Zwischen Moralität und Eigeninteresse. Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat in internationaler Perspektive
Steffen Mau
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Zusammenfassung
Der Wohlfahrtsstaat und seine Leistungen sind Themen gesellschaftlicher Konflikte. Diese Konflikte entstehen, weil der Wohlfahrtsstaat Kosten verursacht und innergesellschaftliche Umverteilungen vornimmt. Daher ist es wichtig, daß die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme von den Gesellschaftsmitgliedern akzeptiert werden. Der Grad der Befürwortung hängt von den instrumenteilen, d. h. interessenbestimmten, und den moralischen Orientierungen der Bürger ab. Im Zentrum des Aufsatzes steht der internationale Vergleich des Zusammenhangs zwischen wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung und den Erwartungen der Bürger. Untersucht werden die Länder Großbritannien, Schweden und die Bundesrepublik Deutschland. Dabei zeigt sich, daß die Erwartungen an wohlfahrtsstaatliches Engagement weder statisch noch permanent steigend sind, sondern durchaus variabel. Beeinflußt werden sie von politischen Zyklen, d. h. von der Art und Weise, wie Veränderungen ideologisch vorbereitet und gerechtfertigt werden, von Wahrnehmungen der Realisierungsfähigkeit von Sozialpolitik und der Frage, wie bestimmte Gruppen ihren Beitrag zur Finanzierung des Gesamtsystems einschätzen. Die Nutzenerwartungen der Bürger sind kein hinlängliches Kriterium, um eine Modernisierung des Sozialstaates voranzutreiben. Es zeigt sich, daß Veränderungsvorhaben dann Erfolg versprechen, wenn sie an die normativen Orientierungen der Bürger anknüpfen und Perspektiven für eine zukünftige Entwicklung aufzeigen können.
I. Vorbemerkung
Der Wohlfahrtsstaat steht auf dem Prüfstand. Für nicht mehr finanzierbar wird er gehalten, für ineffizient, er behindere ökonomisches Wachstum, setze falsche Anreize und schwäche die Selbstverantwortung der Individuen. Im Zentrum der Kritiken steht die Auffassung, daß die Expansion der westlichen Wohlfahrtsstaaten am Scheitelpunkt angekommen sei und es nun notwendig sei, Korrekturen nach unten vorzunehmen.
Der Wohlfahrtsstaat ist also offenbar trotz seiner starken institutioneilen Verwurzelung einem Rechtfertigungs-und Legitimationsbedarf ausgesetzt. Hauptgrund dafür ist, daß er selbst keine autonome Quelle von Reichtum darstellt, sondern auf Interventionspolitiken angewiesen ist. Seine Leistungen sind Resultate von innergesellschaftlichen Umverteilungsprozessen, die vornehmlich durch die Korrektur der durch die Marktwirtschaft bewirkten Verteilung zustande kommen. Neben dem Markt ist der Wohlfahrtsstaat damit ein fundamentales verteilungswirksames Funktionssystem moderner Gesellschaften.
Wenn über den Wohlfahrtsstaat geredet wird, dann auch, weil diese Umverteilungen und ihre Folgen als ungerechtfertigt, kontraproduktiv, nicht mehr vermittelbar oder zu kostenintensiv angesehen werden. Unabhängig von allen auf ökonomischer Grundlage vorgebrachten Einwänden läßt sich aber behaupten, daß, wenn die Bereitschaft zu kollektiver Verantwortungsübernahme für individuelle Risikolagen -die moralischen Ressourcen des Wohlfahrtsstaates -unerschöpflich wäre, das Rumoren um ihn um vieles leiser wäre. Er würde dann funktionieren wie eine institutionalisierte Wohltätigkeitsveranstaltung. Doch dies ist nur ein Gedankenexperiment, und eine Rückkehr in die Realität führt vor Augen, welchen Konflikten seine Bestände heute ausgesetzt sind.
Wohlfahrtsstaatliche Institutionen sind nicht interessenneutral, sondern -im Gegenteil -interessen-strukturierend. Zu beobachten ist dies nicht nur bei den großen Parteien, den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften, sondern auch bis hinunter zum einzelnen Bürger und seiner Interessenlage. Die Bürger sind durch Sozialabgaben und Steuern an der Finanzierung des Wohlfahrtsstaates beteiligt, und sie sind gleichzeitig die Adressaten des wohlfahrtsstaatlichen Engagements. Doch das kollektiv getragene System der sozialen Sicherheit weist deutliche Ungleichheiten auf. Einige Gruppen sehen sich im Verhältnis von Belastung und Leistungsergebnis als Nettogewinner, andere als Nettoverlierer. „What you get is not what you pay for“ ist die Formel, die aus der Sicht des einzelnen Bürgers das daraus entstehende Anerkennungsproblem des Wohlfahrtsstaates auf den Punkt bringt.
II. Instrumentalität und Moralität
Abbildung 18
Tabelle 2: Befürwortete Intensität wohlfahrtsstaatlichen Handelns (Anteil der Zustimmung in Prozent) Quelle: Eigene Berechnungen; Datenbasis: ISSP 1996.
Tabelle 2: Befürwortete Intensität wohlfahrtsstaatlichen Handelns (Anteil der Zustimmung in Prozent) Quelle: Eigene Berechnungen; Datenbasis: ISSP 1996.
Dies verweist auf zwei wichtige Dimensionen entsprechend derer das Verhältnis zwischen dem Wohlfahrtsstaat und seinen Bürgern analysiert werden kann: auf die Instrumentalität und die Moralität. Instrumentalität bezieht sich auf das Eigeninteresse bzw.den Nutzen, den der einzelne durch das wohlfahrtsstaatliche Leistungsangebot hat. Moralität verweist auf grundlegende Werte und Überzeugungen in bezug auf Gerechtigkeitsund Verteilungsprinzipien in der Gesellschaft. Diese beiden Dimensionen können die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates befördern oder auch beeinträchtigen. In den westlichen Wohlfahrtsstaaten ist die Ausprägung und das Verknüpfungsverhältnis der beiden Komponenten unterschiedlich. Verantwortlich dafür ist die „Architektur“ der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. Maßgeblich sind dabei Kriterien wie die Art des abgesicherten Risi-kos, die Umverteilungswirkung der Leistungsprogramme, die Zugangsvoraussetzungen, die Finanzierungsart und die Leistungsvergabe.
