Jugendprobleme in den Medien. Zur öffentlichen Thematisierung von Jugend am Beispiel des Diskurses zur Jugendgewalt
Wilfried Schubarth
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Zusammenfassung
In den neunziger Jahren fand das Thema „Jugend und Gewalt“ verstärkt Eingang in die öffentliche wie fachöffentliche Diskussion. Vor allem aufgrund seiner Attraktivität für die Medien und seiner Multifunktionalität wurde es zu einem zentralen Diskursgegenstand der letzten Jahre. Innerhalb des Diskurszyklus, der bis etwa Mitte der neunziger Jahre reichte, können verschiedene Etappen unterschieden werden: erste Thematisierung, Problemdeutungen, öffentliche Anerkennung des Problems, staatliche Anerkennung des Problems (z. B. Sonderprogramme), Versuche der Problembekämpfung. Am Diskurszyklus sind z. B. Vertreterinnen und Vertreter der Medien, der Wissenschaft, der Politik und der Praxis in unterschiedlicher Weise beteiligt, indem sie entsprechend ihrer Eigenlogik und Interessenlage handeln. Zwischen Gewaltdebatte einerseits und der realen Gewaltentwicklung bzw. Fortschritten bei der Gewaltprävention andererseits besteht kein gesicherter Zusammenhang -das Ende der Gewaltdebatte bedeutet nicht automatisch einen Rückgang der Gewalt. Eine vorläufige Bilanz des letzten Diskurszyklus zur „Jugendgewalt“ fällt zwiespältig aus: Auch wenn bestimmte Fortschritte bei der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung (z. B. Gewaltforschung) und in der pädagogischen Praxis (z. B. Gewaltprävention) nicht zu übersehen sind, greifen die bisherigen Maßnahmen meist zu kurz. So liegt der Verdacht nahe, daß durch symbolische Handlungsmuster vor allem im politischen Raum die Diskussion um Jugend und Gewalt eher zu einer „Schein-Debatte“ wird, mit der auch andere Ziele verfolgt werden. Die sich seit kurzem wieder verstärkende Diskussion um „Jugendgewalt“ könnte -gerade angesichts der schleichenden Verschlechterung der Lebenslage von Kindern und Jugendlichen -diesen Verdacht erhärten.
I. Einleitung
In dem amerikanischen Film „Wag The Dog“ wird ein Hollywood-Produzent beauftragt, einen Scheinkrieg zu inszenieren, um die Öffentlichkeit von einem Sexskandal des Präsidenten abzulenken. Ist die öffentliche Debatte um „Jugend und Gewalt“ in den neunziger Jahren -so könnte man analog fragen -vielleicht auch nur eine Inszenierung der Medien, eine Scheindebatte, um von anderen Problemen abzulenken? Welches Interesse haben Vertreter und Vertreterinnen verschiedener Bereiche -etwa der Medien, der Politik, der Wissenschaft oder der Praxis -an diesem Diskurs? Und was läßt sich als (vorläufiges) Ergebnis dieses Diskurses in wissenschaftlicher wie praktisch-pädagogischer Hinsicht festhalten?
Das sind die zentralen Fragen, denen im vorliegenden Beitrag nachgegangen werden soll. Dabei wird es darum gehen, den zu Beginn der neunziger Jahre einsetzenden Diskurszyklus „Jugend und Gewalt“ unter verschiedenen Blickwinkeln -Medien, Politik, Wissenschaft, Praxis -themenbezogen zu rekonstruieren, Wechselwirkungen aufzuzeigen und nach relevanten Ergebnissen, insbesondere für die Jugend-und Schulforschung sowie für die pädagogische Praxis, zu fragen.
