Der Tod Deng Xiao-pings am 19. Februar 1997 erschütterte die politische Szene der Volksrepublik China (hinfort: VR China) nicht. Dramatisch anmutende Auseinandersetzungen innerhalb der Herrschaftselite gleich jenen nach dem Ableben Zhou Enlais und Mao Zedongs 1976 und Hu Yaobangs 1989 blieben ebenso aus wie massive Manifestationen politischer Unzufriedenheit von Seiten der Bevölkerung, die, ähnlich wie in den späten siebziger Jahren, vor allem aber 1989, die Führungsrolle der Kommunistischen Partei Chinas (hinfort: KP Chinas) jäh in Frage gestellt hätten.
Statt dessen ist festzustellen, daß Chinas kommunistische Führer sich souverän wie selten zuvor geben. Der auswärtige Beobachter, der, wie jeder einfache Chinese im Land, in der Vergangenheit einer hochgradig konspirativ operierenden Herrschaftselite gegenüberstand, vermerkte anläßlich des XV. Parteitages der KP Chinas vom 12. bis zum 18. September 1997 eine ungewöhnliche Offenheit. Die Rede, mit der Jiang Zemin in seiner Funktion als Generalsekretär des Zentralkomitees (hinfort: ZK) der KP Chinas den Parteitag eröffnete, wurde über große öffentliche Fernsehschirme übertragen Erstmals in der Geschichte dieses formal höchsten Organs der Partei waren Pressevertreter und selbst ausländische Journalisten zu den Delegiertensitzungen zugelassen. Die Berichterstatter aus dem In-und Ausland wurden zusätzlich durch eine Reihe von Pressekonferenzen auf dem laufenden gehalten. Die Rede des aufgrund einer Verfassungsbestimmung nach zwei Legislaturperioden aus dem Amt scheidenden Premierministers der VR China, Li Peng, zur Eröffnung des IX. Nationalen Volkskongresses (hinfort: NVK), dessen 1. Plenum vom 5. bis 18. März dieses Jahres stattfand, konnte die Bevölkerung der VR China am heimischen Fernsehschirm in einer Live-Übertragung und mit Simultanübersetzung sogar die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika (hinfort: USA) mitverfolgen
Die kommunistische Einparteiherrschaft Chinas scheint sich nunmehr tatsächlich in jenem Stadium der Institutionalisierung zu befinden, auf das die Reformbemühungen Deng Xiaopings im administrativen Bereich seit den frühen achtziger Jahren und, nach dem Rückschlag in der Herrschaftskrise der Partei im Frühjahr 1989, in diesem Jahrzehnt gerichtet waren. Die Wesensmerkmale dieses Stadiums -die regelmäßige und korrekte Einhaltung der Sitzungszeiten der politischen Gremien, -die ausschließliche Anwendung satzungsgemäßer Prozeduren in den personal-und sachpolitischen Entscheidungsvorgängen, -die Rekrutierung des politischen Personals über die Subsysteme, also über die Bürokratien von Partei, Armee und Staat, sowie -eine kollektive Führung sind jetzt offenkundig -cum grano salis -in der VR China erfüllt.
An diesen Befund knüpft sich für den Politikwissenschaftler die Frage, wo im Vorgang der Evolution kommunistischer Herrschaft die gegenwärtige politische Lage der VR China zu verorten sei, ob am Beginn der Institutionalisierung, an dem sich nach unserer bisherigen Erfahrung starke bürokratische Strukturen herausbilden, die vorwiegend der Machterhaltung dienen -was tatsächlich auch über einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren gelingt -, oder an deren Ende, an dem eine starke zentrale Führung wahrnehmbar ist, aber an der Basis die Kontrolle längst erodiert.
I. Stabilität der zentralen Führung
Der jetzt erstmals in der Geschichte der VR China gelungene friedliche Übergang der Macht auf eine neue, die sogenannte „dritte“, Generation innerhalb der kommunistischen Herrschaftselite geht auf einen personalpolitischen Kompromiß zurück, den Deng im Juni 1989 mit Chen Yun, dem bis zu seinem Tode 1995 zähesten Vertreter der kommunistischen Orthodoxie innerhalb der postmaoistischen Führung der KP Chinas, vereinbarte. Beide Politiker verstanden sich darauf, Jiang Zemin als „Nachfolger“ in der Führung der Partei, der Armee und des Staates zu designieren. Jiang hatte eine vorwiegend technokratische Karriere durchlaufen, war 1985 Bürgermeister und Parteichef von Shanghai geworden und hatte dort mit Geschick die Frühjahrskrise von 1989 durchgestanden. Damals 63 Jahre alt, übernahm er zunächst den Posten des Generalsekretärs des ZK der KP Chinas. Im Herbst 1989 wurde ihm auch der Vorsitz der Militärkommission des ZK übertragen. Das Plenum des VII. NVK ernannte ihn im April 1990 zum Vorsitzenden der Militärkommission der VR China und damit zum Obersten Befehlshaber der Streitkräfte. Das 1. Plenum des VIII. NVK, das vom 15. bis zum 31. März 1993 tagte, wählte ihn schließlich zum Staatspräsidenten. Die Vereinigung der Spitzenpositionen von Partei, Armee und Staat auf die Person Jiangs stellte jedoch keineswegs schon eine definitive Antwort auf die Frage der Nachfolge dar.