Aus Untersuchungen ist bekannt, daß das Eigeninteresse der Bürger ein starker Prädiktor für die Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat ist Wohlfahrtsstaatliche Institutionen werden dann am stärksten befürwortet, wenn die von ihnen bereitgestellten Sozialleistungen als effektive Instrumente zur Erzeugung von sozioökonomischer Sicherheit und Wohlfahrt angesehen werden. Doch auch die Belastungsseite spielt eine Rolle: Je ungünstiger das Verhältnis zwischen Mitteleinsatz (Beiträgen, Steuern etc.) und Zielerreichung ist, desto schwächer ist das Eigeninteresse des einzelnen an den wohlfahrtsstaatlichen Institutionen.
Wohlfahrtsstaaten sind auch auf die moralischen Qualitäten der Bürger angewiesen, d. h. auf allgemeine Überzeugungen und Werthaltungen, die auf die Einstellungen zu den sozialpolitischen Programmen einwirken. Umverteilungen lassen sich nur legitimieren, wenn es „öffentliche“ kollektive und soziale Werte gibt, die die institutioneilen Selbstverpflichtungen auf Risikovorsorge, Bekämpfung von materiellen Notlagen und die Verringerung von Ungleichheit normativ unterfüttern. Sie sind die moralischen Ressourcen, die die soziale Akzeptanz und Anerkennung befördern und auf die der Wohlfahrtsstaat zwingend angewiesen ist.
Komparative Arbeiten zu wohlfahrtsstaatlichen Typen oder Regimen erschließen, wie die moralischen Anforderungen und Interessenbindungen in den einzelnen Ländern ineinandergreifen. Und sie zeigen damit auch, welche Interessenvermittlungen und Interessenbindungen die wohlfahrtsstaatlichen Arrangements befördern und in welcher Form gesellschaftliche Solidarität organisiert wird. Im Vergleich der Länder Schweden, Großbritannien und der Bundesrepublik bietet sich die von Gpsta Esping-Andersen in seinem Buch „The Three Worlds of Welfare Capitalism" angebotene Unterscheidung an. Großbritannien läßt sich danach als liberales, Schweden als sozialdemokratisches und die Bundesrepublik als korporatistischkonservatives Wohlfahrtsregime bezeichnen.
Das zu den liberalen Wohlfahrtsstaaten gehörende Großbritannien zeichnet sich durch eine Kombination aus steuerfinanzierter Grundsicherung und beitragsfinanzierten Sozialleistungen aus. Der Anteil der bedarfsgeprüften Sozialhilfeleistungen ist relativ groß, und die staatlichen Transferleistungen haben eine eher bescheidene Höhe. Die Versorgung ist in erster Linie an die gering verdienenden und nicht erwerbstätigen Gruppen der Gesellschaft adressiert. Die bessergestellten Mittelschichten werden zusätzlich an den privaten und betrieblichen Vorsorgemarkt verwiesen, um ihre Ansprüche zu sichern. Dies entspricht der liberalen Tradition des minimalistischen staatlichen Engagements.
Das schwedische Modell ist unter sozialdemokratischer Hegemonie gewachsen und bezieht sich explizit auf Handlungsmaxime wie Solidarität und Gleichheit. Es ist ein universalistisches, steuerfinanziertes System das eine Grundversorgung für alle Bürger bereitstellt. Neben dem Universalismus ist die Umverteilung, die durch die hohe Steuerprogression gewährleistet wird, ein wichtiges Merkmal. Das schwedische Wohlfahrtsregime hat damit stark redistributive Effekte. Damit liegen die moralischen Anforderungen zur Zustimmung zu diesem System für die privilegierten Schichten relativ hoch. Gleichzeitig sind die Leistungen so großzügig, daß das Modell auch für die Mittelklassen attraktiv ist.
Das deutsche System verfügt über ein erwerbsarbeitszentriertes Sozialversicherungssystem, das vornehmlich auf Statussicherung ausgerichtet ist. Ergänzt wird es von bedarfsabhängiger Sozialhilfe. Profiteure der Sozialversicherungen sind in erster Linie die am Erwerbsleben teilnehmenden Gruppen, deren Leistungsbezüge auf der Grundlage erbrachter Beiträge und Anwartschaften zugeordnet werden. Das System bleibt daher in seiner Umverteilungswirkung begrenzt und ist aufgrund der Äquivalenzregel auch für statushöhere Gruppen attraktiv.
Veränderungen der Sozialpolitik haben zur Folge, daß sich die etablierten Verteilungsregeln verschieben. Damit verschieben sich auch die Legitimitätsgrundlagen des wohlfahrtsstaatlichen Handelns; das Verhältnis von Instrumentalität und Moralität wird neu konditioniert. Damit sind Konflikte und Widerstände ebenso verbunden wie die Unterstützung von Gruppen, die sich bisher in einer Nettozahler-Position gesehen haben. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie die Wohlfahrtsstaaten mit diesem Legitimationsproblem umgehen und welche Akzeptanzbedingungen für wohlfahrtsstaatliche Reformen bestehen. Anhand der Entwicklungen der wohlfahrtsstaatlichen Politik soll dabei gezeigt werden, wie die unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Systeme Veränderungen vorgenommen haben und wie die Bevölkerung darauf reagiert hat.
