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Politische Kontroversen im Parlamentarischen Rat | APuZ 32-33/1998 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 32-33/1998 Die Alliierten und Deutschland 1945-1948 Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee Politische Kontroversen im Parlamentarischen Rat Die Verfassungsgebung in der SBZ 1946-1949. „Errichten wir die Diktatur des Proletariats, dann werden alle Dinge klar und einfach“ Dokumentation. Die Frankfurter Dokumente vom 1. Juli 1948 Stellungnahme der westdeutschen Ministerpräsidenten zu den Frankfurter Dokumenten (Koblenzer Beschlüsse vom 7. Juli 1948)

Politische Kontroversen im Parlamentarischen Rat

Karlheinz Niclauß

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Bonner Grundgesetz wird als eine besonders erfolgreiche Verfassungsgründung aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bewertet. Diese Wertschätzung übertrug sich auch auf seine Autoren, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Sie gelten als Verfassungsexperten, die unbeeindruckt vom Tagesgeschehen der Jahre 1948/49 die richtigen Schlußfolgerungen aus dem Scheitern der Weimarer Republik und aus der Zeit des „Dritten Reiches“ zogen. Diese Sichtweise wird den Grundgesetzberatungen allerdings nur zum Teil gerecht. In Wirklichkeit verfolgten die Grundgesetzautoren durchaus parteipolitische Ziele und vertraten unterschiedliche Auffassungen zur zukünftigen Wirtschafts-und Sozialstruktur Westdeutschlands. Selbst die akademisch anmutende Auseinandersetzung über Bundesrat oder Senat hatte ihre Grundlage in unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen. Die politischen Ziele wurden im Parlamentarischen Rat in der Regel aber nur angedeutet. Seine Mitglieder mußten auf die Politik der Besatzungsmächte sowie auf die Lage des blockierten West-Berlins Rücksicht nehmen. Angesichts der Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates war die eigene Verfassungskonzeption nur mit Unterstützung anderer Fraktionen durchzusetzen. Bei den Beratungen ging es auch nicht um die Festlegung politischer Zielvorstellungen im Verfassungstext. Das Grundgesetz sollte vielmehr je nach politischem Standort den Weg zu wirtschaftlichen und sozialen Reformen eröffnen oder bestimmte Lösungen verhindern.

I. Rückblick auf die Entstehung des Grundgesetzes

Der Parlamentarische Rat erfreut sich auch im fünfzigsten Jubiläumsjahr seiner Einberufung einer wohlwollenden, aber nicht allzu tiefgehenden Aufmerksamkeit. „Verfassunggebende Versammlung“ durfte er mit Rücksicht auf die Zeit-umstände und den provisorischen Charakter seines Werkes nicht heißen, obwohl die drei westlichen Besatzungsmächte dies den Ministerpräsidenten der Länder ausdrücklich vorschlugen. Der Verfassungstext selbst erhielt aus den gleichen Gründen den Namen „Grundgesetz“, während die Frankfurter Dokumente der Militärgouverneure vom 1. Juli 1948 eine „Constitution“ in Auftrag gegeben hatten. Das Grundgesetz gilt inzwischen als eine vorbildliche Verfassungsschöpfung und wurde auch im Zuge der deutschen Einigung nur in wenigen Punkten verändert. Seine Ablösung durch eine neue Verfassung, die in Art. 146 GG nach wie vor vorgesehen ist, hatte in der Reform-diskussion nach 1990 keine Aussicht auf Erfolg.

Diese Anerkennung bezieht auch die „Verfassungsväter“ und die vorübergehend in Vergessenheit geratenen vier weiblichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates ein. Sie erscheinen aus heutiger Sicht als Fachleute, die dem parteipolitischen Tagesgeschehen fernstanden und nur bestrebt waren, eine möglichst funktionsfähige Verfassung zu schaffen. Nach vorherrschender Auffassung leiteten sie aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus die richtigen Schlußfolgerungen ab, wobei ihnen ihre Lebenserfahrung sowie ihre historischen und juristischen Kenntnisse zu Hilfe kamen.

Wer mit der Nachkriegsgeschichte vertraut ist, weiß, daß dieses Idealbild mit der Realität nur teilweise übereinstimmt. Die maßgebenden Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren im September 1948 bereits seit drei Jahren unter schwersten äußeren Bedingungen und persönlichen Strapazen politisch tätig. Sie verfügten als Kommunal-oder Landespolitiker über Erfahrungen mit akuten Not-und Mangelsituationen sowie im täglichen Kleinkrieg mit den zuständigen Militärbehörden der Besatzungsmächte. Sie waren Parteipolitiker, obwohl die Parteiorganisationen damals mit Ausnahme von SPD und KPD nur auf Landes-oder Zonenebene bestanden und von der heutigen Professionalität weit entfernt waren. Schließlich hatten sie auch persönliche Ambitionen, was die Wahlaussichten ihrer Partei und die Ämter in den neuen politischen Strukturen Westdeutschlands betraf.

In den letzten Jahren trugen mehrere Dokumentationen dazu bei, den Parlamentarischen Rat leichter zugänglich zu machen und ein realistisches Bild seiner Tätigkeit zu vermitteln. An erster Stelle ist hier die 1974 begonnene Edition der Protokolle und Unterlagen des Parlamentarischen Rats zu nennen. Sie wuchs inzwischen auf elf Bände an und gibt, mit Ausnahme des Hauptausschusses, die wichtigsten Beratungen zum Grundgesetz im Wortlaut wieder Was den politischen Hintergrund des Parlamentarischen Rates betrifft, so haben die Protokolle und Dokumentationen über die Verfassungsdiskussionen in den Fraktionen und Parteigremien eine gleich große Bedeutung. Sie geben Aufschluß über Motive und taktische Überlegungen der Grundgesetzautoren, die in den Ausschüssen und im Plenum des Parlamentarischen Rates nicht genannt wurden. Die Veröffentlichungen über die Gremien der CDU/CSU sind für den Zeithistoriker besonders ertragreich, während über die Beratungen der SPD-Fraktion des Parlamentarischen Rates keine Protokolle angefertigt wurden. Hier erweisen sich die „Berichte des Genossen Walter Menzel“ nach Hannover und die Protokolle des Parteivorstands als zuverlässige Quellen Eine große Hilfe bei der Beurteilung der Grundgesetzberatungen stellen einige neuere Biographien dar, die zu ihren „Helden“ die notwendige Distanz halten und sich wohltuend von der affirmativen Zeitgeschichtsschreibung vorangegangener Jahre unterscheiden Obwohl die Materialien, Monographien und Zeitschriftenartikel zum Parlamentarischen Rat sowie zu den parallellaufenden Ereignissen inzwischen mehrere Regalmeter einnehmen, bleiben die Grundgesetzberatungen auf eigenartige Weise unzugänglich. Man verfolgt die Entstehungsgeschichte einzelner Artikel, die Auseinandersetzung über einzelne Abschnitte der Entwürfe, die Beratungen zum Wahlgesetz oder die Kontroverse mit den Besatzungsmächten. Die zugrundeliegenden Motive und Ziele der „Verfassungsväter“ und ,, -mütter“ des Grundgesetzes werden aber in den Quellen oft nur angedeutet und lassen sich nicht auf den ersten Blick rekonstruieren. Gelegentlich retuschierte man im Parlamentarischen Rat sogar das gedruckte Protokoll, um den Kontrahenten zu schonen und die Wirkung nach außen zu dämpfen

