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Neues Parteiengefüge und politische Reformen in Italien | APuZ 28/1998 | bpb.de

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APuZ 28/1998 Neues Parteiengefüge und politische Reformen in Italien Italiens Finanz-und Wirtschaftspolitik im Hinblick auf die Europäische Währungsunion Italiens Außenpolitik vor und nach Maastricht Europa als Herausforderung und Reformzwang

Neues Parteiengefüge und politische Reformen in Italien

Ulrich Beuttler/Georg Gehlhoff

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach dem Ende des Kalten Krieges und auf Grund innenpolitischer Krisen („Tangentopoli“ -„Bestechungsstadt“) hat das italienische Parteiensystem einen tiefen Wandel erfahren. Es bewegt sich heute vorsichtig auf einen Bipolarismus zu. Einige Tendenzen wie die traditionelle Verschleierung von Gegensätzen zwischen Regierung und Opposition (trasfomismo) und die Zersplitterung der Parteienlandschaft erschweren jedoch die Entstehung eines ausgeprägten Bipolarismus. Die Linksdemokraten haben sich von ihrem marxistischen Erbe befreit, während die ehemaligen Neofaschisten sich noch nicht vollständig von ihrer belastenden Vergangenheit gelöst haben. Die katholischen Kräfte sind zersplittert, und die neue Bewegung Forza Italia scheint die Rolle der ehemaligen Democrazia Cristiana einzunehmen. Sprengsätze im Parteiensystem sind sowohl die sezessionistisehe Lega Nord als auch der sehr populäre ehemalige Staatsanwalt Di Pietro. Auch die Institutionen des italienischen Staates sind in starkem Wandel begriffen. Dieser sollte nach den Planungen der aus beiden Kammern zusammengesetzten Verfassungskommission (Bicamerale) noch 1998 zum Abschluß eines neuen Verfassungstextes und damit zum Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik führen. Derzeit spricht jedoch alles dafür, daß die Bicamerale kurz vor dem Ziel gescheitert ist. Die politischen Probleme Italiens sind komplexer Natur: Seit die relativ stabile Regierung Prodi die Sanierung der Staatsfinanzen in die Wege geleitet und Italien in die Europäische Währungsunion geführt hat, verstärkt sich der Kontrast zwischen Exekutive und Legislative, zwischen erfolgreicher Realpolitik und blockierten Reformen. Die Regierung Prodi ist nun ohne den „Druckausgleich“ der Bicamerale und nach den Regeln des alten Systems der Gefahr ausgesetzt, früher oder später den Angriffen aus den eigenen Reihen und/oder aus denen der Opposition zum Opfer zu fallen. Trotz dieser nicht gerade optimistisch stimmenden Aussichten hat sich seit 1992 in Italien einiges bewegt, was nicht mehr umkehrbar sein dürfte und den italienischen Staat weiter stabilisieren wird. Dazu gehören Föderalisierung und Verwaltungsreformen durch innenpolitischen Druck einerseits, Privatisierung und Schuldenabbau als Erfordernisse der Europäischen Währungsunion andererseits.

I. Italienische Parteien in Bewegung

ITALIEN VERWALTUNGSEINLEITUNG, BEVÖLKERUNGSDICHTE 1989 Statsistisches Bundesamt 62 0240 B

Wer sich in den achtziger Jahren mit italienischer Politik beschäftigte, mußte den Eindruck gewinnen, das politische System werde sich endlos weiter im Kreise drehen. Eine grundlegende Modernisierung der Verhältnisse schien unmöglich Innerhalb weniger Jahre veränderte sich dann seit 1991 die Parteienlandschaft radikal, und es zeigen sich insbesondere seit 1997 ebenso Ansätze für eine tiefgreifende Änderung der staatlichen Ordnung. Nach westeuropäischen Maßstäben nehmen die Parteien einen ungewöhnlich großen Raum in der italienischen Politik ein. Daher ist der erste Teil dieses Beitrages einer Darstellung des Parteiensystems gewidmet.

Ist Italien auf dem Wege zu einem Bipolarismus englischen Zuschnitts? Keineswegs. Der auffälligste Unterschied zum britischen Parlament ist die weiterhin sehr starke politische Zersplitterung, die eher noch zugenommen hat. 1976 vereinigten die beiden größten Parteien noch über 70 Prozent der Wählerstimmen auf sich, heute erreichen die Partei der Demokratischen Linken (PDS) und Forza Italia zusammen kaum mehr als 40 Prozent. Jede auch noch so kleine Partei wacht aufmerksam über ihre Unabhängigkeit, und ihre Vorsitzenden sind erbost, wenn sie nicht gehört werden. Ein guter Teil der staatlichen Fernsehnachrichten vergeht damit, daß die Meinungen aller Parteien zum aktuellen Tagesthema ausführlich wiedergegeben werden. Die Zersplitterung der Parteienlandschaft spiegelt den historischen, sozialen und regionalen Partikularismus der italienischen Gesellschaft wider.

So erscheint der Bipolarismus nur teilweise vereinbar mit der politischen Kultur Italiens. Eine besondere politische Ausprägung ist der trasformismo. Diese Praxis der Verwischung von politischen Gegensätzen und der Einverleibung von Teilen der Opposition in das Regierungsgeschäft zum Zwecke der Machterhaltung ist Ausdruck eines Systems, das den politischen Machtwechsel bisher nicht kannte und das dem Ziel dient, Interessenvertretung zu ermöglichen, ohne sich vor den Wählern dafür verantworten zu müssen. Der Nachteil dieser verbreiteten Vorgehensweise ist, daß kein Problem umfassend gelöst wird, weil es zu keiner klärenden Auseinandersetzung kommt.

Zersplitterung der Parteien und trasformismo sind jedoch keine absoluten Hindernisse auf dem Weg zu einem bipolaren System. Schon in den siebziger Jahren sprach man angesichts der Polarisierung zwischen der KPI und der Democrazia Cristiana (DC) von einem bipolarismo imperfetto. Eine Rückkehr zum früheren Verhältnisrecht erscheint eher unwahrscheinlich -zu deutlich war in dieser Hinsicht der Ausdruck des Volkswillens. Man wird sich also mit der neuen Situation arrangieren und versuchen, das Beste aus ihr zu machen. Wie sieht jedoch die Lage der einzelnen Parteien aus, wie sind sie mit der tiefen Vertrauenskrise der neunziger Jahre umgegangen?

Die Partei der Demokratischen Linken (PDS) -Linksdemokraten (DS)

Eine entscheidende Rolle bei den Veränderungen des Parteiengefüges und bei den Reformen hat die größte linke Partei Italiens inne. Unter dem Eindruck des Falls der Berliner Mauer beschloß die KPI eine Änderung ihres Namens, ihres Programms, ihrer Identität. Die früher bedeutendste Partei des Eurokommunismus hat sich in einem langandauernden Prozeß von Teilen ihres marxistischen Erbes getrennt, seit 1989 wurde der Wandel zu einer linken Partei westeuropäischen Zuschnitts endgültig vollzogen. 1991 entstand der Partita Democratico della Sinistra (PDS) -eine Partei, die eher mit der SPD als mit einer radikalen linken Partei vergleichbar ist. In dem unbestimmten Namen -„demokratisch“ und „links“ -drückt sich allerdings auch eine gewisse Unsicherheit aus, die in der Namensverwandtschaft mit der deutschen Nachfolgepartei der SED eine eher unglückliche Bestätigung fand. Italien hat eine lange Tradition anarchischer und radikaler Kräfte, die den gemäßigten Parteiführern der Linken schon immer zu schaffen gemacht haben. Wenn diese Kräfte heute im Partito della Rifondazione Comunista (PRC) versammelt sind, kann man es begrüßen, daß ihnen nun ein berechenbarerer Ausdruck verliehen wird. Das war in den unruhigen sechziger und siebziger Jahren durchaus anders.

Die KPI war für italienische Verhältnisse sehr diszipliniert und nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert. heute Noch zeichnet sich der PDS durch die starke Loyalität seiner Mitglieder aus. Die Partei besitzt eine gewachsene sich durch Abspaltung Geschlossenheit, die die des radikalen Flügels eher noch verstärkt hat und ihrem Auftreten ein hohes Maß an Kohärenz verleiht. Keine andere Partei steht hinter ihrem Vorsitzenden wie die Linksdemokraten zu Parteichef Massimo D’Alema. Wenn der PDS allerdings zum einen über eine sehr stabile Anhängerschaft und Wählerschaft verfügt, so hat er zum anderen noch immer Schwierigkeiten, neue Wähler aus der Mitte zu gewinnen. Nichts illustriert das besser als die Tatsache, daß der PDS zwar die relative Mehrheit im Parlament besitzt, aber trotzdem nicht den Ministerpräsidenten stellt. Der Amtsinhaber, Romano Prodi, stammt vom linken Flügel der aufgelösten Democrazia Cristiana und hat keine eigene Partei hinter sich. Als ihn PDS-Parteichef Massimo D’Alema im Wahlkampf 1996 schon frühzeitig zum Gegenkandidaten von Silvio Berlusconi, dem Präsidenten von Forza Italia, machte, lag darin die Einsicht, daß viele gemäßigte Wähler einem linken Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt ihre Stimme verweigert hätten.