Hinweise auf das Zusammenspiel von wohlfahrtsstaatlicher Sicherung und ihrer Unterstützung durch die Gesellschaftsmitglieder können bevölkerungsrepräsentative Umfragen geben. Dabei geht es vornehmlich um die Frage, welche Erwartung die Bevölkerung in bezug auf wohlfahrtsstaatliches Handeln hat. Damit wird zwischen den staatlichen Institutionen und den Bürgern ein Anbieter-Nach-frager-Verhältnis aufgebaut. Aus Forschungen und auch aus dem Alltagsverständnis heraus wissen wir, daß ein solches Verhältnis einen Nachfrageüberhang besitzt. Die Bürger erwarten mehr soziale Sicherung, als der Staat tatsächlich gewährleisten kann. Das ergibt sich aus den Sicherheitsorientierungen und dem positiven Steigerungsverhältnis zwischen Leistungen und Ansprüchen. Vollständig „responsive“ wohlfahrtsstaatliche Institutionen -gemeint ist, daß allen Wünschen der Bürger nachgekommen wird -sind daher weder möglich noch wünschenswert. Dennoch ist die Politik gehalten, die Erwartungen der Menschen nicht zu übersehen und die Diskrepanzen nicht zu stark anwachsen zu lassen. Restriktionen, die die Erwartungen nicht ins Unermeßliche steigen lassen, sind ebenfalls vorhanden. Das sind neben den Kosten, die kollektiv getragen werden müssen, Vorstellungen über die Realisierbarkeit und die Funktionalität von Sozialpolitik. Diese Aspekte tragen besonders dazu bei, Veränderungen der Erwartungshaltungen und Präferenzverschiebungen in bezug auf sozialpolitische Zielstellungen herbeizuführen.
In Anlehnung an Edeltraut Roller kann zwischen den Einstellungen zur Extensität und zur Intensität wohlfahrtsstaatlichen Handelns unterschieden werden. Bei Extensität geht es darum, in welchen Politikfeldern dem Wohlfahrtsstaat Verantwortung zugeschrieben wird, bei Intensität um das befürwortete Niveau und das Ausmaß sozialpolitischer Intervention.
III. Normativ zugeschriebene Verantwortungsbereiche
Wendet man sich der Extensität wohlfahrtsstaatlichen Handelns (vgl. Tabelle 1) zu, so kann man in den meisten westlichen Wohlfahrtsstaaten eine starke Unterstützung für zentrale wohlfahrtsstaatliche Aüfgabenbereiche feststellen, die der Ziel-stellung Sicherheit untergeordnet sind. In Großbritannien, Schweden und der Bundesrepublik stellen die Aufgabenzuschreibungen in den zentralen Politikfeldern der Gesundheit und Alterssicherung unstrittige soziale Normen dar. Auch Zeitvergleiche mit früheren Erhebungen bestätigen diesen Befund Die Popularität dieser Programme ist dabei sowohl einer normativen Einprägung und institutionellen Befestigung als auch ihrem speziellen Zuschnitt zu verdanken. Sie sind so organisiert, daß alle gesellschaftlichen Gruppen sich als Nutznießer fühlen können. Die Leistungen sind auf Risiken bezogen, die einen hohen Allgemeinheitsgrad haben und deshalb innerhalb der Gesellschaft breit gestreut sind.
Auch die Unterstützung für die Arbeitslosen hat eine große Akzeptanz. Mit 92 bzw. 90 Prozent sprechen sich die Ostdeutschen und die Schweden dafür aus, daß der Staat das Arbeitslosigkeitsrisiko absichert. Erklärungskraft hat in diesem Zusammenhang sicherlich das Arbeitslosigkeitsproblem in Ostdeutschland. In Schweden hat die traditionell auf Vollbeschäftigung ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik dazu geführt, daß Arbeitslosigkeit mehr als in anderen Ländern als Problem der gesamten Gesellschaft gesehen wird. Wo das Integrationsziel nicht erreicht werden kann, gibt es eine nachdrückliche Verpflichtung zur Hilfe.
In Großbritannien und Westdeutschland ist dies weniger eindeutig. Hier liegt der Anteil der Zustimmung bei 78 bzw. 80 Prozent. Außerdem ist der Anteil derer, die sich für die staatliche Sicherung bei Arbeitslosigkeit aussprechen, seit Mitte der achtziger Jahre leicht rückläufig. Dieser Schwund von Zustimmung ist möglicherweise von Bevölkerungssegmenten getragen, die selbst nicht erwarten, in den Genuß von Arbeitslosenunterstützung zu kommen Weniger als in den Bereichen Gesundheit und Alterssicherung kann dieser Bereich als Sicherungsart für die Allgemeinheit gelten (und damit latente Allianzen befördern). Marginalisierungen auf dem Arbeitsmarkt, die Spezifik von Risikogruppen und das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit tragen dazu bei, diese Leistungsart eher unter dem umverteilenden Aspekt zu sehen. Die Gruppe der Beitragszahler und die Gruppe der Leistungsempfänger sind deutlicher getrennt. Dies könnte ein Grund für die schwächere Popularität sein.
Die Zustimmung zur sozialpolitischen Dimension der Gleichheit (Tabelle 1) wird mit der Aussage „Der Staat ist dafür verantwortlich, die Einkommensdifferenzen zu verringern“ operationalisiert. Positive Einstellungen zu Umverteilungen sind nicht ausschließlich auf altruistische und helfende Positionen zurückzuführen. Auch hier mischen sich wieder Instrumentalität, wenn z. B. einkommensschwache Gruppen Umverteilung einfordern, und Moralität, wenn z. B. die Beschränkung von Ungleichheit und die Hilfe für schlechtergestellte soziale Gruppen, auch unabhängig vom Eigennutz, als gesellschaftliche Verpflichtung angesehen wird. Zu dieser Aussage gibt es in Westdeutschland die geringste Zustimmung und in Ostdeutschland die größte. In Westdeutschland läßt sich im Zeitvergleich eine abnehmende Zustimmung feststellen. Offensichtlich wird die politische Zielstellung der Umverteilung als weniger wichtig angesehen. Immerhin fast 30 Prozent der Bevölkerung sprechen sich 1996 dagegen aus. In Schweden und Großbritannien haben Fragen zur Umverteilung auch eine nennenswerte Gegnerschaft von rund einem Viertel der Bevölkerung. Dafür sind 59 bzw. 54 Prozent, also über die Hälfte der Bevölkerung. Im Vergleich mit der tatsächlichen Umverteilungswirkung ergeben sich die stärksten redistibutiven Effekte des Steuersystems und der sozialen Sicherung in Schweden, gefolgt von Westdeutschland und dann Großbritannien.
