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Jugend -Gewalt -jugendpolitischer Umgang. Eine Bilanz des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt | APuZ 31/1998 | bpb.de

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APuZ 31/1998 „Entstrukturierung“ der Jugendphase. Zum Strukturwandel des Aufwachsens und zu den Konsequenzen für Jugendforschung und Jugendtheorie Einstellungen junger Deutscher gegenüber ausländischen Mitbürgern und ihre Bedeutung hinsichtlich politischer Orientierungen. Ausgewählte Ergebnisse des DJI-Jugendsurvey 1997 Jugendprobleme in den Medien. Zur öffentlichen Thematisierung von Jugend am Beispiel des Diskurses zur Jugendgewalt Jugend -Gewalt -jugendpolitischer Umgang. Eine Bilanz des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt

Jugend -Gewalt -jugendpolitischer Umgang. Eine Bilanz des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt

Irina Bohn

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Zusammenfassung

Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) war in den Jahren 1992 bis 1996 ein jugendpolitisches Modellprogramm der Bundesregierung, das den Auftrag hatte, Strukturen der Jugendarbeit in den neuen Bundesländern mit aufbauen zu helfen und Handlungsansätze der Jugendarbeit zu erproben, die geeignet erscheinen, gewaltbereiten Jugendlichen wirksame und gesellschaftlich integrierende Hilfen bereitzustellen. Das Modellprogramm hat gezeigt, daß erfolgreich gehandelt werden kann, wenn Jugendliche über einen mittelfristigen Zeitraum hinweg ganzheitliche und praxisorientierte Hilfen in allen relevanten Lebensbereichen erhalten. Jugendarbeit mit ihren auf Freizeitgestaltung, Bildung und soziale Partizipation hin ausgerichteten Handlungsansätzen bietet einen geeigneten Rahmen, um in Kombination mit personenbezogenen Leistungen der erzieherischen Hilfen, der Jugendgerichtshilfe, der Jugendsozialarbeit und der Beratung Jugendliche gezielt zu stabilisieren. Zentral ist hierbei der Aspekt, daß Jugendliche mit multiplen Gefährdungspotentialen nicht in unterschiedliche Einrichtungen und zu unterschiedlichen Fachkräften verwiesen werden, um in zentralen Lebensfragen -Familie, Schule, Beruf, Freizeit etc. betreffend -Unterstützung zu erhalten. Statt dessen gilt es, die geeigneten und notwendigen Hilfen für die Problemlagen von Kindern und Jugendlichen möglichst niedrigschwellig und flexibel unter einem Dach zu bündeln. Die Maxime lautet: „Bringt nicht den Jugendlichen zu den Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe, sondern die notwendigen und geeigneten Leistungen der Jugendhilfe zum Jugendlichen.“

I. Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt

Im Mai 1991 veranstaltete das Bundesministerium für Frauen und Jugend eine hausinterne jugendpolitische Konferenz. Die damalige Ministerin Angela Merkel zeigte sich über den Anstieg von Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten von ostdeutschen Jugendlichen mit offenbar rechtsextremistischem Hintergrund stark beunruhigt und beauftragte nach den Beratungen das zuständige Fachreferat, sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten zu prüfen und ein erstes Konzept jugendpolitischen Handelns in Form eines Modell-programms für die neuen Bundesländer zu entwikkeln

Während es zunächst die fachlichen und fachpolitischen Rahmenbedingungen festzulegen galt, weshalb Fachkonferenzen, Anhörungen durch unterschiedliche Bundestagsausschüsse und Vorgespräche mit den kommunalen Jugendämtern erfolgten, spitzten sich die öffentlich wirksamen Ereignisse zu. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda warfen nicht nur ein Licht auf die hohe Dunkelziffer von Sympathisanten, sondern ließen vermehrt Stimmen laut werden, die ein möglichst restriktives Durchgreifen des Staates forderten. In dieser öffentlich aufgeladenen Situation war es von besonderer Bedeutung, daß das Programm bereits einen „fachinternen“ Vorlauf hatte und sich die Beteiligten und Verantwortlichen auf die Notwendigkeit eines sozial integrierenden Handelns für gewaltbereite Jugendliche verständigt hatten.

Die fachlichen Vorgespräche hatten zwar gezeigt, daß die Sozialwissenschaften nur unzureichende Erklärungszusammenhänge für das Phänomen der Gewaltbereitschaft in den neuen Ländern boten und die wenigen praktischen Erfahrungen aus der Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen im Westen des Landes sich wohl nicht nahtlos auf die Situation in den neuen Ländern übertragen lassen würden. Dennoch zeichneten sich in den zahlreichen Diskursen erfolgversprechende Wege ab. So wurde als erstes deutlich, daß ein Programm gegen Jugendgewalt in den neuen Ländern nicht nur ein zielgruppenorientiertes, sondern ein im weitesten Sinne jugendpolitisches Programm sein mußte. Der Versuch, Jugendhilfe zur Bearbeitung dieses Problems zu aktivieren, konnte nur dann gelingen, wenn den besonderen historischen und jugendhilfepolitischen Ausgangsbedingungen Rechnung getragen wurde und das Programm gleichzeitig auch die Funktion erhielt, leistungsfähige Strukturen der Jugendhilfe aufzubauen. Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) erhielt somit zwei Aufträge: Jugendhilfestrukturen in den neuen Ländern mit aufbauen zu helfen und Projekte der Jugendarbeit für gewaltbereite sowie gewalttätige Jugendliche zu entwickeln.

Es wurde ebenfalls deutlich, daß mit dem Betreten von Neuland in fachlicher wie auch struktureller Hinsicht das klassische Verfahren des „top down“, mit dem bisher Modellprojekte durchgeführt wurden, untauglich sein würde. Es gab keinen isolierten Interventionsansatz, der allgemeingültig hätte vorgegeben werden können, und die lokalen Ausgangsbedingungen -vom Vorhandensein potentieller Träger bis hin zur Arbeitsfähigkeit einzelner Verwaltungsebenen -waren extrem unterschiedlich. Fachlicher Konsens war, daß es im AgAG auch nicht darum gehen konnte, Handlungsansätze, Strukturen und Konzeptionen der Jugend-(sozial) arbeit zu transformieren und durch „alternative“ Ansätze zu ersetzen, sondern diese vielfach erprobten Maßnahmen für neue Problemkonstellationen zu öffnen und auf sie anzuwenden, also eine Strategie der inneren Entwicklung anstelle einer äußeren Differenzierung zu betreiben.