Bei den Parlamentswahlen 1996 präsentierte sich der PDS im Ulivo-Bündnis mit anderen Parteien der Linken und der Mitte. Zum ersten Mal nach 1947 kam die ehemalige KPI wieder an die Regierung. Die Partei hatte ihre jahrzehntelange Isolierung durchbrochen, und es wurde jener historische Kompromiß mit den bürgerlichen Parteien zur Wirklichkeit, den schon der frühere Generalsekretär Enrico Berlinguer angestrebt hatte.

Den vom Parteivize Walter Veltroni gehegten Bestrebungen, das Ulivo-Wahlbündnis in eine Partei nach dem Vorbild der Demokraten in den Vereinigten Staaten umzuwandeln, in der der PDS aufgehen würde, hat D’Alema bisher eine Absage erteilt Ihm ist bewußt, daß die traditionellen Bin-düngen an einzelne Parteien mit ihrer stabilisierenden Wirkung in einer größeren Volkspartei wahrscheinlich zu unkontrollierbaren Spannungen führen würden. Auf dem letzten Parteitag allerdings hat sich der PDS in DS (Democratici della Sinistra) umbenannt. Somit wurde das starre und bei den Wählern unbeliebte Parteikorsett abgelegt und die Tür zu weiteren wie auch engeren Bündnissen aufgestoßen.

Auf Dauer kann D’Alema als Führer der Partei der relativen Mehrheit mit der jetzigen Rollenverteilung in der Regierung jedoch nicht zufrieden sein. Die Sparpolitik der Regierung Prodi schafft die Voraussetzung für eine Konsolidierung des Haushalts und eröffnet damit langfristig gesehen neue Gestaltungsmöglichkeiten bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Überwindung des Nord-Süd-Dualismus, die D’Alema möglicherweise selbst als Premier wahrnehmen möchte.

Die Erben der Democrazia Cristiana Der ehemals größte Konkurrent der früheren KPI, die Democrazia Cristiana, löste sich 1994, von Korruptionsskandalen erschüttert, auf. Ihre Nachfolgerin wurde der Partito Popolare Italiano (PPI). Der PPI vertritt eine explizite Rückbesinnung auf die erste katholische Massenpartei, die sich nach dem Ersten Weltkrieg gebildet hatte. Einige Teile des neuen PPI wechselten in das Lager von Silvio Berlusconi, so daß innerhalb der PPI nur noch der linke Flügel der ehemaligen DC vertreten ist Die Partei erreichte 1994 -bei den ersten Wahlen, die mit dem neuen Mehrheitswahlrecht stattfand -im Verbund mit anderen, kleineren Parteien der Mitte nur ein mageres Resultat und schloß sich bei den Wahlen von 1996 dem Ulivo-Bündnis an.

Jahrzehntelang hatte es die DC verstanden, die verschiedenen Strömungen -correnti -in der Partei zusammenzuhalten. Die DC verkörperte wie keine andere Partei den Versuch, eine extrem heterogene Gesellschaft unter einer politischen Führung zusammenzufassen. Hierbei diente ihr der Katholizismus -über 90 Prozent der Italiener sind katholisch -als einigendes Band. Die historischen Verdienste der DC, nämlich Italien in die NATO und die Europäische Gemeinschaft inte-griert zu haben, werden heute allgemein anerkannt. Es fehlt nicht an Versuchen, die zersplitterte Mitte wieder zusammenzuführen. Restaurative Züge tragen die Versuche des ehemaligen Staatspräsidenten Francesco Cossiga, eine neue Sammelpartei der Mitte zu bilden. Das bisherige Scheitern seines Vorhabens verdeutlicht, wie weit das Zeitalter der katholischen Volkspartei, der DC, inzwischen zurückliegt.

Die Forza Italia Die eigentliche Erbin der DC, zumindest was den Stimmenanteil angeht, ist eine noch junge Partei. Als der Medienunternehmer Silvio Berlusconi bei den Komunalwahlen 1993 seine Unterstützung für den neofaschistischen Kandidaten, den MSI (Movimento Sociale Italianoj-Vorsitzenden Gianfranco Fini, bekanntgab, der für das Amt des Bürgermeisters in Rom kandidierte, wurde der italienischen Öffentlichkeit deutlich, daß sich hier ein politisches Novum anbahnte. Wenig später verkündete Berlusconi die Gründung seiner politischen Bewegung, Forza Italia, die den Wählern mit Strategien aus dem Produktmarketing angepriesen wurde und der Linken den Weg zur Macht versperren sollte. Geschickt nutzte Berlusconi die für die Fußballnationalspieler geprägte Bezeichnung azzurri (die Hellblauen) für die Parlamentsabgeordneten von Forza Italia. Fußball ist durchaus als einigendes Element der italienischen Nation zu sehen.

Durch den massiven Einsatz seiner drei nationalen Fernsehanstalten gelang es Berlusconi bei den Parlamentswahlen von 1994, auf Anhieb über 20 Prozent der Stimmen zu erreichen und im Bündnis mit der Nachfolgeorganisation des MSI, der Alleanza Nazionale, und der separatistischen Lega Nord eine Regierung zu bilden. Die Gegensätze zwischen diesen Parteien waren jedoch zu groß, und schon nach neun Monaten scherte die Lega Nord aus der gemeinsamen Regierung aus. Berlusconi selbst geriet in Schwierigkeiten, weil er den Interessenkonflikt zwischen seinen Zielen als Unternehmer und seiner Verantwortung als Regierungschef und Parteiführer nicht zu lösen ver-mochte. Hinzu kamen Probleme mit der Justiz. In einer Reihe von Prozessen ist der Parteiführer der Korruption angeklagt worden. Berlusconi wirkte zeitweilig orientierungslos und ohne politisches Konzept. Er hat in den letzten Jahren viel Lehrgeld für seine politische Unerfahrenheit zahlen müssen

Forza Italia steht und fällt mit ihrem Vorsitzenden. Erst kürzlich, im April dieses Jahres, veranstaltete die Partei ihren ersten Parteitag, der zu einem Triumphzug für den Medienzar wurde. Bei der abschließenden Kundgebung auf dem Domplatz in Mailand präsentierte er medienwirksam sein gewinnendes Lächeln und zeigte sich als strahlender Held. Berlusconi ist sehr geschickt bei der Nutzung des Fernsehens als subtiler Vermittler politischer Botschaften. Deutlich machte er bei dieser Kundgebung auch, daß er verstärkt in die Fußstapfen der Democrazia Cristiana tritt. Sein Auftritt erfolgte ganz bewußt auf den Tag genau 50 Jahre nach dem spektakulären Sieg der DC gegen die Linksfront am 18. April 1948.

Forza Italia rekrutiert seine Wähler zu großen Teilen aus dem Reservoir der ehemaligen DC und der Sozialistischen Partei. Die Identifikation mit der Tradition der DC zeigt, daß sich die Einstellung zu dieser katholischen Volkspartei abermals geändert hat. Nach ihrer Auflösung war das Ansehen der DC auf einen absoluten Tiefpunkt gesunken. Auch wenn die Öffentlichkeit nicht mehr so sehr auf den Interessenkonflikt zwischen Privatunternehmer und Politiker, zwischen Medienzar und Wahlkämpfer zu achten scheint, sieht sich Berlusconi dennoch zwei Gefahren ausgesetzt: Falls er in den laufenden Prozessen zu einer Haftstrafe verurteilt werden sollte, könnte das sein politisches Ende bedeuten. Bevorzugte Zielscheibe seiner Angriffe sind denn auch die politisierten Richter, denen er Parteilichkeit zugunsten der „Roten“ vorwirft. Zum anderen stellt die Logik des Bipolarismus eine Bedrohung für seine auf die Rückgewinnung der politischen Mitte ausgerichtete Position dar. Berlusconi befürchtet, zwischen den beiden Polen, die in der Zukunft möglicherweise durch D’Alema und Fini dargestellt werden, zerrieben zu werden.

Die Alleanza Nazionale (AN)

Bündnispartner von Silvio Berlusconi und gleichzeitig Konkurrent um die Führung in diesem Bündnis ist der Vorsitzende der rechtsgerichteten Alleanza Nazionale, Gianfranco Fini. 1994 aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano hervorgegangen, hat sich die neue Partei dank des Bündnisses mit Berlusconi und des entschlossenen Auftretens ihres Präsidenten rasch aus dem Ghetto befreien können, in dem sich der nostalgische MSI nach dem Krieg befunden hatte. AN konnte ihren Stimmenanteil gegenüber dem des MSI verdoppeln. Ihre Hochburgen liegen vor allem im Süden des Landes, wo auch der MSI besonders stark war.