Finden die auf Sicherheit ausgerichteten Prinzipien des Wohlfahrtsstaates eine generelle Zustimmung, so ist die Umverteilung als Zielstellung eher umstritten. Diese sozialpolitische Dimension ist stark auf Moralität angewiesen. Die Akzeptanz ist insbesondere bei denjenigen Gruppen als prekär anzunehmen, die sich aufgrund ihrer sozialstrukturellen Positionierung als Verteilungsverlierer empfinden. In allen Ländern zeigt sich dementsprechend eine schwächere Befürwortung und eine anwachsende Gegnerschaft bei den statushöheren Gruppen. Wo sie sich bereitfinden, die Umverteilung zu unterstützen, ist ihre instrumentelle Perspektive zurückgetreten und wird von normativen Vorstellungen über Verpflichtungen und Aufgaben der Gesellschaft überlagert.
IV. Großbritannien am Ende der konservativen Revolution
Auf die Bewertung des aktuellen Niveaus der sozialen Sicherung heben Fragen zur Intensität wohlfahrtsstaatlichen Handelns ab. Dabei geht es um die Frage, ob die Bevölkerung mehr oder weniger Sozialausgaben befürwortet. Im allgemeinen Ländervergleich (vgl. Tabelle 2) erhebt die britische Bevölkerung die stärksten Forderungen nach einer Erhöhung der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Immerhin 70 Prozent wünschen eine Erhöhung der Sozialausgaben und würden dafür sogar höhere Steuern in Kauf nehmen. Im zeitlichen Trend ist ein enger Zusammenhang mit den politischen Zyklen in Großbritannien festzustellen. Ende der siebziger Jahre konnte die Konservative Partei eine wohlfahrtskritische Stimmung erzeugen. Im Gefolge des Ölpreisschocks und des Drucks, der durch den IMF (International Monetary Fund) auf Großbritannien ausgeübt wurde, konnte die ideologische Position des „rolling back the frontiers of social welfare“ an Boden gewinnen. Insbesondere die Mittelschichten fühlten sich von Steuersenkungen und der Privatisierung ineffizienter staatlicher Bereiche angesprochen. Zum Zeitpunkt der Regierungsübernahme der Konservativen 1979 war die Unterstützung für wohlfahrtsstaatliche Kürzungen vergleichsweise groß, und die Frage, „what the nation could afford“, wurde zu einem zentralen Konflikt. Die Radikalität, mit der die neue Regierung rhetorisch und legislativ die wohlfahrtsstaatlichen Institutionen angriff, führte bei der Bevölkerung zu einer Ernüchterung. Die Unterstützung für eine Erweiterung der wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben schnellte wieder nach oben und verblieb dort. Gleichzeitig formierte sich der Widerstand und verlangsamten sich die Reformschritte. Das Nationale Gesundheitssystem -National Health Service (NHS) -Großbritanniens gibt einen aufschlußreichen Einblick darin, welche Bestandskraft eine Institution hat, die von der Bevölkerung breit unterstützt wird. Schon 1982 schlug der Central Policy Review Staff, der „Think Tank“ der Thatcher-Regierung, vor, den NHS durch private Gesundheitsversicherungen zu ersetzen. Daraufhin erhob eine empörte Öffentlichkeit die Stimme, und die Pläne wurden zurückgezogen In einem weiteren Angriff gab es Versuche der verantwortlichen Politiker, durch schleichende Qualitätseinbußen und eine schrittweise Erweiterung des privaten Gesundheitsmarktes die Bedeutung des NHS zu schmälern. Doch alle Versuche, die staatlichen Aufwendungen für Gesundheit zu reduzieren und die Privatisierung voranzubringen, erwiesen sich als nicht durchsetzungsfähig. Am Ende einer lang andauernden Auseinandersetzung sah sich Frau Thatcher zu einer schwerwiegenden Zusicherung gezwungen: „The National Health Service is save with us.“ Ihre politischen Positionen waren inzwischen so weit verschoben, daß sie sich selbst als Verteidigerin der zentralen Prinzipien des NHS darstellte. Diese Themenentwicklung zeigt, daß das steuerfinanzierte und universalistische Gesundheitsmodell in Großbritannien einen normativen Unterbau besitzt, der sich trotz seiner solidarischen Komponente und trotz massiver Angriffe als robust und widerstandsfähig erwies. Offensichtlich zählt die Bevölkerung den NHS zu den wichtigen und bewahrenswerten institutioneilen Beständen, die mit dem Beveridge-Report von 1942, der das programmatische Fundament des britischen Wohlfahrtsstaates legte, ins Leben gerufen wurden. Gleichzeitig führten ein defizitärer Versorgungsstandard und lange Wartezeiten zu erhöhter Unzufriedenheit. 1996 plädierten die Briten deutlich für erhöhte staatliche Aufwendungen im Gesundheitsbereich. 92 Prozent sind für eine Ausgabenerhöhung, 43 Prozent meinen sogar, es sollte viel mehr ausgegeben werden. Diese Zustimmung bleibt nicht auf das Bevölkerungssegment derer beschränkt, die auf den NHS angewiesen sind, sondern wird auch von Gruppen getragen, für die Alternativen auf dem privaten Gesundheitsmarkt prinzipiell zugänglich sind.
Im Bereich der Alterssicherung hat die Thatcher-Regierung ihre Privatisierungsstrategie erfolgreicher umsetzen können. Doch auch hier zeigte sich die Legitimationsschwäche einer rein auf staatlichen Rückzug setzenden Politik. Sie führte zu einem breiten Vertrauensverlust in die Regierung und zeigte, daß der Staat auch eine dauerhafte Verantwortung in diesem Bereich zu tragen hat Die Einstellungen der Bevölkerung in diesem Politikbereich sprechen eine deutliche Sprache. 78 Prozent plädierten 1996 für eine Ausgabenerhöhung im Bereich der Alterssicherung. Im Vergleich mit der Gesundheit und der Alterssicherung sind die Erwartungen im Bereich der Sicherung der Arbeitslosen moderat. 35 Prozent der Bevölkerung wünschen eine Erhöhung. Der Anteil der Befürworter von Kürzungen liegt bei 21 Prozent. Hier wirken wieder die konstitutiven Merkmale der Sicherung bei Arbeitslosigkeit: die ungleiche Risikoverteilung, die dazu führt, daß nur Teile der Bevölkerung sich als Betroffene fühlen. Je „risikonäher“ eine Gruppe, desto stärker ihre Erwartungen an ein verstärktes staatliches Engagement.