II. Verfassungsberatungen unter besonderen Bedingungen

Der dezente Beratungsstil des Parlamentarischen Rates ist nicht in erster Linie auf die Kultiviertheit der maßgebenden Politiker zurückzuführen, sondern auf die äußeren Bedingungen: Man hatte den Auftrag, unter einer Besatzungsherrschaft eine Verfassung zu formulieren, die anschließend von den Besetzern gebilligt werden mußte. Die Besatzungsmächte stellten gleichzeitig mit der Über-gabe der Frankfurter Dokumente zwar ein Besatzungsstatut in Aussicht, welches die deutschen und alliierten Rechte abgrenzen sollte. Der Inhalt dieses Statuts blieb jedoch bis zum Ende der Grundgesetzberatungen unbestimmt. Hinzu kam die Ungewißheit angesichts der Blockade West-Berlins. Diese begann bereits vor dem Zusammentritt des Parlamentarischen Rates und wurde erst nach Fertigstellung des Grundgesetzes aufgehoben. Die Zuspitzung des Ost-West-Konflikts hat auf den Inhalt des Grundgesetzes einen sehr viel geringeren Einfluß gehabt, als in der Literatur oft behauptet wird. Von großer Bedeutung für die westdeutschen Politiker war jedoch die Möglichkeit, daß Großbritannien und die USA den Plan der Weststaatsgründung wieder aufgaben zugunsten einer „Trizonenverwaltung“ mit Frankreich oder eines erneuten Kompromißversuchs mit Moskau. Erste Warnungen in diese Richtung gab es bereits während des Herrenchiemsee-Konvents, der im August 1948 einen Grundgesetzentwurf formulierte. Der amerikanische Verbindungsoffizier Carl J. Friedrich erklärte einem Mitglied des Konvents, die Grundgesetzberatungen sollten zwar weitergeführt werden, aufgrund der seit 2. August 1948 laufenden Viermächtegespräche in Moskau sei aber mit einer Genehmigung durch die Militärgouverneure möglicherweise nicht zu rechnen Carlo Schmid (SPD), der ebenfalls am Herrenchiemsee-Konvent teilnahm, erklärte deshalb einen Monat später auf dem Parteitag in Düsseldorf: „Welcher Schlag würde der deutschen Demokratie versetzt, wenn sich in Moskau oder anderswo die vier Besatzungsmächte auf eine andere Politik einigen würden als die des Londoner Abkommens .. Der amerikanische Militär-gouverneur Clay berichtete dementsprechend am 18. September 1948 nach Washington, der Parlamentarische Rat gehe „very cautiously“ vor und sei wegen der Haltung der drei Westmächte gegenüber der Sowjetunion besorgt

Die Unsicherheit der westdeutschen Politiker über die Deutschlandpolitik der vier Besatzungsmächte blieb auch in den folgenden Monaten bestehen, zumal über den Inhalt des Besatzungsstatuts wenig zu erfahren war. Ende Januar 1949 erhielten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates erneut die Information, in Washington habe das Interesse an der Errichtung einer westdeutschen Regierung nachgelassen. Konrad Adenauer und Jakob Kaiser befürchteten, eine sowjetisch-amerikanische Annäherung in der Berlin-Frage werde „auf unserem Buckel“ erfolgen *

Nach der Genehmigung des Grundgesetzes durch die Besatzungsmächte und nach der Beendigung der Berliner Blockade sorgte die ab dem 23. Mai 1949 in Paris tagende Außenministerkonferenz der vier Besatzungsmächte noch einmal für Unsicherheit. Das Wahlgesetz für den ersten Bundestag war noch nicht genehmigt und konnte als Mittel zur Verzögerung in der Deutschlandpolitik dienen. Der neue amerikanische Außenminister Acheson hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig auf die Weststaatsgründung festgelegt. Die erwartete diplomatische Offensive der Sowjetunion blieb aber aus: Ihr neuer Außenminister Vysinskij strebte die Rückkehr zur Viermächteverwaltung im Sinne der Potsdamer Konferenz an, während die Westmächte den Beitritt der Länder der sowjetischen Zone zum Grundgesetz vorschlugen

Am Beispiel der internationalen Rahmenbedingungen wird ein Interpretationsproblem des Parlamentarischen Rates deutlich, das auch für andere Politikbereiche gilt: Die Entscheidungen wurden vordatiert und schienen schon getroffen, bevor der Rat in Bonn zusammentrat. Wenn die Bundesrepublik als „Kind des Kalten Krieges“ bezeichnet wird, so steht dem entgegen, daß die Zuspitzung der Krise in Berlin und ihre Beilegung die Gründung gleichermaßen in Frage zu stellen drohten. Die inzwischen vorliegenden Materialien und Untersuchungen zur Deutschlandpolitik der vier Mächte zeigen, daß die Vorsicht der deutschen Politiker keineswegs unbegründet war.

