I.
Am 1. Juli 1948 waren die neun Ministerpräsidenten der Länder und die Bürgermeister der beiden Stadtstaaten der drei westlichen Besatzungszonen nach Frankfurt einbestellt worden, wo ihnen die Militärgouverneure den Grundriß eines Weststaats in Gestalt der „Frankfurter Dokumente“ übergaben Die drei Schriftstücke enthielten -was die deutschen Politiker im einzelnen erst viel später erfuhren -die Beschlüsse der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz, auf der die drei Westalliierten zusammen mit den Benelux-Staaten als westlichen Anrainern Deutschlands eine kleine Lösung der deutschen Frage ins Auge gefaßt hatten, nämlich die Staatsgründung auf dem Territorium der drei Westzonen. Die „Londoner Empfehlungen“ in Gestalt der Frankfurter Dokumente enthielten erstens den Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten und durch Volksabstimmung in den elf Ländern des künftigen Weststaats in Kraft zu setzen; zweitens die Ermächtigung, die Grenzen der nach Besatzungsrecht zusammengesetzten Länder neu festzulegen, also eine Territorialreform durchzuführen; drittens die Ankündigung eines Besatzungsstatuts, in dem Rechte und Pflichten der Deutschen im Verhältnis zu den Westalliierten festgelegt werden sollten 2.
Das frostige Zeremoniell im Frankfurter I. G. Farben-Haus ließ Diskussionen über die alliierte Offerte zur westdeutschen Staatsgründung nicht zu; über Annahme oder Ablehnung des Auftrags zur Schaffung einer Verfassung sollten die Länder-chefs unter sich debattieren. Das geschah in den Konferenzen auf dem Rittersturz bei Koblenz (8. -10. Juli 1948) und -nachdem die deutschen Politiker bei einem anschließenden zweiten Tref-fen mit den Militärgouverneuren die Erfahrung machen mußten, daß das alliierte Angebot wenig verhandlungsfähig war, daß allenfalls ornamentale Kompromisse zur Verdeutlichung des Provisoriums möglich waren (so die Bezeichnung „Grundgesetz“ statt „Verfassung“ und kein Plebiszit über die Verfassung) -im Jagdschloß Niederwald bei Rüdesheim (15. /16. und 21. 122. Juli 1948).
Die Ministerpräsidenten -entschlossen, die Chance zum staatsrechtlichen Neubeginn im Westen Deutschlands auf jeden Fall zu nutzen 3 -fanden im Laufe des Juli 1948 die notwendigen Formulierungen, die den deutschen Bedenken wegen der Gründung eines Teilstaats Rechnung trugen, aber auch dem alliierten Auftrag, entsprachen 4. Ausdruck dieser Stimmung war es, daß der bayerische Ministerpräsident Ehard in der Konferenz am 15. /1 -fanden im Laufe des Juli 1948 die notwendigen Formulierungen, die den deutschen Bedenken wegen der Gründung eines Teilstaats Rechnung trugen, aber auch dem alliierten Auftrag, entsprachen Ausdruck dieser Stimmung war es, daß der bayerische Ministerpräsident Ehard in der Konferenz am 15. /16. Juli die Mitglieder eines zu bildenden Verfassungsausschusses „nach einem ruhigen Orte in Bayern“ einlud. Eine Woche später wurde, ebenfalls im Jagdschloß Niederwald bei Rüdesheim, die Aufgabe des „Verfassungskonvents“ definiert. Er sollte einen „Verfassungsentwurf ausarbeiten, der dem Parlamentarischen Rat als Unterlage dienen soll“
Die Verabredung der Ministerpräsidenten, einen Ausschuß mit dieser Aufgabe einzusetzen, läßt sich nicht genau datieren, sie war wohl schon am 1. Juli nach der Übergabe der Frankfurter Dokumente getroffen worden. Bayern war aber anderen Interessenten mit der Einladung zuvor gekommen; vor allem Nordrhein-Westfalen, das daran interessiert war, als Gastgeber zu fungieren, hatte das Nachsehen. Der nordrhein-westfälische Innenminister Walter Menzel galt als wichtigster Verfassungsexperte der SPD. Von ihm stammten die offiziellen Entwürfe der Partei („Westdeutsche Satzung“ vom 26. Juli 1948 und „Grundgesetz“ vom 2. September 1948) An Modellen für eine künftige deutsche Verfassung, vorgelegt von Parteien und Institutionen, sowie an Entwürfen, die Publizisten, Politiker, Gelehrte, aber auch Phantasten und Querköpfe erdacht hatten, herrschte in den Nachkriegsjahren kein Mangel. Der Stoßseufzer eines amerikanischen Besatzungsoffiziers: jeder Deutsche, der auf sich halte, trage einen Verfassungsentwurf in der Tasche, charakterisiert die Situation der Ungewißheit und des Aufbruchs der Jahre 1947 und 1948.