II. „Jugend und Gewalt 66 als Konjunkturthema: Der Diskurszyklus in den neunziger Jahren
Aus der Geschichte der Jugendforschung und Jugendsoziologie ist bekannt, daß die Debatten über „Jugendgewalt“ bestimmten Konjunkturzyklen folgen. So gab es -in der alten Bundesrepublik -Mitte der fünfziger Jahre eine sogenannte
Halbstarkendebatte, Ende der sechziger Jahre eine Debatte über die „Studentenbewegung“ und in den achtziger Jahren eine über die „Jugendprotestbewegung“ Letztere führte dazu, daß eine „Gewaltkommission“ durch die Bundesregierung eingesetzt wurde. Diese hat nach mehrjähriger intensiver Arbeit einen umfangreichen Bericht (einschließlich 158 Vorschlägen zur Gewaltprävention) vorgelegt, der allerdings in der Öffentlichkeit nur wenig Beachtung gefunden hat. Wie ist es zu erklären -so könnte man aus heutiger Sicht fragen -, daß kurz nach dem Erscheinen dieses Berichts im Jahre 1990 das Gewaltthema (wieder) neu entdeckt wurde und eine derart aufgeregte und zum Teil hilflose Debatte entfacht wurde, als hätte es den Bericht der „Gewaltkommission“ nie gegeben? Wieso konnte das Gewaltthema erneut „Karriere“ machen und zu einem dominierenden Diskursgegenstand der neunziger Jahre werden?
Entsprechend den Erkenntnissen der Kommunikationsforschung und den Analysen zur „Karriere sozialer Probleme“ wird ein bestimmter Sachverhalt (hier: „gewaltauffälliges“ Verhalten Jugendlicher) nicht von sich aus zu einem „sozialen Problem“, sondern nur dann, wenn er von der Gesellschaft, das heißt in erster Linie von der Medienöffentlichkeit als solches betrachtet wird Folgt man der Agenda-setting-Hypothese -diese Hypothese geht in ihrer ursprünglichen Fassung von einer direkten Einflußnahme der Medien auf die Themenselektion für die Öffentlichkeit aus; allerdings wurde sie in den letzten Jahren stark differenziert werden die Themen der öffentlichen Diskussion von den Massenmedien bestimmt, wobei allerdings die Medien von den jeweiligen Interessengruppen für die Thematisierung „ihrer“ Probleme genutzt werden. Auch über die gesellschaftliche Anerkennung einer Problem-deutung wird letztlich in den Massenmedien entschieden. Dabei kann es durchaus „Vorläufer“ des gleichen Problems geben. Wurde bei der letzten Thematisierung das Problem nicht gelöst, ist die „Karriere-Chance“ größer, wenn es als neues Thema (wieder-) geboren wird. Da „Gewalt“ nie beseitigt werden kann, eignet es sich schon deshalb gut für konjunkturelle Thematisierungen. Abweichendes, gewaltförmiges Verhalten Jugendlicher wurde auch schon früher problematisiert, wenngleich nicht immer unter dem Begriff „Gewalt“, sondern zum Beispiel unter den Begriffen „Aggression“ oder „Devianz“ bzw. „Delinquenz“. 1. Was heißt das für die jüngste „Karriere“
des Themas „Jugendgewalt“?
Am Anfang der „Karriere“ stand die Thematisierung (vgl. Abbildung). Die jüngste Debatte um Jugendgewalt setzte Anfang der neunziger Jahre im Zusammenhang mit den fremdenfeindlichen Übergriffen Jugendlicher ein Gleichzeitig häuften sich Berichte über „zunehmende Jugendgewalt“ (Phase: Problemformulierung), und zwar in verschiedenen Facetten, zum Beispiel fremdenfeindliehe Gewalt, „linke“ und „rechte“ Gewalt, Jugendbanden, Gewalt an Schulen. „Jugend und Gewalt“ wurde schnell zu einem „Medienereignis“ ersten Ranges Die Art und Weise der Berichterstattung suggerierte, daß es sich hierbei um ein völlig neuartiges Phänomen, um ein bisher nicht gekanntes Ausmaß von Gewalt und Brutalität, verbunden mit schwindendem Norm-und Unrechtsbewußtsein, „Werteverfall“ u. ä„ handele. Dieses allgemeine Problemdeutungsmuster prägte zunehmend die öffentliche Meinung. Auch Lehrer, Sozialpädagogen und Eltern berichteten vermehrt über Probleme beim Umgang mit aggressiven Kindern und Jugendlichen. Bald gab es kaum noch eine Zeitung, Zeitschrift oder einen Sender, in der bzw. in dem nicht regelmäßig über „zunehmende Jugendgewalt“ berichtet wurde. Das Problemmuster „zunehmende Jugend-gewalt“ (II) hatte sich etabliert und erhielt den Status der öffentlichen Anerkennung (III) (vgl. Abbildung).