Wirft man einen Blick auf die Binnendifferenzierungen der Einstellungen zu wohlfahrtsstaatlichem Handeln, so scheint sich die britische Bevölkerung nicht auf dem Weg zu einer größeren Polarisierung zu befinden. Ursprüngliche Befürchtungen eines „widening gap between different groups in their attitudes to collective provision“ weil Privatisierung auch immer Entsolidarisierung bedeutet, lassen sich nicht bestätigen. Auch bei den statushöheren Gruppen findet sich die Neigung, höhere wohlfahrtsstaatliche Aufwendungen einzufordern. Hintergrund dieser Haltung sind sicherlich die stark in Richtung Zurückschneidung und Abbau tendierenden konservativen Wohlfahrtspolitiken, deren Folgen als problematisch angesehen werden. Die hohen Kosten dieser Politik für die britische Gesellschaft waren nicht mehr zu übersehen. Weitere Kürzungen sind daher kaum noch durchzusetzen und werden nur noch von Minderheiten gefordert. Insofern scheint ein Effekt der „konservativen Revolution“ darin zu bestehen, daß in Anbetracht der Einschnitte ins soziale Netz wieder ein verstärktes wohlfahrtsstaatliches Engagement eingefordert wird. Man darf dabei aber nicht übersehen, daß eine Rückkehr zu den Vor-Thatcher-Zeiten weder möglich noch gewollt ist. Eine Reihe von Veränderungen standen durchaus im Einklang mit den normativen Überzeugungen der britischen Gesellschaft. So konnten die Konservativen an verschiedene Facetten der liberalen Tradition wie Eigenverantwortung des einzelnen und seiner Familie und die Stärkung marktwirtschaftlicher Elemente anknüpfen. Auch die Privatisierung der Leistungserbringung und die verstärkte Hinwendung der Mittelklassen zu den Sicherungsalternativen des privaten Sektors sind kaum rückgängig zu machen. Das entspricht der verankerten Idee der „mixed economy of welfare". Unterstützung findet auch die stärkere Zielgruppenorientierung der britischen Sozialpolitik.
New Labour hat diese Erbschaft durchaus als Herausforderung begriffen. Die Ideen von „enabling the society“ und „active welfare“ schließen daran an, dem einzelnen und den gesellschaftlichen Gruppen ein größeres Gewicht zu übertragen. Daß diese Politik trotz eher verhaltener Versprechen einer größeren Opulenz der wohlfahrtsstaatlichen Angebotsseite eine so große Mehrheit erhalten hat, ist auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen war man den harschen Kurs der Tories leid, der sich zwar unter Major abgeschwächt hatte, ihnen aber immer noch anhaftete. Zum anderen offerierte New Labour eine Vision eines neuen Verhältnisses von staatlicher sozialer Sicherheit und Gesellschaft, das stärker auf Reziprozitätsbeziehungen aufbaute. Die positive Neudefinition von Verantwortung bezog sich auf das ganze Spektrum von Wohlfahrtsproduzenten. Dieses Programm entsprach stärker den sozialen Werten und dem Bedürfnis, den deutlichen Anzeichen von Desintegration und Entsolidarisierung wirksam zu begegnen.
V. Schweden -Konflikte um das richtige Maß
Der schwedische Wohlfahrtsstaat verfügt seit seiner Etablierung über einen großen Rückhalt in der Bevölkerung. Die Beteiligungsbereitschaft und Zustimmung der Bevölkerung war vor allem durch die Ideologie des schwedischen „Volksheims“ begründet. Dieser Vorstellung entsprechend übernimmt der Staat Verantwortung für das Wohlbefinden und das Wohlergehen seiner Bürger. Diese Verantwortungsübernahme schließt ein, daß weitreichende Eingriffe in die Gesellschaft akzeptiert werden, sofern sie diesem Ziel zugeordnet werden können. Der Erfolg dieses „Modells Schweden“ liegt in einer Kultur des sozialen Kompromisses begründet, die sozialen Frieden und Stabilität stiftet. Das schwedische System entwickelte sich mit der Zeit zu einem generösen System, das auch die Mittelschichten mit attraktiven Versorgungsangeboten bedachte. Diese Form der staatlichen Verantwortlichkeit besaß ein hohes Maß an Zustimmung in der schwedischen Bevölkerung.
Schon im Verlauf der achtziger Jahre geriet das schwedische Modell aufgrund eines verlangsamten wirtschaftlichen Wachstums und erhöhter Inflation unter Druck. Die Expansionsphase war vorbei, und die sozialdemokratische Regierung versuchte, den populären Wohlfahrtsstaat zu sichern. Anfang der neunziger Jahre gab es eine ungewöhnlich starke Wirtschaftskrise, in deren Folge das Bruttosozialprodukt in drei aufeinanderfolgenden Jahren sank. Mit dem Anwachsen der Arbeitslosigkeit innerhalb weniger Jahre von 1, 6 auf 8, 1 Prozent verstärkte sich die finanzielle Schieflage des Wohlfahrtsstaates. Angesichts dieser für Schweden ungewohnten Problemschärfe kam politisch einiges in Bewegung. Die bürgerliche Regierung verfolgte einen Sparkurs, der schmerzhafte Eingriffe in das Leistungsangebot des Wohlfahrtsstaates mit sich brachte. Diese Veränderungen konnten gegen relativ geringe Widerstände durchgesetzt werden
Das mag angesichts der Bedeutung, die die Schweden ihrem Wohlfahrtsstaat zumessen, überraschen, doch ein zweiter Blick zeigt, daß die Hinnahme der Kürzungen mit einer wachsenden Kritik am Wohlfahrtsstaat im Zusammenhang steht. Schon Mitte der siebziger Jahre gab es eine nachlassende Unterstützung für eine weitere wohlfahrtsstaatliche Expansion Teil der politischen Agenda wurde die Diskussion um die Frage, ob die sozialen Reformen zu weit gegangen seien. „Es ist klar“, sagt der Ökonom Rudolf Meidner einer der Mitgestalter des schwedischen Wohlfahrtsstaates, „daß es mit der gewohnten Großzügigkeit nicht weitergehen konnte.“ 1980 und 1991, als die Konservative Partei Wahlsiege erringen konnte, waren die Ressentiments gegenüber dem Wohlfahrtsstaat besonders groß Vorbehalte entstanden vor allem durch die Belastung der öffentlichen Haushalte und die Höhe der individuellen Steuer-beiträge. Die Rezession tat ihr übriges, um den Weg zu Reform-und Konsolidierungsmaßnahmen freizumachen.