In der innenpolitischen Szene der VR China artikulierten sich in den folgenden Jahren als drei weitere Mitbewerber Jiangs: Li Peng (heute 69 Jahre alt), Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros, seit 1987 Premierminister und Vertreter der dezidierten Orthodoxen, Qiao Shi (heute 74 Jahre alt), Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros, seit 1993 Vorsitzender des Ständigen Ausschusses des NVK und Anhänger der gemäßigten Orthodoxen mit wachsenden Neigungen zu durchgreifenden politischen Reformen, sowie Zhu Rongji (heute 69 Jahte alt), Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros, damals Vizepremier und der prominenteste unter den Revisionisten innerhalb der Führungselite der KP Chinas. Keine dieser drei Gruppen -Jiang mußte den gemäßigten Orthodoxen zugerechnet werden -verfügte über eine Mehrheit in den Entscheidungsgremien der Partei. Im Ständigen Ausschuß des Politbüros, dem inneren Führungskern, standen drei Revisionisten zwei gemäßigten und zwei dezidierten Orthodoxen gegenüber, im Politbüro waren insgesamt sechs bis sieben Revisionisten, fünf gemäßigte und sechs bis sieben dezidierte Orthodoxe vertreten. Die Position von zwei Mitgliedern ließ sich nicht eindeutig klären. Die personal-und sachpolitischen Entscheidungen fielen als Kompromisse zwischen wechselnden Koalitionen von Meinungsgruppen.
In das Präsidium des VIII. NVK wurden am 27. März 1993 zwanzig Mitglieder berufen. Von den zwölf Kommunisten unter diesen zählten vier zu den Revisionisten, fünf ließen sich als gemäßigte und drei als dezidierte Orthodoxe identifizieren. Ein ähnliches Bild ergab sich im Staatsrat, der am 29. März neu bestellt wurde. Von den 13 Mitgliedern des inneren Kabinetts zählten fünf zu den dezidierten Orthodoxen, vier zu den gemäßigten und drei zu den Revisionisten. Ein weiteres Mitglied ließ sich nicht festlegen. Von den insgesamt 46 Mitgliedern des Staatsrates gehörten 15 zu den dezidierten und zehn zu den gemäßigten Orthodoxen. Elf Mitglieder konnten den Revisionisten zugerechnet werden, die restlichen zehn Mitglieder blieben in ihren Positionen unklar.
Für das Gelingen des friedlichen Übergangs scheinen in dieser Situation vor allem zwei Tatsachen bedeutsam gewesen zu sein: Zum ersten die disziplinierende Wirkung, welche die Krise des Frühjahrs 1989 und der durch sie beschleunigte Zusammenbruch der meisten anderen marxistisch-leninistischen Einparteisysteme in der Welt auf die chinesische Herrschaftselite hatten, sowie zum zweiten die für kommunistische Spitzenpolitiker ungewöhnliche Tatsache, daß Deng Xiaoping seinen offiziellen Rückzug aus der Politik noch drei Jahre überlebte, ohne, wie bis dahin alle kommunistischen Spitzenpolitiker im Ruhestand -so zum Beispiel Walter Ulbricht in der DDR, Nikita S. Chruschtchow in der Sowjetunion, Wladislaw Gomulka in Polen -, faktisch geächtet zu sein. Das ließ den tagespolitischen Alltag „ohne Deng“ bereits „mit Deng“ zur Wirklichkeit werden.
Mit wiederum einigem Geschick gelang es Jiang Zemin, seine Stellung in der Zentrale zu festigen. Dabei kam ihm durchaus entgegen, daß die Forderung nach einer Revision der Unterdrückung der Demokratie-und Menschenrechtsbewegung vom Frühjahr 1989, welche die Partei als einen angeblichen Aufstand und den Beginn eines unkontrollierbaren nationalen Chaos niedergeschlagen hatte, in der chinesischen Öffentlichkeit nie verstummte. Die prominente Rolle, die Li Peng, die vergleichsweise stärkere Führerpersönlichkeit, bei der militärischen Unterdrückung der Demokratie-und Menschenrechtsbewegung gespielt hatte, geriet somit nie auch nur in den Hintergrund der Tagespolitik. Li ist der am meisten gehaßte Politiker in der VR China.
In den personellen Ergebnissen des XV. Partei-tages der KP Chinas und des IX. NVK, Beschlüssen, die wahrscheinlich auf einer Arbeitskonferenz des Politbüros im Spätsommer 1997 in dem nord-chinesischen Badeort Peitaihe getroffen wurden, um von den höchsten Akklamationsorganen der Partei und des Staates im September 1997 bzw. im März dieses Jahres formalisiert zu werden, spiegelt sich diese Ungebrochenheit der politischen Entwicklung. Im großen und ganzen bestätigten sie die Erwartungen des Beobachters. Im übrigen reproduzierten sie die führungsinterne Konstellation, die wir seit dem XIV. Parteitag kennen. Obwohl 112 der insgesamt 193 Vollmitglieder oder 58, 03 Prozent von ihnen neu ins ZK berufen wurden, hat sich das Durchschnittsalter dieses Gremiums mit heute 56, 2 Jahren gegenüber demjenigen des XIV. ZK im Jahre 1992 (56, 3) nicht verändert 3. Es hat also keine Verjüngung stattgefunden. Das Durchschnittsalter des neuen Politbüros, das 22 Vollmitglieder umfaßt, liegt mit 63, 45 Jahren etwas höher als dasjenige der 20 Vollmitglieder des alten Politbüros, das 1992 62, 25 Jahre betrug. In diesen Gremien liegt die Erneuerungsrate mit sieben Vollmitgliedern bei 31, 82 Prozent. In dem sieben Mitglieder umfassenden Ständigen Ausschuß des Politbüros traten zwei Mitglieder neu ein
Von den sieben neuen Vollmitgliedern des Politbüros durchliefen je eines eine Karriere in der Partei-bzw. Staatsbürokratie sowie zwei Karrieren in der Armee. Die restlichen drei kommen aus Provinzparteiführungen. Von den 24 Vollmitgliedern und Kandidaten des Politbüros weisen damit 20 einen Karrierehintergrund in einem der bürokratischen Subsysteme der VR China auf.