So war es folgerichtig fachlich vernünftig, die Arbeit im Rahmen des AgAG dezentral zu konzipieren und vorzubereiten. Im Kern hieß dies, daß die Definition der Problemlagen und die Erarbei37 tung darauf abgestimmter Handlungskonzepte in den lokalen Zusammenhängen erfolgen sollte. Der Bund stattete deshalb im Rahmen des AgAG die Länder und diese ihrerseits die Kommunen verantwortlich mit den notwendigen finanziellen Mitteln aus und unterstützte die Arbeit vor Ort mit einer Reihe fachlicher Zusatzleistungen. Damit folgte das AgAG nicht der bisher gewohnten Förderlogik, einzelne große freie Träger mit der Durchführung von Modellprogrammen zu beauftragen, sondern das Programm förderte und stärkte in voller Absicht die Handlungsfähigkeit der Länder und Kommunen.

Das AgAG begann zum 1. Januar 1992 und wurde als bundesfinanziertes Modellprogramm für eine Laufzeit von zunächst drei Jahren -bis zum 31. Dezember 1994 -durchgeführt. Hiernach erfolgte für zwei weitere Jahre eine durch Bund, Länder und Gemeinden finanzierte Fortführung.

Im Rahmen des AgAG wurden während der ersten Modellphase -1992/1994 -insgesamt 124 Projekte gefördert In der zweiten Modell-phase -1995/1996 -gelang ein nahezu bruchloser Übergang in die Komplementärfinanzierung; die Anzahl der Projekte reduzierte sich lediglich auf 122. Mit dem Auslaufen der Bundesförderung zum 31. Dezember 1996 stellte sich zunächst die Frage, ob ein Großteil der Projekte in die Regelfinanzierung übernommen werden und der Auftrag des AgAG, Strukturen der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern mitaufbauen zu helfen, erfolgreich sein würde. Dies gelang: Insgesamt 108 dieser 122 AgAG-Projekte wurden auch im Jahr 1997 -meist von Ländern und Kommunen gemeinsam finanziert -fortgeführt.

Etwa 80 Prozent dieser Projekte sind bei freien Trägern angesiedelt, von denen wiederum mehr als die Hälfte kleine freie Träger -also aus Initiativen entstandene Vereine -sind. Damit hat das AgAG auch zum Aufbau einer pluralen Trägerstruktur in den Standortregionen beigetragen. Zahlreiche Träger, die 1992 im AgAG als kleine freie Initiativen ihre Arbeit aufnahmen, haben sich mittlerweile in der Trägerlandschaft etabliert.

In den AgAG-Projekten arbeiteten rund 150 durch das AgAG finanzierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Qualifikationsprofil dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war doppelsäulig: Jeweils etwa 40 Prozent verfügten entweder über eine soziale und pädagogische oder eine spezifische handwerkliche Ausbildung.

Das AgAG hat sich als Programm nicht ausschließlich an gewalttätige Jugendliche gerichtet, sondern hat auch insbesondere sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche gezielt angesprochen. Nach vorsichtigen Schätzungen wurden vom AgAG etwa 6500 Jugendliche erreicht. Es waren Jugendliche aller Altersgruppen, wobei in den ersten Jahren ein Schwerpunkt bei Jugendlichen zwischen 16 und 21 Jahren auszumachen war. Seit 1993 werden in 80 Prozent aller Angebote des AgAG immer mehr Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren betreut Die Jugendlichen waren in der Hauptsache Schüler und Auszubildende. Arbeitslose Jugendliche machten nur zu einem geringen Anteil, maximal zu etwa 25 Prozent in einzelnen Angebotstypen (Jugendclubs/Einzelfallhilfe), die Zielgruppe des AgAG aus. Die Projektmitarbeiterinnen und Mitarbeiter urteilen, daß zahlreiche Kinder und Jugendliche in ihren Projekten aus schwierigen familiären und sozialen Umfeldern stammen. Arbeitslosigkeit der Eltern, Armut, Gewalt, Alkoholmißbrauch und gestörte familiäre Beziehungen sind Problemlagen, die zahlreiche Jugendliche treffen und die symptomatisch in Schulproblemen, zunehmendem Drogenkonsum und delinquentem Verhalten münden. Die Jugendlichen seien perspektivlos und resigniert, ihnen fehle es an Gelegenheit, ein positives Selbstbild und Selbstvertrauen zu entwickeln. Obwohl die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die psychosozialen Problemlagen der Jugendlichen als gravierend beschreiben, sehen sie dennoch positive Veränderungen bei den Jugendlichen, die sie zwischen 1992 und 1996 betreut haben. Die Jugendlichen seien heute selbstverantwortlicher und hätten ein größeres Interesse an einer eigenständigen Gestaltung ihrer Lebensperspektiven. Aggressionen und Gewalthandlungen, sei es gegen Personen oder in Form von Sachbeschädigungen, seien deutlich zurückgegangen. Die Jugendlichen würden zunehmend die Folgen ihres Verhaltens abschätzen und Gewalthandlungen immer seltener gutheißen

Für die Arbeitsansätze der Projekte war und ist charakteristisch, daß sie die gesamte Bandbreite der Jugend-und Jugendsozialarbeit umfassen und in mannigfaltiger Weise miteinander verschränkt werden. Sie reichen von aufsuchender Jugendarbeit, Begegnung, Beratung, betreutem Wohnen, Einzelfallbetreuung, Erlebnispädagogik, Fan-Arbeit, Fahrten, Freizeit-und Sportangeboten, Gruppenarbeit über Informationsangebote, Jugend-clubs, Angeboten für Mädchen, Medien-und Kulturarbeit bis hin zu sozialen Trainingskursen, Werkstatt-und Arbeitsangeboten. Konkret bedeutete dieses breite Angebot an Handlungsansätzen, daß ein Jugendlicher in einem AgAG-Projekt den Jugendclub täglich mit seiner Clique nutzen konnte, Mittwochs zum Fußball-Training kam, einen Notschlafplatz fand, wenn es zu Hause mit den Eltern Konflikte gab, und vermittelnde Unterstützung durch die Sozialarbeiterin oder den Sozialarbeiter bei Problemen im Ausbildungsbetrieb erhielt. Kein Projekt im AgAG arbeitete eindimensional: Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren bestrebt, möglichst viele Hilfen aus einer Hand vorzuhalten, um den vielschichtigen Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht zu werden, also lebensweltorientiert und ganzheitlich zu arbeiten.