Am 10. August 1948 versammelte sich auf der Herreninsel im Chiemsee das Expertenkomitee für Verfassungsfragen, das im Juli von den Ministerpräsidenten eingesetzt worden war. Der Tagungsort war der Ruhe und Konzentration wegen, aber auch nicht ohne Hintergedanken von der Bayerischen Staatsregierung empfohlen worden. Die Münchner Staatskanzlei hoffte, dort mindestens den föderalistischen genius loci ins Spiel bringen zu können. Die Abgeschiedenheit und Stille war aber keineswegs vollkommen. Als größte Plage wurden Reporter und Stechmücken empfunden Im Gegensatz zum „Konklave von Rothwesten“, bei dem deutsche Währungsexperten im Frühjahr 1948 in der Nähe von Kassel vollständig von der Außenwelt isoliert waren, tagte der Verfassungskonvent unter den Augen der Öffentlichkeit. Das Eiland im Chiemsee war auch für Touristen nicht gesperrt worden. Im Insel-Hotel wurde freilich geklagt, daß die Politiker und Experten viel Platz in Anspruch nähmen, im Verzehr und bei den Trinkgeldern aber hinter den Touristen weit zurückblieben
Erich Kuby beklagte in einer Reportage für die Süddeutsche Zeitung sogar den Mangel an Würde, der anfänglich geherrscht habe Der streitbare Liberale Thomas Dehler ereiferte sich über den Herrenchiemseer „Verfassungskonvent“ (der Ausdruck stammt wahrscheinlich vom bayerischen Staatsminister Anton Pfeiffer), den er als „lebensfremde Theaterattrappe“ empfand; die Erinnerung an Herrenchiemsee sei mit der Vorstellung des Unechten verbunden. Der bayerische FDP-Vorsitzende sorgte sich, daß der Ungeist des eklektizistischen Schloßbaus des Romantikers Ludwig II. auch über den Verfassungsberatungen walte Die Assoziation war aber schon im Äußerlichen falsch; das Kollegium tagte nämlich nicht im Schloß Herrenchiemsee, der Versailles-Imitation des bayerischen Märchenkönigs, sondern im Klostertrakt des säkularisierten Augustinerchorherrenstifts, dem „Alten Schloß“. Und die rund dreißig Fachleute, die sich im Eckzimmer des ersten Stocks zwei Wochen lang -oft bis tief in die Nacht -die Köpfe zerbrachen, hatten nichts weniger als romantische Theatereffekte im Sinn Die Zielstrebigkeit und der Sachverstand der Männer auf der Insel waren beachtlich, ebenso das Ergebnis ihres Bemühens.
Die dominierenden Gestalten waren Anton Pfeiffer, Carlo Schmid und Hermann Brill. Pfeiffer, dem auch die geschäftsmäßige Leitung der ganzen Veranstaltung oblag (daneben wurde ein Vorstand gewählt, der sich aus einem Vertreter jeder westlichen Besatzungszone zusammensetzte: Theo Kordt für die britische, Carlo Schmid für die französische und Josef Schwaiber für die amerikanische), war als Staatsminister und Chef der Münchner Staatskanzlei einer der mächtigsten Männer in Bayern, ebenso katholisch gesonnen wie auf die Wahrung der bayerischen Eigenstaatlichkeit bedacht. Dem Vorsitzenden der CSU, Josef Müller („Ochsensepp“), war er als Angehöriger des Schäffer-Hundhammer-Flügels allzeit ein unbequemer Gegner. Das politische Stellwerk in der Staatskanzlei beherrschte er virtuos, und er gehörte zu den Politikern, die auf Landesebene, auf den Ministerpräsidentenkonferenzen und im Parlamentarischen Rat -nie an vorderster Stelle, aber um so wirksamer in den Kulissen -an den Entscheidungen der ersten Nachkriegsjahre bedeutenden Anteil hatten.