Die Alleanza Nationale hat sich mit ihrer faschistischen Vergangenheit auseinandergesetzt und zumindest die totalitäre Phase nach 1938 verurteilt. Die Partei ist nicht frei von antidemokratischen Tendenzen, jedoch bekennt man sich offiziell -und was Fini angeht auch aufrichtig -zu den Prinzipien von Freiheit und Autorität Im Vergleich zur PDS ist die Abkehr von einem extremistischen Erbe bei AN noch jüngeren Datums und braucht wahrscheinlich noch einige Zeit, bis sie sich vollständig durchgesetzt hat. Auffallend ist, daß sich in der Partei neben Fini bisher keine anderen profilierten Persönlichkeiten etabliert haben, die die verschiedenen Strömungen in AN wirksam vertreten könnten -dies ist eventuell ein Anzeichen dafür, daß es mit der innerparteilichen Demokratie weiterhin gewisse Probleme gibt.

Die Lega Nord Seit einigen Monaten bemüht sich der Vorsitzende der Forza Italia um eine erneute Annäherung zwischen seiner Partei und der norditalienischen Lega, die seit ihrem von Forza Italia und AN als „Verrat“ angesehenen Austritt aus der Regierung Berlusconi weitgehend isoliert ist. Zwar ist die Mehrheit der italienischen Bevölkerung konservativ ausgerichtet, aber die Rechte zeigt derzeit kein geschlossenes Erscheinungsbild.

Die traditionelle Abneigung gegen die meridionali -die Süditaliener -und Roma ladra -das diebische Rom -kondensierte sich Ende der achtziger Jahre zu einer neuen politischen Partei, der Lega Nord, die durch spektakuläre Aktionen unter ihem charismatischen Führer Umberto Bossi auch international für viel Aufsehen gesorgt hat. Viele Norditaliener halten die Methoden der Lega für überzogen, ihre wirtschafts-und finanzpolitischen Anliegen jedoch für berechtigt. Die Lega strebt einmal einen föderalen italienischen Staat an, ein andermal ein unabhängiges norditalienisches „Padanien". In diesem Sinne ist die Lega eine regionale bzw. eine sezessionistische Partei. Die Politik der Lega ist zeitweise folkloristisch, wenn etwa eher lächerlich wirkende symbolische Handlungen wie die Gründung eines unabhängigen Staates unternommen werden; zeitweise zeichnet sie sich durch eine geschickte Ausnutzung der Schwierigkeiten und der Uneinigkeit der nationalen Parteien aus, so z. B. während der Abstimmung in der Verfassungskommission über die Direktwahl des Staatspräsidenten, als die Lega überraschend für den diesbezüglichen Vorschlag der Opposition stimmte und damit der Regierung eine empfindliche Niederlage bereitete. Auf sich allein gestellt, besitzt die Lega Nord nicht die Kraft, ihre Vorstellungen durchzusetzen; sie muß mit anderen Parteien Kompromisse eingehen. Dazu zeigte sie jedoch bisher wenig Neigung -u. a. aus Furcht, sie könnte damit ihre Existenzberechtigung verlieren und z. B. von Forza Italia aufgesogen werden.

Das politische Phänomen der Lega verdeutlicht ein Grundproblem der italienischen Gesellschaft: das Fehlen einer ausgeprägten nationalen öffentlichen Meinung. Auch über 130 Jahre nach der staatlichen Einigung wirkt Italien noch wie ein bunter Teppich. Die dem neuen Staat innewohnenden zentralistischen Tendenzen und die damit verbundene Unterdrückung der lokalen und regionalen Identitäten machten es einem großen Teil der Bevölkerung schwer, sich mit dem italienischen Zentralstaat zu identifizieren. Eine positive Rückkoppelung zwischen paese (Dorf) und Paese (Land), zwischen lokaler und nationaler Identität ist bisher nur in Ansätzen zu erkennen, wie z. B. beim Fußball.

Das Phänomen Di Pietro Kein Politiker ist in Italien so beliebt wie der ehemalige Mailänder Staatsanwalt Antonio Di Pietro. Eine Mehrheit der Italiener würde ihn gerne als nächsten Staatspräsidenten sehen. Kein Politiker Italiens verkörpert mehr die Hoffnungen und Erwartungen der Italiener in eine Erneuerung der Politik nach tangentopoli -Bestechungsstadt -, zu dessen Aufdeckung Di Pietro maßgeblich beigetragen hat. Nach längerem Zögern war er zuerst als Minister in das Kabinett Prodi eingetreten, hatte es jedoch nach wenigen Monaten verlassen, um einige Zeit später wieder auf Seiten der Ulivo-Koalition für einen Sitz im Senat zu kandidieren. Dort versucht er nunmehr, eine neue politische Gruppierung aufzubauen, und sammelt Stimmen zur Abschaffung der Verhältniswahlquote im italieni-sehen Parlament. Im Senat protestierte er laut gegen das neue Parteienfinanzierungsgesetz. In einem Interview mit dem Corriere della Sera sagte er: „Im Parlament scheinen sie (die Senatoren) sich immer zu bekriegen, aber an jenem Tag (als über die Parteienfinanzierung entschieden wurde) sind sie sich alle einig gewesen, um dieses Gesetz gegen den Willen der Bürger zu beschließen. Von Rifondazione bis AN. Von Forza Italia bis zum PDS. Sie haben gegen mich angeschrieen. Fast hätten sie mich verprügelt. Da habe ich verstanden, daß die Parteien sich ihre Macht wiedergeholt haben.“

Di Pietro greift hier mit kräftigen Worten eine Stimmung auf, die in Italien weit verbreitet ist und die in der partitocrazia (Parteienherrschaft) ein Grundübel der italienischen Politik sieht. So sehr den Parteien jedoch an einer Ausbeutung der Popularität Di Pietros gelegen ist, so sehr fürchten sie seine potentielle Sprengkraft für das politische System. Di Pietro ist nicht zimperlich. Die Spiegel-Korrespondentin Valeska von Roques schrieb über ihn und die Zeit, als er noch Staatsanwalt war: „Antonio Di Pietro und seine Kollegen waren zwar aus gutem Grund Volkshelden geworden .. . zugleich war aber, besonders bei Di Pietro, dann und wann die Versuchung zu erkennen, sich zum Volkstribun aufzuschwingen ... Er benahm sich, als hätte Gottvater selbst ihn zum Rächer auserkoren.“

Einige Impressionen Viele Italiener haben den Eindruck, als ob die jetzige Parteienlandschaft sich nur formell von derjenigen unterscheidet, die durch tangentopoli zu Grabe getragen worden ist. Hat sich tatsächlich nichts geändert, hat sich der Spruch des Gattopardo -„Alles muß sich ändern, damit nichts sich ändert“ -einmal mehr bewahrheitet? Man sollte keine überzogenen Erwartungen hinsichtlich der Fähigkeit des italienischen Parteiensystems hegen, sich innerhalb kurzer Zeit grundlegend zu wandeln. Doch welch anderes nationales Parteiensystem würde das schaffen? Der oft zitierte Satz aus dem „Leopard“ von Tomasi di Lampedusa verschleiert manchmal, daß die Erde sich eben doch bewegt -„eppur si muove“ -und das gilt auch für Italien.

Für einen deutschen Beobachter ist auffallend, daß sich die politischen Auseinandersetzungen nicht um Sachthemen zu drehen scheinen, sondern daß die einzelnen Politiker im Vordergrund stehen. Es wird viel polemisiert und darüber gestritten, welche Taktik oder welche Strategie der jeweilige Politiker oder seine Partei nun gerade verfolgt. Im Corriere della Sera gibt es eine tägliche Rubrik, die sich nur damit beschäftigt, dem Leser zu erklären, wie die Manöver der Politiker zu interpretieren sind, welche Absichten hinter ihren Äußerungen stecken und welche Erfolgsaussichten sie haben.

Also viel Lärm um nichts? Einiges hat sich geändert und sollte hier noch einmal deutlich hervorgehoben werden: Zum ersten Mal in der Geschichte der italienischen Politik hat ein demokratischer Machtwechsel stattgefunden. Das bisherige Thema der democrazia bloccata scheint somit hinfällig. Zweitens sind zwei extremistische Parteien erfolgreich in das demokratische System integriert worden, nachdem über 40 Jahre lang teilweise bis zu 40 Prozent der Wählerschaft von der Regierungsbildung ausgeschlossen waren. Drittens hat sich die politische Auseinandersetzung in Italien weitgehend entideologisiert. Früher übliche verbale Entgleisungen der politischen Auseinandersetzung bis hin zu „I comunisti mangiano i bambini“ („Kommunisten essen Kinder“) gehören heute endgültig der Vergangenheit an.

Es lohnt sich jedoch, noch einmal einen Schritt zurückzugehen und sich die Frage zu stellen, welche substantiellen Themen eigentlich in der italienischen Politik behandelt werden.