Um die Projektarbeit im AgAG zu flankieren, hat das AgAG ein Unterstützungssystem geschaffen, durch das sich kommunikative Strukturen von der Projektebene über die fachliche Steuerungsebene bis hin zur politischen Spitze etablieren konnten. Auf diese Weise wurde sichergestellt, daß bei aller Heterogenität innerhalb des Programms die Ausrichtung am gemeinsamen Auftrag gewährleistet blieb. Die Projekte vor Ort wurden von Beratern und Beraterinnen sozialpädagogischer Institute in ihrer Arbeit unterstützt. Diese suchten die Projekte regelmäßig vor Ort auf und etablierten gemeinsam mit den Projektmitarbeiterinnen und Mitarbeitern regionale und länderbezogene Projektplenen, in denen ein fachlicher Austausch und kollegiale Beratung erfolgte. Die Beraterinnen und Berater selbst und die sozialpädagogischen Institute die für die fachliche Umsetzung des Programms verantwortlich waren, sind wiederum über das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V., das die fachliche Gesamtkoordination des Programms wahrnahm, verbunden und haben sich regelmäßig über die fachliche Ausrichtung ihrer Arbeit verständigt Eine große Bedeutung hat im AgAG die Fortbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingenommen. Der Infor-mations-, Fortbildungs-und Forschungsdienst Jugendgewaltprävention des Vereins für Kommunalwissenschaften in Berlin hat in den fünf Jahren seiner Tätigkeit insgesamt 371 Seminare mit 5 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. Publikationen und Fachtagungen rundeten die flankierenden Maßnahmen des AgAG ab.

II. Der gesellschaftspolitische Hintergrund des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt

In seiner Geschichte des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses arbeitet Norbert Elias heraus, daß die fortschreitende „Zähmung“ der Gewalt, die Delegitimierung „privater“ Gewalt und ihre Unterstellung unter das rechtlich gebundene (und begrenzte) Gewaltmonopol des Staates, nicht nur eine Basisvoraussetzung des modernen Staates, sondern vor allem eine Grundbedingung für das Voranschreiten des Zivilisationsprozesses darstellt, wie wir ihn kennen Das Wiederaufflackern privater Gewalthandlungen und das bewußt provozierte und in Frage gestellte Gewaltmonopol des Staates werfen deshalb -wo immer solche Erscheinungen in der neuesten Geschichte auftreten -eine ganze Fülle von komplexen Fragen auf und lösen eine tiefgreifende öffentlich-politische Beunruhigung aus. Dies war auch der Fall, als kurz nach der Hochstimmung der deutschen Vereinigung Gruppen von jungen Menschen in den neuen Bundesländern mit Übergriffen, Zerstörungen, Brandstiftungen und Gewalthandlungen gegen Minderheiten auf sich aufmerksam machten und damit die Schlagzeilen der Nachrichten und der Medien beherrschten.

Angesichts der tiefreichenden Ächtung willkürlicher Privatgewalt im Zivilisationsprozeß führt das Erleben von Gewalt im menschlichen Zusammenleben allein schon zu tiefer emotionaler und öffentlicher Verunsicherung, wird als Bruch ,', zivilisierter“ Umgangsregeln, als „Rückfall“ ins „Wilde“, „Nichtzivilisierte“ verstanden. Da die Instanzen der Erziehung (vor allem Familie und Schule, aber auch Jugendarbeit und Jugendhilfe) es im persönlich-privaten Bereich und die öffentliche Gewalt (Politik und Staat bzw. Polizei) es im großen Zusammenhang übernommen haben, jede neue Generation in das System existierenderRegeln der Zivilisation und Gewaltlosigkeit einzubinden bzw. die öffentliche Ordnung der Gewalt-freiheit als allgemein verbindlichen Rahmen des Verhaltens zu garantieren, kommt es in solchen Situationen sofort zu Schuldzuweisungen und Versagensvermutungen: -Die These vom Versagen der Erziehungsinstitutionen wird aufgeworfen Diese hätten -aus welchen Gründen auch immer -es nicht vermocht, jene Werte und Normen zu vermitteln und einzuüben, die das Ideal der Gewaltlosigkeit stützen. Zu allermeist werden Erziehungsdefizite, entweder ein genereller Mangel an Erziehung (durch Sich-nicht-Kümmern, durch Unvollständigkeit der Familie, durch ein Zuwenig an Zuwendung) oder eine zu „lasche“ Erziehung (mit zu weit gehenden Freiheiten, zu wenig Führung und Vorbild, zu „liberalem“ Erziehungsstil), unterstellt. Die Folge seien Gefühle von Unausgefülltsein, Orientierungsund Perspektivlosigkeit, von offener Sinnsuche. Und ungeachtet der Grenzen, die jeder Erziehung gesetzt sind, werden Erziehungskampagnen gefordert: Nur eine offensive Anti-Gewalt-Erziehung in Elternhaus, Schule und Jugendarbeit (die man nach solcher Meinung bisher schuldig geblieben sei) könne die gewaltbereiten Jugendlichen wieder auf den Weg der Zivilisation zurückführen. -Die These vom Politikversagen (Staatsversagen)

wird formuliert Jugendgewalt sei die Folge eines Glaubwürdigkeitsdefizits der Politik, besonders der Parteien als Organisationen der politischen Willensbildung. Politik habe darin versagt, die Protest-und Unzufriedenheitspotentiale rechtzeitig zu identifizieren, zu kanalisieren und zu integrieren. Angesichts von Anpassungskrisen, von Arbeitslosigkeit und neuen Randgruppen habe die Politik ein Gerechtigkeitsdefizit, könne sie soziale Integration für alle nicht mehr garantieren, was aber Voraussetzung für ein gewaltloses Zusammenleben sei. Andererseits habe sich der Staat „zu lange“ als schwacher Staat dargestellt, der zögere, sein Gewaltmonopol kräftig (und wenn es sein muß, „mit Gewalt“) durchzusetzen.