Hermann Brill brachte, wie viele seiner Kollegen auf Herrenchiemsee, Erfahrungen als Politiker der Weimarer Zeit mit. Er hatte im Thüringer Landtag (1932 auch im Reichstag) gesessen, war im Volksbildungsministerium und im Staatsgerichtshof in Jena tätig gewesen, war als erbitterter Gegner der Nationalsozialisten ins Zuchthaus und KZ geraten. Parteipolitisch gehörte er zur SPD (1918 bis 1922 zur USPD) und in der Illegalität nach 1933 zur Gruppe Neu Beginnen. 1945 war er Landesvorsitzender der SPD in Thüringen und amtierte -unter amerikanischer Ägide -kurze Zeit als Regierungschef in Weimar. Seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer Vereinigung der Arbeiterbewegung, wie sie im Buchenwälder Manifest von KZ-Häftlingen, die als Sozialdemokraten oder Kommunisten verfolgt worden waren, formuliert war, litt angesichts der Realitäten in der sowjetischen Besatzungszone so großen Schaden, daß er Thüringen Ende 1945 verließ. In Hessen wurde er im Rang eines Staatssekretärs Chef der Staats-kanzlei. Hier und im Deutschen Büro für Friedensfragen galt sein Hauptinteresse der künftigen verfassungsrechtlichen Ordnung eines westdeutschen Bundesstaats, wobei er sich besonders um die Vermittlung zwischen dem Föderalismus der süddeutschen Länder und den weniger weitgehenden Ambitionen der Norddeutschen bemühte.
In Kurt Schumachers Augen blieb Brills Position freilich partikularismusverdächtig. Die Parteilinie der SPD, vom Vorsitzenden Schumacher in Hannover maßgeblich bestimmt, bevorzugte das Modell des zentralisierten Einheitsstaats. Die süddeutschen SPD-Politiker wie Wilhelm Hoegner in Bayern, Carlo Schmid, Hermann Brill, aber auch der Bremer Senatspräsident Wilhelm Kaisen oder der Hamburger Bürgermeister Max Brauer standen als Föderalisten dazu in einem gewissen Gegensatz, der freilich von ihren Interessen als Landespolitiker vorgegeben war.
Jedes der elf Länder der drei Westzonen hatte einen Bevollmächtigten in den Verfassungskonvent entsandt; zusätzlich war Berlin vertreten durch Otto Suhl, den Vorsteher des Stadtverordnetenkollegiums, der Gastrecht (ohne Stimmberechtigung) genoß. Die elf Bevollmächtigten waren allesamt Experten für staats-und verfassungsrechtliche Fragen. Manche von ihnen hatten auch als Politiker Gewicht wie der Staatssekretär im bayerischen Innenministerium Josef Schwaiber, der Bremer Bürgermeister Theodor Spitta (er war an der Entstehung zweier Verfassungen der Hansestadt entscheidend beteiligt, der von 1920 und der von 1947), Hermann Brill (Hessen), Josef Beyerle (Justizminister in Stuttgart von 1923 bis 1933 und von 1945 bis 1951), der langjährige Justiz-und Kultusminister von Rheinland-Pfalz, Adolf Süsterhenn, und Carlo Schmid als Stellvertretender Staatspräsident und Justizminister von Württemberg-Hohenzollern.