Zu den „inneren“ Bedingungen des Parlamentarischen Rates, die für ein vorsichtiges Taktieren sprachen, gehört an erster Stelle die parteipolitische Zusammensetzung: Als die Landesparlamente im August 1948 die Abgeordneten für die westdeutsche verfassunggebende Versammlung wählten, stellte sich heraus, daß zwischen den beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD Stimmengleichheit bestand: Beide waren mit 27 Abgeordneten im Parlamentarischen Rat vertreten. Die FDP erhielt fünf, die Deutsche Partei, die Zentrumspartei und die KPD jeweils zwei Sitze. Insgesamt hatte der Parlamentarische Rat damit 65 stimmberechtigte Mitglieder. Hinzu kamen fünf Berliner Delegierte (drei der SPD, je einer der CDU und der FDP angehörend), die jedoch nicht stimmberechtigt waren. Die beiden großen Fraktionen mußten sich aufgrund der Zusammensetzung des Rates um die Unterstützung der kleinen Parteien bemühen, wenn sie bestimmte Formulierungen des Grundgesetzes bei den Abstimmungen in den Ausschüssen durchsetzen wollten. Feste Parteibündnisse gab es im Parlamentarischen Rat nicht. Die Liberalen hatten aufgrund dieser Konstellation eine Schlüsselrolle inne. Zur Mehrheitsbildung reichte jedoch das Bündnis einer großen Fraktion mit der FDP nicht aus; es waren noch Stimmen aus dem Lager der drei kleinen Parteien notwendig.

Der Zwang zum Kompromiß ergab sich aber vor allem aus dem Ratifizierungsverfahren des Grundgesetzes, dessen Einzelheiten in der Forschung nicht immer angemessen berücksichtigt werden: Die drei Westmächte hatten im Frühjahr 1948 zusammen mit den Benelux-Staaten auf der Londoner Sechsmächtekonferenz die Zustimmung von zwei Dritteln der Länder für die Annahme der westdeutschen Verfassung festgelegt. Damit ging man ein hohes Abstimmungsrisiko ein, denn bei einem negativen Votum von vier kleinen Ländern wäre das Grundgesetz gescheitert. Im Falle einer Volksabstimmung hätten möglicherweise schon 20 Prozent der Abstimmenden die Annahme der Verfassung verhindern können. Die schließlich von deutscher Seite durchgesetzte Abstimmung in den Landtagen reduzierte zwar das Ratifizierungsrisiko, festigte aber gleichzeitig die Veto-Position der beiden großen Parteien. Beide konnten das Grundgesetz in den Landtagen zu Fall bringen. Kurt Schumacher hätte in der großen Kontroverse zum Schluß der Grundgesetzberatungen kaum gezögert, von Hannover aus entsprechende „Empfehlungen“ zu geben.

Die Konsequenzen der Ratifizierungsbedingungen waren auch den Beteiligten nicht immer gegenwärtig: Konrad Adenauer sprach im Februar/März 1949 vor CDU-Gremien mehrfach die Möglichkeit an, das Grundgesetz mit den Stimmen der FDP und der Deutschen Partei ohne Zustimmung der SPD zu verabschieden Der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay hielt eigenmächtig einen Beschluß der Washingtoner Außenministerkonferenz vom 8. April 1949 zurück, um auf die Sozialdemokraten Druck auszuüben. Der britische Militärgouverneur Brian Robertson dagegen war offenbar einer der wenigen, die in dieser hektischen Schlußphase der Grundgesetzberatungen einen kühlen Kopf behielten. Er wies seine Kollegen Koenig und Clay sowie seine Regierung in London darauf hin, daß die SPD über ein entsprechendes Votum in den Landtagen das Grundgesetz ohne weiteres verhindern könne. Nachdem seine Warnungen wirkungslos blieben, deutete er am 14. April den beiden sozialdemokratischen Abgeordneten Walter Menzel und Carlo Schmid die Konzessionsbereitschaft der Besatzungsmächte an Das Verhalten Robertsons wurde bisher vorwiegend als Unterstützung der SPD bewertet, wird aber in Zukunft im Sinne einer weiterblickenden Verantwortung zu interpretieren sein.

III. Offene Fragen der Innenpolitik

Das größte Hindernis für eine angemessene Bewertung des Parlamentarischen Rates ist auch in Fragen der Innenpolitik die Neigung, von frühzeitigen Präjudizierungen auszugehen: Als der Parlamentarische Rat am 1. September 1948 zusammentrat -so wird argumentiert waren die Weichen für die weitere Entwicklung Westdeutschlands längst gestellt Der Rat erscheint dementsprechend als Vollzugsorgan für bereits getroffene Entscheidungen, als eine Konstituante ohne direkten Bezug zu den Fragen der Innen-und Außenpolitik. Am Beispiel der Wirtschafts-und Sozialpolitik läßt sich zeigen, daß während der Grundgesetzberatungen eine durchaus offene Situation bestand: Der Wirtschaftsdirektor der Bizone, Ludwig Erhard, hatte zwar nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948 die Preise für einen großen Teil der Güter und Leistungen freigegeben. Politisch erfolgreich war diese Politik jedoch angesichts der ansteigenden Preise noch nicht. Konrad Adenauer mahnte den parteilosen Wirtschaftsdirektor am 9. August, an die Folgen seiner Politik für die bevorstehenden Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen zu denken Erhard verteidigte seine Politik am 29. August auf dem Parteitag der CDU in der britischen Besatzungszone. Die Reaktion der Delegierten war gemischt: Das Protokoll verzeichnet mehrfach Zustimmung, aber auch Kritik. Von seiten der Sozialausschüsse kam der Einwand, die Bevölkerung müsse zu der Überzeugung kommen, „daß es nicht nur für einzelne Kreise, sondern für alle aufwärts geht“ (Johannes Albers). Bezeichnend ist auch, daß Adenauer als Vorsitzender in seinem Einführungsreferat sowie im Schlußwort das Thema Wirtschaftspolitik aussparte und Erhard nicht einmal erwähnte. Daß er Erhards Rede als „ausgezeichnete Empfehlung für den Wahlkampf“ bezeichnet und ihren Druck ver-anlaßt habe, ist eine Legende Auch das Urteil eines Adenauer-Biographen: „Erhard kam großartig an“, läßt sich angesichts des Protokolls kaum nachvollziehen

