkeit der „alten Arbeitsteilung“, zugleich aber auch auf „bürokratische Hemmungen in der nichtkapitalistischen Industriegesellschaft“. Während Gewerkschaftsund Parteifunktionäre darin seit über 20 Jahren „noch nicht“ beseitigte „Überreste“ der alten Zeit bzw.des Kapitalismus sahen, leistete sich Bahro keinen solchen Vorgriff auf die erhoffte Zukunft. Zu konstatieren sei doch, daß das „Ziel der Individuen“ in der „bestehenden Gesellschaft der DDR“ sei, in der „Sphäre der Arbeit... möglichst wenig auszugeben und möglichst viel einzunehmen“. Eigene Anstrengung habe keinen Einfluß auf die Verteilung der Produkte bzw.der gesellschaftlichen Reichtümer. Vielmehr sei es politisch-administrativer Intervention bzw. „Partei und Regierung zu danken, wenn einmal die Proportion zugunsten der eigenen Gruppe berichtigt wird“.
Allerdings notierte Bahro nicht nur Verhaltensweisen und Mechanismen, die eine Art egoistische (oder familiale oder betriebsorientierte) Mentalität des Hortens ermunterten. Er verwies auch darauf, daß in der DDR-Gesellschaft die Arbeiter „eine größere Möglichkeit“ hätten, die „Gesamtgesellschaft“ zu erpressen. Das gelte in jedem Fall für die „Mehrzahl der qualifizierten Arbeiter, jedenfalls für die Männer unter ihnen“. Bahro wurde aber noch deutlicher und stellte auch die offiziellen Behauptungen über Zustand und Entwicklungstendenz der Gesellschaft in Frage. Er sprach von „entfremdeter Arbeit“ und fortdauernder Ausbeutung. Sie bediene sich freilich einer „komplizierten hemmenden Maskerade“. Im Unterschied zum Kapitalismus wage es „die Herrschaft (in der DDR) nicht mehr, sich selbst frei ins Gesicht zu blicken. Es ist gerade der beste Teil unserer ideologisch-moralischen Tradition, der sie erröten läßt.“
Im Herbst 1989 war offenbar der Bruchpunkt erreicht: Die Losung war nun entweder: „Richtig Arbeiten“ und „gutes (West-) Geld“ -oder aber Verweigerung. Ab Oktober 1989 wurde daraus bei Industriearbeitern in wenigen Wochen eine mas-sive Abkehr von der eigenen Vergangenheit, dem Arbeiten in der DDR
Undeutlicher ist die Signatur von Frauen-Arbeit. Erst in Umrissen zeigen sich die Physiognomien arbeitender Frauen Das gilt vor allem für die Erwerbsarbeit. Das „Leitbild der berufstätigen Frau und Mutter“ spiegelt in seinen unterschiedlichen Prägungen die Widerstände bei Frauen selbst, vor allem aber bei Männern. Immerhin bedeuteten auch hier die späten sechziger und frühen siebziger Jahre eine Zäsur: Mehr und mehr war es selbstverständlich geworden, daß Frauen in der (agrarischen wie vor allem industriellen) Großproduktion tätig waren. Allerdings entsprach dem das beharrlich fortgeschriebene Rollenstereotyp der primär weiblichen Haus-und Familienarbeit. In der auch offiziell bald „Muttipolitik“ genannten Intensivierung von Betreuungsangeboten und sozialpolitischen Maßnahmen fand das Ausdruck und Bestätigung.
Der Leidensdruck dieser Mehrfacherwartung für viele Frauen -nun „Kinder der DDR“ -war immens, mit Folgen für skeptische Distanz gegenüber allem jenseits der unmittelbar-eigenen Sphäre. Immerhin aber war das Ideal der selbstbewußten und selbstbestimmten berufstätigen Frau und Mutter weit mehr der (westliche) Normalfall, als es weithin in der Bundesrepublik wahrgenommen wurde 3. „Kommt Zeit, kommt Rat“ Die Rekonstruktion sozial-kultureller Formen und Muster ist das Ziel der Arbeiten des (bereits zitierten) Berliner Kultursoziologen Wolfgang Engler. Er geht aus von der Annahme, die Macht einer Elite, aber auch die Eindringtiefe herrschender Diskurse zeige sich nicht zuletzt in den Formen, in denen Menschen mit Zeit umgehen. Demnach seien die „Zeitverarbeitungsformen“ im Staatssozialismus zu erkunden. Dabei erweist sich die DDR als Sonderfall; denn nach Engler „drifteten frühzeitig mit den Sinn-auch die Zeithorizonte ... auseinander“
Eine Kluft zwischen den Normen -über Zeitdeutung und -Verwendung -und der tatsächlichen Praxis ist freilich alles andere als sensationell Wichtiger ist aber, daß Engler dennoch zweierlei in den Blick nimmt. Zum einen ignoriert seine Frage die Systemgrenzen. Denn zumindest implizit bezieht er sich auf Konzepte und Erfahrungen von „Beschleunigung“ in der Neuzeit, die weder an relativ kurze Zeitphasen noch an politische Regimes gebunden sind Vor allem aber ist damit die Alltagspraxis ins Zentrum gerückt: Im Zentrum steht nicht mehr ein Systemprofil, sondern das Verhalten der historischen Akteure.