Das Land (Süd-) Baden war durch den Oberlandesgerichtspräsidenten Paul Zürcher vertreten, der innerhalb der engen Landesgrenzen als Berater des Staatspräsidenten Wohieb und als graue Eminenz der Landespolitik galt. Wie seine Herrenchiemseer Kollegen Pfeiffer und Brill vertrat Zürcher sein Land gleichzeitig auch bei den Sitzungen des Ländergrenzenausschusses, der vor und nach dem Verfassungskonvent über eine Neu-gliederungdes Territoriums der drei Westzonen beriet. Hamburg hatte den Senatssyndikus Wilhelm Drexelius entsandt. Sein Titel, Ausdruck hanseatischen Understatements, umschrieb die Aufgaben eines Staatssekretärs; er war für die Geschäfte der Senatskanzlei und des Rechtsamts verantwortlich, und er galt als Vertrauter Bürgermeister Brauers. Niedersachsens Bevollmächtigter war Justus Danckwerts, Ministerialrat in der Staatskanzlei Hannover und parteipolitisch ebenso ungebunden wie der Vertreter Nordrhein-Westfalens, der Bonner Dozent für Völkerrecht und Diplomatie Theodor Kordt, der früher im Auswärtigen Amt gewesen war und dort zum Widerstandskreis gegen den Nationalsozialismus gehörte. Schleswig-Holstein war durch den sozialdemokratischen Wirtschafts-und Ernährungswissenschaftler Fritz Baade, Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und ehemaliger Reichstagsabgeordneter von 1930 bis 1933, vertreten. Aus der amerikanischen und der französischen Zone waren also Politiker, aüs der britischen Zone Fachleute ohne politische Bindung gekommen (das galt in diesem Zusammenhang auch für Fritz Baade); daß die elf Ministerpräsidenten Anhänger -allerdings verschiedener Spielarten -eines föderalistischen Systems delegiert hatten, entsprach der Natur der Dinge. Jeder der elf Bevollmächtigten war von einem oder zwei Mitarbeitern (das vielköpfige technische Personal nicht gerechnet) begleitet. Baden war zusätzlich mit seinem Justizminister Fecht und durch den Freiburger Ordinarius Theodor Maunz vertreten; Bayern hatte zwei hohe Ministerialbeamte, Claus Leusser und Ottmar Kollmann, nominiert. Bremen (Gert Feine) und Hamburg (Johannes Praß), Niedersachsen (Ulrich Jäger) und Rheinland-Pfalz (Bernhard Hülsmann und Klaus-Berto von Doemming) hatten ebenfalls erfahrene Fachbeamte auf die Chiemseeinsel geschickt; aus Hessen war ein Landtagsmitglied, Rechtsanwalt Karl Kanka (CDU), angereist; Fritz Baade hatte einen Mitarbeiter des Kieler Weltwirtschaftsinstituts (Friedrich Edding) mitgebracht, Carlo Schmid war von seinem Tübinger Schüler Gustav von Schmoller begleitet, und aus Württemberg-Baden waren Landgerichtsrat Kurt Held und Rechtsanwalt Otto Küster (der zugleich Abteilungsleiter im Stuttgarter Justizministerium war) gekommen. Nordrhein-Westfalen hatte den Richter am Obersten Gerichtshof für die britische Zone in Köln, Hans Berger, benannt. Außer diesen fünfzehn Mitarbeitern waren noch vier Sachverständige am Werk: Richard Ringelmann (Ministerialdirektor im bayerischen Finanzministerium), Herbert Fischer-Menshausen(Hauptreferent für Finanzen beim Länderrat der Bizone), Hans Storck (Finanzdezernent im Deutschen Städtetag) und Hans Nawiasky (Professor der Rechtswissenschaft in St. Gallen und München). Nawiasky hatte schon in der Weimarer Zeit als Hausjurist der bayerischen Regierung gewirkt und Bayern 1932 vor dem Staatsgerichtshof in der Klage gegen Papens „Preußenschlag“ -die Entmachtung der preußischen Staatsregierung durch Staatsstreich der Reichsregierung -vertreten. An der Entstehung der bayerischen Verfassung von 1946 war Nawiasky wesentlich beteiligt gewesen.
II.
Die Verfassungsexperten hatten nur dreizehn Tage Zeit für eine ähnliche Aufgabe, wie sie der von Hugo Preuß geleiteten Verfassungskommission im Dezember 1918 im Übergang zur Weimarer Republik gestellt war. Der damalige Chef des Reichs-amts des Innern, prominent beraten von Max Weber und gestützt auf den Apparat der Reichsregierung, hatte aber vor anderen Schwierigkeiten gestanden als die Sachverständigen des Jahres 1948. 1918/19 war es darum gegangen, das Prinzip der Volkssouveränität an Stelle des monarchischen Obrigkeitsstaats zu installieren, und zwar gegen den Willen einer breiten, ehemals staatstragenden Bevölkerungsschicht. Ferner wollte Preuß die bundesstaatliche Organisation des Kaiserreichs gegen den Widerstand vor allem der süddeutschen Länder in einen Einheitsstaat umwandeln. Diese Bestrebungen waren auf halbem Weg zum Stehen gekommen: Das Deutsche Reich der Weimarer Verfassung blieb nominell ein Bundesstaat; die Machtverschiebung zugunsten der Zentrale war aber beträchtlich, und das Ergebnis befriedigte weder die Anhänger des Einheitsstaats noch die Föderalisten.