In Wirklichkeit waren die Beratungen des Parlamentarischen Rates im Herbst 1948 von Demonstrationen gegen die „Wucherpreise“ begleitet. Am 30. Oktober kam es in Stuttgart nach einer Gewerkschaftsveranstaltung zu Ausschreitungen, bei denen Scheiben zu Bruch gingen und amerikanische Autos mit Steinen beworfen wurden. Der amerikanische Militärgouverneur Clay reagierte mit einem mehrtägigen Ausgehverbot. Für den 12. November riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf, verzichteten jedoch angesichts der Stuttgarter Vorgänge auf Versammlungen. Im Dezember 1948 vertraten nach einer Befragung 70 Prozent der Westdeutschen die Auffassung, die Behörden sollten die Preise wieder kontrollieren. Erhard war aufgrund der Preissteigerungen, wie sein Biograph unter Berufung auf die Umfrageergebnisse des Aliensbacher Instituts feststellte, „unversehens zum unpopulärsten Mann in Deutschland“ geworden

Während der Parlamentarische Rat tagte, befanden sich mit der Wirtschaftspolitik auch die Politik der Parteien und ihre Koalitionsbildung in der Schwebe. Zu den offenen Fragen gehörten weiterhin der ursprünglich an die Währungsreform gekoppelte Lastenausgleich, die Regelung des öffentlichen Dienstes und die Mitbestimmung in den Großbetrieben. Selbst die von den Briten und Amerikanern verzögerte (aber nicht untersagte, wie mehrfach behauptet) Überführung von bestimmten Industrien in Gemeineigentum blieb offen. Während die Bonner Grundgesetzberatungen zu Ende gingen, veröffentlichten der britische und der amerikanische Militärgouverneur am 1. März 1949 ein „Joint Statement“ zur Mitbestimmung und Sozialisierung. Sie verwiesen auf die USA, wo man das private Unternehmertum bevorzuge, sowie auf den öffentlichen Sektor in der britischen Industrie. In beiden Ländern könne die Bevölkerung „from time to time“ über die ihren Bedingungen entsprechenden Unternehmensformen entscheiden. Die Militärgouverneure fügten hinzu: . . so must you decide here in Germany.“ Zur Zeit der Grundgesetzberatungen fanden mehrere Wahlen statt, die ein uneinheitliches Bild boten. In Nordrhein-Westfalen mußte die CDU am 17. Oktober 1948 bei Kommunalwahlen deutliche Verluste hinnehmen, während die SPD gegenüber 1946 leichte Gewinne verbuchen konnte. In Schleswig-Holstein gewann die CDU hinzu und lag gleichauf mit der SPD. Bei den Kommunalwahlen in der französischen Zone verlor die CDU einen Monat später deutlich an Stimmen; die SPD konnte hier ihre ohnehin nur schwache Position kaum verbessern. In Niedersachsen gab es am 28. November deutliche Gewinne der CDU; die Sozialdemokraten blieben jedoch stärkste Partei. Den Schlußpunkt setzten die Stadt-und Bezirksverordnetenwahlen im belagerten West-Berlin am 5. Dezember 1948. Hier gewann die SPD 64 Prozent der Stimmen und steigerte sich gegenüber 1946 um fast 16 Prozent. Die CDU kam bei geringen Verlusten auf ca. 19 Prozent, die FDP verbesserte sich von 9, 4 auf 16, 1 Prozent

Die ungelösten Fragen der westdeutschen Innenpolitik und das ungewisse Schicksal Berlins blieben nicht ohne Einfluß auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates. Trotzdem gab es zwischen den Fraktionen einen breiten Konsensbereich. Das parlamentarische Regierungssystem im engeren Sinne -d. h. die Stellung des Bundespräsidenten und des von der Bundestagsmehrheit zu wählenden Kanzlers -wurde zwar nicht ohne Diskussion, aber weitgehend einvernehmlich beschlossen. Zum Konsensusbereich gehörten auch das konstruktive Mißtrauensvotum sowie der Verzicht auf Volksbegehren und Volksentscheid, obwohl im Dezember 1948 noch entsprechende Anträge gestellt wurden. Übereinstimmung bestand über die Instrumente einer abwehrbereiten Demokratie, wie das Parteienverbot und die Aberkennung von Grundrechten.

IV. Demokratievorstellungen und politische Ziele

Zu den kontroversen Teilen des Grundgesetzes entwickelte sich eine teilweise verdeckt geführte politische Auseinandersetzung, deren Motive in den drängenden Problemen außerhalb des Parlamentarischen Rates zu suchen sind. Verdeckt wurde diese Diskussion insofern geführt, als es nicht um die Entscheidung von politischen Streitfragen per Verfassungstext ging. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren vielmehr bestrebt, mit dem Grundgesetz den Weg zur Lösung dieser Fragen in ihrem Sinne zu öffnen oder bestimmte Lösungen zu verhindern. Ersteres entsprach der Konzeption der „sozialen Mehrheitsdemokratie“, die bei den Diskussionen zwischen 1945 und 1948 vor allem von der Sozialdemokratie, aber auch vom Zentrum und Teilen der CDU/CSU vertreten wurde. Das Alternativmodell, die „konstitutionelle Demokratie“, strebte eine differenzierte Gewaltenteilung und die Begrenzung der Parlamentsentscheidung an. Sie fand Unterstützung bei Teilen der CDU/CSU, großen Teilen der FDP und bei der Deutschen Partei Die eigentlichen politischen Entscheidungen sollten nach Konstituierung der Bundesrepublik durch den ersten Bundestag und die übrigen Verfassungsinstitutionen getroffen werden. Damit wurde die erste Bundestagswahl zu einem Hauptthema der Grundgesetzberatungen, das allerdings in den offiziellen Gremien des Parlamentarischen Rates tabu blieb.