Das Pathos der eigenen Legitimierung gründete bereits in der SBZ in dem Anspruch, eine „neue Zeit“ und ihren schnellen Fortschritt zu repräsentieren. Damit wurde zwar eine Figur aufgenommen, die das Selbstverständnis der revolutionären Bolschewiki nach 1917 gekennzeichnet hatte -die aber auch Grundmoment der sozialistischen Internationale bzw.der nationalen „linken“ politischen Organisationen gewesen war. Überdies blieben Fragen der alltäglichen Zeitverwendung, zumal intensive Ansätze zur Zeitkontrolle, ein Dauerthema, in allen Ländern des „realen Sozialismus“
Das „zeitliche Machtdispositiv der Regierenden“ sei in drei „Kalendern“ formuliert und eingefor-dert worden: dem „Metakalender“, dem „Heldenkalender“ und dem „Aufsichtskalender“. Der „Metakalender“ habe „über den Zeiten“ gestanden. Er unterschied zwischen „Vorgeschichte“ und Jetzt-Zeit als „neuer Zeit“ (dabei waren Ungleichzeitigkeiten zwar nicht zu bestreiten, aber nicht akzeptabel, eigentlich ein „Anachronismus“). Der „Heldenkalender“ setzte diese Teleologie in konkrete Praxis um, suchte zu regulieren, gab tägliche, wöchentliche und jährliche Orientierungen heraus. Zugleich bot er Möglichkeiten, die Alltage der vielen mit den Repräsentationsbedürfnissen und Kontrollinteressen der Herrschenden zu verzahnen. Ergebnis sei ein Dauerlauf von Jubiläen, Jahres-und Parteitagen und -darauf bezogenen -„Verpflichtungen“ gewesen. Letzteren konnten sich offenbar weder soziale Gruppen noch Institutionen oder Individuen dauerhaft entziehen.
Die Pointe der Überlegung ist, daß sich die „eigenen“ Zeitrhythmen -die einzelne entwickelten oder durchhielten -derartigen Vorgaben gar nicht oder nur punktuell fügten. Mehr noch: Daraus entwickelten sich „Zeitbündnisse der Beherrschten“, d. h. von Arbeitskollektiven oder Gruppen in der Nachbarschaft.
Ebenso wichtig ist aber, daß die vielfachen Praktiken des Sich-Zeit-Nehmens und Erfahrungen des Zeit-Habens kaum je als direkte Widersetzlichkeit oder gar als Widerständigkeit gemeint waren. Vielmehr reflektierten sie die alltägliche Misere. In der Produktion waren das die ebenso fortwährenden wie unkalkulierbaren Stockungen von Ersatzteil-oder Rohmaterialien-Lieferungen. Bei der Versorgung, jenseits der Befriedigung der dringlichsten Grundbedürfnisse, dasselbe Bild: erratische (Nicht-) Belieferung z. B. mit Südfrüchten oder Kinderkleidung -kurz mit Konsumgütern des täglichen wie des längerfristigen Bedarfs 4. Lebensläufe, Generationen und „Shifting Involvements"
Die „Struktur“ von Herrschaft, der Zuschnitt von Institutionen, das Maß an Arbeitsproduktivität -welche Kriterien auch immer erfragt oder benutzt werden, um gesellschaftliche Konstellationen und historische Prozesse zu rekonstruieren -die Menschen erscheinen erst in zweiter Linie. Alltagsgeschichte konzentriert sich aber gerade auf das konkrete Leben der Menschen. Die Themen sind: Wahrnehmungen und Verhalten der Individuen in ihren sozialen Kontexten. Nur auf Fotos oder in Statistiken erscheinen Menschen „gefroren“; historische Prozesse haben aber entscheidend mit dem „Vorher“ und „Nachher“, den Potentialen und den Konsequenzen zu tun. Fragen nach Lebensläufen sind hier ebenso dringlich wie weiterführend. Albert O. Hirschman, Sozialwissenschaftler in Princeton, ist mit seiner These über „Exit and Voice“, oder zugespitzt in der deutschen Fassung: „Abwanderung und Widerspruch“, schon kurz nach dem Zusammenbruch der DDR zitiert worden. 1992 hat er selbst dazu Stellung genommen. Die massenhafte Veränderung von „trägen“ zu „regen Bürgern“ im Sommer und Herbst 1989 verweise auf eine intensive Wechselwirkung von „Abwanderung und Widerspruch“ Die Massenhaftigkeit einer Absetzbewegung, die zunächst als eine private, als eine möglichst heimliche gedacht war, führte bei anderen in der DDR zu einer Reaktion der Verbitterung und des Trotzes: „Wir bleiben hier!“, bald auch: „Wir sind das Volk!“ Hirschman weist darauf hin, daß es sich dabei vor allem um die 45-bis 55jährigen gehandelt habe, d. h. jene Alters-und Erfahrungsgruppe, für die die DDR zugleich ihr Leben geworden war. Sie hätten angesichts derart massierter „Abwanderung“ Angst gehabt -zitiert er einen Leipziger Augenzeugen -, die eigenen Kinder könnten ihnen am nächsten Tag aus Prag oder Warschau im Fernsehen zuwinken. Entscheidend sei, so Hirschman, daß sich in diesem Fall „Exit“ und „Voice“ wechselseitig verstärkt hätten.
An dieser These sind drei Aspekte interessant. Erstens ist es der Versuch einer analytischen Verständigung über Geschichte und Dynamik der DDR als Herrschafts- wie Gesellschaftszusammenhang. Dabei wird -zweitens -zwischen „Jüngeren“ und „Älteren“ unterschieden: Die Frage nach „Generationen“ ist also Teil der Problematik bzw. Teil der Analyse. Drittens sind nichtlineare Verläufe Hirschmans Thema, zugleich die Gleichzeitigkeit scheinbar einander ausschließender Verhaltensweisen.