Ein weiteres Problem bestand 1919 darin, daß Preußen erdrückende drei Fünftel des gesamten Reichsgebiets ausmachte und ein entsprechender Machtfaktor blieb, dem die geschriebene Verfassung nicht Rechnung tragen konnte. Hugo Preuß hatte deshalb eigentlich die Länder durch eine Territorialreform in annähernd gleichgroße Verwaltungseinheiten neu einteilen wollen. Das Problem einer Reichsreform blieb bis zum Ende der Weimarer Republik auf dem Tisch
Die Ausgangslage beim Herrenchiemseer Konvent war nicht nur anders, sondern in mancher Hinsicht sogar besser. So war es sicher, daß die parlamentarische Demokratie nicht wie 1919 gegen den Widerstand einer unzufriedenen Oberschicht durchgesetzt werden mußte; auch spielte der Dualismus zwischen Preußen und dem Reich keine Rolle mehr, da Preußen durch alliierten Macht-spruch als politische Einheit aufgelöst war; und schließlich gab es die historische Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Verfassung wegen ihrer strukturellen Schwäche gegenüber den sie bedrohenden extremistischen Kräften. Der Herrenchiemseer Konvent durfte sich auch freier fühlen als die Preußsche Verfassungskommission von 1918/19, die eine Regierungsvorlage zu erstellen hatte -also mit politischen Kompromissen arbeiten mußte -, während die Männer auf der Chiemseeinsel nur ein formell unverbindliches Sachverständigengutachten zu liefern hatten, in dem Varianten und Alternativen, Mehrheitsvoten und Minderheitsmeinungen gegenübergestellt werden konnten.
Die Verfassungsrechtler von 1948 standen andererseits jedoch vor einem Problem, das 1919 nicht existiert hatte: Damals mußte eine neue Ordnung für ein äußerlich weitgehend intaktes deutsches Staatswesen entworfen und politisch durchgesetzt werden. 1948 standen die Rechtsgelehrten aber vor der Frage, ob das Deutsche Reich als Folge des Zweiten Weltkriegs als Staat und Rechtssubjekt untergegangen oder ob es lediglich desorganisiert und seiner Geschäftsfähigkeit beraubt worden war. War Deutschland als Ganzes untergegangen, so mußte es neu konstitutiert werden, und dann erhob sich die Grundsatzfrage, die auf Herrenchiemsee ausführlich debattiert wurde: wo die Quelle der konstitutiven Gewalt liege -beim Volk oder bei den Ländern?
Die Mehrheit der Verfassungsexperten im Alten Schloß vertrat den Standpunkt, Deutschland sei als Staat nicht untergegangen, es müsse nur neu organisiert werden, und zwar in der äußeren Gestalt eines Staatsfragments -hier hieß das politische Problem: Westdeutscher Staat oder Proklamation des gesamtdeutschen Staates im Westen -, da wesentliche Souveränitätsrechte nicht in deutscher Hand waren. Die Minderheit -es waren die Bayern -huldigte der Auffassung, Deutschland müsse neu konstituiert werden, und zwar durch die Länder, die als einzelne und selbständige Rechts-persönlichkeiten Zusammenwirken müßten. Daß die Länder in ihrer Gestalt von 1945 mehrheitlich keine Tradition hatten, spielte dabei weniger eine Rolle. Die bayerische Staatskanzlei hatte ihre Argumentation frühzeitig untermauert und zwei Schriftsätze als Beratungsunterlagen vorgelegt (es waren die einzigen Entwürfe, die dem Herrenchiemseer Konvent unterbreitet wurden). Das eine Dokument nannte sich „Entwurf eines Grundgesetzes“, und das zweite hieß „Bayerische Leitgedanken für die Schaffung des Grundgesetzes“. Die Schriftstücke waren ausdrücklich nicht als Vorlage der bayerischen Regierung deklariert, sondern als „private Arbeit, die dazu bestimmt sei, die Eröffnung des Gedankenaustausches zu erleichtern“ Außer dem Professor Nawiasky waren die Autoren bayerische Ministerialbeamte, und sie vertraten entschieden bayerisch-föderalistische Forderungen, die über die Grundsätze des Ellwanger Freundeskreises der CDU/CSU hinausgingen am wesentlichsten im Wunsch nach einem starken Einfluß der Länder auf die Exekutive des Bundes Der Grundgesetzentwurf und die „Leitgedanken“ bayerischer Provenienz wurden vom Verfassungskonvent zur Kenntnis genommen, auch gelobt, aber weiter nicht berücksichtigt.