Was die Formulierung der Grundrechte betrifft, so hatte man sich im Parlamentarischen Rat bereits frühzeitig darauf geeinigt, nur die individuellen Freiheits-und Mitwirkungsrechte aufzunehmen, auf Programmsätze und „soziale Grundrechte“ jedoch zu verzichten. In den Beratungen zum Grundrecht „Eigentum“ (Art. 14 GG) traten aber die unterschiedlichen Auffassungen zur Wirtschaftsstruktur deutlich hervor: Die Sozialdemokraten wollten nur das der „persönlichen Lebens-haltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum“ gewährleisten. Ihr Antrag wurde mit Stimmengleichheit im Grundsatzausschuß abgelehnt. Die inhaltliche Bestimmung des Eigentums durch Gesetze und seine Verpflichtung auf das „Wohl der Allgemeinheit“ fanden allerdings ohne Diskussion Aufnahme in das Grundgesetz. Zur Frage einer möglichen Überführung von Betrieben in „Gemeineigentum“ (Art. 15 GG) bestand zwischen den beiden großen Fraktionen von SPD und CDU/CSU Übereinstimmung. Die Vertreter der Deutschen Partei und der FDP beantragten vergeblich die Streichung des Artikels Bei der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern konnten die Abgeordneten an den wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Nachkriegszeit nicht Vorbeigehen. Diese erwiesen sich, wie Theodor Heuss zu Beginn der Beratungen voraussagte, als „der große Zentralisator des deutschen Schicksals“ Der Parlamentarische Rat beschloß dementsprechend nahezu ohne Widerspruch umfangreiche Kataloge für eine einheitliche Bundesgesetzgebung, die u. a. auch die Steuergesetzgebung einschlossen. Die wichtige Klausel des Grundgesetzes, daß der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung tätig werden könne, wenn die „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ dies erfordere, wurde in gemeinsamer Anstrengung gegenüber den Militärgouverneuren durchgesetzt. Die Nachkriegssituation kam hierbei den Intentionen der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ weit entgegen, zumal in den Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung Gebiete wie das Wirtschaftsrecht, das Arbeitsrecht, die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Macht, die Enteignung und die Überführung in Gemeineigentum aufgenommen wurden. Die süddeutschen Föderalisten im Parlamentarischen Rat und in den Landesregierungen fügten sich in das Unvermeidliche und waren bestrebt, die Verwaltungskompetenzen der Länder als Gegengewicht zur Bundesgesetzgebung auszubauen. Dies ist der Hintergrund des Streits über eine umfassende Bundesfinanzverwaltung, die von der SPD, der FDP, der Zentrumspartei und Teilen der CDU unterstützt wurde. Die Besatzungsmächte intervenierten in diesem Punkt zugunsten des föderalistischen Gegengewichts.

Die Länderkammer, der spätere Bundesrat, war nur zum Teil eine Frage des Föderalismus. Der CDU-Abgeordnete Lehr erklärte zu Beginn der Grundgesetzberatungen, Zweikammersystem und Föderalismus dürfe man nicht als „identische Begriffe“ betrachten, denn eine zweite Kammer des Parlaments sei sowohl im Bundesstaat als im Einheitsstaat denkbar. Im Vordergrund stand vielmehr das Motiv, dem direkt gewählten Parlament („bewegt von seinen Parteien, die wetteifernd um die Probleme des Tages ringen“) ein Element der Stabilität und des „ruhigen Abwägens“ zur Seite zu stellen. Dehler (FDP) sprach sich für ein „Kondominium“ aus, in welchem Gesetze nur durch eine „positive Entscheidung“ beider Kammern verabschiedet werden können. Süsterhenn (CDU) berief sich auf Montesquieu, der gezeigt habe, daß „jede Macht der Gefahr des Mißbrauchs ausgesetzt“ sei Adenauer hatte konkretere Motive im Sinn und argumentierte vor der CDU/CSU-Fraktion des Parlamentarischen Rates, man müsse verhindern, „daß sich nach einer Neuwahl eine Majorität einer Partei ergibt“, die anschließend die „Sozialisierung von Eisen, Kohle, Elektrizität, Chemie usw.“ durchführen könne. Diese Gefahr bestehe, wenn die Sozialdemokratie „mit der KPD die Mehrheit bekommt“

Den konstitutionell-demokratischen Warnungen vor dem „Parlamentsabsolutismus“ stand bei der Entstehung des Bundesrates das mehrheitsdemokratische Ziel gegenüber, dem unmittelbar gewählten Parlament die Durchsetzung wirtschaftlicher und sozialer Reformen zu ermöglichen. Für die Zusammensetzung der „zweiten Kammer“ wurden das Senats-und das Bundesratsprinzip sowie verschiedene Mischformen vorgeschlagen. Die norddeutsche CDU und die FDP traten zunächst für einen in der Gesetzgebung gleichberechtigten Senat, später für eine gemischte zweite Kammer ein. Diese sollte aus Senatoren bestehen, die von den Landtagen gewählt werden, sowie aus Vertretern der Landesregierungen. Die süddeutschen Unionspolitiker, die Zentrumspartei und die Deutsche Partei befürworteten den allein aus Regierungsvertretern bestehenden Bundesrat.

Die SPD neigte ursprünglich der Senatslösung zu, legte aber in erster Linie Wert darauf, die Gleichberechtigung der Länderkammer mit dem Bundestag zu verhindern. Diese Zielsetzung bildete die Grundlage für die Vereinbarung zwischen dem sozialdemokratischen Verfassungsexperten Walter Menzel und dem bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard vom 26. Oktober 1948: Die SPD stimmte demnach dem Bundesrat zu. Dieser sollte jedoch, bis auf wenige Ausnahmen, nur ein aufschiebendes Vetorecht gegen die Gesetzgebung des Bundestages erhalten Die Verhandlungen über die Ausnahmen, d. h. die späteren Zustimmungsgesetze, und über die Form des Vetorechts zogen sich bis zum Schluß der Grundgesetzberatungen hin und werden in diesem Zusammenhang nicht weiterverfolgt. Die Entstehungsgeschichte des Bundesrates verdient aber besonderes Interesse, weil sie die unterschiedlichen Demokratie-konzeptionen deutlich zum Ausdruck bringt.

Menzel nutzte bei seinem Gespräch mit Ehard im Bonner Hotel Königshof die Differenzen im gegnerischen Lager und zog anschließend die Liberalen auf seine Seite, so daß die Gleichberechtigung des Bundesrats am 1. Dezember 1948 im Hauptausschuß mit 12 : 9 Stimmen abgelehnt wurde. Während die SPD bei diesem Manöver an die Durchsetzung ihrer Reformvorstellungen im zukünftigen Parlament dachte, vertraten auch die süddeutschen Befürworter des Bundesrats konkrete Interessen: Der bayerische Ministerpräsident Ehard begründete seine Option Adenauer gegenüber mit dem Argument, den „Geheimnissen“ der zukünftigen Bundesregierung komme weder der einzelne Senator noch das einzelne Mitglied des Bundesrates auf die Spur. Hierzu sei nur die Landesbürokratie in der Lage Die süddeutsche Variante der konstitutionellen Demokratie hielt offenbar die „checks and balances“ zwischen Bürokratien für besonders wirksam.