II. Stabilität und ihre Grenzen: Sehweisen, Gefühle, Praxen
1. Die fremden Nachbarn Die bereits skizzierten Perspektiven variieren eine Grundfrage: Was bestimmte und ermöglichte die Dauerhaftigkeit, aber auch den Zusammenbruch der DDR? Es überwiegen Zugänge, in denen politische Setzungen oder die Durchschlagskraft von „systemischen Bedingungen“ im Zentrum stehen. Im folgenden soll demgegenüber die Sicht „von innen“ betont werden. Wie wurde Stabilität, wie wurden Veränderung und Bruch in den Wahrnehmungen der DDR-Bürgerinnen und -Bürger konstruiert? Ein generelles Bild zu zeichnen ist unmöglich. In jedem Fall waren die Selbstwahrnehmungen in der DDR immer auch verknüpft mit den Bildern vom Westen -aber auch mit den Bildern der DDR, die im Westen über die DDR im Umlauf schienen. In der städtischen Industriearbeiterschaft ist ein Gefühl eines allmählichen DDR-spezifischen Aufschwungs, mitunter von Dynamik, seit den späten fünfziger Jahren zu erkennen In anderen Gruppen und Milieus zeigten sich solche Sichtweisen wohl erst nach dem Mauerbau 1961. Der Schock dieser Abschließung mündete zumal für Intellektuelle, für Menschen, die im Bildungs-, Wissenschafts-und Kulturbetrieb beschäftigt waren, nicht selten in die Erleichterung, nun sei die DDR von der alltäglichen Konkurrenz mit „dem Westen“ entlastet. Damit würden Spielräume für polizeiliche wie ideologische Entkrampfung im Innern gewonnen.
Auch wenn „der „Westen“ mit der Mauer gleichsam ein für allemal auf Distanz gerückt schien, waren damit die Wechselbeziehungen der Selbst-und Fremddeutungen nicht hinfällig. In der Arena öffentlicher Politik reichte das von einer umstrittenen und gerade deshalb „gemeinsamen“ National-geschichte bis 1945 (oder auch 1948/49) über die aktuelle, medial angefeuerte Rivalität der „Systeme“, die auf beiden Seiten über lange Jahre hinweg mit Wiederverveinigungsvisionen verbunden blieb. In individuellen Lebensläufen kontrastierten Erfahrungen des Vertrautseins über die Grenze hinweg mit solchen, die schroffe Distanz oder -mehr noch -massive Gleichgültigkeit zeigten. Immerhin waren in der DDR prahlerisch-neureiche „West-Verwandte“ sprichwörtlich. Angesichts des seit Generationen vertrauten West-Ost-Gefälles bei Erwerbsformen und -chancen sowie der parallel unterschiedlichen Lebensweisen und regionalen Mentalitäten bedeutete Distanz zwischen den Bewohnern beider Staaten freilich alles andere als etwas „Neues“. Diese Distanz war keineswegs nur Produkt des Kalten Krieges. „Im Osten“, weit weniger hingegen im Westen, blieb die jeweils „andere“ Gesellschaft präsent, insbesondere in den Medien Radio und Fernsehen. In der DDR kamen die illegal von Rentnern -die vor wie nach dem Mauerbau von 1961 reiseberechtigt waren -mitgebrachten Versandhauskataloge („Quelle“, „Otto-Versand“) und Zeitschriften, vom Modemagazin („Brigitte“) über das Auto-journal („Auto, Motor, Sport“) bis zur Fußballzeitschrift („Kicker“), hinzu. Insbesondere das weite Feld des alltäglichen wie des feiertäglichen Konsums wurde Schauplatz realer wie imaginärer „Hahnenkämpfe“ darüber, was Eigenes sei, und worin sich das Andere zeige. Direkte Kontakte blieben zwar überaus mühsam (und teuer), wer keine „Westverwandtschaft“ hatte, war davon bereits in den fünfziger Jahren, in jedem Fall nach dem Mauerbau fast abgeschnitten. Verwandtenbesuche wurden jedoch im Zuge der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel ab 1969, d. h.seit dem „Grundlagenvertrag“ zwischen der Bundesrepublik und der DDR 1972, in allmählich steigendem Maße wieder zugelassen
Aber die Konfiguration der Sehweisen, Stereotypen und Gefühle die Nähe und Distanz prägten und deuteten, ist damit noch nicht ausgeschöpft. Denn bei aller Schärfe der Kalte-Kriegs-Propaganda deren Betreiber nur zu häufig faktisch kooperierten und sich wechselseitig aufschaukelten, blieben bestimmte Orientierungen davon unberührt. Euphorie über die Fußball-Weltmeisterschaft der bundesdeutschen Mannschaft im Sommer 1954 herrschte im Westen aber keineswegs nur dort; Befriedigung und auch Stolz über den Sputnik-Start im Oktober 1957 war hingegen wohl nur in der DDR zu verzeichnen (aber bei wem mehr, wo weniger?). Getrennte Manschaften bei internationalen Sportereignissen nach 1960 erleichtern gewiß das Verteilen von Sympathien. Aber war immer ausgemacht, wer die „eigenen“ Leute waren -bei den Auftritten der Mannschaften aus der DDR und der Bundesrepublik im Rahmen der Olympischen Spiele in München 1972 oder der Fußball-Weltmeisterschaft in der alten Bundesrepublik 1974? Zugleich greift es zu kurz, die exzeptionellen Serien olympischer und anderer Goldmedaillen für die Sportlerinnen und Sportler der DDR nur als „Ersatzbefriedigung“ zu werten.