Überhaupt traue man dem Staat, der Staatsmacht, nur wenig Handlungsfähigkeit zu. Er habe nur lange „geduldet“, beobachtet, zu lasche Grenzen gezogen, zu milde gestraft, zu wenig abgeschreckt. Deshalb sei die Verschärfung der Strafbedingungen zu fordern und die Verstärkung der Polizei. Der Staat müsse -wieder -ein starker Staat werden.

Solche -hier recht grob und idealtypisch beschriebenen -Versagensvermutungen, von den einen lautstark vorgetragen, von den anderen vehement bestritten, wirken ihrerseits wieder verunsichernd. Sie wirken zumindest vordergründig wie eine Infragestellung der tragenden Konsensmehrheiten des zivilisierten Zusammenlebens. Es kann also nicht verwundern, wenn rund um die (Wieder-) Ausbrüche von öffentlich ausagierter Gewalt aufgeregte öffentliche Debatten entstehen

Das war auch der Fall, als nach der deutschen Einigung -zunächst in Ostdeutschland, später auch in Westdeutschland -öffentliche Gewalthandlungen von Gruppen Jugendlicher in die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit gerieten. Die sofort aufgeworfenen komplexen Fragen der oben skizzierten Art und die damit verbundenen Verunsicherungen finden sich in der Ausgangssituation, in der das AgAG entstanden ist und konzipiert wurde. Sie erhielten freilich über das schon Gesagte hinaus eine besondere Note und ein spezifisches Thema: die besondere historische und gesellschaftspolitische Konstellation der deutschen Vereinigung, insbesondere ihre Folgen für die Biographien und den Alltag sowie die Chancen und Risiken der Lebensbewältigung in Ostdeutschland.

Die damit verbundenen Fragen markieren Über-gänge zu einer Fülle von gesellschaftspolitischen Diskussionsfeldern und werfen Legitimationsprobleme sowohl politischer als auch fachlicher Art auf.

Es ist zunächst wichtig, sich daran zu erinnern, daß die deutsche Vereinigung ohnehin schon Fragen nach dem politischen Status dieses größeren Deutschlands aufgeworfen hat. Die Furcht vor einer neuen „Großmacht“ Deutschland machte im Ausland, besonders bei manchen europäischen Nachbarvölkern, die Runde und weckte neues Mißtrauen, ob die Deutschen vor einem Rückfall in autoritäre Strukturen gefeit seien. In den ausländischen Medien wurden alte Ängste neu geschürt und Fragen wie z. B. „Kommt das Deutsche Reich wieder?“, „Bleibt Deutschland das, was es war, nämlich ein Land, in dem das Bewußtsein lebendig bleibt, daß von den Deutschen großes politisches und kriegerisches Unheil ausgegangen ist?“ aufgeworfen. In diese Phase der Unsicherheit fallen die rechtsextremen Ausschreitungen der Jugendlichen und vergrößern damit die Beunruhigungen, indem sie gleichsam das empirische Indiz für die Berechtigung jener Befürchtungen liefern.

Das AgAG hatte es also mit einem Problem zu tun, das nicht ausschließlich ein Jugendproblem war. Es warf vielmehr sofort auch das Problem der Legitimität dieser Gesellschaft, dieses Staates und der Beständigkeit der deutschen Demokratie auf. Die internationalen Reaktionen darauf, von der Neuen Zürcher Zeitung bis hin zur Times, die ein Themenheft zu Deutschland herausbrachte, sind beachtlich gewesen. Es ist später in manchen Fach-diskussionen kritisiert worden, daß das AgAG sich auf die Jugendlichen in den neuen Bundesländern konzentriert hat. Um dies zu verstehen und nachvollziehen zu können, muß der hier genannte außen-und gesellschaftspolitische Hintergrund in der Zeit nach der deutschen Einigung bewußt bleiben. Aber es gibt darüber hinaus auch eine gleichsam innenpolitische Dimension dieser Fokussierung auf die neuen Bundesländer. Sie liegt darin, daß das Phänomen der Jugendgewalt in Ostdeutschland dem Verständnis der „Befreiung“, das mit der Vereinigung verbunden war, entgegensteht. Die Jugendlichen brachten mit ihren Auseinandersetzungen ein Problempotential an die Oberfläche, das den gängigen politischen Diskursen widersprach. Jugend hat ein gesamtgesellschaftliches Unbehagen artikuliert, das sich auf die Belastungen, Brüche, Verwerfungen und Kosten der Einigung bezog, das zumindest ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung im Osten zu tragen hatte und das aus dem Verlust an Orientierung, Sicherheit, aber eben auch an Arbeitsplätzen und Zukunftsperspektiven resultierte. Die auffällig werdenden Jugendlichen handeln so in einem widersprüchlichen Sinn „doppelbödig“: Sie artikulieren und inszenieren ein weit verbreitetes Potential an Verunsicherung und realen Zukunftssorgen, auch an Frustrationen über den Verlust an früheren Sicherheiten und über die ungewohnten neuen Zwänge zu Eigeninitiative; sie schießen aber mit ihren Problemartikulationen weit über ein vertretbares Maß hinaus, setzen sich mit ihren Gewalthandlungen selbst ins Unrecht und verhindern so wiederum die politische Diskussion über die gesellschaftlich-historischen Ursachen ihres „Protests“. So erlauben die Ausschreitungen nur ein gleichsam „gebrochenes“ Verständnis, ziehen zugleich Verständnis und Abscheu auf sich, was die politische Aufarbeitung enorm erschwert.