Die Unterschiede im Demokratieverständnis wurden auch bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Judikative deutlich. Über die Unabhängigkeit der Justiz bestand Einvernehmen. Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie waren allerdings bestrebt, angesichts der Rolle der Justiz im „Dritten Reich“ eine parlamentarische Mitsprache bei den Personalentscheidungen zu erreichen. Carlo Schmid erklärte vor dem Plenum, man müsse die Unabhängigkeit der Rechtsprechung garantieren, gleichzeitig aber dafür Sorge tragen, daß sie nicht „gegen die Demokratie mißbraucht werde“ Entsprechende Instrumente sollten die Einrichtung von parlamentarischen Richterwahlausschüssen und die Richteranklage sein. Die Gegenposition hierzu wurde von den FDP-Abgeordneten Dehler und Becker vertreten. Richter-wahl und Richteranklage stellten aus ihrer Sicht die „dritte Säule“ der Demokratie (Becker) in Frage und widersprachen der konstitutionell-demokratischen Machtaufteilung. Der Richter, so Dehler, dürfe nicht „unter den Druck eines politischen Tribunals“ geraten

V. Wahlrecht, Bundestagswahl und die Entscheidung offener Fragen

Daß die erste Bundestagswahl ein Hauptthema des Parlamentarischen Rates bildete, kam bei den Diskussionen über das Wahlrecht besonders deutlich zum Ausdruck: Bereits zu Beginn der Grundgesetzberatungen schrieb der Abgeordnete Menzel (SPD) an die Parteizentrale in Hannover, das Wahlrecht sei keine Frage der „politischen Erziehung“, sondern die Frage, „wie ich die politi-sehe Macht für die Partei erreichen kann“. In den anderen Parteien dachte man in diesem Punkt nicht anders. Als die Diskussion im Wahlrechtsausschuß der Unionsparteien allzusehr in die Breite ging, erklärte Konrad Adenauer, man müsse diese Frage „mit dem Rechenstift in der Hand und mit der Landkarte“ bearbeiten, „und sich in theoretischen Erörterungen gar nicht aufhalten“

Die Sozialdemokraten legten bereits Ende Mai 1948 bei einer Vorstandssitzung ihre bis zum Parlamentarischen Rat gültige Linie fest: Ein Teil der Abgeordneten sollte in Einzelwahlkreisen gewählt werden. Sie sollten durch weitere Kandidaten aus der Reserveliste ergänzt werden, bis die proportionale Sitzverteilung erreicht sei. Überhangmandate und eine Fünf-Prozent-Klausel waren in diesem Vorschlag ebenfalls schon enthalten. Bei den Liberalen sprach sich der mitgliederstarke FDP-Verband der britischen Zone bereits 1947 für ein personalisiertes Verhältniswahlrecht aus. Unter den süddeutschen Liberalen gab es allerdings auch Befürworter des romanischen Mehrheitswahlrechts mit zwei Wahlgängen. Diese u. a. von Theodor Heuss favorisierte Variante eröffnete die Möglichkeit von Wahlbündnissen im zweiten Wahlgang und wurde deshalb auch von der Deutschen Partei vertreten. Da die CDU/CSU-Fraktion des Parlamentarischen Rates diesen Gedanken nicht auf-griff, schloß sich die FDP den Vorschlägen der Sozialdemokraten an. Die Zentrumspartei und die KPD befürworteten ebenfalls das Verhältniswahl-recht

In nahezu allen Parteien gab es Vorstellungen, die von der generellen Linie abwichen. Dies galt auch für die Fraktionen des Parlamentarischen Rats. In der CDU/CSU kamen die unterschiedlichen Ansichten und Interessen besonders deutlich zum Ausdruck. Zu Beginn des Parlamentarischen Rates sprach sich Adenauer im Namen der CDU der britischen Zone für das Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster aus, weil nur so eine „geschlossene Mehrheitsbildung“ zu erreichen sei. Widerspruch kam vor allem aus Bayern und aus Berlin, wo man befürchtete, CSU und CDU würden in den Städten nicht mehr vertreten sein. In Bayern spielten offenbar auch die Wahlniederlage der CSU bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1948 und die Stimmengewinne der Bayernpartei eine Rolle

Die Beratungen des Wahlgesetzes, das nur für den ersten Bundestag gelten sollte, entwickelten sich trotz zahlreicher Alternativvorschläge entsprechend der parteipolitischen Interessenlage: Am 24. Februar 1949 nahm der Parlamentarische Rat mit den Stimmen von SPD, FDP, Zentrumspartei und KPD ein personalisiertes Verhältniswahlrecht an. Die Hälfte der 410 Abgeordneten sollte in den Wahlkreisen mit relativer Mehrheit gewählt, die andere Hälfte von den Landeslisten und einer Bundesliste ergänzt werden -und zwar unter Anrechnung der'gewonnenen Direktmandate. Der Entwurf entsprach damit bereits dem Wahlmodus des späteren Wahlgesetzes zum Bundestag. Der Parlamentarische Rat verzichtete allerdings auf eine Sperrklausel für die kleinen Parteien und die Möglichkeit von Listenverbindungen. Die CDU/CSU und die Deutsche Partei stimmten gegen den Entwurf des Parlamentarischen Rates. Die Unionsfraktion hatte wenige Tage zuvor im Hauptausschuß die Einführung des britischen Mehrheitswahlrechts beantragt und war erwartungsgemäß mit 8 zu 13 Stimmen unterlegen.