Sportliche Triumphe waren keine Alternative zu jenem Sekuritäts-und Erfolgsstreben der vielen das nach Produkten nach klingender bzw. harter Münze, freilich auch der Abwesenheit polizeilich-administrativer Schikanen drängte. 2. Wandel der Bedürfnisse und „neuer Mensch“
In den späten fünfziger Jahren war zumindest die Mangelsituation der unmittelbaren Nachkriegszeit überwunden Diese innere Entwicklung und zugleich die Systemkonkurrenz bzw. die Präsenz des „anderen“ deutschen Staates über Medien und Verwandtenbesuche verstärkten -mitunter drängende -Anfragen nach einer „bunteren Lebensweise“ So wenig darüber empirisch von Soziologen oder Kulturwissenschaftlern geforscht wurde, so sehr entfalteten sich literarische und künstlerische, aber auch ideologisch-programmatische Versuche, diese Veränderungen zu bearbeiten und zu steuern.
Vorstellungen vom „neuen Menschen“, wie sie ab 1958 entwickelt wurden, blieben eher den Zirkeln von Parteiideologen und ihnen direkt verbundenen Akademikern vorbehalten. Erneut war die Rede von jener „kulturvollen“ und „gebildeten“ Gesellschaft, wie sie um die Jahrhundertwende die Perspektiven der deutschen Sozialdemokratie bestimmt hatte. Allerdings reichte zumindest die Programmatik weiter: Sie knüpfte auch an jene frühsozialistischen Forderungen an, die eine Verbindung von Hand-und Kopfarbeit angestrebt hatten. Die 1958/59 verstärkte Betonung des Betriebes, der Erwerbsarbeit und nicht zuletzt der Arbeitskollektive bzw. Arbeitsbrigaden als Kultur-und Lebenszusammenhänge weist in diese Richtung Das Programm einer „sozialistischen Arbeitskultur“ von 1979 war der letzte Schritt in dieser Kette konzeptueller Überlegungen. Allerdings bedeutete bereits der Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker deren Scheitern
Seit den siebziger Jahren wurde die „Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik“, d. h.der Vorrang des meßbaren „Lebensstandards“, erneut zum Credo von politischer Führung und Funktionseliten in der DDR. Mit dem Siebenjahrplan von 1958 hatte die Führung unter Ulbricht bereits ein erstes Mal diese Wendung versucht. Allerdings hatte in den späten fünfziger Jahren die ökonomische Verbesserung primär die Aktionsfähigkeit nach außen und im internationalen Klassenkampf verbessern sollen. Im Unterschied dazu wurde seit 1971 der wirtschaftliche bzw.der sozialpolitische Erfolg in der DDR selbst zum politischen Ziel. Damit aber wurde, so scheint es, nur nachgeholt, was bei den vielen jenseits der „Kommandohöhen“ von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft die durchgehende Orientierung gewesen oder geblieben war: Hier wurde das „Deutsche“ in der Bezeichnung des Staates wörtlich verstanden. Dem entsprach die ausschließliche Konzentration auf individuelle „Qualifizierung“ und sozialen Rang (nebst Ein-kommen) im Arbeitsprozeß bei den -nach wie vor wenigen -empirischen Erkundungsversuchen in die eigene Gesellschaft. Die Sicherung der „Grundbedürfnisse“ erschien als politisch-historische Großtat -die propagandistische ebenso wie akademische Bestätigung verlangte 3. Distanz -Zustimmung -Distanz?
Ein Transmissionsriemen für Kritik wie Zustimmung, generell für Ansichten über die eigene Lebenswirklichkeit, aber auch für die Zukunftsperspektiven der Bevölkerung waren „Informationsberichte“ Sie wurden von „unten nach oben“ geschrieben bzw. akkumuliert: Die SED-Betriebsparteiorganisation (BPO) informierte die Kreisleitung der SED; diese wertete den Bericht zahlreicher BPOs aus und meldete weiter bzw. schrieb ihre Berichte mit Hilfe der Texte, die sie erhalten hatte. Mary Fulbrook beobachtet bei dieser Berichterstattung über „Stimmungen und Meinungen“ in der Bevölkerung bemerkenswerte Veränderungen. In den fünfziger Jahren seien die Berichte von einem starken Bemühen um Genauigkeit geprägt gewesen. Im Rahmen grundsätzlicher Zustimmung zur DDR waren sich offenbar Berichterstatter und Leser, d. h. Partei-und Staats-Funktionäre der mittleren und höheren Ebenen, darüber einig, daß die einen wie die anderen „unbedingt wissen wollte(n), was wirklich los war: wie die Leute dachten, was sie machten, wo der Klassenfeind’ zu finden und zu schlagen war“ Seit den sechziger, mehr aber noch in den siebziger und achtziger Jahren wurden diese Texte immer nichtssagender. Erst ab Mitte der achtziger Jahre finden sich wieder vermehrt Hinweise auf „Kritisches“. Fulbrooks These ist zunächst plausibel: Darin spiegelte sich für die Jahre ab 1960/61 ein besseres Funktionieren des „politischen Systems“. Allerdings verschiebt sich damit die Frage nur. Denn es bleibt offen, ob das eher auf verbesserte Kontrolle oder auf ein „angepaßteres“ Verhalten der Kontrollierten zurückzuführen war. Auch dort, wo in