Das legt an sich (wie frühere Erfahrungen in Westdeutschland mit Jugendprotest, Hausbesetzern und Aussteigern zeigen) die „Verweisung“ der Problematik an die Jugendhilfe nahe. Im Falle des AgAG stellten sich jedoch auch hier besondere und ungewohnte Probleme. Ein im westdeutschen Sinne ausgestattetes und handlungsfähiges Jugendhilfesystem hat es ja in der Tradition Ostdeutschlands nicht gegeben. Jugendhilfeeinrichtungen als „latente Dienstleistungsbereitschaft“ standen nicht zur Verfügung, die alten Jugendhilfestrukturen der DDR waren politisch und von ihrem fachlichen Zuschnitt her delegitimiert und befanden sich in einem sehr belasteten und mühsamen Prozeß der Umgestaltung und des Neuaufbaus. Professionelle Kompetenz und fachliche Erfahrung, speziell in den Feldern präventiver und aufsuchender Arbeit, waren vergleichsweise knapp bemessen. Alle Kräfte schienen in dem Großprojekt „Aufbau von Jugendhilfestrukturen“ gebunden. Ob also ein leistungsfähiges Jugendhilfesystem zum Auffangen und „Bearbeiten“ der Probleme jugendlicher Gewaltbereitschaft zur Verfügung stünde oder ob es wenigstens möglichst rasch würde aufgebaut werden können, war keineswegs gewiß. Jeder Versuch, Jugendhilfe ins Spiel zu bringen, mußte deshalb diesen besonderen historischen, jugendhilfepolitischen Ausgangsbedingungen Rechnung tragen. Daß das Projekt AgAG nicht einfach ein sogenanntes „problemgruppenbezogenes“ Projekt war, sondern im eminenten Sinn eine jugendhilfepolitische Funktion anvisierte, daß es mit der Problembearbeitung zugleich leistungsfähige Strukturen der Jugendhilfe aufbauen wollte, wird überhaupt nur von daher verständlich.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß dieser komplexe, in vielfältige Politikbereiche hineinreichende Problemzusammenhang für die förderungspolitische Programmgestaltung eine völlig neue -so bisher nicht gekannte -Ausgangslage ergeben hat, von der aus neue, innovative Wege gesucht und erprobt werden mußten und in der -wenn überhaupt -nur eine offene, d. h. ebenfalls „komplexe“ Programmkonzeption einigermaßen Aussicht auf Erfolg bieten konnte. Das bedeutete nicht zuletzt, Risiken in Kauf nehmen zu müssen, die nicht (wie in der traditionellen Modellförderungspolitik üblich) durch eingrenzende Definition eines Handlungsbereichs oder -Zieles, sondern nur noch durch laufende „Selbstbeobachtung“ und verständigungsintensive Binnenkommunikation in den Griff zu bekommen waren.

III. Die Projektarbeit im Rahmen des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt

Als die Projekte im Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt in die Praxis umgesetzt wurden, stand im Zentrum des Interesses die Frage, ob es möglich ist, mit Mitteln der Jugendarbeit gewalttätige und gewaltbereite Jugendliche zu erreichen. Bereits nach Ablauf des ersten Jahres konnte diese Frage positiv beantwortet werden. Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern war es gelungen, Arbeitsbeziehungen zu den Jugendlichen einzugehen. In der Regel wurde zunächst über Ansätze der aufsuchenden Jugendarbeit (Streetwork) Kontakt zu den Jugendlichen aufgenommen, an den Orten, an denen sie sich aufhielten (z. B. Bushäuschen und Trinkhallen). Nach und nach ließen sich dann auch mit den Jugendlichen gemeinsame Unternehmungen planen, d. h. Wochenendfahrten organisieren oder regelmäßige Sport-oder Freizeitangebote durchführen. Diese Einstiegsphase in die Projektarbeit diente dem Aufbau verläßlicher Beziehungen zu den Jugendlichen und bot ihnen oftmals erstmalig alternative Freizeitbeschäftigungen zum „Rumhängen“ an. In dieser Phase zeigte sich auch, daß zahlreiche gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jugendcliquen auf Rivalitäten um öffentliche Räume zurückgingen, sich aber bereits zu tiefgreifenden „ideologischen Feindschaften“ verfestigt hatten.

Im nächsten Schritt der Projektarbeit erhielten die Jugendlichen die Möglichkeit, ihre Jugendclubs räumlich zu gestalten. In Regionen, in denen sich polarisierte Jugendcliquen gegenüberstanden, wurden zur Deeskalation den jeweiligen Cliquen eigene Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Die Jugendlichen nahmen an Baumaßnahmen teil, konnten hierüber zum Teil sogar eine Ausbildung abschließen; sie mauerten, zimmerten, strichen, gestalteten und belebten „ihre Räume“. Für die Jugendlichen war in dieser Zeit von Bedeutung, daß sie Gestaltungschancen wahrnehmen konnten, daß sie ein Zugehörigkeitsgefühl zu ihrem Club entwickelten und daß sie Alltagskompetenzen z. B. bei der Arbeitsorganisation oder den notwendigen gemeinsamen Aushandlungsprozessen erproben konnten.

Als die Clubs instand gesetzt und eingerichtet waren, stand die Projektarbeit vor einer Bewährungsprobe. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter galt es nun -angelehnt an den Bedürfnissen der Jugendlichen -zu entscheiden, welche relevanten pädagogischen Prozesse eingeleitet werden, die schließlich in eine Gesamtkonzeption für das Projekt einfließen sollten. Trotz unterschiedlicher Handlungsansätze -einige Projekte setzten auf Gemeinwesenarbeit, andere auf Jugendkulturarbeit, andere wiederum auf offene Jugendarbeit -standen bei der Arbeit aller Projekte Lernerfahrungen in den Bereichen Alltagsstrukturierung und Kommunikation im Mittelpunkt. Die Jugendlichen lernten, ihren Alltag sinnvoll zu gestalten und ihre Freizeit selbständig zu organisieren. Die Projekte sahen aber ihre Aufgabe in dieser Zeit vor allem darin, die Jugendlichen für ihre Mitmenschen zu öffnen und aus dem insularen Jugendclub-Dasein herauszuführen. Hierzu wurden bspw. Stadtteilfeste organisiert und Fußball-turniere mit „rivalisierenden Jugendcliquen“ durchgeführt; außerdem wurde die Streetwork wieder aufgenommen, um auch andere Jugendliche an die Angebote der Clubs heranzuführen. Diese Phase war für viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter äußerst schwierig: Die Jugendlichen stellten die Loyalitätsfrage, sie provozierten, rieben sich an den Erwachsenen und mußten in vielen Diskussionen auszuhalten lernen, daß ihre Betreuerinnen und Betreuer divergierende Wert-haltungen formulierten und sie mit diesen auch konfrontierten. In dieser Zeit wurden Regeln des demokratischen Miteinanders in den Projekten formuliert und erprobt.