Das Strickmuster der medialen Berichterstattung ist dabei so einförmig wie trivial: Man nehme zuerst eine reißerische Schlagzeile -etwa „Die rasten einfach aus“ (Der Spiegel 42/1992), „Das hier ist brutaler Krieg“ (Stern 8/1993), „Die Gewalt explodiert“ (BamS vom 17. 10. 1993) -, schildere dann ein, zwei Einzelbeispiele, möglichst in kriegerischer Sprache und mit viel Liebe zum Detail, mit O-Ton und mit Bild unterlegt und behaupte schließlich, dieses sei inzwischen Alltag. Zur Erhöhung der Überzeugungskraft bediene man sich eines „Steigerungsdiskurses“ (zum Beispiel durch Worte wie „zunehmend“, „immer mehr“, „nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land“, „dramatische“ oder „explosionsartige Entwicklung“); ein, zwei Zitate von Experten erhöhen noch die Aussagekraft. Bei der Darstellung von Gewalt konzentriere man sich am besten ausschließlich auf die physische Gewalt (diese ist in der Regel unstrittig) sowie auf eine Zweiteilung in Tater und Opfer. Hinsichtlich der Ursachen von Gewalt favorisiere man möglichst einfache Erklärungen und klare personale Schuldzuweisungen, wobei altes auf Emotionalisierung und Dramatisierung ausgerichtet sein sollte
Will man die Interessen der verschiedenen Gruppen bloßlegen, die hinter der öffentlichen Thematisierung von „Jugend und Gewalt“ stehen, so ist dies kein leichtes Unterfangen: Daß es den Massenmedien (mit großen Unterschieden innerhalb der Medien) nicht nur um ihre Informationspflicht ging, sondern vor allem auch um Auflagenhöhen und Einschaltquoten, läßt sich nicht immer leicht erkennen. Die Medien haben ihre eigene Logik und ihre eigenen (vor allem auch ökonomischen) Interessen, nämlich die Aufmerksamkeit der Rezipienten um (fast) jeden Preis zu erlangen. Über das, was aus ihrer Sicht, aus ihrer Erwartungshaltung heraus hohen Nachrichtenwert hat und gute Einschaltquoten bzw. Auflagen verspricht, wird regelmäßig und ausführlich berichtet. Das Thema „Jugend und Gewalt“ ist dafür -aufgrund solcher „Publizitätsfaktoren“ wie zum Beispiel Normverletzung, Schaden, Identifizierbarkeit von Schuldigen, Personalisierbarkeit und Visualisierbarkeit des Problems -besonders gut geeignet. Sind die Problemmuster durch die mediale Verbreitung bei den Menschen , angekommen, werden sie schließlich zur eigenständigen sozialen Realität, das heißt die Menschen nehmen das Problem in ihrem Alltag auch so wahr und reagieren entsprechend den verbreiteten Problem-und Handlungsmustern
Bei Wissenschaftlern und Pädagogen ist die Interessenlage in der Regel noch differenzierter: Einerseits verspricht eine verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit für bestimmte Themen auch mehr finanzielle Zuwendungen (zum Beispiel für pädagogische Anti-Gewalt-Projekte oder für Forschungsvorhaben), andererseits ist Wissenschaft an Aufklärung und einer Versachlichung der Debatte interessiert, und auch die Pädagogen -Sozialpädagogen wie Lehrer -empfinden überzogene Berichte eines Teils der Medien für ihre Arbeit eher als störend oder gar als rufschädigend