Die Tatsache, daß Li Peng mit der Eröffnung des IX. NVK das Amt des Premierministers abgeben mußte, gab kaum Anlaß zu Spekulationen über seinen Nachfolger in diesem Amt. Zhu Rongji ist in den letzten fünf Jahren mit beeindruckendem Erfolg für die Wirtschaftspolitik der VR China verantwortlich gewesen. Seine Ernennung zum Premierminister wurde allgemein erwartet und kündigte sich auch in seinem Aufstieg in die dritte Position in der Parteihierarchie an. Die Frage war, mit welchem Amt Li Peng betraut werden würde. In der Lösung dieses Problems durch Jiang Zemin mag man in der Tat das Körnchen Salz finden, von dem oben die Rede war. Der damals 71jährige Generalsekretär verkündete in einer Klausurtagung überraschend, daß die Altersgrenze für die Wahl zum XV. ZK bei 70 Jahren liege und zwang den 81jährigen General Liu Huqing ebenso wie den 73jährigen Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses des NVK, Qiao Shi, beide bislang Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros, von einer erneuten Kandidatur zum ZK abzusehen. Während er sich selber offenkundig von der neuen Altersregel ausnahm, stellte Jiang mit der durch einen administrativen Eingriff gelungenen Entmachtung Qiaos die Weichen für die Übergabe des Vorsitzes im Ständigen Ausschuß des IX. NVK an Li Peng. Sie ging in der Tat mit der Ernennung Zhu Rongjis zum Premierminister, der Wiederwahl Jiang Zemins zum Staatspräsidenten sowie der Berufung Hu Jintaos, des mit 56 Jahren jüngsten Mitglieds im Ständigen Ausschuß des Politbüros, zum Vizepräsidenten einher. Li Peng erhielt mit 89 Prozent der Stimmen jedoch einen -für kommunistische Verhältnisse -vergleichsweise geringen Zuspruch im NVK, welcher mit Qiao Shi einen engagierten Vorkämpfer für die Erweiterung der politischen Einflußnahme dieses Gremiums verloren hat.
Zwei weitere personalpolitische Zielsetzungen Jiangs nach der Ausschaltung Qiaos, der nicht allein als ein sachpolitischer, sondern auch als ein persönlicher Gegner des Generalsekretärs gilt, schlugen fehl. Wu Bangguo, ein Schützling Jiangs, wurde nicht in den Ständigen Ausschuß des Politbüros aufgenommen, und Zeng Qinglong, ein weiterer enger Mitarbeiter des Generalsekretärs, wurde nur zum Kandidaten des Politbüros berufen. Hingegen stieg der eng mit Li Peng verbundene Generalsekretär des Staatsrates, Luo Gan, ins Politbüro auf. Von den neu ins Politbüro gelangten Vollmitgliedern unterhalten drei oder vier besonders gute Beziehungen zu Jiang Zemin, zwei sind deutlich Li Peng zuzuordnen und ein oder zwei sind Zhu Rongji stärker verbunden. In der Parteihierarchie behielt Li Peng seinen zweiten Platz nach Jiang Zemin, gefolgt von Zhu Rongji.
In richtungspolitischer Hinsicht sind gegenwärtig vier Meinungsgruppen, also lockere Zusammenschlüsse aufgrund von Übereinstimmungen in konkreten Sachfragen, die kurzfristig miteinander koalieren oder auch konkurrieren, nicht jedoch Fraktionen, die kohärente Zirkel auf der Grundlage von alternativen Sachprogrammen und exklusiven Machtansprüchen bilden, im Politbüro zu unterscheiden: dezidierte Orthodoxe mit fünf Vertretern, gemäßigte Orthodoxe mit sechs Vertretern, gemäßigte Revisionisten mit fünf Vertretern sowie dezidierte Revisionisten mit vier Vertretern.
Vier weitere Mitglieder und Kandidaten des Politbüros sind nicht eindeutig einer Gruppierung zuzuordnen.
Insgesamt gesehen, haben wir es offenkundig mit einer kollektiven Führung in der VR China zu tun. Diese läßt eine vergleichsweise geringe aktuelle Konfrontationsbereitschaft und deshalb einen beträchtlichen Grad an innerer Stabilität erkennen.