Hiernach ging die Projektarbeit in eine eher unspektakuläre, aber doch pädagogisch zentrale Phase über. Nun rückten die Lebensschicksale der einzelnen Jugendlichen, ihre persönlichen Problemlagen in den Vordergrund. Die Beziehungen zu den Pädagoginnen und Pädagogen waren ausreichend stabil, um Schwächen und Ängste preiszugeben, Hilfe einzufordern. In dieser Zeit entwickelten die Projekte ihre typische Angebots-struktur, die darin bestand, möglichst umfassende, alltagsnahe und versorgende Hilfen für die Jugendlichen bereitzustellen. Konkret heißt dies, daß die Jugendlichen nicht nur ihre Freizeit in den Jugendprojekten verbringen konnten, sondern daß sie Angebote vorübergehender existentieller Grundabsicherung (wie z. B. Mittagstische, schulische und berufliche Hilfen in Krisensituationen, Notunterkünfte, betreutes Wohnen) erhielten. Ebenso wichtig war die gebrauchswert-und ausbildungsorientierte Ausrichtung der Angebote, also das Erlernen manueller Fertigkeiten in Bauprojekten, Fahrrad-und Motorradwerkstätten, Führerscheinkursen oder Holzwerkstätten.

In die offene Jugendarbeit im Rahmen des AgAG wurden aber auch spezifische Leistungen dererzieherischen Hilfen wie u. a. soziale Gruppenarbeit, intensive Sozialpädagogische Einzelfallhilfe oder Betreuungshilfen integriert. Diese auf den Einzelfall und die Gewährleistung des Wohls des Kindes oder Jugendlichen hin ausgerichteten Hilfen werden im westlichen Jugendhilfesystem von spezialisierten Diensten durchgeführt und bedeuten in der Regel auch immer eine getrennte Betreuung eines jungen Menschen im Hinblick auf seine Freizeitgestaltung und die Lösung erzieherischer Probleme. Im AgAG nahmen die Pädagoginnen und Pädagogen solche speziellen Aufgaben im Rahmen ihrer Tätigkeit als Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter wahr. Damit gelang es ihnen, die Jugendlichen sowohl in ihrem sozialen Umfeld als auch hinsichtlich individueller Problemlagen pädagogisch zu begleiten. Hierzu gehörten in einzelnen Fällen auch Leistungen der Jugendgerichtshilfe wie die Vorbereitung, Begleitung zu Gerichtsverhandlungen oder die Gestaltung und Erfüllung gerichtlicher Auflagen.

Für die Jugendlichen hatte diese -als flexible Jugendarbeit bezeichnete -Form der Projektarbeit entscheidende Vorteile. Der Einstieg in intensive, ihre persönliche Entwicklung betreffende Hilfen wurde ihnen über den „unverbindlichen“ Freizeitbereich erleichtert. Gleichzeitig waren sie nicht gezwungen, aus ihrer Clique, ihrem gewohnten Umfeld herauszutreten, um eine Lösung individueller Problemlagen zu suchen. Die Pädagoginnen und Pädagogen waren zuständig für alle Alltagssorgen -egal, ob sie familäre, schulische, berufliche, strafrechtliche oder psychologische Ursachen hatten. Unter Inanspruchnahme dieser unterschiedlichen Unterstützungs-und Hilfsangebote konnte sich dann auch die Mehrzahl der Jugendlichen stabilisieren und aus der Selbstgefährdungsspirale gewalttätigen delinquenten Handelns heraustreten.

IV. Der fachliche Ertrag des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt

Nach fünf Jahren Projektarbeit im AgAG läßt sich folgendes bilanzieren: Neue Ansätze der Jugendarbeit sind im Rahmen des Programms nicht entwickelt worden. Es sind aber -nimmt man den Blickwinkel der etablierten westlichen Jugendarbeit ein -entscheidende Prozesse der Neugewichtung von Handlungsansätzen in der Jugendarbeit und insbesondere auch der Neuorganisation des Zusammenwirkens des Jugendhilfesystems vollzogen worden. So können wir von einem innovativen Konzept der Jugendarbeit sprechen, nicht aber von genuin neuen Ansätzen. 1. Innovative Handlungsansätze im AgAG Für die Projektarbeit im AgAG zeichnet sich eine Form flexibler Angebotsgestaltung ab, die die gewohnte Parzellierung der Jugendhilfeleistungen nach Aufgabenfeldern und Institutionen aufhebt. Ausgehend von einer Plattform aufsuchender und offener Jugendarbeit, werden in das Handlungsspektrum der AgAG-Projekte Arbeitsansätze integriert, die nicht klassischerweise zum Repertoire der offenen Jugendarbeit (z. B. Sportangebote oder Leistungen aus den Handlungsfeldern der Hilfen zur Erziehung/Jugendberufshilfe/Jugendberatung) gehören. So kann festgestellt werden, daß ein grundlegender Paradigmenwechsel stattgefunden hat: Ausgangspunkt der Angebotsgestaltung der AgAG-Einrichtungen sind die Jugendlichen und ihre Bedürfnisse. Unabhängig von einer rechtlichen oder institutioneilen Versäulung der Jugendhilfe oder anderer angrenzender Bereiche bieten die Projekte Cliquen-oder auch einzelfall-bezogen die Angebote und Hilfen an. die den jeweiligen Notwendigkeiten, Interessen und Problemen der Jugendlichen entsprechen. Damit hat eine Entwicklung von der Einrichtungszur Angebotsorientierung stattgefunden: Statt Jugendliche entsprechend den gewünschten und notwendigen Angeboten und Hilfen in einzelne Einrichtungen zu verweisen, haben die Projektmitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese Ansätze in ihre eigene Einrichtung hereingeholt. Diese besondere Kombination von Freizeitangeboten mit spezifischen individuellen Hilfen sind für Jugendliche attraktiver als einzelne isolierte Maßnahmen; sie sind darüber hinaus ein geeignetes Mittel, um schwierige, gewaltbereite Zielgruppen und Jugendliche mit multiplen Gefährdungspotentialen zu erreichen. 2. Innovative Formen der Leistungserbringung im AgAG Im Rahmen des AgAG wurde eine Form der Projektarbeit umgesetzt, die als gemeinwesen-und sozialraumorientiert bezeichnet werden kann. Gemeint ist damit eine professionelle Arbeitshaltung, die einen ständigen Wechsel zwischen den Ebenen sozialpädagogischer Arbeit und fachpolitischer Orientierung voraussetzt sowie eine komplementäre Organisation bzw. Zusammenarbeit von Angeboten und Diensten im lokalen Raum ermöglicht.Auch wenn dieser Ansatz nicht als „Neuschöpfung“ des AgAG gelten kann, so sind dennoch die Intensität, mit der er betrieben wurde, und die Tatsache, daß dieser Handlungsansatz nicht als Zusatz, sondern als integraler Bestandteil der Projektarbeit verstanden wurde, bemerkenswert. Angeleitet durch die Beraterinnen und Berater haben die Projektmitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Verständnis für ihre Arbeit entwickelt, das auch eine sozialpolitische Vertretung der Interessen der Kinder und Jugendlichen miteinschließt. Sie sind in zahlreichen Arbeitskreisen, Projekteplenen, auch Jugendhilfeausschüssen aktiv geworden, um für die Interessen von Kindern und Jugendlichen einzustehen und ihre spezifischen Lebensbedingungen, die Ausgrenzungs-und Benachteiligungsrisiken deutlich werden zu lassen. 3. Innovative Organisationsformen im AgAG Der hohe Grad an Vernetzung, den die AgAG-Projekte erreicht haben, ist ein Qualitätsmerkmal flexibler sozialer Arbeit, ohne das eine solchermaßen ausgerichtete Arbeit nicht gelingen kann. Wesentlich für die Beurteilung der Vernetzung als innovative Form der Organisation von Jugendhilfeleistungen ist aber weniger die Intensität der Zusammenarbeit als vielmehr die Zusammensetzung der Kooperationspartnerinnen und -partner. Im Rahmen der Projektarbeit des AgAG ist es nämlich oftmals gelungen -und dies ist in der Tat ein qualitativer Sprung -, handlungsfeld-und teilsystemübergreifende Formen der Zusammenarbeit zu institutionalisieren. So war es u. a. in zahlreichen Arbeitszusammenhängen möglich, ein gewinnbringendes Miteinander zwischen öffentlichen und freien Trägern, zwischen Jugendhilfe und Polizei/Justiz, zwischen Jugendprojekten und den Allgemeinen Sozialen Diensten, Bildungseinrichtungen oder auch privaten Unternehmen u. v. a. m. umzusetzen.