II. Parlamentarisches System und Institutionen unter Reformdruck

1. Schwächen des italienischen Systems aus Bürgersicht Die italienische Politik leidet unter einer Vertrauenskrise in der Bevölkerung, die nicht nur die Parteien, sondern auch die Institutionen des Zentralstaates betrifft. Das Parlament, von der Parteienherrschaft erschöpft und innerhalb großer Wahlbündnisse in inhomogene Fraktionen aufgesplittert, erhält mit die schlechtesten Noten. Die beiden Kammern wirken überfüllt, und ihre Funktionen sind kaum zu unterscheiden, was den Eindruck sich selbst versorgender „Debattierclubs“ noch verstärkt Die Anstrengung von Referenden -wie in jüngster Zeit durch Mario Segni, den Spezialisten für Volksabstimmungen, gegen die hartnäckigen Residuen des Verhältnis-wahlrechts -mutet wie die Verzweiflungstat parlamentarischer Minderheiten gegen unbewegliche Mehrheiten und wie eine „Starthilfe“ für den schwachen Bipolarismus an Sichtbar wird die Malaise auch durch Profilierungsversuche der Parlamentarier. Gründungen von Sportclubs und Musikbands sind die harmlosere Variante, Neugründungen von Parteien wie die des ehemaligen Staatspräsidenten Cossiga die beunruhigendere. Es sind dies alles Elemente einer offenbar abwechslungsbedürftigen Parlamentskultur, die auch verbal Deftiges und Handgreiflichkeiten nicht ausschließt

Aber nicht nur die Volksvertreter sorgen für fragwürdige Unterhaltung bzw. Verdruß beim Bürger. Die öffentlichen Dienstleistungen, vor allem in den Bereichen Transport und Kommunikation, sind neben der rückständigen Bürokratie Symbol der Ineffizienz des italienischen Staates, zeigen das Problem einer immer noch umfangreichen Staatswirtschaft, der Verflechtung zwischen Parteien und Gewerkschaften und der damit verbundenen Unmöglichkeit, Staatsbetriebe nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben zu führen Auch bei der Ausbildung sind die Probleme struktureller Natur. Die staatlichen Universitäten bringen die höchste Zahl von Studienabbrechern in Europa und zu wenig fachpraktisch ausgebildeten Nachwuchs hervor Für die Alten sieht es nicht besser aus, denn obwohl das Pensionssystem ebenso wie in Deutschland einer Zeitbombe gleicht, müssen viele Menschen mit Renten auskommen, die das Existenzminimum bei weitem nicht garantieren.

Trotz der mangelhaften Versorgung durch den Staat drückt den Bürger die Steuerschraube, die zu oft manipuliert wurde, als daß noch jemand an eine „ehrliche“ Reform glauben würde. Die Staatsverdrossenheit ist das Hauptmotiv für das Verlangen nach mehr föderalen Strukturen -bis hin zu sezessionistischen Tendenzen, wie sie in der Lega Nord zum Ausdruck kommen. Der Verwaltungsrechtler und frühere Minister für Regionalangelegenheiten, Sabino Cassese, sieht die Anomalie Italiens im Widerspruch zwischen Modernität (im Steueraufkommen) und Rückständigkeit (in der Verwendung der Mittel). Das heißt, der Zentralstaat erhebt genausoviel Steuern und gibt genausoviel aus wie in anderen europäischen Demokratien, aber seine Institutionen zeigen unverhältnismäßig geringere Wirkung So wichtige innenpolitische Ziele wie die Überbrückung des Kontrastes zwischen Nord und Süd oder die Ausrottung der organisierten Kriminalität sind längst zu historischen Problemen geworden, für die sich der Bürger vom Staat allenfalls graduelle Erleichterungen, kaum aber terminlich festlegbare Lösungen verspricht.

Der gewünschte Beitritt Italiens zur Europäischen Währungsunion ist vor diesem Hintergrund eine lästige Qual, aber zugleich auch endlich ein erreichbares Nahziel geworden. Europa ist ein Prüfstand — in mehrfacher Hinsicht. Einerseits besteht sowenig Vertrauen in die eigene politische Klasse, daß das Urteil der „Europäer“ für notwendig befunden wird. Die „Beobachtungsstation“ des Soziologen Renato Mannheimer im Corriere della Sera beispielsweise stellte Ende März 1998 aufgrund von Meinungsumfragen fest, daß die Italiener kaum Hoffnungen in ihre Institutionen und die öffentliche Verwaltung setzen, aber eine große Begeisterung für Europa zeigen. Von dem äußeren Druck verspreche man sich mehr für die notwendi-gen Reformen als von der eigenen Politik Die Antipathie gegen die Vertreter insbesondere deutscher Geld-und Finanzpolitik führt andererseits zur Solidarisierung mit den Regierenden und weckt das Nationalgefühl, wenn Italien wieder einmal untragbare stabilitätspolitische Defizite nachgesagt werden. 2. Wendezeit: Probleme der Mitte-links-Regierung Als das Ulivo-Bündnis am 21. April 1996 mit denkbar knapper Mehrheit die Wahlen gewann, bedeutete das für die Linke eine historische Wende und eine deutliche Zurückstufung des Medienunternehmers Berlusconi, der im Dezember 1994, nur sechs Monate nach seinem triumphalen Sieg, der Übergangsregierung von Lamberto Dini, dem jetzigen Außenminister, hatte Platz machen müssen. Nach der relativ raschen Regierungsbildung am 17. Mai 1996 du April 1996 mit denkbar knapper Mehrheit die Wahlen gewann, bedeutete das für die Linke eine historische Wende und eine deutliche Zurückstufung des Medienunternehmers Berlusconi, der im Dezember 1994, nur sechs Monate nach seinem triumphalen Sieg, der Übergangsregierung von Lamberto Dini, dem jetzigen Außenminister, hatte Platz machen müssen. Nach der relativ raschen Regierungsbildung am 17. Mai 1996 durch den parteilosen Katholiken Romano Prodi war klar, daß die gesamte Kultur-und Bildungspolitik von PDS-Ministern bestimmt würde, dazu von den Schlüsselressorts das Innen-und das Finanzministerium. Somit war das „blockierte System“ nach fast 50 Jahren Opposition der Linken überwunden. Es herrschte Aufbruchsstimmung im Land. Aber die Regierungskrisen -im Herbst 1996, im Frühjahr 1997 und zuletzt im Herbst 1997 -zeigen, daß europaorientierte Stabilitätspolitik und mehr soziale Gerechtigkeit in der Innenpolitik nicht leicht miteinander vereinbar sind, zumal die Rifondazione Comunista (PRC), auf deren Duldung die Regierung angewiesen ist, schon bald die Maßstäbe in Arbeitnehmerfragen vorgab 18. Das Haushaltsgesetz und neue Steuern, die überfällige Verfassungsreform, die illegale Einwanderung -insbesondere aus Albanien -und schließlich die umstrittene Arbeitszeitverkürzung brachten Prodi bald ins Stolpern. Trotzdem verhinderte die „Euroraison“, der sich selbst Bertinotti anschließt, im letzten Moment den am 10. Oktober 1997 schon sicher scheinenden Rücktritt 19. Anfang März schrieb der Politologe Angelo Panebianco sogar im Editorial des Corriere della Sera: „Alles läßt erwarten, daß diese Koalition uns noch für einige Jahre regieren wird.“ 20

So ist es nicht verwunderlich, daß sich die derzeitige Regierung weiter gen Europa orientiert und die Bevölkerung den rigorosen Schatzminister Ciampi zum Nationalhelden kürt; dies trotz der abverlangten Opfer, wie der eigens eingeführten (aber rückzahlbaren) Eurosteuer und der weiteren Erhöhung der Gesamtbelastung durch Steuern im Jahre 199721. 3. Dichotomie des Ulivo-Sprosses: Regierungsaktion und Parlamentsreform Wer die jüngste Politik der Regierung Prodi verfolgt und dabei den Eindruck gewinnt, es handle sich vor allem um eine technische Regierung, die auf relativ schmaler „thematischer“ Basis mehr hinaus auf Europa als nach Italien hineinschaut, der liegt trotz der Bemühungen in der Regierungsmannschaft, die großen Probleme des Landes anzugehen, keineswegs falsch.

Der Erfolg bei der Sanierung der Staatsfinanzen und bei der Aufnahme Italiens in die Europäische Währungsunion verschafft Ministerpräsident Prodi und seinem Vize Veltroni (DS) derzeit eine relativ starke Position gegenüber dem Parteisekretär der DS, D’Alema, der die programmatische Richtung des Ulivo bestimmt Die Trennung der Aufgaben innerhalb des Regierungsbündnisses, durch die dem Ministerrat das Tagesgeschäft und dem Führer der stärksten Partei eine deutliche Richtlinien-kompetenz zufällt, verstärkt aber nun die Gefahr eines Auseinanderfallens von gelungener Realpolitik und blockierten Strukturreformen. Somit wächst die Konkurrenz zwischen Legislative und Exekutive. Beide Institutionen produzieren eine für westliche Demokratien deutlich überhöhte Zahl von Normen und geben dabei nicht nur der Rechtsprechung erhebliche Probleme auf, sondern treten auch in eine Art Konkurrenzverhältnis zueinander Die Regierung hat bereits vom beginnenden Bipolarismus profitiert, das Parlament und die staatliche Ordnung noch nicht. Während der Ulivo schon Früchte trage, so feixte sinngemäß Prodi, bedürfe „die Eiche“, das Parteisymbol der DS, noch erheblicher Pflege. Auf Massimo D’Alema lastet die blockierte Verfassungsreform durch die eigens hierfür geschaffene „Bicamerale“, die gemeinsame Kommission beider Kammern, die den Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik besiegeln soll und deren Präsident der DS-Sekretär seit 1997 ist. Zu Beginn des vergangenen Jahres hatte Forza Italia-Chet Berlusconi für die Opposition eine konstruktive Mitarbeit in der Bicamerale zugesagt, die er nun jedoch, insbesondere nach den erfolgreich bestrittenen Kommunalwahlen im Mai, wieder in Frage stellt.