Kehren wir zum Diskurszyklus zurück: Nach der ersten Thematisierung (I) durch die Medien setzte die Phase II: Deutungs-bzw. Problemmuster ein (vgl. Abbildung). Ein Problemmuster soll soziales Handeln erklären, um Eindeutigkeit und Verhaltenssicherheit herzustellen. Es soll sowohl die Verursacher des Problems als auch die Ansätze und Adressaten für Lösungen benennen. Dazu bedarf es zunächst eines Begriffes, der das Problem eingängig benennt. Aufgrund eines allgemein anerkannten Wertesystems, wonach Gewalt -zumindest offene, körperliche Gewalt -inakzeptabel sei, weist der Problemname „Jugendgewalt“ eindeutig auf etwas moralisch, politisch und rechtlich Verwerfliches hin, das zu bekämpfen ist. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß der Gewaltbegriff in den letzten Jahren zunehmend ausgeweitet und zu einer „catch-all“ -Kategorie wurde Doch gerade deshalb eignet er sich gut als Kampfbegriff, denn wenn etwas als Gewalt identifiziert wird, gerät der „Gewaltausübende“ schnell unter Rechtfertigungszwang oder Anklage.
Die Suche nach entsprechenden Lösungsvorschlägen hängt von den identifizierten Ursachen des Problems ab. Dabei geht es vorrangig um die Zuständigkeit für die Bekämpfung: So variierte in der jüngsten Gewaltdebatte die Zuständigkeit für die Gewaltbekämpfung zwischen Familie, Schule, Medien oder der gesamten Gesellschaft. Je nach Perspektive wird die Zuständigkeit für die Bekämpfung den jeweils „anderen“ Akteuren bzw. gesellschaftlichen Gruppen zugeschrieben.
Ein wichtiges Feld zur Durchsetzung und Absicherung von Problemdeutungen sind Diskursstrategien, wie bspw. Dramatisieren, Moralisieren und die Reproduktion von Mythen. Zum Dramatisieren können so unterschiedliche Formen wie die Auswahl von Einzelfallbeispielen, die „Magie der großen Zahl“ und die einfache Schuldzuweisung (Dichotomisierung) gehören. Erfolgreich sind Problemdeutungen insbesondere dann, wenn Schuldige benannt werden. Dichotomisierungen von Schuld und Personalisierung verlagern die Verantwortung auf andere und führen zu psychischen Identifikations-und Projektionsprozessen. So wurde in der jüngsten Gewaltdebatte unter anderem darauf verwiesen, daß die öffentliche Empörung über Jugendgewalt nur eine Art „kollektiver Verdrängung“ darstellt, welche eine Funktion der Ablenkung von Gewaltförmigkeit in der Gesellschaft insgesamt und eine Legitimationsfunktion in bezug auf staatliche Repression hat
Durch Dramatisieren und Moralisieren werden Emotionen erzeugt und zugleich die Problem-wahrnehmungen normiert; durch die Reproduktion von Mythen werden diese abgesichert. Meist konkurrieren jedoch hegemoniale und alternative Deutungen bzw. Gegendiskurse miteinander. Gegendiskurse (III) stellen nicht nur die herrschende Deutung in Frage, sondern den Problem-charakter des Sachverhalts selbst. Das Problem sei dann -an unserem Beispiel -nicht die Gewalt der Jugendlichen, sondern die Stigmatisierung und Etikettierung der betreffenden Jugendlichen durch die Öffentlichkeit Neben der Gefahr der Stigmatisierung wurde bei der jüngsten Gewaltdebatte vor allem auf die Gefahr der Pädagogisierung sozialer Probleme verwiesen Hier haben wir es dann mit einem Problem zweiten Grades zu tun, das mit den gleichen „Karriereformen“ und Strategien verlaufen kann, wie die Wahrnehmungen, die in den Gegendiskursen problematisiert werden. Diese Problemdeutung hat es allerdings schwer, gegen den herrschenden Diskurs anzukommen, da über die Durchsetzung einer Problemwahrnehmung letztlich wieder in der massenmedial beherrschten Öffentlichkeit entschieden wird. 2. Wie reagierte die Politik auf diese mediale Thematisierung?