Das zentrale Kriterium ist also, daß ein Ausbau des vor-bzw. nichtpädagogischen Bereichs stattgefunden hat (Öffnen von Schulhöfen/Turnhallen; Zugang zu gewerblichen Anbietern, zur Polizei, zur Städteplanung und anderen Arbeitsfeldern). Jugendhilfe versteht sich somit nicht als dritte -parzellierte -Sozialisationsinstanz und begrenzt sich auch nicht auf die systemimmanenten Ressourcen. 4. Innovatives Professionalitätsverständnis im AgAG Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des AgAG haben 1992 zum größten Teil ohne pädagogische Ausbildung ihre Arbeit mit den Jugendlichen aufgenommen. Geleitet von dem Wunsch, Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen, haben sie sich in Settings sozialarbeiterischer Intervention begeben, für die es keine gesicherten Vorgaben gab. So deckte sich zunächst einmal das Fehlen erlernter fachlicher Handlungsstrategien mit dem faktischen Nichtvorhandensein sicherer methodischer Ansätze der. Jugendhilfe für diese spezielle Problemlage von Jugendlichen. Diese Ausgangssituation hat aber eben auch nicht dazu verleitet, vermeintliche Sicherheit in den Handlungsansätzen zugrunde zu legen und einen methodenzentrierten Zugang zu den Jugendlichen zu wählen. Ganz im Gegenteil hierzu war es statt dessen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möglich, sich „an den Jugendlichen“, ihren Bedürfnissen, Interessen und Problemen zu orientieren und die Angebote am Verständnis der Situation der Jugendlichen auszurichten. Diese ganzheitliche Herangehensweise an Jugendliche verlangt, sich nicht als sozialarbeiterischen Spezialisten zu verstehen, sondern als Generalisten mit einem sicheren Gespür für die Gratwanderung zwischen methodischer Offenheit und Flexibilität einerseits und Beliebigkeit andererseits. Eine solchermaßen ausgerichtete Arbeit verlangt aber eben auch ein Professionalitätsverständnis, das sich nicht an methodischer Sicherheit orientiert, sondern daran, „die Problemlagen von Jugendlichen richtig gedeutet zu haben und das pädagogisch Richtige zu tun“. Es setzt somit ein hohes Maß an reflexiver Fähigkeiten voraus und auch die grundlegende Bereitschaft, das eigene Tun im Rahmen kommunikativer Verfahren mit Kolleginnen und Kollegen sowie anderen Professionellen in Frage stellen zu lassen. Insofern setzen die AgAG-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter Anforderungen um, die im Rahmen der fachlichen Diskussionen um die Dienstleistungsorientierung oder neue Steuerung sozialer Arbeit oder aber auch der Jugendhilfeplanung an pädagogische Fachkräfte herangetragen werden.

V. Die Entstehungsbedingungen fachlicher Innovationen im Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt

Die fachliche Entwicklung der „flexiblen Jugendarbeit“ -also eines bereichsübergreifenden, bedarfsorientierten Handlungsansatzes -geht wesentlich auf die Entstehungsbedingungen des AgAG zurück. Während Lothar Böhnisch und Rolf-Peter Löhr die Tatsache, daß im Rahmen des AgAG sowohl grundlegende Jugendhilfestrukturen als auch zielgruppenspezifische Handlungsansätze aufgebaut werden mußten, als „Terror der Gleichzeitigkeit“ bewerteten -also zunächst nur die mühevolle Seite der Aufbauleistungen erschlossen -, lag, aus heutiger Sicht, gerade in dieser Zweigleisigkeit die enorme Chance des Programms.