Die erste, auf die Resistenza gegründete Republik hatte ein System hervorgebracht, das überwunden werden sollte, so die allgemeine Ansicht. Aber wie? So grundsätzliche Fragen wie Wahlrecht, Wahl und Kompetenzen des Staatspräsidenten, Rolle des Regierungschefs bzw. Premiers, Reform der Justiz und Föderalisierung des Zentralstaates stehen zur Debatte. Zu allen diesen Themen gibt es keine Einheitlichkeit, jedoch werden die Reformvorschläge von allen möglichen politischen Strömungen als jeweils eigene Ideen gepriesen

Prodi und D’Alema-Konkurrent Veltroni halten kritische Distanz zu den Reformbemühungen in der Bicamerale Denn diese kann allzu leicht mit dem politischen Taktieren, den spontanen Ambitionen einzelner Politiker und dem daraus folgenden Immobilismus in der Sache in Verbindung gebracht werden, die schon seit vielen Jahren die italienische Politik bestimmen.

Ein nicht abgeschlossener Reformprozeß bringt jedoch auch die Regierungsarbeit in Gefahr. Die durch den beginnenden Bipolarismus faktisch vollzogene Aufwertung der Rolle des Ministerpräsidenten bedarf der institutionellen Absicherung, will man nicht riskieren, den Regierungschef in einer anderen politischen Konjunktur wieder zu einer schwachen Koordinationsfigur zwischen den Ministerien zu machen, die politische Pfründe der einzelnen Parteien verwalten.

Auch Prodi könnte seine momentane Stellung wieder einbüßen, wenn er seine Regierungsaktion nicht stärker auf die ursprünglichen programmatischen Ziele des Ulivo ausrichtet Denn in dem Moment, in dem die Regierung ihre unmittelbaren Aufgaben erledigt hat oder aber an diesen gescheitert ist, besteht die für das italienische System typische Gefahr des „rimpasto“, des „Aufmischens“ der Regierungsmehrheit, aus der ein neuer Ministerpräsident und neue Minister hervorgehen Das Problem ist dabei nicht etwa eine zu häufige Änderung der politischen Richtung, die in 40 Jahren wechselnder DC-Regierungen ziemlich konstant blieb, sondern die Diskontinuität der Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Ministerien und Verwaltungen.

Das Ergebnis ist die Erweiterung und Vermehrung parasitärer und zum Teil korrupter Verwaltungen -insbesondere in strukturschwachen Gebieten -sowie ein zunehmend gestörtes Verhältnis zwischen Zentralstaat auf der einen, Regionen, Provinzen und Kommunen auf der anderen Seite. Im Norden wurde dieser Kontrast früher durch die „Arbeitsteilung“ zwischen der DC in der Regierung und der KPI in den Kommunen verstärkt. In eklatanter Weise treten die Probleme immer noch beim Katastrophenschutz hervor -etwa in Form mangelnder Abstimmung zwischen Ministerien, Regionen und Gemeinden, wie zuletzt im Mai 1998 bei den verheerenden Erdrutschen in Kampanien 4. Der Streit quer durch die Institutionen Im Sommer 1997 hat die sich zwischen Bicamerale den Alternativen eines starken Premiers und einem Staatspräsidenten nach französischem Modell für den „semi presidenzialismo" entschieden, das heißt für einen Staatspräsidenten, der seine bisherigen Rechte behält, aber durch die Direktwahl eine stärkere Legitimation erhält. Die Rolle des Premiers bleibt demnach untergeordnet, wird aber durch seine Nominierung als Kandidat der Koalition auf den Wahlscheinen aufgewertet, das heißt, er kann nicht mehr so leicht von der Mehrheit nach Bedarf ausgetauscht oder vom Präsidenten nominiert werden Denn das Recht des Staatspräsidenten zur Ernennung des Ministerpräsidenten wurde in den verfahrenen Pattsituationen der vergangenen Jahre nicht selten faktisch zum Recht der Auswahl eines kommissarischen Regierungschefs. Der Präsident, mit einer siebenjährigen Amtszeit ausgestattet, war immer wieder Garant der staatlichen Kontinuität und Mittler bei Regierungskrisen, was den Amtsinhaber über seine von der Verfassung vorgesehene Kontrollfunktion hinausgehoben hat

Das Problem ist jedoch, inwieweit die jetzt akzeptierte Lösung für einen stärkeren Präsidenten verbesserter Ausdruck des gewünschten „echten“ Bipolarismus mit zwei starken, geordneten politischen Polen sein kann, wenn die Grundlagen nicht stimmen. Da die Wahlrechtsreform immer noch auf einer „hybriden Lösung“ beruht, das heißt der Mehrheitswahl im ersten und einem gemischten System im zweiten Urnengang, so kommentierte die den DS nahestehende L’Unitä, kann das Ganze auch auf eine klassische Lösung ä la DC hinauslaufen, mit der immer wieder „Teufel und Weihwasser zusammengebracht wurden“

Beim Wahlrecht suchen alle Parteien eine Lösung, die ihre eigene Position garantiert: Die DS plädieren für ein Mehrheitswahlsystem mit zwei Wahlgängen und Koalitionsprämien, was ihnen am ehesten die Führungsrolle in einer vereinigten Linken und die Kontrolle des Premiers garantieren würden. Daher herrscht Mißtrauen bei der Rechten, wo die AN gerne einen Präsidenten hätte, dessen Direktwahl sich in mehr Einfluß auf die Regierung niederschlägt. Dem Präsidentialismus ebenso wie dem 1994 zum ersten Mal bei nationalen Wahlen genutzten Mehrheitswahlrecht steht jedoch der Bündnispartner von AN, Berlusconis Forza Italia, neuerdings sehr kritisch gegenüber. Berlusconi, der die numerisch stärkste Partei in einer schwachen Opposition führt, scheint erneut am deutschen Verhältniswahlrecht mit Sperrklausel und einer vom Kanzler geführten Regierung Gefallen zu finden. Auch wenn er dann wieder nur von Gedankenspielen spricht, mag er dabei an sein Charisma und an seine eigene Regierungszeit im Jahre 1994 denken

Ein Ende der Diskussion ist nicht in Sicht. Anfang Mai wurde wieder darüber gestritten, ob die Wahlrechtsreform die Voraussetzung oder der Abschluß aller anderen Reformen sein sollte. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit eines Abschlusses der wichtigsten Reformen vor der Sommerpause ziemlich gering-und im Herbst ist das Parlament wie immer mit dem Haushalt beschäftigt. Die einstigen Initiatoren des Mehrheitswahlrechts für den Senat um Mario Segni, denen sich auch Ex-Richter Antonio di Pietro angeschlossen hat, rüsten erneut, um ein Referendum zur Einführung eines reinen Mehrheitswahlrechts nach britischem Vorbild durchzusetzen

Indessen lodert die Kritik der Richter an den Versuchen der Bicamerale, die Karrieren der Juristen im Staatsdienst zu definieren, wieder neu auf. Derzeit richten sich die Attacken gegen eine Schwächung der außerordentlichen Instrumente zur Mafia-und Korruptionsbekämpfung. Gemeint sind damit aktuelle Beschlüsse des Innenministers und des Parlaments wie Straferleichterungen für Mafia-Bosse, Abbau von Spezialeinheiten der Polizei und die rückwirkende Funktion einer Revision des Strafverfahrensrechts (Art. 513), wonach Zeugenaussagen ihre Gültigkeit nur bewahren, wenn sie vor Gericht wiederholt werden können Die Parteinahme des jetzigen Ulivo-Senators di Pietro für die Position der Ex-Kollegen stärkt das Ansehen der Anti-Korruptionsrichter, des soge-nannten „Pools“ von Mailand, gegenüber dem der Politiker.

Jedoch hat die Kontrolle der Politik durch die Justiz in den Korruptionsskandalen der vergangenen Jahre die Richter selbst in eine beunruhigend politische Position gebracht Berlusconi fordert wegen der deutlich gewachsenen richterlichen Präsenz in der öffentlichen Diskussion insbesondere die Trennung der Karrieren von Richtern und Staatsanwälten. Die Uniformität der Laufbahn und insbesondere die Konstitution eines ungeteilten Obersten Richterrates ist aber in der Verfassung von 1948 festgeschrieben und sollte die Judikative stärken Folglich erwartet Forza Italia nicht zu Unrecht eine Verfassungsänderung, die das Parlament wieder zum Gesetzgeber anstatt zum Verhandlungspartner der Justiz macht und die Kompetenzen des Richterstands einschränkt Das Hauptproblem ist -auch aus Sicht der Richter -die Verschleppung, Verwässerung und Verfälschung der Gesetzgebung durch das Parlament, das sich somit erst einmal selbst reformieren müßte.