Schon bald gerieten die Politiker unter Handlungszwang. Hohe staatliche Gremien beschäftigten sich mit dem Thema. Um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, wurden Studien in Auftrag gegeben (so im Rahmen des Neunten Jugendberichts, Studien im Auftrag der Kultusministerien und Schulverwaltungen), Sonderprogramme wurden aufgelegt (etwa das Aktionsprogramm der Bundesregierung gegen Aggression und Gewalt oder „Runde Tische gegen Gewalt“ initiiert. Damit wurde signalisiert, daß der Staat das Problem erkannt bzw. anerkannt hat (Phase IV: staatliche Anerkennung) und etwas dagegen unternehmen will (Phase V: Problembekämpfung)
Die regelmäßige Berichterstattung signalisiert dem politisch-administrativen System zunächst, daß hier Handlungsbedarf besteht und daß daraus politisches Kapital geschlagen werden kann. Grundsätzlich sind drei Reaktionen möglich: Zurückweisung der Problemwahrnehmung, Anerkennung der Problemwahrnehmung bei Ablehnung der Zuständigkeit sowie Anerkennung der Problemwahrnehmung wie der Zuständigkeit. Die Entscheidung darüber, welche Form der Problem-bekämpfung, welche staatlichen Ressourcen (zum Beispiel Geld, Information oder Recht) eingesetzt werden, ist vor allem vom politischen Kalkül abhängig.
Bei der Antwort auf die Frage, welche Gründe Politiker haben, sich eines Problems anzunehmen, ein anderes jedoch zurückzuweisen oder zu ignorieren, ist ein nutzentheoretisches Wahlmodell plausibel, wonach es das dominierende Interesse aller Politiker sei, (wieder-) gewählt zu werden Dieses Ziel der Stimmenmaximierung führt dazu, bei der Entscheidung über Zuständigkeit und Mittelbereitstellung bezüglich der Lösung eines Problems (zum Beispiel das Gewalthandeln Jugendlicher) abzuwägen, ob und inwiefern sich das bei den nächsten Wahlen auszahlen könnte. Es ist offensichtlich, daß Jugendliche als potentielle Adressaten von Politik angesichts ihres niedrigen und weiter abnehmenden Anteils an der (Wahl-) Bevölkerung sowie ihrer niedrigen Wahlbeteiligung sehr schlechte Karten haben. Was den Stellenwert von Jugend betrifft, so prognostiziert Walter Hornstein angesichts immer rascherer Qualifikationsentwertung auch einen Bedeutungsverlust von Jugend, wobei die bisherige Definition von Jugend überhaupt in Frage gestellt wurde Wenn entschieden wird, nicht mehr finanzielle Mittel als bisher zum Beispiel für die Jugendarbeit oder die Schulen bereitzustellen, bleibt noch die Reaktionsmöglichkeit „Information“. Dabei wird durch symbolische Akte signalisiert, daß die Politik das Problem zur Kenntnis genommen hat Man verkündet, daß das Problem den anerkannten Werten der Gesellschaft widerspricht und sofort gehandelt werden muß. Zugleich wird an die Verantwortung jedes einzelnen appelliert, gegebenenfalls mit der Rechtsnorm gedroht. Beliebt sind auch Versprechen, da sie -außer Glaubwürdigkeitsverlusten -nichts kosten. Auf ein Versprechen folgt meist die Einsetzung von Expertenkommissionen oder die Finanzierung von Forschungsvorhaben. Die Erzeugung von Wissen ist relativ billig, zeigt jedoch der Öffentlichkeit, daß das Problem ernst genommen und gründlich bearbeitet wird.