derartigen Texten im Zweifel Faktizität den Vorrang haben sollte, schienen zahllose „Fiktionen“ gegenüber Vorgesetzten erforderlich, um im Gegenzug z. B. ein Mindestmaß an ökonomischer Produktion und Produktivität zu sichern Das galt vermehrt gegenüber den Kreis-oder Bezirksleitungen bzw.den ZK-Abteilungen der SED. Dabei sind die zahllosen Hinweise darauf, daß viele Adressaten diese „Fiktionen“ durchschauten kein Beleg dafür, daß diese nicht mit „vollem Ernst“ und großem Aufwand produziert wurden. Vor allem waren sie folgenreich: Nach 1985 spiegelte die Abwehr des SED-Politbüros, die DDR „neu zu tapezieren“ bzw.dem Vorbild Gorbatschows zu folgen, nicht nur den Starrsinn der Oberen. Hier wurde auch das ganze Ausmaß der „Fiktionen“ sichtbar, die man mitproduziert hatte -denen man selbst tagtäglich als „Realität“ in internen Berichten wie in Mediendarstellungen begegnete
Insofern sind auch die Veränderungen seit Mitte der achtziger Jahre schwer zu interpretieren. Wandelte sich die Rhetorik der Fiktionen -oder veränderten sich die Interessen und Projektionen von Berichterstattern (die nun tatsächlich „von der Sowjetunion siegen lernen“ wollten, d. h. Perestrojka auch in der DDR anzustoßen suchten)? Zeigte sich hier gar die Spitze eines breiteren Oppositions-(Eis-) Berges? Oder gab es eine Spiralbewegung: Opposition von außen im Wechselspiel mit Reformkräften im Innern der Apparate?
Das heißt zugleich, daß vermehrtes Mitmachen oder doch Hinnehmen, wie es sich gegen Ende der fünfziger Jahre, spätestens ab 1961 beobachten läßt, keineswegs als Beleg zunehmend „erfolgreicher“ Herrschaft gelten kann. Gerade das Material der Kontroll-und Repressions„organe“ macht (ungeachtet aller Übersteigerung von Bedrohungsvorstellungen bei ihren Akteuren) die Grenzen deutlich, an welche die Herrschenden immer wieder stießen. Nicht wenige der Ausgespähten berichten jetzt, daß in den Stasi-Akten beeindruckende Fälle von Verweigerung bei Anwerbungsversuchen dokumentiert sind Aber auch jenseits direkten Widerstehens war das Verhalten der vielen keineswegs nur von „Anpassung“ und Gehorsam geprägt. Die Herrschenden und die, die sie ermunterten oder stützten, die zuarbeiteten und mitmachten, hatten nie „alles im Griff“. Die Intensivierung der „Stasi“ -Ausforschung seit den siebziger Jahren ist ein Indiz für die schließlich paranoide Furcht des Politbüros und seiner Mittäter (und Mittäterinnen) vor dem eigenen Volk
Die vermehrten Kontrollanstrengungen reflektierten die Zunahme von offener Distanzierung, von Kritik und „Meckerei“ bei den „Massen“ -jedenfalls aus der Sicht der Herrschenden und ihrer „Organe“. Diese Anstrengungen trafen aber auch auf Resonanz bei potentiellen Kollaborateurinnen und Kollaborateuren. Bei einem jährlichen Umschlag von ca. zehn Prozent wurden seit Mitte der achtziger Jahre annähernd 170 000 Personen (ganz überwiegend Männer) im Jahresdurchschnitt als „Informelle Mitarbeiter“ in den Karteien der Stasi geführt Spektrum der Motive wie Intensität der Kooperation waren fraglos breit gefächert. Bei einzelnen gehörte auch dazu, daß Sehnsucht nach „Geborgenheit“ optimal von den Führungsoffizieren der Stasi verkörpert wurde 4. „Durchherrschte Gesellschaft“ -oder eigensinnige Aneignung?
Große Zustimmung findet die These, die DDR sei als „politische Gesellschaft“ zu begreifen. In der Lesart von Paul Erker: Soziale Prozesse in der DDR seien hochgradig politisch determiniert gewesen. Herrschaft und soziale Beziehungen bzw. sozialer Wandel ließen sich nicht voneinander isolieren. Nicht nach politischen Folgen sozialer Prozesse, sondern nach deren politischen Voraussetzungen sei zu fragen Einen Schritt weiter geh: der Versuch, die DDR als „durchherrschte Gesellschaft“ zu verstehen
Der Terminus ist freilich mißverständlich. Die Wortverbindung signalisiert so etwas wie , Erfolg‘, als habe Herrschaft die Gesellschaft durchdrungen -wie Sauerteig den gesamten Brotteig. Gemeint war es anders. Der Akzent lag auf der Relation Alltage in der DDR zeigten sich relativ stärker auf Herrschaft bezogen als Alltage in solchen industrialisierten (und bürokratisierten) Gesellschaften, die -bei allen Einschränkungen -Medienöffentlichkeit sowie judikative und parlamentarische „checks and balances" für Regierende und Bürokratien kannten. Nicht die formalen Elemente sozialen und politischen Verhaltens (Recht auf freie Meinungsäußerung und Koalition. Gewaltentrennung etc.) sollten im Vordergrund stehen. Vielmehr sollte die Aufmerksamkeit dem gesamten Spektrum offener wie diskreter Aktionen und Interaktionen in und „aus“ der Gesellschaft gelten. Für die DDR ist nicht der Erfolg der Herrschaftsstrategien auffällig, sondern das Ausmaß, in dem auf sie Bezug genommen wurde.