Einer der herausragenden Richter der Anti-Korruptions-Untersuchungen, Gherardo Colombo, beschrieb vor einigen Monaten die Arbeit der Bicamerale in der Logik der Fortsetzung nicht transparenter Entscheidungen, die das gesamte Leben der ersten Republik seit 1948 bestimmt hätten, wobei der Kompromiß von der gegenseitigen Erpressung lebe Der Druck von Forza Italia und die Drohung mit dem Ausstieg aus der Verfassungskommission ist in der Tat gerade in diesem Punkt -der Reform der Justiz -besonders delikat, da persönliche Motivationen wegen der Korruptionsanklagen gegen Berlusconi kaum ausgeschlossen werden können, auch wenn der Medienunternehmer dies bestreitet.

Wie die Haltung von Vizepremier Veitroni in der Frage der Justizreform sowie bei der ebenso lange umstrittenen Wahl des Staatspräsidenten zeigt, tendiert die Regierung zu Lösungen, die das Konfliktpotential in der Verfassungskommission mindern und einen baldigen Abschluß ermöglichen, selbst auf das Risiko hin, wesentliche Punkte auszuklammern. Präsident Scalfaro, der zugleich laut Verfassung Vorsitzender des Obersten Richter-rates ist, drängt ebenfalls auf eine pragmatische Reduzierung des Reformprogrammes, denn er ist der Ansicht, daß das Scheitern der Bicamerale und damit des seit 15 Jahren angestauten Reformdrukkes die derzeitige politische Klasse „hinwegfegen würde“

Die von der Bicamerale durchgesetzte Reduzierung der Materien staatlicher Kompetenzen zugunsten der peripheren Organe ist ein erster Schritt zum neuen Föderalismus (oder Regionalismus), um den sich, durch die Lega von Umberto Bossi aufgestört, praktisch alle Parteien bemühen. Was nun seit Mitte April 1998 nach einem Kompromiß zwischen Ulivo und Polo -dem von Berlusconi geführten Parteienbündnis -in der Bicamerale vorliegt und von der Abgeordnetenkammer bereits als Artikel 57-59 der neuen Verfassung verabschiedet wurde, beseitigt allerdings in Hinsicht auf einen „echten“ Föderalismus noch nicht die Unzulänglichkeit der Autonomien. Die vorgesehene Struktur, die einige Regionen mit Spezial-statut sowie Provinzen und wichtige Städte mit Sonderrechten vorsieht, ruft vielmehr eine typisch historische Form inhomogener Dezentralisierung (das „Italien der Kommunen“) ins Gedächtnis Außerdem bestehen auch hier starke Gegensätze. Weiter reichenden föderalen Tendenzen steht Alleanza Nazionale, die einen starken Präsidenten als Garantie für einen volksnahen Zentralstaat proklamiert, sehr kritisch gegenüber. Die Beratungen über den Präsidentialismus waren für AN die Bedingung für die konstruktive Teilnahme an der Bicamerale. Demgegenüber will der sogenannte „partito dei sindaci“ -die Partei der Bürgermeister-einen stärkeren Föderalismus, als ihn die Bicamerale bislang vorsieht, sowie eine zweite Kammer, die ähnlich dem deutschen Modell Regionen und Kommunen repräsentiert. Diese neue politische Kraft erhält immer mehr Gewicht, zumal sich die Koalition der Stadtoberhäupter quer durch die Parteien und vom Norden bis in den äußersten Süden erstreckt und sie in der Bevölkerung erheblichen Rückhalt findet

Der sezessionistische Föderalismus der Lega Nord wiederum, der sowohl den Föderalismus der Bürgermeister als auch die Annäherungsversuche von Forza Italia ablehnt, ist ein Element, das sich bisher nicht in die Reformbemühungen der Bicamerale einbinden läßt. Die zweigleisige Taktik von Forza Italia, die zuletzt eine unabhängige Region in Venetien unterstützte, aber gleichzeitig die Übereinkünfte der Bicamerale für einen „sanften“ Föderalismus mitträgt, überzeugen die Lega nicht. Um Gesetze zu machen, so lehnte Umberto Bossi die erste Übereinkunft im Parlament ab, brauchen die Regionen Geld. Und wenn der Staat seine Steuerhoheit nicht abtritt, werden die Regionen gezwungen sein, zusätzliche Steuern zu erheben

In den entscheidenden Fragen erscheinen daher die Reformbemühungen der Bicamerale durch die Gegensätze, die sich quer durch Regierung und Opposition ziehen, blockiert. Der vorgezeichnete Weg ist ein Mischmodell nicht leicht zu kombinierender Elemente. Man wird sich stärker entweder in Richtung des deutschen Modells oder am britischen Modell orientieren müssen, was das Wahlrecht und die Position des Kanzlers oder des Premierministers angeht. Hingegen wird sich die Neudefinition der Rolle des Staatspräsidenten, die jetzt an das österreichische Staatsoberhaupt erinnert, stärker am französischen Modell orientieren müssen, ohne daß der Staatspräsident einen vergleichbar starken Einfluß auf die Regierungstätigkeit ausüben wird. Italienische Eigenheiten wie die starken Parteien und die spontane politische Mobilisierung sowohl einzelner Subjekte als auch größerer Bevölkerungsgruppen dürfen nicht außer acht gelassen werden, aber auch nicht zu „faulen“ Kompromissen führen.

Die Probleme zwischen Politik und Justiz müssen gelöst werden. Die Politik muß sich vom Vorwurf der Verschleierung und Verwässerung der Verfahren befreien sowie das Prinzip einer unabhängigen Justiz und der Rechtsstaatlichkeit wieder voll herstellen. Der Richterstand wiederum muß um die Hypothek erleichtert werden, sich selbst als politischer Akteur konstituiert zu haben und mit Hilfe der öffentlichen Meinung Einfluß zu nehmen auf die gesetzgeberische Arbeit des Parlaments

Ein für unterschiedliche Regionen und Kommunen differenzierter Weg zum Föderalismus als Lösung für die ungleiche Entwicklung im Lande erinnert an das spanische Modell. Erfolg oder Scheitern des Übergangs zu einem föderalen System wird aber zum einen davon abhängen, ob es gelingt, die Regionen und Kommunen mit Mitteln auszustatten und entsprechende, auch steuerliche Kompetenzen vom Zentralstaat auf die Peripherie zu übertragen. Zum anderen darf der differenzierte Regionalismus nicht dazu führen, daß nur die dem Staat verbleibenden Aufgaben klar definiert sind, während die Regionen und Kommunen eine Vielzahl von Ordnungen produzieren. Ein starker Föderalismus braucht zudem zur Wahrung der staatlichen Einheit ein klar legitimiertes, repräsentatives Staats-und Regierungsoberhaupt

Während daher in der Praxis der Bicamerale die Justizreform oft den gordischen Knoten darstellt, ist das zentrale Problem die Ausgestaltung des föderativen Staates, die viele Fragen berührt. Bei den innenpolitischen „Krebsgeschwüren“ spielt die Föderalisierung eine wesentliche Rolle, geht man doch inzwischen davon aus, daß der Zentral-staat weder die strukturellen Probleme des Südens, noch die damit eng verknüpfte Minderung des Verbrechens bewältigen kann, sondern dies Aufgabe noch zu konstituierender regionaler und lokaler Organismen sein wird. Analoges gilt für die Einwanderung: Neue, dezentralisierte Aufnahmelager sollen es nach dem im Februar verabschiedeten Einwanderungsgesetz auch in Italien endlich erlauben, Illegale und Asylsuchende so lange festzuhalten, bis ihre Position überprüft ist Wie die bereits per Gesetz verabschiedete weitrei-chende Verwaltungsreform des Ministers für Regionalangelegenheiten, Franco Bassanini, zeigt, wird der Weg zu mehr Effizienz in der Bürokratie ebenfalls über mehr Dezentralisierung führen. Zudem wird allerdings auch die Mentalität der Beamten auf ein leistungsbezogenes System mit weniger Sicherheiten umgestellt werden müssen

5. Rollentausch oder Normalisierung?

Die „Normalisierung“ der italienischen Politik, von der häufig geredet wird, ist für viele Bürger noch gewöhnungsbedürftig. Die Anhänger der Linken, die lange Zeit eine starke politische und kulturelle Identität in der Opposition pflegten, fragen sich, ob diese Normalisierung sich nun darin erschöpft, an der Regierung zu sein. Die Anhänger der Rechten fürchten, daß die für den Wahlsieg 1994 eilig zusammengeflickte Koalition unreifer Parteien bei längerer Oppositionszeit bald in die Brüche gehen könnte und machen sich in symbol-trächtigen Massenkundgebungen Mut, so wie beim Parteitag von Forza Italia im April.