III.
Nach der einleitenden Plenardebatte, die am 11. und 12. August in vier Sitzungen stattfand, teilte sich das Kollegium in drei Unterausschüsse. Unter dem Vorsitz von Josef Beyerle wurden Grundsatzfragen erörtert. Theodor Spitta, der Senior des Konvents, leitete den zweiten Unterausschuß für Zuständigkeitsfragen im Bereich der Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und der Finanzverfassung. Organisationsfragen (Aufbau, Gestaltung und Funktion der Bundesorgane) wurden im dritten Unterausschuß, dem Paul Zürcher präsidierte, diskutiert. Neben dem Plenum und den Unterausschüssen wurden Detailprobleme in Referentenbesprechungen behandelt, und am Schluß -nach gründlicher Erörterung der Einzel-ergebnisse in Plenarsitzungen -wurde das Resultat der Arbeit von einer Redaktionskommission zusammengestellt, und zwar bei aller Sorgfalt in so großer Eile, daß der Bericht von 95 Druckseiten Umfang rechtzeitig den Ministerpräsidenten vorgelegt werden konnte, die sich am 31. August 1948 im Jagdschloß Niederwald bei Rüdesheim trafen, um die Eröffnung des Parlamentarischen Rats vorzubereiten
In der ersten Plenarsitzung hatten sich die Konventsmitglieder darüber verständigt, daß sie keinerlei politische Entscheidungen zu treffen oder auch nur zu empfehlen hätten. Sie wollten „alle für die Ausarbeitung einer Verfassung wichtigen Fragen“ klären und Lösungsmöglichkeiten ausarbeiten. Verschiedene Lösungen sollten als Varianten gegenübergestellt werden, politische Kompromisse sollten „hierbei keinen Raum“ haben Trotz dieser Grundsätze war das Kollegium natürlich kein unpolitischer Debattierklub, und das beachtliche Ergebnis der formal unverbindlichen Beratungen von Herrenchiemsee war schließlich doch eine Art Regierungsvorlage der elf westdeutschen Ministerpräsidenten, an dem die Mitglieder des Parlamentarischen Rats nicht mehr vorbei-kamen. Der Schlußbericht gliederte sich in drei Abschnitte: Im ersten, dem darstellenden Teil, wurden unter Angabe von Mehrheits-und Minderheitsmeinungen die einzelnen Verfassungsprobleme in dreizehn Kapiteln dargelegt und diskutiert. Der zweite Teil bot den fast vollständigen Entwurf eines Grundgesetzes (mit Mehrheits-und Minderheitsvorschlägen zu bestimmten Verfassungsartikeln), und im dritten Teil wurden einzelne Bestimmungen des Entwurfs kommentiert.