Dies kann bis zur Einrichtung von speziellen Institutionen zur Bekämpfung des Problems als einem möglichen Endpunkt der . Problemkarriere führen.
Um der Öffentlichkeit staatliches Engagement zu demonstrieren, zugleich aber keine weiteren Ressourcen angreifen zu müssen (Jugend-und Bildungspolitik haben in der Regel keine sehr hohe Priorität), ist die Debatte um das Strafrecht ein ideales Mittel. Dabei geht es primär um symbolische Wirkungen, das heißt, es soll der Anschein von Entschlossenheit und Aktivität erzeugt werden bei gleichzeitigem Verzicht auf eine effektive Problembekämpfung. Aus diesem Grunde diskutiert man in bezug auf „Jugendgewalt“ auch lieber über eine Verschärfung der Gesetze, über die Herabsetzung der Strafmündigkeit und „geschlossene Heimunterbringung“ als über die Unterstützung der Jugendarbeit und die Verbesserung der Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen. Das hat die Diskussion der letzten Wochen und Monate eindrucksvoll vor Augen geführt 3. Welche Rolle kam innerhalb des Diskurszyklus der Wissenschaft zu?
Parallel zur wachsenden medialen Aufmerksamkeit wandte sich auch die Wissenschaft verstärkt dem Thema „Jugend und Gewalt“ zu und machte es zu einem zentralen Forschungsgegenstand. Davon zeugen ein Forschungsboom von über 80 empirischen Studien, Hunderte von Tagungen und Tausende von Publikationen. Allein die Dokumentation „Jugend und Gewalt“ des Informationszentrums Sozialwissenschaften enthält über 735 Forschungsprojekte, Monographien, Sammelwerke und Aufsätze im Zeitraum von 1989 bis 1994 Zugleich hat sich ein schier unüberschaubarer Markt von Ratgeber-und populärwissenschaftlicher Literatur, zum Beispiel auch zum Umgang mit Aggression und Gewalt, entwickelt.
Die vielen Studien seit Anfang der neunziger Jahre haben zweifellos einen Erkenntniszuwachs zum Thema „Jugend und Gewalt“ gebracht. Die Forschungen werden immer differenzierter, verschiedene Gewaltformen werden mit quantitativen, zunehmend auch mit qualitativen Untersuchungsmethoden erforscht und mögliche Ursachen und Bedingungsfaktoren nachgewiesen Insgesamt konzentrieren sich die meisten Untersuchungen auf die Analyse von Erscheinungsformen und Ursachen von Gewalt, während Aspekte der Entwicklung von Präventionsmodellen, deren Umsetzung, Verbreitung und Evaluierung von eher untergeordneter Bedeutung sind. Dennoch gibt es auch hinsichtlich der Entwicklung von gewaltpräventiven Konzepten und Handlungsansätzen für die Praxis (z. B. für Schule und Jugendarbeit) gewisse Forschritte Schon aufgrund ihrer zahlreichen Forschungsaktivitäten ist auch die Wissenschaft, insbesondere in Form der Gewaltforschung, in den Diskurszyklus „Jugend und Gewalt“ involviert. Dabei hat sie durch ihre empirischen Befunde nicht nur viel zur Versachlichung der Gewaltdebatte beigetragen, sondern auch der pädagogischen Diskussion neue Impulse verliehen Gleichzeitig sieht sie sich aber auch mit einer Reihe forschungsmethodischer Probleme konfrontiert, die die Erforschung von „Gewalt“ kompliziert gestalten So ist zum Beispiel durch die -infolge der öffentlichen Thematisierung von Gewaltphänomenen -eingetretene allgemeine Sensibilisierung gegenüber „Gewalt“ kaum feststellbar, ob es sich tatsächlich um qualitativ neue Phänomene handelt oder ob auf Gewalt nur empfindlicher reagiert wird. Andreas Böttger spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Medien-Forschungs-Kreislauf", bei dem die Aufmerksamkeit der Jugendlichen durch einseitige Medienberichte vorstrukturiert wird, so daß diese bei Jugendbefragungen ein höheres Maß an beobachteter Gewalt angeben
Zurück zum Diskurszyklus: Irgendwann ist ein Problem lang genug strapaziert worden, kaum einer kann mehr etwas darüber hören, das Interesse erlahmt. So erging es -etwa Mitte der neunziger Jahre -der Gewaltdebatte (zumindest zeitweise). Die „Medienkarawane“ zog weiter und suchte sich neue Themen. Die , Karriere des Problems „Jugendgewalt“ war vorerst beendet (Phase VI -vgl. die Abbildung). Zurückgeblieben waren Ernüchterung und Enttäuschung ob der mangelnden oder unangemessenen Problemlösungsversuche.