Vielleicht braucht es noch etwas Zeit, bis alle ihre neuen Rollen wahrnehmen. Befürchtet wird aber auch eine Wiederholung altbekannter Mechanismen der italienischen Politik mit vertauschten Rollen. Während Politiker des Polo immer wieder von „Regime“ sprechen, wenn sie gegenüber der Regierung polemisieren, fragen sich manche Kommentatoren, ob der Ulivo nicht längst schon im Schatten der Democrazia Cristiana stehe, da er innerlich genauso zerrissen und doch genauso dauerhaft sei. Auch die Trennung von Parteiführung und Führung der Regierung beim Ulivo und dessen Zugeständnisse an die Justiz gleiche dem System der DC. Einziger Unterschied im jetzigen, erneut „blockierten System“: Die KPI sei im Gegensatz zur jetzigen eine ernst zu nehmende Opposition gewesen, die aus außenpolitischen Gründen -der Westorientierung -von der Regierung ausgeschlossen war

Diesem System-Pessimismus kann jedoch auch einiges entgegengehalten werden. Zum Beispiel, daß der Prozeß der Reformen nicht mehr umkehrbar ist, da die Entwicklung der Institutionen den normativen Änderungen voraneilt. Dies zeigen die praktischen „Fälle“ von Minister-und Staatspräsident, aber auch der beginnende Bipolarismus im Parlament. Es scheint nun in der Tat ein stetiger Reformdruck auf Italien zu lasten. Der Druck aus Europa zwingt zum Schuldenabbau und damit zu weiteren Privatisierungen, zu mehr Effizienz bei privaten (Banken) und öffentlichen Dienstleistem

Es sind aber nicht nur Sachzwänge, die gegen die Unreformierbarkeit Italiens sprechen. Schließlich ist auch die Chance eines Rückgangs der Konfliktualität zwischen Politik und Arbeitnehmern nicht zu unterschätzen. Gewerkschaftsführer D'Antoni von der zweitgrößten Arbeitnehmervertretung (CISL) sagte am 1. Mai 1998 in einer Fernsehsendung, nur in Italien seien die Reformen zum Eintritt nach Europa mit dem Konsens der Bevölkerung, der Gewerkschaften und der Unternehmer geschafft worden. Und der Führer der größten Gewerkschaft (CGIL), Cofferati, sieht einen wesentlich geringeren Antagonismus mit der Regierung als noch vor drei oder vier Jahren. Insbesondere die konzertierte Aktion von Regierung und Sozialpartnern sieht er als nützliches Instrument der Verständigung ohne Kampfmittel. Dieses Verfahren sollte seines Erachtens auch auf die großen Transportbetriebe ausgedehnt werden -damit Italien nicht mehr „blockiert“ werden kann

Fussnoten

Fußnoten

  1. Noch immer lesenswert ist: Theodor Wieser/Frederic Spotts, Der Fall Italien. Dauerkrise einer schwierigen Demokratie, München 1988.

  2. Vgl. Piero Ignazi, II posto della Cosa, in: II Mulino, (1990) 5, S. 744-752; ders., II peso del Pds sul centro-sinistra, in: ebd., (1995) 3, S. 458-465.

  3. Vgl. Piero Ignazi, II Pds, l'Ulivo, il Govemo, in: II Mulino, (1997) 2, S. 258 f.

  4. Zu Mario Segni vgl. Annette Jünemann, Vom Movimento per la Riforma Elettorale zum Patto per l’Italia: Erfolg und Mißerfolg der Referendums-Bewegung Mario Segnis, in: Luigi Vittorio Graf Ferraris/Günter Trautmann/Hartmut Ulrich (Hrsg.), Italien auf dem Weg zur „Zweiten Republik“? Die politische Entwicklung Italiens seit 1992. Frankfurt a. M. 1995.

  5. Das Fernsehen hat in Italien in den vergangenen Jahrzehnten einen nicht geringen Einfluß bei der Vereinheitlichung von Sprache, Verhaltens-und Denkmustern gespielt. So berührt Berlusconi mit seinen Werbekampagnen für sich selbst sicherlich einen zentralen Nerv der ansonsten eher schwach ausgeprägten öffentlichen Meinung in Italien. Einer der ersten, der auf die homologisierende Wirkung des Fernsehens hingewiesen hat, war der Schriftsteller und Regisseur Pier Paolo Pasolini.

  6. Vgl. Marco Follini, L’impossibilitä di essere anormale. Sulla metamorfosi di Berlusconi, in: II Mulino, (1997) 6, S. 1051-1060.

  7. Vgl. Piero Ignazi, Postfascisti? Dal Movimento sociale italiano ad Alleanza nazionale, Bologna 1994.

  8. Vgl. Leo Valiani, Nome nuovo. Destra nuova, in: Corriere della Sera vom 22. 1. 1995, S. 1.

  9. Interview mit Antonio di Pietro, in: Corriere della Sera vom 19. 4. 1998, S. 5.

  10. Valeska von Roques, Die Stunde der Leoparden. Italien im Umbruch, Wien -München 1994, S. 273.

  11. Das Abgeordnetenhaus (Kammer) hat 630, der Senat 315 reguläre Mitglieder; in die Kammer kann man ab 25 Jahren, in den Senat ab 50 Jahren gewählt werden.

  12. Das seit 1970 gesetzlich geregelte Referendum hat nur abschaffende Wirkung und konnte die Anliegen seiner Befürworter bisher nur sehr selten durchsetzen. Im April 1993 wurde über ein von Segni initiiertes Referendum das Mehrheitswahlrecht im Senat eingeführt. 83 Prozent der Befragten hatten sich für die Abschaffung des Verhältnis-wahlrechts ausgesprochen. Es folgten im gleichen Jahr neue Wahlgesetze für Senat und Kammer. 25 Prozent der Sitze werden weiterhin nach dem Verhältniswahlrecht vergeben. Die Parteienbündnisse sind instabil. In der 12. und 13. Legislaturperiode (1994-1996) haben sich neue Fraktionen in über 25 Untergruppen aufgespalten. Vgl. Sabino Cassese, Dove va la costituzione italiana?, in: II Mulino, (1997) 2, S. 320; s. a. Peter Weber, Wege aus der Krise: Wahlreform und Referenden in Italien, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 34/94, S. 20-27.

  13. Vgl. z. B. Italienische Parlamentarier wollen Rockband gründen, in: Süddeutsche Zeitung vom 30. 1. 1998, S. 13. Über den gescheiterten Versuch von Cossiga zwischen Januar und März 1998, eine Partei der Mitte (UDR) aus verschiedenen aus der DC hervorgegangenen Splitterparteien zu gründen, vgl. Udr, il gran rifiuto del fondatore Cossiga, in: Corriere della Sera vom 5. 3. 1998, S. 5. Letzter Eklat im Parlament am 29. 4. 1998 war die Diskussion über die Beeinflußbarkeit von Fußballschiedsrichtern, die mit Fußtritten und Hausverbot für einen Parlamentarier endete, vgl. Rissa in diretta alla Camera per Juve-Inter, in: La Stampa vom 29. 4. 1998, S. L

  14. Deutsches Beispiel: die Eisenbahn bzw. Staatsbahnen (FS). In zehn Jahren wurden 70 000 Stellen abgebaut, die Personalkosten insgesamt aber blieben unverändert hoch; die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf decken die Kosten nur zu 35 Prozent; vgl. II Deragliamento, in: Liberal vom 19. 3. 1998, S. 42-44. "

  15. Im Gegensatz zu allen anderen G 7-Staaten hat Italien wesentlich mehr Arbeitslose mit höherem Bildungsabschluß als mit niedrigem; vgl. Ma cosi l’universitä produce solo disoccupati, in: Corriere Economia vom 16. 3. 1998, S. 1.

  16. Vgl. Sabino Cassese, Lo stato introvabile, Roma 1998, S. 16.

  17. Vgl. L’osservatorio, in: Corriere della Sera vom 1. 4. 1998, S. 7.

  18. 1997 wuchsen die Steuereinnahmen des Staates um 10, 5 Prozent, während der Anteil der Steuerlast am BIP auf 29, 1 Prozent gewachsen und damit laut Wall Street Journal der höchste in Europa ist; vgl. Borsa record, ma tasse mai cosi alte, in: Corriere della Sera vom 3. 4. 1998, S. 1 u. S. 17.

  19. Vgl. Piano Prodi, in: Corriere della Sera vom 16. 4. 1998, S. 3.

  20. Nach einer am 5. 5. 1998 von der Tageszeitung La Stampa veröffentlichten Statistik gibt es in Italien derzeit rund 150 000 Gesetze im Vergleich zu 7 000 in Frankreich und 3 000 in Großbritannien. Die meisten Gesetze werden von der Regierung vorgeschlagen, die zudem sehr häufig das Gesetzesdekret anwendet, wenn die Beratungszeiten im Parlament zu lang erscheinen. Mit Verfassungsgesetz vom 24. 1. 1997 ist eine neue Prozedur zur Verfassungsänderung und mit ihr die Bicamerale eingerichtet worden, die bis zum 30. 6. 1997 ein Revisionsprojekt zu Staats-und Regierungsform, Zweikammersystem und Justiz vorlegen mußte. Der von beiden Kammern möglicherweise bis Ende 1998 verabschiedete Text der neuen Verfassung wird anschließend einem Referendum unterzogen, vgl. S. Cassese (Anm. 12), S. 327.