Zentral sind „Innenseiten“ sozialer Praktiken. Das heißt zugleich, die Interaktionen der Individuen und Gruppen zu erschließen: ihre Materialität wie ihre Symbolhaltigkeit in ihren Verknüpfungen zu zeigen. Nicht nur die Ein-und Zugriffe der staatlichen „Organe“ bzw. die Erwartung ihres Auftretens erzeugen Verhalten, das sich als Konformität läßt. Genauso wichtig sind kleinen deuten die oder großen face to face-Gesten und -Taten, in denen alle je für sich, aber auch mit anderen ihren Alltag fortwährend neu produzieren Dabei ist jeder und jede immer wieder „für sich“ -und ist zugleich im Austausch (oder Konflikt) mit anderen, an den Arbeitsplätzen, auf der Straße oder im Kaufladen, im Bus, der Straßenbahn, „auf dem Amt“. Die Sinnhaftigkeit solcher Begegnungen und Kontakte, das Erreichen dieses Produktionszieles oder jene gelungene Feier in der „Laube“ oder „Datsche“: die Rhythmen, in denen „kleines Glück“ ermöglicht und erfahren wurde, bedeuteten keineswegs nur Distanz gegenüber politischen und anderen Anforderungen. Dieser „Eigensinn“ hatte eine ironische Kehrseite. Je intensiver er wurde, desto mehr ermöglichte er das Mitmachen „beim nächsten Mal“, d. h. Konformität.
Alleinige Deutungsmacht war Ziel der SED Aber weder offene und verdeckte Kontrollen noch zahllose, nicht selten gewaltsame Interventionen schafften flächendeckend „Ruhe im Land“. Allerdings bleibt die Frage, wofür massenhafte, weithin stumme Distanzierung steht. Was bedeutete vielfältiger, mitunter auch lautstarker Eigensinn, der sich bei genauer Inspektion zumal an Arbeitsplätzen erkennen läßt? Was zeigt sich in momentaner Widersetzlichkeit, die gelegentlich sehr beharrlich werden konnte Zu prüfen wäre überdies, in welchem Maße innerhalb der staatlichen „Organe“, aber auch im Innern der „führenden Kraft“, der SED, Spielräume genutzt oder entwickelt wurden -für Definitionsmacht und Eigensinn der Angehörigen oder Funktionäre In jedem Fall ist es die Sicht aus dem Nachhinein, wenn die „innere Spannung der DDR-Geschichte“ auf einen eindimensionalen Gegensatz reduziert wird -zwischen „immer wieder auflebenden Hoffnungen auf innere Erneuerung und deren brutaler Niederhaltung“ Weder die Einheitlichkeit dieser „Hoff-nungen“ scheint plausibel -noch die Annahme, daß es nicht partiell, vor allem auch anhaltende Zustimmung gab Das konnte von (zumal) „jugendlichem“ Enthusiasmus bis zur Vorliebe für Das-nun-mal-Bekannte gehen, bei der Betrieb oder Arbeitsbrigade, Nachbarn und Freunde auf eigene Weise erlebt, genutzt und genossen wurden. Eindimensionale Sicht verstellt den Blick: Nicht das „Entweder -Oder“ von Anpassung oder Widersetzlichkeit, sondern die Gleichzeitigkeit beider ist entscheidend. Verknüpft waren sie im Eigensinn und jener ,,, wilde(n) Logik des praktischen Sinns“, deren Reichweite und Dynamik Wolfgang Engler betont. Das Fehlen, zumindest aber die Blockierung einer marktbezogenen „Individualisierung“ dürfe nicht mißverstanden werden: In der DDR sei „Individualisierung“ sehr wohl fundamental gewesen, aber anders, gleichsam „in den Farben der DDR“. Oder: „Verhältnisse“ und „Beziehungen“ wurden auf die „Persönlichkeit ... reduziert“
Eine solche Privatisierung des Politischen war in ihren Folgen sehr wohl politisch. Sie ermöglichte zweierlei. Erstens: von „oben“ ein Kalkulieren mit den „Nischen“; sie ließen sich durch Stillstellen („Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik“; „Muttipolitik“!) instrumentalisieren. Möglich wurde oder war die Politisierung des Privaten von „oben her“, ein Stillstellen der „Nischen“, zumindest über lange Zeit. Zweitens: Von „innen“ konnte das ganz anders erfahren und angeeignet werden: In den Ausweichbewegungen, Rückzügen und Abkapselungen wurden Deutungen des eigenen Verhaltens möglich, bei denen die Intensität des „Eigen-Sinns“ -die Politik der Individuen -im Zentrum stand. 5. Legitimitätsglauben oder Loyalität:
akademische Fiktionen?
Was wäre, wenn sich die Selbstverständlichkeit, mit der politisch Aktive wie Wissenschaftler annehmen, Herrschaft erfordere „Geltungsglauben“ oder doch Loyalität als (Selbst-) Täuschung erwiese? Vielleicht wird Herrschaft -in diktatorischen wie nichtdiktatorischen Gesellschaften -in den Köpfen wie im Verhalten der Beherrschten anders konstruiert? Mit historischen Forschungen lassen sich zwei Alternativen stützen. In der einen Lesart beschränken sich die vielen auf die „Arena“ des eigenen Alltags. Erwartungen an Dritte „jenseits“ der „eigenen“ Verkehrs-und Aufmerksamkeitskreise sind selten oder minimal. Kein Geltungsglaube, aber auch kein Honorieren von Leistungen (als Loyalität), sondern schroffe Distanz gegenüber dem „Außen“ ist bei den Beherrschten zu bebobachten. Soweit möglich, wird Herrschaft ausgeklammert. Entscheidend für die Dauerhaftigkeit von Herrschaft wird das Nebeneinander von Ausklammern, Nutzenkalkülen der Beherrschten (die fallweise Herrschaft ausnutzen) und Durchsetzungsmacht der Herrschenden.