Ob die Gewalt infolge der Gewaltdebatte weniger geworden ist oder ob seitdem mehr gegen Gewalt getan wird -darüber gibt die Gewaltdebatte ebenso wie der gesamte Diskurszyklus praktisch kaum Auskunft. Das Abklingen der Diskussion kann nicht mit einem Abflauen der Gewalt gleichgesetzt werden. 4. Was hat die jüngste Gewaltdebatte für die Praxis, vor allem für den Bereich der Gewaltprävention, gebracht?
Der Beitrag der Massenmedien ist in dieser Hinsicht wiederum recht zwiespältig zu sehen: Sie berichten -bei aller Differenzierung -lieber über Dinge, an denen die Öffentlichkeit (scheinbar) interessiert ist, als über Dinge, die im öffentlichen Interesse liegen (zum Beispiel Gewaltverminderung). Jedoch finden sich bei einem Teil der Medien in jüngster Zeit — neben Berichten über neue Forschungsergebnisse -auch verstärkt Darstellungen gelungener Ansätze und innovativer Modelle in der gewaltpräventiven Jugendarbeit, nicht nur in Deutschland. Diese konstruktive Tendenz gilt es zu fördern.
Auch der Wissenschaft kommt im Rahmen des Diskurses über Möglichkeiten der Gewaltprävention eine beachtliche Rolle zu. Dabei sind es weniger die direkten Wirkungen (zum Beispiel Politik-beratung), auf die die Forscher verweisen können, sondern eher die längerfristigen, indirekten Wirkungen, etwa wenn wissenschaftliches Interpretationswissen in die öffentlichen Diskurse einfließt und zu einer „Verwissenschaftlichung“ des beruflichen wie persönlichen Alltags beiträgt
Dennoch muß gerade mit Blick auf die Erfordernisse der gewaltpräventiven Arbeit in der Praxis konstatiert werden, daß nach wie vor ein großer Handlungsbedarf besteht. Vieles, was die Gewalt-ursachen und mögliche Handlungsansätze betrifft, war schon seit längerem bekannt. Dies wird zum Beispiel auch bei einem Rückblick auf die 158 Vorschläge der Gewaltkommission Ende der achtziger Jahre deutlich. Die Kluft zwischen Analyseergebnissen und Empfehlungen einerseits sowie Veränderungen in der Praxis der gewaltpräventiven Jugendarbeit andererseits ist nicht zu übersehen. Zudem ist ein Teil der initiierten Projekte durch Finanzknappheit zunehmend bedroht. Hier ist vor allem die Politik gefordert.