  21. Selbst der Geheimlogenführer Licio Gelli, der mit seiner „P 2“ den Staatsumsturz plante, nahm in einem Interview mit der rechtsgerichteten Zeitschrift „II Borghese“ die Ideen und somit die Patenschaft der Bicamerale für sich in Anspruch. Vgl. Questa bicamerale ö proprio figlia mia, in: II Borghese vom 23. 4. 1997, S. 12 f.

  22. AN-Chef Fini sprach sogar von einer Achse Prodi-Veltroni gegen die Reformen; vgl. Fioni: c’e un ässe Prodi-Veltroni contro le riforme, in: Corriere della Sera vom 21. 4. 1998, S. 4. Prodi und Veltroni versichern allerdings D’Alema öffentlich ihrer Solidarität.

  23. Bei Vernachlässigung der Reformen riskiert Prodi, eines der Motive aus den Augen zu verlieren, das dem Ulivo bei seinem Antreten breite Zustimmung auch von den Gewerkschaften und aus dem Bereich der Kultur eingebracht hatte: der Ellbogenmentalität der Regierung Berlusconi, die ökonomische Effizienz über alles andere gestellt hatte, die Prinzipien einer Rückgewinnung sozialer Solidarität und Aufmerksamkeit für Bildung, Kultur und Umwelt entgegen-zusetzen. Vgl. dazu den offenen Brief des Ex-Bildungsministers Lombardi an Prodi, in: MicroMega, (1998) 1, S. 30 f.

  24. Zwischen 1948 und 1983, der Epoche fast uneingeschränkter Dominanz der Democrazia Cristiana, betrug die durchschnittliche Dauer italienischer Kabinette knapp elf Monate.

  25. Die peripheren Verwaltungen bis hin zu den Gemeinden, so Cassese, haben sich auf der einen Seite „in Abwesenheit“ des Staates viele Rechte gegenüber dem Bürger verschafft. Andererseits sehen sie sich kaum als selbständige Gestalter, sondern als Vertreter der Bürgeranliegen beim Zentralstaat, vgl. S. Cassese (Anm. 16), S. 45-51.

  26. Am 14. 5. 1998 wurde die Direktwahl des Präsidenten von der Abgeordnetenkammer bestätigt und in die Artikel 64 bis 66 der neuen Verfassung aufgenommen. Entscheidend war die gemeinsame Linie von DS und AN bzw. D’Alema und Fini. Die Rechte des Staatspräsidenten blieben praktisch unverändert. Vgl. L’Italia semipresidenziale, in: La Repubblica vom 5. 5. 1998, S. 2-3.

  27. Vgl. Paolo Armaroli, Italiens Regierungen -Im Schatten des Quirinal-Palastes, in: L. V. Graf Ferraris u. a. (Anm. 4), S. 73-105.

  28. Equilibrio difficile tra poteri del premier semipresidenzialismo e doppio turno, in: L’Unitä vom 12. 6. 1997, S. 3.

  29. Vgl. Corriere della Sera vom 16. 4. 1998. Peter Weber schrieb 1994: „Das erfolgreiche Beispiel Silvio Berlusconis hat daher de facto bereits einen der deutschen Kanzlerwahl nicht unähnlichen Mechanismus zur Wahl des Regierungschefs eingeführt.“ (Anm. 12), S. 26.

  30. Antonio Martino von Forza Italia, ebenfalls Mitglied der Referendums-Gruppe, sieht drei Gründe für das bisherige Scheitern des Bipolarismus: die Reste des Verhältniswahl-rechts, die Parteienfinanzierung entsprechend der Stimmen-anteile aus dem Verhältniswahlrecht und die Parlaments-ordnung, die es auch wenigen Abgeordneten erlaubt, eine eigene Fraktion zu bilden; vgl. Referendum, in: Liberal vom 26. 3. 1998, S. 12-15.

  31. Vgl. Paciotti: La Giustizia e alla bancarotta, in: Corriere della Sera vom 19. 4. 1998, S. 4.

  32. Vgl. II Polo: mozione contro il ministro dell’interno, in: Corriere della Sera vom 7. 4. 1998, S. 2; II grande freddo, in: Liberal vom 12. 3. 1998, S. 12. Anläßlich der Kritiken der Pool-Richterin Iida Bocassini an Innenminister Napoletano sprachen die Vertreter von Forza Italia wieder einmal vom „Partito delle procure“ und verglichen diese „Gerichtspartei“ mit den neuen Anarchisten der italienischen Großstädte, den „squatters“.

  33. Die rund 9 000 Richter Italiens sind zu annähernd 90 Prozent in der Nationalvereinigung der Richter (ANM) organisiert; sie wählen zu zwei Dritteln die Mitglieder des Obersten Richterrats (CSM). Ein Drittel wird vom Parlament gewählt.

  34. Vgl. Pera: Sulla giustizia l’accordo ö lontano, in: Corriere della Sera vom 28. 4. 1998, S. 5.

  35. Vgl. Le riforme ispirate dalla societä del ricatto, in: Corriere della Sera vom 22. 2. 1998, S. 5.

  36. Riforme, l'ultimatum decisivo di D’Alema, in: Corriere della Sera vom 22. 4. 1998, S. 5.

  37. Vgl. Editoriale von Sabine Cassese, in: La Repubblica vom 24. 4. 1998, S. 1; Riforme, passa l'articolo sul federalismo, Roma capitale dello stato federale, in: ebd. vom 26. 2. 1998, S. 7.

  38. Vgl. Carta federalista del 8/1/98, in: MicroMega, (1998) 1, S. 9-13; Dai sindaci un Ultimatum a D’Alema, in: Corriere della Sera vom 26. 3. 1998, S. 7.

  39. Vgl. Bossi boccia il federalismo della Bicamerale, in: Corriere della Sera vom 22. 4. 1998, S. 4.

  40. Vgl. Incomprensioni tra magistrati e politici, in: II Manifesto vom 8. 4. 1998, S. 14.

  41. Der Politikwissenschaftler und Publizist Ernesto Galli della Loggia sieht bereits die Gefahr einer Umdrehung des Prinzips, wonach der Staat Teile seiner Souveränitätsrechte an die Peripherie delegiert. Rom würde nach dem jetzigen Modell nur noch bekommen, was Regionen und Gemeinden übriglassen. Vgl. Da sindaci a governatori, in: Corriere della Sera vom 17. 5. 1998, S. 1.

  42. Zum für Italien im Vergleich zu Frankreich, Deutschland oder Großbritannien relativ neuen Problem der Immigration und die neue Gesetzgebung ab 1990 vgl. Ulrich Beuttler, Immigration und Fremdenfeindlichkeit in Italien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/95, S. 29-37.

  43. Vgl. Roms Beamte künftig kündbar?, in: Die Welt vom 13. 2. 1998; II federalismo ai primi passi, in: II Sole 24 Ore vom 30. 3. 1998. 1997 wurden die sogenannten Bassanini-Gesetze verabschiedet, eines vom 15. März für die Vereinfachung der Verwaltungspraxis und eines vom 15. Mai für die Beschleunigung der Verfahren und Kontrollprozeduren.

  44. Vgl. La nuova sindrome da sistema bloccato, in: Corriere della Sera vom 8. 3. 1998, S. 7.

  45. Leitende Beamte sollen nach dem Bassanini-Gesetz kündbar werden. Die Regionen, zumindest diejenigen, die dafür reif sind, werden etwa ab dem Jahr 2000 selbst Stellen ausschreiben und Investitionshilfen an die Unternehmen vergeben.

  46. Vgl. Cofferati: Meglio Prodi ehe Blair, difesa del modello italiano, in: Liberal vom 26. 3. 1998, S. 50.

Weitere Inhalte

Ulrich Beuttler, geb. 1957; Studium der Geschichte und Politikwissenschaften in Bologna, München und Berlin; wissenschaftlicher Mitarbeiter, Übersetzer, Gymnasiallehrer und Zeitschriftenredakteur in Bologna, Bozen und Stuttgart; seit 1996 bei einer Unternehmensberatung in Bozen. Veröffentlichungen u. a.: Immigration und Fremdenfeindlichkeit in Italien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/95; Publikationen in deutschen und italienischen Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Georg Gehlhoff, geb. 1963; Studium der Geschichte an der Universität Bologna; 1992-1995 Tätigkeit als Lektor, u. a. im Auswärtigen Amt; z. Z.freier Autor in Bonn. Veröffentlichungen: Artikel und Übersetzungen in Tageszeitungen und Fachzeitschriften.