In der anderen Variante ist es nicht das do-ut-des (ich gebe, damit du gibst) der Loyalität. Vielmehr richten sich hier konkrete, aber emotional stark geladene Hoffnungen und Wünsche auf „gutes Leben“ an die Herrschenden und ihre Herrschaft. Hinnehmen und Mitmachen resultieren aus Erwartungen an die Intensität materialer und zugleich emotiver Leistungen. Erwartungen richten sich auf Sinnstiftung und Beglaubigung für eigenes Leiden, auch eigenen (Kriegs-) Tod. Und: Beide Formen schließen sich nicht aus. Einzelne oder Gruppen „pendeln“ je nach Situation und Konfiguration zwischen Distanz und massiver Erwartung (die gerade kein diffuser Geltungsglauben ist): im Fall der deutschen Nationalgeschichte z. B. 1917-1919 anders als 1914, 1923 oder um 1933, erneut ab 1943.
Zu prüfen ist, ob nicht Gesellschaft und Herrschaft in „modernen Zeiten“ erst dann relativ reibungslos funktionieren, wenn sich die Menschen in abgeschottete „Arenen“ zurückziehen. Fragen an die Rechtmäßigkeit oder die Effizienz eines politischen Zentrums oder Apparates werden dann nicht gestellt -diese Arena ist „zu weit entfernt“, bleibt außerhalb der eigenen Reichweite. Gerade im Wechsel zwischen stillschweigendem Ausmanövrieren und Ausweichen, Abtauchen und Ignorieren würde dann beides begründet sein: die relative Zufriedenheit der Bevölkerung, aber auch die relative Stabilität des Gesamtsystems.
Dazu paßt das Argument von Mary Fulbrook: Seit den sechziger, spätestens aber ab den siebziger Jahren habe in der DDR eine „symbiotic mode of life“ dominiert. Man habe sich auf die „Parameter“ des Systems eingelassen und im Rahmen seiner -oft ungeschriebenen -Regeln operiert. Anpassung, die ein Durchkommen unter den gegebenen Bedingungen ermöglicht habe, sei die Maxime gewesen Damit löst sie sich von der Fixierung auf einerseits politisch-polizeiliche Repression und andererseits ideologische Indoktrination oder Loyalität Deutlicher werden die Eigeninteressen und Eigen-Bedürfnisse, vor allem die „Arts de faire“ (Michel de Certeau), sich im Privaten wie im Politischen durch alltägliches Sicheinfügen und Durchschlängeln zu behaupten. Entscheidend sei dann, wie und weshalb jemand -oder viele -aus einer Situation des Mitmachens ebendies bzw. jahrzehntelange Stabilität in Frage stelle und welche Dynamik daraus entstehe. 6. Kulturelle „transcripts“ -und ihre Bruchlinien Offen ist, was das „inner face“, also die Innensicht sowohl von Anpassung wie von Distanz, aber auch von Infragestellen (und Widerstehen) war Fulbrook verweist auf ein bestimmtes Maß innerer Distanz, das weithin die Einstellungen sowohl der älteren, in der NS-Gesellschaft sozialisierten Generation, die den DDR-Aufbau bis in die sechziger Jahre betrieb, aber auch derer, die erst in den achtziger Jahren erwachsen wurden, geprägt habe. Welches aber waren die Orientierungsformen und Muster, welches die Ziele jenseits der Dichotomie von Herrschaft und Unterwerfung, in denen sich diese Haltung herauskristallisierte? Wie und wo wurde diese Distanz praktisch, welche Ausdrucksformen fand sie? Welche „Atmosphäre“ ging mit ihr einher, welche Emotionen ermöglichten, stabilisierten oder desavouierten sie? Die vielfach wiederholten Hinweise auf die „Nischengesellschaft“ bieten dafür nur eine andere Metapher, bleiben aber auch die Erklärung schuldig für beides: zähe Stabilität -und deren rapide Erosion.
Es könnte sein, daß hier Orientierungen oder „transcripts“ entscheidend waren, die in den All-tagspraxen produziert, zugleich auch nuanciert wurden Sie beschränkten sich nicht auf wenige oder einzelne Gruppen (oder Regionen), galten als selbstverständlich über alle hierarchischen, aber auch geschlechterspezifischen Grenzen hinweg. Sie wurden vor den Obrigkeiten nicht verheimlicht, prägten vielmehr in eigener Weise auch deren Wahrnehmen und Verhalten. Eine dieser Orientierungen war -so meine These -die der „deutschen Qualitätsarbeit“. Eine zweite drehte sich um „Sauberkeit“, eine dritte um „Ordnung und Disziplin“. In den verschiedenen Arenen, in Öffentlichkeiten und „Nischen“ konnten und wurden diese Standards praktiziert oder doch ein-gefordert. Alle drei waren Teil alltäglicher Erwartungen und Erfahrungen. Zumindest in der Hochschätzung „deutscher Qualitätsarbeit“, „Sauberkeit“ und „Ordnung“ deckten sich „public" und „hidden transcript“ (James W. Scott) in der DDR.