III. Vom Konjunktur-zum Dauer-thema? Fazit und Ausblick
Die bisherigen Ausführungen resümierend, lassen sich zumindest folgende drei Punkte festhalten: 1. Die „Karriere“ des Themas „Jugend und Gewalt“ in der ersten Hälfte der neunziger Jahre hatte weniger wissenschaftliche Gründe und ist auch weniger auf das Wirken sozialer Gruppen zurückzuführen, sondern in erster Linie auf die Thematisierung durch die Medien, wobei sich das Gewaltthema als ein ideales konjunkturelles Medienthema eignet. Durch den medialen Druck wurde das gewaltauffällige Verhalten Jugendlicher zu einem „sozialen Problem“, worauf Politiker und Wissenschaftler reagieren „mußten“. 2. Die massenmedial dominierte Gewaltdebatte hat sowohl zu einem Boom in der Gewaltforschung als auch zu einer Popularisierung von Wissen über Gewalt (z. B. über Ursachen und Gegenmaßnahmen) sowie zu vielfältigen Aktivitäten in der schulischen wie außerschulischen Gewaltprävention geführt. Zwischen der Gewaltdebatte einerseits und der realen Gewaltentwicklung bzw. Fortschritten bei der Gewaltprävention andererseits besteht allerdings kein gesicherter Zusammenhang. Ein (vorläufiges) Ende der Gewaltdebatte bedeutet nicht automatisch weniger Gewalt, sondern nur, daß sich die Debatte (vorübergehend) erschöpft hat. 3. Politik reagiert auf die Thematisierung von Problemen -hier dem der „Jugendgewalt“ -mit stets gleichen bzw. ähnlichen Handlungsmustern und Ritualen Da viele der von ihr ergriffenen Maßnahmen eher von symbolischer Bedeutung sind und nicht an den tiefer liegenden Wurzeln der Gewalt ansetzen (zum Beispiel wird eine grundlegende Verbesserung der Lebensverhältnisse Jugendlicher, insbesondere der benachteiligten unter ihnen, nicht in Angriff genommen), kann die Debatte um „Jugend und Gewalt“ -ähnlich wie in dem eingangs angeführten Hollywood-Film -durchaus als „Schein(heilige) -Debatte“ bezeichnet werden.
In letzter Zeit haben sich die Berichte der Medien über „Jugendgewalt“ -genauer: „Jugendkriminalität“ (als mögliches neues Etikett) -wieder verstärkt. Dies geht einher mit reißerischen Titeln und Schlagzeilen, wie sie bisher meist nur aus Boulevard-Blättern bekannt waren, selbst in eher seriösen Zeitungen
Ob mit diesen jüngsten Berichten ein neuer Diskurszyklus zu „Jugendgewalt“ eingeleitet oder dieses Thema gar zu einem Dauerthema avancieren wird, läßt sich vorerst noch nicht sagen. Die (selbst-) kritische Reflexion der mit der Thematisierung von „Jugend und Gewalt“ verbundenen Interessen und der Blick auf bisherige vergleichbare Diskurszyklen bleiben auf jeden Fall angeraten Das könnte auch dazu beitragen, zu einem sachlich-konstruktiven Umgang mit „Jugendgewalt“ -fernab von Dramatisierung oder Bagatellisierung -zu finden. Vielleicht wird dann auch die Alltagserfahrung vieler Jugendlicher widerlegt, nur dann von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, wenn sie Probleme machen und nicht, wenn sie Probleme haben.
Wilfried Schubarth, Dr. phil., geb. 1955; wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät Erziehungswissenschaften der TU Dresden, Forschungsschwerpunkte: Jugend-, Schul-und Sozialisationsforschung. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Fritz Ulrich Kolbe und Helmut Willems) Gewalt an Schulen. Ausmaß, Bedingungen und Prävention, Opladen 1996; (zus. mit Christoph Ackermann) 45 Fragen und Projekte zur Gewaltprävention, Dresden 1997; Analyse und Prävention von Gewalt. Der Beitrag interdisziplinärer Forschung zur Gewaltprävention in Schule und Jugendhilfe, Habilitationsschrift an der TU Dresden, Dresden 1998.
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