Unter dem Druck der öffentlichen Debatte und ebenfalls unter enormem Legitimitäts-und Zeitdruck mußte -auch ohne ein infrastrukturelles Netz -anders als gewöhnlich gehandelt werden. Es blieben keine Freiräume, die es erlaubt hätten, langwierige und unergiebige Diskussionen darüber zu führen, ob Jugendhilfe in politischer oder gesellschaftlich-moralischer Hinsicht das Problem „Jugendgewalt“ überhaupt in Angriff nehmen kann und soll, oder danach zu fragen, welche strukturellen Voraussetzungen Jugendhilfe erst braucht, um sich dieses Problems annehmen zu können

Außerhalb der etablierten Strukturen ist eine komplexe Praxis entstanden, ohne daß es vorher notwendig war, zu klären, ob sie dem Bereich (und damit den entsprechenden Regelungen im Kinder-und Jugendhilfegesetz/KJHG) der Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit oder den erzieherischen Hilfen zuzurechnen sei oder ob sich die Intervention methodisch als Beratung, als Gruppenarbeit, als Bildungsangebot oder Kultur-und Erlebnispädagogik verstehen (und dann mit den jeweils bekannten methodischen Konzepten anleiten) läßt. Auf diese Weise bekam die Praxis einen Vorlauf, der sie von den „Zwängen“ der etablierten Jugendhilfe freisetzte.

Natürlich wird es dann besonders dringlich, daß solcher Pragmatismus kritisch und reflektorisch wieder , eingehol und analysiert wird. Nur in der gleichsam nachgehenden Reflexion und Rekonstruktion verliert er die ihm immer innewohnende Beliebigkeit und kann er sein kreativ-innovatorisches Potential entfalten, das in dem ihm eigentümlichen Experimentiercharakter liegt. Dem Vorlauf des Pragmatismus als Suchprozeß muß um so strikter ein Nachgang sorgfältiger Dokumentation und kritischer Reflexion entsprechen. Hierfür hat das AgAG-Programm eine Reihe von organisatorischen und qualifikatorischen Vorkehrungen und Strukturen entwickelt, denen in diesem Zusammenhang Modellcharakter zukommt. Zu nennen sind insbesondere die Beratung der Projekte durch sozialpädagogische Institute, die Fortbildung durch den Informations-, Fortbildungs-und Forschungsdienst Jugendgewaltprävention, die wissenschaftliche Begleitung und die Gesamtkoordination und Verlaufsdokumentation.

Das AgAG-Programm ist ein interessantes fach-politisches Beispiel, weil es sich nicht unter die gängigen Kategorien, mit denen das sozialpädagogische Feld üblicherweise geordnet wird, subsumieren läßt. Es liegt quer zu unseren überlieferten Denkkategorien, und genau das macht es so herausfordernd und zu einem Lernfeld für Innovation und neues Denken.

Diesen Aspekt sich bewußt zu halten ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch deshalb wichtig, weil mit dem Ende der Sonderförderung des AgAG und dem Versuch der kommunalen Verankerung auch die Gefahr besteht, daß wieder eine den bekannten Strukturen entsprechende Versäulung des Jugendhilfesystems und der Förderlogik erfolgt. Wenn es dazu käme, würde das innovative Potential des AgAG verschenkt. Tatsächlich ist es nicht nur geboten, sondern -wie die konkrete Projektarbeit gezeigt hat -auch möglich, bereichsübergreifend, problem-und lebensweltorientiert sowie lokal fokussiert an den Bedürfnissen der Jugendlichen angelehnt zu handeln und damit in der Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen erfolgreich zu sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jürgen Fuchs, Wie ein Programm entsteht, in: Irina Bohn/Jürgen Fuchs/Dieter Kreft (Hrsg.), Materialien-sammlung aus der öffentlichen Diskussion, Buchreihe zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, Band 3, Münster 1997, S. 15-25.

  2. Vgl. Irina Bohn/Richard Münchmeier, Dokumentation des Modellprojektes, Buchreihe zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, Band 1, Münster 1997, S. 40 ff.

  3. Vgl. ebd.

  4. Vgl. Irina Bohn, Endbericht zur 2. Laufzeit des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt, in: ISS-Aktuell, (1997) 37, S. 33.

  5. Beratergruppe am Landesjugendamt Brandenburg; Diakonisches Werk der EKD, Stuttgart; Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung, Hannover; Institut für Soziale Praxis des Rauhen Hauses, Hamburg; Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Frankfurt am Main; Sozialpädagogisches Institut, Berlin.

  6. Vgl. Irina Bohn, Das AgAG: Ein vorläufiges Fazit über Praxis und Erfolge eines Sonderprogramms, in: Jugendhilfe, (1996) 1, S. 29.

  7. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Frankfurt am Main, 199716.

  8. Vgl. Beate Scheffler, Trau keiner/m unter 30 -Brauchen wir eine neue Revolte?, in: Die Grünen (Hrsg.), Halbzeit. Zweieinhalb Jahre Grüne im Landtag NRW, Düsseldorf 1992, S. 47-49; Claus Leggewie, Plädoyer eines Antiautoritären für Autorität, in: Die Zeit, Nr. 10 vom 5. 3. 1993, S. 93.

  9. Vgl. „Man muß was Wildes machen“, Der Spiegel, Nr. 17 vom 26. 4. 1993, S. 75-83.

  10. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Wilfried Schubarth in diesem Heft.

  11. Lothar Böhnisch/Rolf-Peter Löhr, Umdenken statt Projektion -Zu den Rahmenbedingungen der Projektarbeit im Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG), in: Irina Bohn/Dieter Kreft/Georg Weigel, Zwei Jahre AgAG: Erfahrungen aus der praktischen Arbeit mit gewalt-bereiten Jugendlichen, Zweiter Zwischenbericht des ISS, in: Berichte und Materialien des AgAG, (1994) 4, S. 13 ff.

  12. Vgl. Benno Hafeneger, Wider die (Sozial-) Pädagogisierung von Gewalt und Rechtsextremismus, in: Deutsche Jugend, (1993) 3, S. 120-126; Albrecht Scherr, Pädagogik hat ihre Grenzen. Für eine politische Debatte mit rechten Jugendlichen, in: Pädagogik Extra, (Nov. 1992), S. 6-8.

Weitere Inhalte

Irina Bohn, M. A., geb. 1964; Studium der Ethnologie, Spanischen Philologie und Politikwissenschaften in Köln; wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Richard Münchmeier) Dokumentation des Modellprojektes, Buchreihe zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, Band 1, Münster 1997; (zus. mit Dieter Kreft) Dokumentation der internationalen Tagung „Jugend und Gewalt“, Buchreihe zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, Band 4, Münster 1997; (zus. mit Dieter Kreft und Gerhard Segel) Kommunale Gewaltprävention. Eine Handreichung für die Praxis, Buchreihe zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt, Band 5, Münster 1997.