Lange wies bereits 1975 in seiner Studie auf die wahltaktischen Motive des Unionsantrags zur Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts hin. Man wollte von seiten der CDU/CSU offenbar das populäre Prinzip der reinen Persönlichkeitswahl weiterhin vertreten und gleichzeitig eine Fortsetzung der innerparteilichen Wahlrechtsdebatte vermeiden. In der Fraktionssitzung vom 16. Februar 1949 wurde dementsprechend beschlossen: „Die Fraktion wird am Mehrheitswahlrecht festhalten und sich gegebenenfalls überstimmen lassen. Das läßt sich später für die Wahl propagandistisch auswerten.“

Die wechselvolle Entstehungsgeschichte des ersten Bundeswahlgesetzes, das schließlich auf Anordnung der Militärgouverneure am 13. Juni 1949 von den Ministerpräsidenten der Länder verkündet wurde, wird an dieser Stelle nicht weiter verfolgt. Nicht zu umgehen ist allerdings die Frage nach der Bedeutung der Bundestagswahl vom 14. August 1949 für die größtenteils unterschwellige politische Auseinandersetzung im Parlamentarischen Rat. Die Bildung einer Regierungskoalition aus CDU/CSU, FDP und Deutscher Partei führte zur Entscheidung offener Fragen, die im Hintergrund der Grundgesetzberatungen standen.

Von den mit der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ verbundenen Zielsetzungen ließ sich lediglich die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie verwirklichen. Eine Initiative zur Überführung von Industrien in Gemeineigentum war von der Regierung Adenauer nicht zu erwarten. Die Besatzungsmächte verbanden daher im April 1951 die Aufgliederung der Montanbetriebe mit einem Aktienumtausch zugunsten der Altbesitzer. Die Rechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst wurden im März 1950 gegen den Widerstand der Besatzungsmächte durch eine kaum veränderte Neuauflage des Deutschen Beamtengesetzes von 1937 geregelt. Gleichzeitig verknüpfte man das Problem der durch Entnazifizierungsverfahren entlassenen Beamten auf geschickte Weise mit den echten Sozialfällen (Heimatvertriebene, Beamte aufgelöster Dienststellen, Berufssoldaten). Die gesetzliche Regelung kam allen „verdrängten“ Beamten zugute und wurde mit den Stimmen der Opposition angenommen. Eine Regelung des Lastenausgleichs erfolgte erst im Frühjahr 1952. Seine Gesamtsumme war zwar mit 113, 9 Milliarden DM erheblich; die Belastungen und die Leistungen wurden jedoch bis zum Jahr 1979 gestreckt. Ein Vermögensausgleich für die unterschiedlichen Belastungen und Vorteile durch Krieg und Währungsreform kam auf diesem Weg nicht zustande. Für die Empfänger handelte es sich um eine sozialpolitische Maßnahme, für die Einzahler um eine geringe, später marginale Sondersteuer.

Andererseits machte sich die Regierung Adenauer das mehrheitsdemokratische Instrumentarium des Grundgesetzes zunutze. Der Bund nahm die konkurrierende Gesetzgebung großzügig in Anspruch, um soziale Probleme und wirtschaftliche Krisensituationen zu meistern. Der wirtschaftliche Wiederaufbau vollzog sich nämlich nicht so marktwirtschaftlich und reibungslos, wie die verkürzte „nostalgische Perspektive“ (W. Abelshauser) späterer Jahre meinte. Kritik an der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung kam nicht nur von der parlamentarischen Opposition, sondern auch vom amerikanischen hohen Kommissar McCloy, der gleichzeitig Sonderbeauftragter für den Marshall-Plan war. Sie richtete sich gegen unzureichende Investitionen und die steigende Arbeitslosigkeit. Ende 1949 stieg die Arbeitslosenquote auf 10, 3 Prozent, im ersten Quartal 1950 wurden 12, 2 Prozent erreicht. Die Bundesregierung reagierte mit einem Investitionshilfeprogramm von 5, 4 Milliarden DM und einer Abwertung der D-Mark. Engpässe bei der Grundstoffindustrie ließen Anfang 1951 die Diskussion über die staatliche Planung wieder auf-leben. Die notwendigen Lenkungsmaßnahmen wurden jedoch nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von den Wirtschaftsverbänden vorgenommen, die z. B. das Investitionshilfegesetz vom Januar 1952 vorbereiteten. Steuererleichterungen förderten die Selbstfinanzierung der Unternehmen, verstärkten aber gleichzeitig die ohnehin bestehende Konzentration des Produktiv-vermögens

Während in der Wirtschaftspolitik das mehrheitsdemokratische Instrumentarium zum Teil entgegen den Intentionen seiner Urheber verwendet wurde, ist im Verfassungsbereich das Fortwirken konstitutionell-demokratischer Vorstellungen zu beobachten: Mit der umfangreichen Bundesgesetzgebung nahm gleichzeitig auch der Einfluß des Bundesrates zu. Die Zahl der Zustimmungsgesetze, bei denen die Länderkammer ein absolutes Vetorecht hat, stieg ständig an. Mit der Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1951 kam ein weiteres Element konstitutionell-demokratischer Gewaltenteilung hinzu. Die Regierungsmehrheit setzte hierbei auch ihren Besetzungsvorschlag aus dem Parlamentarischen Rat durch, daß alle Richter die Befähigung zum Richteramt besitzen müssen. Die sozialdemokratische Opposition hielt an ihrer ursprünglichen Position fest, auf eine juristische Qualifikation der Verfassungsrichter zu verzichten. Auf diese Weise blieben die bei den Grundgesetzberatungen vertretenen Demokratieauffassungen über die erste Bundestagswahl hinaus wirksam.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, hrsg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv. Bd. 1-11, Boppard (später München) 1974-1997.

  2. Beide im Archiv der sozialen Demokratie, Bonn.

  3. Vgl. Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt/M. -Berlin 1994; Petra Weber, Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie, München 1996; Udo Wengst, Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1997, sowie Karl-Ulrich Gelberg, Hans Ehard. Die föderalistische Politik des bayerischen Ministerpräsidenten 1946-1954, Düsseldorf 1992; Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München-Landsberg 1996.

  4. In der Debatte über die Geltung des Reichskonkordats vom 20. Juli 1933 übte der Abg. Zinn (SPD) Kritik am Verhalten der Katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus. Seine Rede wurde im Protokoll des Hauptausschusses vom 20. Januar 1949 „entschärft“; der ungekürzte Redetext findet sich im Nachlaß Menzel R 2 (Archiv der sozialen Demokratie, Bonn).