Aufschlußreich, auch gerade für die deutsche Diskussion um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ist die Reform des Krankengeldes in Schweden Sowohl die Einführung eines Karenztages als auch die Absenkung des ausgezahlten Krankengeldes führten kaum zu Widerständen. Selbst die Gewerkschaften stellten sich dieser Veränderung, in deren Folge die krankheitsbedingten Fehl-zeiten auf internationalen Durchschnitt abfielen, nicht entgegen. Ein Akzeptanzproblem stellte sich nicht, da die neue Regelung als gerechtfertigt angesehen und ein offenbar zu großzügiges Gesetz novelliert wurde.
Auch in anderen Bereichen blieb die Reaktion der Öffentlichkeit und der Bevölkerung eher verhalten. Ein stillschweigender Konsens über unumgängliche Veränderungen schien sich auszubreiten. Die Politik kämpfte in dieser Zeit mit Budgetdefiziten, Inflation und Arbeitslosigkeit, und den traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Zielstellungen wurde eine geringere Priorität eingeräumt. Dies betraf vor allem den Bereich der auf Abbau von Ungleichheit gerichteten Politik, die Armutsbekämpfung und die Vollbeschäftigung. In Anbetracht dessen gab es aber keine Zeichen einer Abkehr vom schwedischen Wohlfahrtsstaat in den Einstellungen der Bevölkerung. In Untersuchungen dazu wird die breite und tief verankerte Zustimmung der Bevölkerung zu den sozialstaatlichen Institutionen und die grundlegende Akzeptanz eines steuerfinanzierten und auch kostenaufwendigen Systems der sozialen Sicherung betont
Zusammen mit der ökonomischen Krise führte der Umbau des Wohlfahrtsstaates zu einer Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen und zu einer Vergrößerung von Ungleichheit. Ein langanhaltender Trend in Richtung verbesserter Lebensbedingungen wurde abgebrochen Joachim Vogel spricht von einem „insecurity shock“, dem die Bevölkerung ausgesetzt war In der Folge und in Reaktion darauf kam es sogar zu einem erneuten Erstarken der Unterstützung für den Wohlfahrtsstaat. 1996 vertrat die Mehrheit der Bevölkerung eine expansionistische Position. Verschiedene politische Versuche, eine noch strengere Fiskalpolitik zu betreiben, wie der von Ministerpräsident Göran Persson, waren nicht mehr mehrheitsfähig. Offensichtlich führte die Rotstiftpolitik zwar einerseits zu mehr Realismus, was die Möglichkeiten der Sozialpolitik anging, andererseits aber zu einer Höherbewertung der sichernden Wirkungen der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Immerhin 58 Prozent traten für eine Erhöhung der wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben ein. Dabei war der wichtigste Posten die Gesundheitsversorgung (77 Prozent), gefolgt von der Alterssicherung (56 Prozent) und der Sicherung bei Arbeitslosigkeit (44 Prozent). Bei der Alternative „Mehr Sozialausgaben verbunden mit höheren Steuern“ versus „Weniger Steuern, auch wenn dies zu Sozialleistungskürzungen führt“ schrumpfte das Verhältnis auf 43 Prozent zu 57 Prozent.
Die sozialstrukturelle Differenzierung dieser Einstellungen ist allerdings beträchtlich. Bei den höheren sozialen Schichten sinkt die Zustimmung zur Umverteilung und zu einer Erhöhung der wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben deutlich ab. Selbst bei der Alterssicherung findet sich dann keine Mehrheit für eine Ausgabenerhöhung mehr. Die bessergestellten Gruppen der schwedischen Gesellschaft plädieren eher für eine Konsolidierung der Ausgaben auf dem erreichten Niveau. Politisch ist der Bevölkerung signalisiert worden, daß Schluß sei mit den Leistungskürzungen und daß es nun darum gehe, das System der sozialen Sicherung zu stabilisieren.
VI. Bundesrepublik Deutschland -Beharrungstendenzen mit Kosten
Für die Bundesrepublik legen vorhandene Studien ebenfalls den Befund nahe, daß der Wohlfahrtsstaat samt seiner wichtigsten Institutionen auf eine hohe Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung trifft. Die Zustimmung zur normativen staatlichen Zuständigkeit in den zentralen Politikbereichen ist hoch und über die Zeit stabil. Schwankungen gibt es bei der befürworteten Intensität wohlfahrtsstaatlichen Handelns: In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gab es eine Tendenz gegen eine Verringerung der Staatsleistungen, die in der ersten Hälfte der achtziger Jahre in eine Tendenz für deren Verringerung umschlug Das erklärt sich aus einer veränderten Einschätzung der Situation durch die Bevölkerung und aus den wahrgenommenen Problemen wohlfahrtsstaatlichen Handelns.