II. Sachpolitische Kontinuität
Machterhaltung ist das Ziel einer jeden Regierungspartei, Machterhaltung um jeden Preis ein Vorrecht im Selbstverständnis doktringebundener Einparteiherrschaften, die ihre exklusiven Führungsansprüche aus einer historischen Mission begründen. Was die Meinungsgruppen innerhalb der Führungselite der KP Chinas unter dieser allgemeinen Voraussetzung speziell miteinander kooperieren läßt, ist die Übereinstimmung, daß die seit Ende der siebziger Jahre ständig dringender gewordene Forderung von Teilen der Bevölkerung nach Menschenrechtsgarantien und politischen Beteiligungsrechten durch die allgemeine Freigabe von materiellen Bereicherungsmöglichkeiten für den Einzelnen abzufangen sei. So bilden Reformen vorwiegend im Bereich der Wirtschaftsorganisation und des Wirtschaftslebens und gleichzeitig die rücksichtslose Unterdrückung jeder Art von politischer Unbotmäßigkeit -verstärkt seit der Niederschlagung der Demokratie-und Menschenrechtsbewegung 1989 -die beiden Grundlinien der Politik der KP Chinas.
Die Reformpolitik besteht im wesentlichen aus fünf Komponenten: -der Entkollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion unter Beibehaltung des Kollektiv-eigentums an der landwirtschaftlichen Nutzfläche, die dazu geführt hat, daß rund 95 Prozent dieser Nutzfläche de facto zu Pachtland geworden sind; -der Freisetzung der einzelnen staatlichen und „kollektiv“ geleiteten Industriebetriebe hinsichtlich ihrer Produktionsentscheidungen, der Produktevermarktung sowie der Zahlung von Prämien an die Arbeiter; -der Freigabe der Preisgestaltung für Konsumgüter und Nahrungsmittel außerhalb der staatlichen Läden und ebenso für eine Anzahl von Investitionsgütern; -der Zulassung von privaten Unternehmen in Einzelhandel, Handwerk, Klein-und Konsumgüterindustrien sowie im Dienstleistungsbereich, so daß die Industrieproduktion heute in drei Betriebsarten erbracht wird: Staatsbetrieben, „kollektiven“ Unternehmen, in denen sich genossenschaftliche Elemente mit staatlicher Kontrolle verbinden, und Privatunternehmen (1996 kamen 44, Prozent der Industrieproduktion aus Staatsbetrieben, 35, 2 Prozent aus „kollektiven“ Unternehmen und 20, 3 Prozent aus Privatbetrieben 5.); sowie -der Öffnung des Landes gegenüber der Außenwelt, welche die Vereinbarung sogenannter „Joint-ventures“ zwischen privaten ausländischen Firmen und chinesischen Staatsbetrieben, die Aufnahme von Krediten im Ausland, die Einrichtung von Wirtschaftssonderzonen für rein ausländische Unternehmen sowie die Entsendung von (bis Ende 1997 insgesamt 297 000) chinesischen Studenten, Praktikanten und Akademikern zu weiterführenden Studien ins Ausland ermöglicht hat.
Seit dem XIV. Parteitag besteht das offizielle Ziel der Reformpolitik darin, eine „sozialistische Marktwirtschaft“ aufzubauen -das heißt in dem aus marxistisch-leninistischer Sicht nicht eben unproblematischen Versuch, den Sozialismus mit kapitalistischen Mitteln zu errichten. Wesentlich auf diesen Versuch, auf die Frage des Ausmaßes und der Geschwindigkeit, in welchen die kapitalistische Umgestaltung der Wirtschaft anzustreben sei, beziehen sich die richtungspolitischen Divergenzen innerhalb der Führungselite der Partei.
In diesem Zusammenhang mag man die Ankündigung Jiang Zemins, daß die Wirtschaftsreformen nunmehr auch den Bereich der 118 000 überwiegend maroden Staatsbetriebe erfassen werden -dieses wurde bereits in den achtziger Jahren wiederholt von Den Xiaoping gefordert und ist also als eine Absichtserklärung keineswegs neu -, durchaus bemerkenswert finden. Hier geht es um die wirtschaftspolitische Restsubstanz des Sozialismus in China, die als Gegenstand einer durchgreifenden Sanierung nicht allein im Sinne der Eigentumsfrage ideologische Schwierigkeiten aufwirft, sondern auch erheblichen sozialen Zündstoff enthält. Weder der Generalsekretär, Jiang Zemin, in seinem Bericht an den XV. Parteitag im vorigen September noch der im März dieses Jahres neu ernannte Premierminister, Zhu Rongji, in der Darlegung seines ehrgeizigen Regierungsprogramms gaben den geringsten Anlaß zu Hoffnungen auf eine bevorstehende Ausweitung der Reformen über den wirtschaftlichen und den administrativen Bereich hinaus auf die politische Grundordnung der VR China. Im Gegenteil, Jiang wiederholte in seiner Rede die Grundpositionen des XIV. Partei-tages. Er erneuerte den exklusiven Führungsanspruch der KP Chinas, bekannte sich zu der Notwendigkeit, die „demokratische Diktatur des Volkes“ -im Parteistatut der KP Chinas definiert als „Diktatur des Proletariats“ -„zu erhalten und zu verbessern“ sowie die sogenannten „Vier Grundlegenden Prinzipien“ zu beachten. Diese vier Prinzipien sind erstens die Führungsrolle der Kommunistischen Partei, zweitens die Diktatur des Proletariats, drittens der „Sozialismus“, definiert als Dominanz des sozialistischen Eigentums an den Produktionsmitteln, sowie viertens der Marxismus-Leninismus und die Gedanken Mao Zedongs als Staatsdoktrin.