Der massenhaft gelebte Bezug auf Arbeit korrespondierte mit der unermüdlich proklamierten Notwendigkeit von Produktion (und ihrer Steigerung). Sauberkeit wurde in Politik wie Praxis dessen, was als „Internationalismus“ galt, zum Thema. Allerdings konterkarierten die Wahrnehmungsmuster bei „Werktätigen“ wie bei Funktionären die programmatisch geforderte „internationale Solidarität“. Hier wie dort gab es keinen Zweifel an rigoroser Ausgrenzung und Abwertung von „Fidschis“ (so einer der Spottnamen für „ausländische Werktätige“, die seit den sechziger Jahren in „sozialistischen Bruderländern“ angeheuert wurden). Und Ordnung verband die eigene „Datsche“ unversehens mit jener Parteidisziplin, die weltanschauliche Härte und militärisch geprägte Entschlossenheit gegenüber allen „Klassenfeinden“ im Innern wie nach außen betonte Anders: Diese Leitmuster waren nicht das Produkt der Politik „von oben“. Vielmehr verknüpften sich hier Alltagsorientierungen mit Zielsetzungen der Obrigkeit, vom Politbüro bis zur Kreis-oder Stadt-leitungder SED. Genau deshalb boten offizielle Kampagnen auch die Möglichkeit, im Mitmachen auch Eigenes anzumelden und durchzusetzen.
Freilich: Erinnerungsinterviews und Studien regionaler Milieus zeigen drei Bruchlinien. Die ersten beiden waren eher diffus, die dritte dramatisch. Die Hinweise darauf finden sich in zwei Studien, die ganz oder doch maßgeblich von Westdeutschen betrieben worden sind, die eine bereits ab 1986, die andere nach der revolutionären Wende Die erste dieser Bruchlinien läßt sich bisher kaum präzise verorten. Sie wird greifbar in den knappen Auszügen aus einem Erinnerungsinterview mit einem katholischen Pfarrer. Genauer: es sind Aufzeichnungen nach Notizen; der Pfarrer hatte den Interviewer gebeten, das Gespräch weitgehend wieder zu löschen. Dieser Pfarrer sah sich in einer mehrfachen Minderheiten-und Diaspora-Situation: in Schlesien geboren, in Südwestdeutschland aufgewachsen, katholischer Priester in einem Land, das Atheismus forderte oder förderte, im Zweifelsfall jedoch mit der protestantischen Kirche -den Vertretern der anderen Konfession -ein Arrangement gefunden hatte. Der Mann wurde besonders umgetrieben von dem, was er als allgemeine Unlust und Verarmung an Kreativität bei den Menschen in der DDR zu erkennen meinte: Die Menschen versteckten sich im Grau ihrer Kleidung und Häuser, zeigten nach außen keinerlei Stolz an etwas „Eigenem“, kümmerten sich nicht um die Gestaltung ihrer Umwelt. Weder gebe es Farbe an den Hauswänden noch Blumenkästen an den Fenstern, Gesichtslosigkeit überall. Der Pfarrer nahm dies als Zeichen dafür, daß die Menschen im Kern getroffen und beschädigt seien: „Die Persönlichkeitsstruktur wird hier ganz stark angegriffen, wenn nicht sogar zerstört. Das müßte schon jemand sein, der eine ganz starke innere Kraft hat.“
Lutz Niethammer verweist darauf, daß die Distanzerfahrungen bei seinem Gewährsmann eine Perspektive des Beobachters von außen“ nahelegten oder ermöglichten. Freilich: Ist das nun der genauere Blick? Oder ist es der Furor des Missionars, der das „Andere“ nicht akzeptieren mag und nur als „Fremdes“ ablehnen oder bekämpfen kann? Immerhin steht bei dieser Alltagsästhetik das, was Politik „im Innern“ antreibt und was das Politische „ist“, weit mehr zur Debatte als bei jeder Funktionsanalyse. Wie sehen sich Menschen selbst, wie die Welt, in der sie leben, -und in welcher „Intensität“?
Die zweite Bruchlinie läßt sich nur indirekt erschließen. Es ist ein zunehmender Lokalismus, der zum Teil auch regionale und landsmannschaftliche Horizonte einschloß. Dabei ist der robuste Lokalismus, den Interviewpartner aus (der Stadt) Brandenburg nachdrücklich betonten, dem der Leipzig-Plagwitzer Metallarbeiter, aber auch dem der im Espenhainer Braunkohlentagebau Beschäftigten (südlich von Leipzig) durchaus zu vergleichen
Die dritte Bruchlinie verlief zwischen den Generationen. Jenseits der Flakhelfer-Generation -die dann die des DDR-Aufbaus wurde -schrumpfte das Maß selbstverständlicher Zustimmung zu einer solchen Sicht auf sich selbst und die „Welt“. Für Menschen der nächsten Generation, die um 1960 und danach geboren wurden, waren nicht nur die eigenen Lebensentwürfe von blockierten Chancen bestimmt Zugleich verschob sich die Wahrnehmung des Bestehenden, also auch des Bildes von Arbeit, von Sauberkeit und Ordnung. Im Sommer und Herbst 1989 freilich wurde gerade aus dieser Diskrepanz ein ungeplantes Zusammenspiel. Das „klammheimliche“ Abreisen vieler Jungen alarmierte die Älteren -auch weil ihre Werte damit endgültig verloren schienen.