Die bescheiden als „Tätigkeitsbericht“ deklarierten Ergebnisse des Verfassungskonvents strukturierten die Debatten der kommenden Monate im Parlamentarischen Rat. Die strittigen Probleme von Herrenchiemsee waren meist auch die Streitfragen von Bonn. Konsens herrschte in Herrenchiemsee über zehn Leitgedanken, die auch die Nutzanwendung aus bestimmten Konstruktionsmängeln der Weimarer Verfassung enthielten: Die Legislative sollte aus zwei Kammern bestehen, einem „echten Parlament“ und einer Länderkammer. Deren Struktur blieb bis Ende Oktober 1948 umstritten. Die Sozialdemokraten plädierten in Herrenchiemsee wie später im Parlamentarischen Rat in Bonn für einen Senat, dessen Mitglieder von den Landtagen gewählt werden sollten; die CDU/CSU war gespalten. Die nord-und westdeutsche CDU (Adenauer-Flügel) wollte einen Senat, die süddeutschen Christdemokraten erstrebten einen aus Mitgliedern der Landesregierungen gebildeten Bundesrat. Entschieden wurde die Sache hinter den Kulissen am 26. Oktober beim Abendessen, zu dem sich der bayerische Ministerpräsident Ehard (CSU) und der SPD-Fraktionsvize Menzel in Bonn trafen. Sie verständigten sich auf den Bundesrat -es war einer der wichtigen politischen Kompromisse, der den CDU-Wortführer Adenauer ziemlich verärgerte
Die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament -so hieß es in den Leitgedanken des Verfassungskonvents -gründe sich auf das Vertrauen einer arbeitsfähigen Mehrheit. Eine arbeitsunfähige Mehrheit dürfe aber weder eine Regierungsbildung vereiteln, noch eine bestehende Regierung stürzen; Präsidialregierungen (wie am Ende der Weimarer Republik) sollten nicht möglich sein. Das Staatsoberhaupt müsse als neutrale Gewalt neben der Regierung stehen und dürfe über keine Notverordnungsrechte verfügen. Nach dem Herrenchiemseer Modell sollte die Funktion des Staatsoberhaupts bis zur Herstellung angemessener Souveränität und bis zur Klärung des Verhältnisses zu den „ostdeutschen Ländern“ nur provisorisch versehen werden. Volksbegehren waren nach den Leitgedanken der Herrenchiemseer Experten ausgeschlossen und Volksentscheide nur bei Grundgesetzänderungen möglich. Grundgesetzänderungen, „durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung“ beseitigt würde (der Verfassungskonvent war auch mit dieser Formulierung stilbildend), sollten unzulässig sein. Mit dem Grundsatz „die Vermutung spricht für Gesetzgebung, Verwaltung, Justiz, Finanzhoheit und Finanzierungspflicht der Länder“ hatten die Sachverständigen für eine weitgehend föderalistische Struktur des kommenden Staatswesens plädiert.
Das entsprach sowohl den Wünschen und Hoffnungen der Landesregierungen als auch den alliierten Erwartungen, stieß aber bei vielen Parteipolitikern auf Kritik und Ablehnung. Gustav Dahrendorf, der sozialdemokratische Vizepräsident des Frankfurter Wirtschaftsrats -des Parlaments der Bizone -schrieb im „Hamburger Echo“, die Vorschläge von Herrenchiemsee seien für alle eine tiefe Enttäuschung, die bisher an die Möglichkeit glaubten, daß aus der Vergangenheit konstruktive und in die Zukunft weisende Folgerungen gezogen würden. Die Art von Föderalismus, die sich in Herren-chiemsee durchgesetzt habe, sei das Ende Deutschlands Konrad Adenauer, der Vorsitzende der CDU der britischen Zone, machte in einer Presseerklärung deutlich, daß der Herrenchiemseer Entwurf völlig unverbindlich sei; die Ministerpräsidenten hätten zwar „in dankenswerter Weise versucht, Material für die Beratungen des Parlamentarischen Rats bereitzustellen“, die Konstituante könne es aber „völlig frei verwerten“ In der „Neuen Zeitung“, dem Organ der amerikanischen Militärregierung, wurde dagegen eine etwas positivere Stellungnahme Adenauers referiert: Der Parlamentarische Rat werde die Verfassungsarbeiten von Herrenchiemsee sachlich beurteilen und bei seinen Beratungen verwerten. „Eigene Entwürfe der verschiedenen Parteien würden nur Uneinigkeit hervorrufen.“