Jiang sprach sich im übrigen ausdrücklich für eine stärkere Überwachung der Presse sowie aller sonstigen Öffentlichkeitsarbeit durch die Partei aus. Zhu Rongji wies in seiner ersten Pressekonferenz als Premierminister eine Neubewertung der Vorgänge in der Frühjahrskrise von 1989 rundweg ab.
Die repressive Komponente in der Politik der KP Chinas betrifft zum ersten die politischen Dissidenten, deren Behandlung, wie besonders deutlich am Beispiel Wei Jingshengs zu beobachten war, mitunter auch der Manipulation auswärtiger Regierungen dienstbar gemacht wird. Nachdem die Führung mit seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Gefängnis im September 1993 erfolglos versucht hatte, für Peking den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 2000 zu gewinnen, wurde Wei wenige Wochen nach einem Staatsbesuch Jiang Zemins in den USA im Oktober 1997 faktisch aus seiner zweiten 14jährigen Haftstrafe, zu der er im Dezember 1995 verurteilt worden war, zur ärztlichen Behandlung in die USA entlassen. Die Clinton-Administration verzichtete im März dieses Jahres im Austausch für die Freilassung Wang Dans, eines der Führer der Demokratie-und Menschenrechtsbewegung von 1989, „zur medizinischen Behandlung in den USA“ erstmals darauf, die jährliche Resolution der Vereinten Nationen zur Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in der VR China zu unterstützen. Eine entsprechende chinesisch-amerikanische Vereinbarung wurde am 1. April 1998 in Washington bekannt
Die rücksichtslose Unterdrückung gilt jedoch ebenso gegenüber religiösen Vereinigungen, die sich der Anleitung und Kontrolle durch die KP Chinas entziehen, und gegenüber den Eigenständigkeitsbestrebungen nationaler Minoritäten, unter denen die Tibeter seit nunmehr vierzig Jahren ein besonders hartes Los durchleiden Die Menschenrechtsverletzungen in diesem Zusammenhang reichen von der willkürlichen Festsetzung und Einweisung von Personen ohne Gerichtsverfahren in Straflager bis zu drei Jahren, über schwere Mißhandlungen bis hin zum Mißbrauch von zum Tode verurteilten Delinquenten für den internationalen Organhandel Schließlich ist die repressive Grundlinie in der Politik der chinesischen kommunistischen Führung auch in deren Aktionen gegenüber den Chinesen jenseits der Taiwan-Straße erkennbar.
Aus der Sicht der Pekinger Führung hat der Hegemonieanspruch der KP Chinas im chinesischen Raum unbedingten Vorrang vor der politischen Willensbildung innerhalb der Bevölkerung Taiwans, die zum Abschluß eines zehn Jahre umfassenden Vorgangs der Demokratisierung durch die schrittweise Ausweitung beziehungsweise Einführung von Wahlen am 23. März 1996 erstmals ihr Staatsoberhaupt in allgemeinen und direkten Volkswahlen bestimmte. Nachdem ein privater Besuch Lee Teng-huis, des Präsidenten der Republik China auf Taiwan, in den USA die Pekinger Führung im Sommer 1995 zum Abbruch eines von privaten Organisationen beider Seiten geführten Austausches zwischen der VR China und der Republik China auf Taiwan veranlaßt hatte, unternahm die kommunistische Volksbefreiungsarmee den Versuch, den auf Taiwan lebenden Teil des chinesischen Souveräns durch Raketenabschußübungen einzuschüchtern und so Einfluß auf den Ausgang der Präsidentenwahlen zu nehmen. Der Versuch endete für Peking in einem doppelten Fiasko. Nicht nur wurde der Amtsinhaber mit 54 Prozent der Stimmen in den Volkswahlen bestätigt, sondern darüber hinaus sah sich die Administration der USA zur militärischen Demonstration von Solidarität mit Taiwan herausgefordert.
Der außerordentlich rege Austausch in der Taiwan-Straße auf der gesellschaftlichen Ebene wurde von den seit Sommer 1995 wachsenden Spannungen zwischen der VR China und der Republik China kaum beeinträchtigt. Die taiwanesischen Investitionen auf dem Festland erreichten Ende 1997 offiziell eine Gesamthöhe von 11, 2 Milliarden US-Dollar, verteilt auf rund 20 000 Unternehmungen. Von Kennern werden die 2 Milliarden US-Dollar, verteilt auf rund 20 000 Unternehmungen. Von Kennern werden die tatsächlich getätigten Anlagen auf das Doppelte veranschlagt. Das Handelsvolumen betrug Ende 1997 11, 5 Milliarden US-Dollar 10. Der Vorgang der Kontaktnahme auf der politischen Ebene stagnierte unterdessen 11.