Anders als die rigorosen Eingriffe in Großbritannien und die Veränderungen in Schweden hat das deutsche Modell dem bestehenden Problemdruck ein hohes institutionelles Beharrungsvermögen entgegengesetzt. Reformen wurden allenfalls zögerlich eingeleitet. Als Mitte der siebziger Jahre die Expansionsphase beendet war und eine Phase der Stagnation begann, gewann das politische Ziel der Kostendämpfung an Bedeutung. Diese Politik ging über zu einem Nebeneinander von Einschränkungen und gezielten Ausweitungen. In den Mittelpunkt der staatlichen Aktivitäten rückte zudem die Arbeitslosigkeit, der mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz und dem Vorruhestandsgesetz begegnet werden sollte. Eine langfristige Entwicklungsstrategie des deutschen Modells wurde zugunsten eines defensiven Managements abgelehnt. Bestätigt fühlte sich diese Politik durch die Erwartungshaltungen der Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft. „Die bisherige Grund-orientierung auf wirtschaftliche Wohlstandssteigerung und Zuwachs sozialer Sicherheit kann man geradezu als legitimatorisches Fundament der alten Bundesrepublik betrachten.“
Insbesondere die gesetzlichen Sozialversicherungen und ihre konstitutiven Prinzipien bereiteten den Grund für eine gesellschaftlich breite Akzeptanz des deutschen Wohlfahrtsstaates. Durch die versicherungsrechtliche Konstruktion eines Großteils der Sozialleistungen werden individuelle und kollektive Interessen so konditioniert, daß Vorbehalte gegen das Sicherungssystem kaum aufkommen können und die moralischen Anforderungen niedrig gehalten werden. Auch die Leistungshöhe im Sinne einer Ausrichtung auf die Lebensstandardssicherung sorgt dafür, daß die wohlfahrtsstaatlichen Programme als effektives Instrument zur Realisierung von sozioökonomischer Sicherheit angesehen werden. Das mag der Grund dafür gewesen sein, daß sich -trotz von den Bürgern geäußerter Kritik an den Finanzierungsschwierigkeiten des Sozialstaats -eine ernstzunehmende politische Gegnerschaft nicht formieren konnte. Zwar existierte bei Teilen der Bevölkerung die Einsicht, daß sich Wünschenswertes nicht ohne Maßen realisieren läßt, aber eine Ablehnung des Wohlfahrtsstaates ging davon nicht aus. Dazwischen standen die engen Interessenbindungen der Bevölkerung.
Mit der deutschen Einheit hat sich der Zuständigkeitsbereich des deutschen Wohlfahrtsstaates noch weiter ausgedehnt, und die Finanzierungsprobleme des Sozialstaates haben sich verstärkt. In der Folge haben sich auch die kritischen Wahrnehmungen verstärkt, und die Bevölkerungserwartungen an den Staat wurden gedrosselt Der Anteil der Bevölkerung, der sich für Kürzungen aussprach. stieg leicht an. Im Vergleich mit Schweden und Großbritannien gibt es in Westdeutschland eine mit 42 Prozent der Bevölkerung eher schwache Unterstützung für eine weitere Ausgabensteigerung. 47 Prozent sind dafür, die Ausgaben auf dem vorhandenen Niveau zu halten. Damit setzt die westdeutsche Bevölkerung vergleichsweise stark auf den Niveauerhalt und weniger auf kostenintensiven Ausbau. Dieses Ergebnis muß vor dem Hintergrund der vergleichsweise rigiden sozialpolitischen Sparpolitiken in den beiden anderen Ländern gesehen werden. Verglichen damit befindet sich die Bundesrepublik in einer Situation, in der die Bevölkerung zunehmend davon ausgeht, daß das gegenwärtige Niveau des wohlfahrtsstaatlichen Angebots auf die Dauer nicht zu halten sein wird. Es wächst das Bewußtsein dafür, daß das künftige Niveau der sozialen Sicherung unter dem bisher Gewohnten liegen kann Eine solche Perzeption wirkt natürlich auch auf Erwartungen und Präferenzen. Bezieht man in den Fragekontext die Notwendigkeit höherer Belastungen mit ein, ist nur noch eine Minderheit (32 Prozent) für ein Mehr an sozialer Sicherheit, während eine Mehrheit (68 Prozent) eine Senkung der Belastungen präferiert. Man kann aber auch bei diesen Ergebnissen davon ausgehen, daß sie keine Abkehr vom wohlfahrtsstaatlichen Modell darstellen, sondern allenfalls eine korrigierte Sicht auf die Möglichkeiten und die Grenzen seiner Leistungserbringung.
Die statushöheren Gruppen vertreten die skeptische Sicht stärker. Doch auch bei ihnen ist eine ausgeprägte Präferenz für Leistungskürzungen nicht zu erkennen. Die Personen, die sich der Mittelschicht oder der oberen Mittelschicht zuordnen, sind mehrheitlich für den Erhalt des Status quo bei der Ausgabenhöhe für zentrale wohlfahrtspoliti-sehe Bereiche. Dies gilt insbesondere für die Bereiche der Renten und der Arbeitslosigkeit. Bei der Alternative mehr Sozialausgaben (verbunden mit höheren Belastungen) oder weniger Steuern (verbunden mit Sozialleistungskürzungen) ist mit Ausnahme der Gruppe, die sich der Unterschicht zurechnet, eine deutliche Mehrheit von 70 Prozent für Steuerentlastungen. Das bestätigt nochmals, daß eine weitere Steigerung der Kostenbelastung den Bürgern nicht ohne weiteres zugemutet werden kann. Selbst wenn sie eine Verbesserung der Angebotsseite des Wohlfahrtsstaats zur Folge hat, kann sie als schwer vermittelbar gelten. Andererseits kann man die empirischen Ergebnisse auch nicht in Richtung einer schwindenden Unterstützung des Wohlfahrtsstaates interpretieren. Die vorhandenen kritischen Stimmen sind immer noch von einer Interessenorientierung überlagert und deshalb politisch nicht einfach einzuspannen.
Die ostdeutsche Bevölkerung hat in fast allen sozialpolitischen Feldern deutlich höhere Erwartungen an wohlfahrtsstaatliche Aktivitäten. Geprägt durch die staatssozialistische Vergangenheit und durch die Probleme der Transformation auf besondere Weise auf das wohlfahrtsstaatliche Leistungsprogramm angewiesen, befürworten über 60 Prozent eine Ausgabenerhöhung in den Alter, Gesundheit und Arbeitslosigkeit betreffenden wohlfahrtsstaatlichen Aktivitätsfeldern. Eine nennenswerte Befürwortung von Ausgabensenkungen gibt es nicht, und selbst in dem Bereich der Sicherung bei Arbeitslosigkeit beschränkt sich die Zustimmung zu Kürzungen auf fünf Prozent. Angesichts der Arbeitsmarktprobleme in Ostdeutschland ist dies ein nachvollziehbarer Befund. Die Alternative Sozialausgabenerhöhung versus Belastungsverringerung findet innerhalb der ostdeutschen Bevölkerung eine Zustimmungsverteilung von 60 zu 40 Prozent. Die interne Differenzierung dieser Einstellungen ist keine Frage des Pro oder Kontra, sondern beschränkt sich auf die Intensität der Forderung nach stärkerem wohlfahrtsstaatlichem Engagement. Diese ist bei statushöheren Gruppen etwas abgeschwächt, insgesamt aber eher gering.