  5. Vgl. Dr. Beyerle, Herrenchiemsee -Unterausschuß I, 5. Sitzung vom 19. 8. 1948.

  6. Vgl. Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD vom 11. bis 14. September 1948 in Düsseldorf, Berlin-Bonn 1976, S. 47 f.; Jean Edward Smith (Hrsg.), The Papers of General Lucius D. Clay. Germany 1945-1949, Vol. II, Bloomington-London 1974, S. 859.

  7. Vgl. Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, bearb. von Rainer Salzmann, Stuttgart 1981, S. 366 f„ S. 399 f.; Die Unionsparteien 19461950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU Deutschlands und der Konferenzen der Landesvorsitzenden, bearb. von Brigitte Kaff, Düsseldorf 1991, S. 413.

  8. Vgl. Wolfgang Krieger, General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, Stuttgart 1987, S. 451 ff., S. 480-509; Cyril Buffet, Mourir pour Berlin. La France et l’Allemagne 1945-1949, Paris 1991, S. 257-265.

  9. Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946-1949, bearb. von Helmut Pütz, Bonn 1975, S. 808; Die Unionsparteien 1946-1950 (Anm. 7), S. 412 ff.

  10. Vgl. Adolf M. Birke, Großbritannien und der Parlamentarische Rat. in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 42 (1994), S. 331 und 343; Menzel an Schmid und Heine vom 29. 7. 1949 (Nachlaß Menzel R 46 -Archiv der sozialen Demokratie, Bonn).

  11. Vgl. Hans-Herrmann Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, Köln-Opladen 1970, insbes. S. 66 ff.; Horst Thum, Mitbestimmung in der Montanindustrie. Der Mythos vom Sieg der Gewerkschaften, Stuttgart 1982, S. 30 f.; Günter J. Trittei, Von der „Verwaltung des Mangels“ zur „Verhinderung der Neuordnung“, in: Claus Scharf/Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.), Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die britische Zone 1945-1949, Wiesbaden 1979, S. 132 und 147; Werner Abelshauser, Die verhinderte Neuordnung? Wirtschaftsordnung und Sozialstaatsprinzip in der Nachkriegszeit, in: Politische Bildung, 9 (1976) 1, S. 54.

  12. Vgl. Adenauer, Briefe 1947-1949, o. O., o. J., S. 287.

  13. So Theodor Eschenburg u. a., Jahre der Besatzung 1945— 1949, Stuttgart-Wiesbaden 1983, S. 437 f.; vgl. auch Konrad Adenauer und die CDU in der britischen Besatzungszone (Anm. 9), S. 581-713.

  14. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg 18761952, Stuttgart 1986, S. 602.

  15. Gerhard Beier, Der Demonstrations-und Generalstreik vom 12. November 1948, Frankfurt a. M. -Köln 1975, S. 34 ff.; V. Hentschel (Anm. 3), S. 74 f.

  16. Beate Ruhm von Oppen (Hrsg.), Documents on Germany under Occupation, 1945-1954, London u. a. 1955, S. 365 f.; anders Th. Eschenburg (Anm. 13), S. 251: „Für die Besatzungsmacht war die Sozialisierungsfrage mit dem Gey Nr. 75 erledigt.“ Text des Gesetzes Nr. 75 vom 10. 11. 1948 in: B. Ruhm von Oppen, ebd., S. 335 ff.

  17. Vgl. die Resultate bei Heinrich Potthoff/Rüdiger Wenzel, Handbuch politischer Institutionen und Organisationen 1945-1949, Düsseldorf 1983, S. 334ff.

  18. Vgl. Karlheinz Niclauß, Demokratiegründung in Westdeutschland. Die Entstehung der Bundesrepublik 1945-1949, München 1974, S. 29 ff. und 62 ff. Die Studie erscheint im Herbst 1998 in überarbeiteter Fassung.

  19. Vgl. Der Parlamentarische Rat (Anm. 1), Bd. 5/1, S. 197-210.

  20. Ebd., (Anm. 1), Bd. 9, S. 109.

  21. Ebd., S. 57, 219 und 228.

  22. Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat (Anm. 7), S. 144 f.

  23. Vgl. „Bericht des Genossen Walter Menzel“ vom 15. Oktober 1948 (Nachlaß C. Schmidt 1162 -Archiv der sozialen Demokratie); K. -U. Gelberg (Anm. 3), S. 215.

  24. Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat (Anm. 7), S. 145; K. -U. Gelberg, ebd., S. 222.

  25. Der Parlamentarische Rat 1948-1949 (Anm. 1), Bd. 9, S. 78.

  26. Parlamentarischer Rat, Hauptausschuß, 37. und 38. Sitzung vom 14. Januar 1949.

  27. Menzel an Ollenhauer vom 21. 9. 1948 (Bestand Ollenhauer 187 -Archiv der sozialen Demokratie, Bonn); Die Unionsparteien 1946-1950 (Anm. 7), S. 382.

  28. Sitzung des SPD-Parteivorstands am 28. und 29. 5. 1948 in Springe (SPD-PV Protokolle 1948 -Archiv der sozialen Demokratie); Erhard H. M. Lange, Wahlrecht und Innenpolitik. Entstehungsgeschichte und Analyse der Wahlgesetzgebung und Wahlrechtsdiskussion im westlichen Nachkriegsdeutschland 1945-1956, Meisenheim a. Gl. 1975, S. 250 ff. und 342 ff.

  29. Vgl. Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat (Anm. 7), S. 27, 35 f. und 78 f.

  30. Der Parlamentarische Rat 1948-1949 (Anm. 1), Bd. 6, S. 752 ff.; E. H. M. Lange (Anm. 28), S. 358; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat (Anm. 7), S. 403.

  31. Zur Investitionsplanung vgl. Henry C. Wallich, Triebkräfte des deutschen Wiederaufstiegs, Frankfurt a. M. 1955, S. 147ff.; Werner Abelshauser, Die langen fünfziger'Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949-1966, Düsseldorf 1987, S. 22 ff.

Weitere Inhalte

Karlheinz Niclauß. Dr. phil., geb. 1937; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Die Sowjetunion und Hitlers Machtergreifung, Bonn 1966; Demokratiegründung in Westdeutschland. München 1974 (die überarbeitete Neuauflage unter dem Titel „Der Weg zum Grundgesetz“ erscheint im Herbst 1998); Kanzlerdemokratie. Bonner Regierungspraxis von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, Stuttgart 1988; Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Paderborn 1995.