Jiang Zemin wies in seiner Parteitagsrede im September letzten Jahres wiederum darauf hin, daß die VR China nicht bereit sei, bei der Verteidigung der Einheit und Unteilbarkeit Chinas auf die Anwendung militärischer Gewalt zu verzichten Allerdings schränkte er den casus belli auf den Fall ein, daß „auswärtige Kräfte“ sich in die Wiedervereinigung Chinas einmischten -eine deutliche Abmilderung gegenüber früheren Erklärungen. Auch im übrigen erwecken Jiangs Ausführungen in bezug auf die Wiedervereinigungsproblematik den Eindruck der Mäßigung und Versöhnlichkeit. Zugleich aber geben sie der taiwanesischen Seite Anlaß, das erneute Angebot von Verhandlungen über die „offizielle Beendigung des Zustands der Feindseligkeit zwischen beiden Seiten auf der Grundlage des Ein-China-Prinzips" besonders sorgfältig zu lesen. Taiwan soll wie Hongkong seit dem 1. Juli 1997 und Macao ab 1999 im Rahmen des Konzepts „Ein Land, zwei Systeme“ „sein kapitalistisches System und seine Lebensverhältnisse für eine lange Zeit“, wie es in Jiangs Rede heißt, „beibehalten“. Die Versicherung des General-sekretärs, daß dieses Konzept einen „hohen Grad an Flexibilität“ enthält, dürfte in taiwanesischen Ohren besonders alarmierend klingen. Denn Taiwan wäre nach Hongkong und Macao das letzte Territorium, das zum Mutterland, der kommunistisch regierten Volksrepublik, zurückkehrte. Während die beiden ehemaligen Kolonien ihr Eigenleben womöglich nur vorübergehend, als Köder im Hinblick auf Taiwan, weiterführen können, ließe sich der „hohe Grad an Flexibilität“ des Konzepts „Ein Land, zwei Systeme“ nach der Rückkehr der Insel offenbar ungeniert gegen die jetzigen Lebensverhältnisse Taiwans wenden. Diese sind ja primär von einer politischen Eigenart, nämlich demokratisch legitimiert, und von der Möglichkeit, sie beizubehalten, ist in den Angeboten Pekings an Taipei bisher nicht die Rede gewesen.
III. Verselbständigung der Basis
Die Politik der wirtschaftlichen Reformen und der Öffnung nach außen bewirkte in der VR China nicht allein ein beeindruckendes Wachstum, sondern zeitigte auch eine Reihe alarmierender Erscheinungen.
Die Einkommen in den Städten und auf dem Lande -in den unterentwickelten und den sich entwickelnden Regionen -sowie der verschiedenen Einkommensgruppen in den Städten und Dörfern gingen rapide auseinander. 1979 verhielt sich das Pro-Kopf-Einkommen in den Städten zu demjenigen auf dem Land wie 3, zu 1. Als Ergebnis der Entkollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion war diese Relation 1985 auf 1, 89 zu 1 zurückgegangen. 1988 lag sie jedoch wieder bei 2, 05 zu 1, und 1996 hatte sie 2, 51 zu 1 erreicht 14. Das Pro-Kopf-Einkommen Shanghais, der einkommensstärksten Verwaltungseinheit der VR China, hatte 1982 das 3, 81fache desjenigen der einkommensschwächsten Einheit, der Provinz Guizhou, betragen. Diese Relation war 1993 auf 8, 21 zu 1 angestiegen Der Gini-Koeffizient für die VR China, der 1979 zwischen 0, 38 und 0, 43 geschätzt wurde, dürfte 1994 zwischen den Werten 0, 47 und 0, 49 gelegen haben Die überhitzte Konjunktur bewirkte in den Jahren 1993 und 1994 eine hohe Inflationsrate. Offiziell wurde sie für 1993 mit 14, 7 Prozent und für 1994 mit 24, 1 Prozent angegeben Tatsächlich lag sie 1994 in den Städten bei 30 bis 35 und auf dem Lande bei rund 25 Prozent. Seit der zweiten Jahreshälfte 1995 war die Inflationsrate jedoch rückgängig. 1997 lag sie unter 5 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen schnellte in die Höhe. Nach einer chinesischen Quelle betrug sie Ende 1994 230 Millionen Diese Zahl entspricht zwischen 25 und 30 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung des Landes.