So lautete auch die taktische Linie, die in den Unionsparteien Ende August 1948 im Hinblick auf den Parlamentarischen Rat entwickelt wurde. Die Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU (unter diesem Titel firmierten die noch nicht zur einheitlichen Parteiorganisation zusammengeschlossenen Landesverbände der Christdemokraten) hatte sich entschlossen, selbst keinen Verfassungsentwurf im Parlamentarischen Rat einzubringen. Es sollte auch versucht werden, die SPD von einem eigenen Entwurf abzubringen, um gemeinsam auf der Basis der Herrenchiemseer Vorschläge zu operieren. Das war aber wegen der Abneigung des sozialdemokratischen Parteivorstands gegen den Herrenchiemsee-Entwurf ganz aussichtslos
Im Pressedienst der SPD war -verbunden mit der Klage, der Chiemsee-Ausschuß genieße zuviel Publizität -deutlich genug zu lesen, welche Skepsis, welches Mißtrauen ihm gegenüber herrschte: „Der Chiemsee-Ausschuß ist entstanden auf Grund einer privaten Vereinbarung der Ministerpräsidenten der deutschen Länder, die ihre Verfassungsspezialisten zu vertraulichen Beratungen Zusammenkommen ließen. Sie sollen einen Entwurf für das kommende Grundgesetz ausarbeiten, wie es nach der Meinung der Ministerpräsidenten unter dem besonderen Aspekt der Länderinteressen aussehen sollte. Insofern handelt es sich bei diesem Ausschuß um die Vertretung einer bestimmten politischen Interessengruppe, wie sie auch sonst bestehen in den Parteien, in Arbeitsgemeinschaften und dergleichen. Die Ausarbeitung eines offiziellen Entwurfs für das kommende Grundgesetz ist und bleibt allein dem Parlamentarischen Rat Vorbehalten, der durch die Vorschläge des Chiemsee-Ausschusses in keiner Weise präjudiziert wird.“
In der „Täglichen Rundschau“, dem in Berlin publizierten Organ der sowjetischen Militärregierung, war zu lesen, das von Polizeibooten bewachte „politische Picknick am Chiemsee“ sei „weiter nichts als eine Privatangelegenheit eines kleinen Klüngels von Verrätern“. Das Werk des von den Ministerpräsidenten ohne demokratische Legitimation und öffentlichen Auftrag zusammengerufenen Gremiums habe keine Bedeutung: „Dem Geheimkonventikel der Interessenvertreter der deutschen und amerikanischen kapitalistischen Reaktion in Herrenchiemsee steht die Massenbewegung des Deutschen Volksrats und des Deutschen Volkskongresses gegenüber.“
Carlo Schmid hielt sich diplomatisch an die offizielle Parteilinie, als er im SPD-Pressedienst den Herrenchiemseer Entwurf als „Empfehlung der Techniker des Verfassungsrechtes“ vorstellte und dessen Unverbindlichkeit betonte. Bis in seine Erinnerungen hinein blieb Schmid loyal gegenüber Schumacher. Er referierte dort zwar die aus der Hand des todkranken Parteivorsitzenden empfangene Würde des verfassungspolitischen Protagonisten der Partei, verschwieg aber die entschiedenen Differenzen in der Sache, die bis zur persönlichen Kränkung gingen denn während Carlo Schmid in Herrenchiemsee maßgeblich am Grundgesetz entwurf arbeitete, verfocht die SPD offiziell den nicht mehr zulänglichen „Menzel-Entwurf“.
Carlo Schmidt plädierte gleichwohl engagiert für die politische Essenz der Herrenchiemseer Arbeit. Die Logik der Tatsachen sei bei einer vernünftigen Lösung der Probleme wichtiger als formale Begrifflichkeit; man wolle keine Verfassung für einen Weststaat schaffen, sondern die Grundnorm eines Staatsfragments, ein Provisorium auf dem Weg und als vorbereitendes Mittel zur deutschen Einheit. Durch die Formulierung, daß das Grundgesetz automatisch außer Kraft treten solle, „sobald eine vom deutschen Volk in freier Selbstbestimmung geschaffene Verfassung Wirklichkeit wird“, komme das deutlich zum Ausdruck, und im westlichen Staatsfragment würden „deutsche“, nicht „westdeutsche“ Hoheitsbefugnisse ausgeübt Damit war das verfassungspolitische Grundproblem der folgenden Jahrzehnte der deutschen Teilung artikuliert.
Die von der Sowjetischen Militäradministration inspirierte und kontrollierte „Tägliche Rundschau“ in Berlin etikettierte das Herrenchiemseer Modell mit der darin formulierten Theorie vom Kernstaat freilich als „eine Art Arbeitsordnung für die westdeutsche Kolonie“ Tatsächlich legten die Debatten des Verfassungskonvents den Grundstein zur Bonner Demokratie: Der Parlamentarische Rat folgte dem Entwurf von Herrenchiemsee, der damit -allen Beschwichtigungen und Abwehr-versuchen zum Trotz -den Rang eines Regierungsentwurfs nicht nur für die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bonner Republik, sondern, mehr als vier Jahrzehnte später, auch für das vereinigte Deutschland erhielt.