Die gewünschte aktivere Rolle des Staates ist einerseits der sozialistischen Prägung zuzurechnen, andererseits widerspiegelt sie natürlich auch die sozialen und wirtschaftlichen Realitäten in den neuen Bundesländern. Die Ostdeutschen sind in besonderem Maße von den sozialpolitischen Leistungen abhängig. Die Sozialleistungsquote stieg dort auf immerhin 70 Prozent. Die Erwartung, daß Sozialpolitik die Härten der Transformation abfedert, ist stark verbreitet. Das bestärkt die vorhandenen etatistischen Orientierungen Auch die breit getragene Befürwortung der Einkommens-umverteilung ist vor dem Hintergrund einer egalitären Wertorientierung und der Vergrößerung der Ungleichheit in Ostdeutschland zu interpretieren.
Mit der deutschen Einheit hat der Wohlfahrtsstaat nicht nur enorme Kosten zu tragen, sondern gleichzeitig einen zusätzlichen Legitimitätspuffer bekommen. Das macht Reformvorhaben noch abhängiger davon, der Bevölkerung eine Zustimmung oder zumindest eine Hinnahmebereitschaft für Maßnahmen abzuringen, die möglicherweise ein Weniger an Sozialleistungen bedeuten. In Westdeutschland hat das Argument der mangelnden „Realisierungsfähigkeit“ von Sozialpolitik dazu geführt, daß die Erwartungen und Ansprüche gedämpft wurden. Die Politik laviert zwischen der Zusicherung, daß alles beim alten bleibt, und einer eingeschränkten Veränderungsbereitschaft hin und her. Daher fällt es schwer, abzuschätzen, wie sich die Akzeptanzbedingungen des wohlfahrtsstaatlichen Umbaus darstellen, sobald maßgebliche Reformpakete geschnürt sind. Am ehesten durchsetzungsfähig erscheinen Vorhaben, die die Interessen der Mehrheit eher weniger tangieren. Damit entsteht die Gefahr, daß mögliche Veränderungen zu Lasten macht-und interessenschwacher sozialer Gruppen gehen.
VII. Fazit
Bei den Fragen zur gewünschten Intensität des wohlfahrtsstaatlichen Engagements gibt es eine verzögerte Resonanz der Bevölkerungsmeinung auf institutioneile und ideologische Veränderungen: Dabei kehren sich die Vorzeichen um: Die Ausbauphase des Wohlfahrtsstaates führte zu tendenziell abgeschwächten Forderungen nach einem Mehr an sozialstaatlichem Engagement. Rückbauphasen führen mit zeitlicher Verzögerung dazu, daß die Bevölkerung verstärkt den Wunsch nach einem Mehr an Wohlfahrtsstaat äußert. Die Beispiele Großbritannien und Schwe-den machen dies deutlich. Diese Schwankungen der Erwartungen sind immer dann politisierbar, wenn sie mit einer Gruppenspezifik einhergehen. Zentral ist dabei die Stellung der Mittelschichten und ihre Haltung zu den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen.
Die behandelten europäischen Wohlfahrtsstaaten laufen allerdings kaum Gefahr, die Zustimmung ihrer Bürger zu verlieren. Eher verweisen deren Erwartungen darauf, daß die Zurücknahme des Wohlfahrtsstaates mit den Widerständen seiner Bürger konfrontiert ist. Dennoch handelt es sich dabei nicht um eine Politik der Unmöglichkeit. In dem schwierigen Prozeß, das System der sozialen Sicherheit mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zusammenzubringen, sind unterschiedliche Wege beschritten worden. Für die behandelte Fragestellung dürfte klar geworden sein, daß das Ausmaß der Kürzungen der Sozialleistungen nur ein Kriterium für die Akzeptanz oder zumindest die Hinnahme von Veränderungen ist Bestimmend ist, wie die Interessen organisiert und zusammengeführt werden und auf welche normati-ven Prinzipien sich die Veränderungen beziehen. Dann öffnet sich der Weg zu durchaus flexiblen Anspruchshaltungen.
Wichtig für Reformschritte ist, welche langfristigen politischen Zielstellungen verfolgt werden und wie die Bevölkerung darin eingebunden wird. Systeme, die ihre Legitimität vor allem über eine Interessenbindung großer Bevölkerungskreise beziehen, sind als eher reformträge einzustufen. Systeme, die auf die Ressource Solidarität angewiesen sind, sind zwar angreifbarer, doch dies kann unter dem Gesichtspunkt der Veränderbarkeit auch zum Vorteil werden. Dies vor allem dann, wenn Reformmaßnahmen mit einer Neubestimmung der Begriffe Solidarität und Gerechtigkeit einhergehen und sich nicht allein auf ökonomische Erwägungen und das Eigennutzstreben der Menschen ausrichten. Die Nutzenerwartungen der Bürger können allenfalls eine Randbedingung der Veränderungen sein, keine Richtschnur. Somit ist der Wohlfahrtsstaat auch immer wieder auf eine Revitalisierung der moralischen Dimension angewiesen. Wo ein gesellschaftlicher Konsens über Reformmaßnahmen erzielt werden kann, sind selbst schmerzhafte Eingriffe in das soziale Netz möglich, ohne daß es zu grundlegenden Legitimitätsverlusten kommt.
Steffen M a u, Diplomsoziologe, geb. 1968; 1991-1997 Studium der Soziologie in Berlin und Bristol (GB); seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Abteilung Sozialstruktur und Sozialberichterstattung. Veröffentlichungen u. a.: Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, in: Wolfgang Zapf/Roland Habich (Hrsg.), Wohlfahrtsentwicklung im vereinten Deutschland. Sozialstruktur, Sozialer Wandel und Lebensqualität, Berlin 1996; Ungleichheits-und Gerechtigkeitsorientierungen in modernen Wohlfahrtsstaaten. Ein Vergleich der Länder Schweden, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, wzb-paper, FS III 97-401, 1997; Ideologischer Konsens und Dissens im Wohlfahrtsstaat, in: Soziale Welt, (1997) 1.
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