Eine besonders bemerkenswerte Erscheinung stellt in diesem Zusammenhang die Binnenwanderung dar, die seit Mitte der achtziger Jahre rasch zunahm. Bis weit in die siebziger Jahre hinein galt in der VR China ein generelles Verbot der nicht autorisierten Entfernung des Einzelnen von seinem Wohnort. Mancher Hofberichterstatter in Deutschland versuchte uns damals einzureden, „China“ könne sich die Freizügigkeit seiner vielen Menschen politisch nicht leisten. An diesem Verbot werde sich deshalb auf lange Zeit nichts ändern. Tatsächlich lag die physische Mobilisierung der chinesischen Bevölkerung einerseits natürlich durchaus im Interesse der von Deng Xiaoping und seinen Mitarbeitern 1978/79 eingeleiteten Reformpolitik und andererseits selbst-verständlich auch in deren Logik. Chinas Bevölkerung begann, sich mit der Freigabe privatwirtschaftlicher Initiativen unweigerlich zu verselbständigen
Die Binnenwanderung war ebenso sehr ein Phänomen der weit verbreiteten und auf dem Lande jahrelang verdeckt gehaltenen Arbeitslosigkeit wie der gesellschaftlichen Verselbständigung. Ende 1994 wurde die Zahl der ständig auf Arbeitssuche befindlichen Menschen in China offiziell auf 80 bis 130 Millionen von westlichen Beobachtern sogar auf bis zu 200 Millionen geschätzt In diesen Dimensionen stellte Binnenwanderung bereits einen bedeutsamen Aspekt der allgemein zu beobachtenden gesellschaftlichen Desintegration in der VR China dar
Bis zum heutigen Tage schlägt sich diese gesellschaftliche Desintegration in umfangreicher Gewaltkriminalität einschließlich Straßenraub, Drogen-, Waffen-und Menschenhandel, gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Familien und Dörfern sowie Aktionen von Untergrund-Gruppierungen nieder Hinzu treten Unruhen unter den nationalen Minderheiten in Tibet sowie in den Provinzen Chinghai und Xinjiang, außerdem Gewaltanschläge separatistischer Bewegungen Angehörige von Armee und Polizei sind massiv in illegalen Waffengeschäften sowie im Hotel-und Vergnügungsgewerbe engagiert Die Zollbehörden machen ihrem aus vorkommunistischer und zumal aus kaiserlicher Zeit stammenden Ruf, käuflich zu sein, die größte Ehre. Die Bestechlichkeit innerhalb der Apparate von Partei und Staat hat solche Ausmaße angenommen, daß kaum eine Leistung der öffentlichen Hand mehr ohne besondere Zahlungen in Anspruch genommen werden kann. Im Jahre 1996 wurden nach offiziellen Angaben mehr als 61 000 Korruptionsfälle aufgedeckt, 20 000 weniger als im Jahr zuvor, was nach Ansicht des Berichterstatters des Hongkonger Wochenmagazins „Far Eastern Economic Review“ allenfalls die Oberfläche des tatsächlichen Phänomens „ankratzt“. Nach dessen Informationen werden beispielsweise in einigen Kreisverwaltungen der nordchinesischen Provinz Henan Posten auf der Abteilungsleiter-Ebene für 72 000 HK Dollar verkauft Vorerst scheint der seit zweieinhalb Jahren anhängige Fall des ehemaligen Oberbürgermeisters von Peking, Chen Xitong, alles in den Schatten zu stellen, was bisher an individueller Bestechlichkeit aus der VR China bekannt geworden ist. Es brauchte nach der Entdeckung der Vergehen Chens ganze zwei Jahre, bis der Delinquent wenigstens aus der Partei ausgeschlossen wurde -nach allgemein kommunistischer Praxis die Voraussetzung für die Möglichkeit seiner strafrechtlichen Verfolgung. Die Ermittlungen gegen Chen wurden einen Tag vor der Eröffnung des XV. Parteitages der KP Chinas eingeleitet
Die demoralisierende Wirkung, die von solcher Ungeniertheit der Herrschaftselite ausgeht, hat sich in Statistiken des deutlichen politischen Kontrollverfalls niedergeschlagen. Nach offizieller Angabe wiesen 1994 35 Prozent aller Fertigungsstätten in den staatlichen Betrieben nicht ein einziges Parteimitglied auf. Nur in 704 oder 22, 77 Prozent von 3 092 „Joint-ventures“ und Betrieben in ausschließlich ausländischem Besitz in 34 Wirtschaftssonderzonen verfügte die KP Chinas über Parteizellen. Nach einer Untersuchung im Jahre 1995 war die Partei nur in 8, 6 Prozent der 2, 78 Millionen halbprivaten Betriebe auf Dorf-und Bezirksebene organisatorisch präsent. In weniger als einem Prozent der untersuchten 2 500 privaten Betriebe war sie in der südchinesischen Küsten-provinz Zhejiang vertreten. In den 70 000 gemischt staatlich-kollektiven Betrieben auf dem Lande hatten 77 Prozent kein einziges Parteimitglied aufzuweisen
In diesen Zusammenhang gehört auch die Feststellung, daß das illegale Kopieren von elektronischer Software, Videos und Filmen -es hatte in den frühen neunziger Jahren die amerikanisch-chinesi-sehen Beziehungen schwer belastet, bis es 1995 zu einem Abkommen zwischen den USA und der VR China über den Schutz geistigen Eigentums kam -im Laufe des Jahres 1997 beispiellose Ausmaße angenommen hat. Die chinesischen Behörden geben offen zu, dieses Problems nicht mehr Herr zu werden
In einer nur intern verbreiteten, später aber in Hongkong veröffentlichten Rede vor Parteikadern erklärte der damalige Premierminister Li Peng im Juli 1994, auf dem Lande seien 60 Prozent der Parteiorganisation „im Zustand der Paralyse“ und ihre Kader „korrupt und degeneriert“ Nach einer anderen Quelle galten 1997 rund eine Viertelmillion der etwa 800 000 Parteizellen auf dem Lande als dysfunktional. Schätzungsweise zehn Prozent der Dörfer stehen nach dieser Quelle den Regierungsbehörden offen feindselig gegenüber Ihre Feindseligkeit äußerte sich seit 1994 verstärkt in Bauernunruhen, gewaltsamen Angriffen auf lokale Beamte und sogar in deren Ermordung
Die Partei reagierte auf solche Erscheinungen mit der Ausweitung der erstmals 1987 in einer Anzahl von Dörfern versuchsweise durchgeführten Wahlen zur Bestimmung von Dorfvorstehern. Nach offiziellen Angaben werden solche Wahlen, in denen sich in der Regel ein Parteimitglied und ein Parteiloser um das Amt des Dorfvorstehers bewerben, inzwischen in 60 Prozent aller Dörfer durchgeführt Ein Vergleich von Berichten aus verschiedenen Regionen zeigt, daß die Wahlkampagnen weitgehend von der KP Chinas gesteuert sind und wesentlich dem Ziel dienen sollen, verlorenes Terrain zurückzugewinnen
IV. Schlußfolgerungen
Manche westlichen Beobachter meinen, daß die Konkurrenzwahlen auf der Dorfebene Anlaß zu Hoffnungen auf eine Demokratisierung der VR China „von der Basis her“ gäben. Andere glauben mindestens feststellen zu können, daß das System der VR China sich seit Ende der siebziger Jahre vom Totalitarismus zum Autoritarismus gewandelt habe
Beide Wahrnehmungen sind mit den Kenntnissen, die die Politikwissenschaft über die Typen politischer Herrschaft und deren Evolution bisher sichergestellt hat, nicht in Übereinstimmung zu bringen.
So wiesen alle Fälle des erfolgreichen friedlichen Übergangs zur Demokratie, deren Zeugen wir im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts geworden sind, erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die historisch-kulturelle, geographische, politische, soziale und wirtschaftliche Ausgangslage auf. Indes hatten sie eines miteinander gemeinsam, was anscheinend ausschlaggebend für den Übergang gewesen ist. Dieses war der Wille der Herrschenden insgesamt oder auch eines hinreichend einflußreichen Teils der Herrschaftselite, den Über-gang herbeizuführen. Die erste Voraussetzung für die Herstellung demokratischer Verhältnisse innerhalb eines jeden Systems ist, daß diese Verhältnisse gewollt werden -nicht allein von den Beherrschten, sondern auch von den Herrschenden. Auch die wechselvollen politischen Erfahrungen der Deutschen in den beiden Hälften dieses Jahrhunderts bezeugen nichts anderes.
Die heutigen Machthaber in der VR China fühlen sich der Herstellung demokratischer Verhältnisse in ihrem Lande nicht verpflichtet und sind auch nicht bereit, dem Drängen der Beherrschten auf sie nachzugeben.
Wir haben sowohl dies zur Kenntnis zu nehmen als auch die Tatsache, daß die autoritäre Diktatur einen durchaus eigenständigen und ernstzunehmenden Herrschaftstyp darstellt. Sie ist keineswegs bloß ein politisch geschmackvolleres Gewand der Monokratie, in das totalitäre Regime schlüpfen, wenn ihnen ihre ursprüngliche, unsympathisch anmutende Zielsetzung und Mission abhanden zu kommen scheint und sie mehr und mehr den umfassenden Zugriff auf ihre Gesellschaften vermissen lassen.
Die beträchtlichen Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat in der VR China seit den späten siebziger Jahren sind aufgrund von Herrschaftsverzichten der Partei möglich geworden. Daran besteht kein Zweifel. Die KP Chinas verzichtete auf die Organisation der kollektiven Produktion in der Landwirtschaft, auf die vollständige Planung und Lenkung der industriellen Produktion, auf das Monopol in der Preisgestaltung und der Unternehmensgründung und ebenso auf die Aufhebung der Freizügigkeit für Menschen und Kapital. Sie bewahrte jedoch das Prinzip des kollektiven Eigentums an der landwirtschaftlichen Nutzfläche, den Anspruch auf die Dominanz des sozialistischen Eigentums an den Produktionsmitteln und neben ihrem politischen, organisatorischen und intellektuellen Hegemonieanspruch eine Fülle von Zugriffen auf Gesellschaft und Individuum, unter denen der dramatischste sicherlich derjenige auf die Gebärfreiheit des Menschen ist
Die Herrschaftsverzichte der Partei sind in allen Bereichen partieller und zugleich willkürlicher Natur geblieben. -Sie haben den Grundcharakter des totalitären Systems nicht geändert. Die Einparteiherrschaft der VR China hat mit allen autoritären Diktaturen, die wir kennen, zwar die Ausübung des politischen Führungsmonopols gemein, der nach wie vor massive Anspruch der KP Chinas auf Vorherrschaft auch in ausnahmslos allen anderen Lebens-und Tätigkeitsbereichen von Gesellschaft und Individuum unterscheidet das System der VR China aber weiterhin deutlich sowohl von autoritären Entwicklungs-als auch von autoritären Bewahrungsdiktaturen. Mit dieser Feststellung ist auf die eingangs aufgeworfene Frage nach dem heutigen Stand des politischen Systems in der VR China im Vorgang der Evolution kommunistischer Herrschaft zurückzukommen.
Aus den vorgelegten Beobachtungen folgt der Schluß, daß sich in der politischen Realität der VR China das Stadium der Institutionalisierung, um welche die kommunistische Herrschaftselite fast zwanzig Jahre lang ringen mußte, und dasjenige der Desintegration, das wir als das vierte und letzte Stadium aus der Geschichte der marxistisch-leninistischen Parteiherrschaft kennen, ineinandergeschoben haben. Die partiellen und willkürlichen Herrschaftsverzichte der KP Chinas reichen offenkundig aus, um das System lassen, fortexistieren zu bleiben aber zu wenig, um mehr durchzusetzen als das Recht des Stärkeren, das gegenwärtig rund 100 Millionen Menschen in China unter den bewundernden Blicken westlicher Besucher auf Kosten von 1, 2 Milliarden „reich“ und „stolz“ werden läßt.