Am Juli 1990 wurde gemäß Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990 die gesamtdeutsche „Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion“ in Kraft gesetzt und das Währungsgebiet der DM auf die DDR ausgedehnt. Mit Ausnahme der Privatisierungen durch die Treuhandanstalt hat kaum ein Aspekt der Vereinigungspolitik die Deutschen in Ost und West so bewegt wie die Entscheidung, die wirtschaftliche und monetäre Einheit der beiden, über vierzig Jahre getrennten deutschen Teilstaaten schnellstmöglich zu vollziehen. Nicht nur Bevölkerung, Politik und Publizistik waren in dieser Frage gespalten; ungewöhnlich heftig waren auch die Meinungsverschiedenheiten unter den Wirtschaftsexperten quer durch alle politischen Lager und wissenschaftlichen Anschauungen; bis heute dauert die Diskussion an.
Im folgenden geht es weniger um organisatorisch-technische Details der Währungsumstellung in der DDR, zumal es dazu bereits eine Anzahl hervorragender Publikationen gibt 1. Planung, Organisation und Durchführung oblagen der Bundesbank, die ihre Aufgabe insgesamt mit Bravour erfüllt hat; das wird auch von den schärfsten Kritikern konzediert. Statt dessen werden in diesem Beitrag die Hintergründe der Grundsatzentscheidungen zu dieser Maßnahme sowie einige ihrer Implikationen beleuchtet.
I. Stand des Vereinigungs-und Transformationsprozesses in Ostdeutschland: Bilanzierungsversuche
Folgt man der Berichterstattung über Ostdeutschland, so gewinnt man überwiegend den Eindruck, daß es sich bei dem 1990 begonnenen Experiment im ganzen um ein fehlgeschlagenes Projekt handelt selbst zurückhaltende Kritiker befürchten angesichts aktueller Entwicklungen ein Umkippen des Prozesses. Helmut Schmidt hat jüngst im Leitartikel einer renommierten Wochenzeitung das „Wegbrechen des Ostens“ diagnostiziert Das Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland sei 1997 erstmals geringer als in Westdeutschland Symptomatisch ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt: Im Durchschnitt des letzten Jahres betrug die Zahl der registrierten Arbeitslosen in den neuen Ländern 1, 363 Millionen, was einer Arbeitslosenquote von 17, 6 Prozent entspricht; darüber hinaus befanden sich 468 000 Personen in Kurzarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung; die sogenannte „Stille Reserve“, wird vom Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) auf weitere 390 000 geschätzt. Mehr als 2, 2 Millionen Ostdeutsche (das sind 14, 4 Prozent der Wohnbevölkerung oder 28, 5 Prozent des Erwerbspotentials) sind somit entgegen ihren Wünschen ohne (reguläre) Beschäftigungsmöglichkeit. Nach wie vor fließen jährlich dreistellige Milliardensummen aus öffentlichen Kassen von West nach Ost, auch wenn die Rückflüsse in Form von Steuern etc. berücksichtigt werden. Ein sich selbst tragender „Aufschwung Ost“ scheint noch immer nicht in Sicht; zwischen ostdeutscher Binnennachfrage und Binnenproduktion klafft bis heute eine beträchtliche Lücke, die 1996 ca. 35 Prozent betrug. Nicht zuletzt scheint sich auch der Graben zwischen Ost-und Westdeutschen zu verbreitern; die Zusammengehörigkeitseuphorie der ersten Stunde hat -glaubt man diversen Meinungsumfragen -spürbar abgenommen. Man könnte nun freilich leicht die Gegenrechnung aufmachen und anhand einer Vielzahl statistischer Indikatoren belegen, daß der ostdeutsche Um-und Aufbauprozeß im ganzen ein Resultat aufweist, das sich -gemessen an den Ausgangsbedingungen und dem kurzen Zeitraum -durchaus sehen lassen kann. Von einer solchen Bestandsaufnahme sei hier aus Platzgründen abgesehen Die große Bedeutung, die der ostdeutschen Beschäftigungssituation für den Vereinigungs-und Transformationsprozeß wie für die allgemeine Stimmungslage zukommt, läßt es gleichwohl ratsam erscheinen, auf einen Aspekt gesondert hinzuweisen, der in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion bislang wenig Beachtung gefunden hat: Entgegen dem Eindruck, den ein eingeengter Blick auf die Arbeitslosenzahlen vermittelt, läßt sich nämlich feststellen, daß das Verhältnis von tatsächlich Erwerbstätigen und Wohnbevölkerung in Ostdeutschland dem Westniveau in etwa entspricht (1997 waren 41, 7 Prozent der Ostdeutschen und 41, 2 Prozent der Westdeutschen erwerbstätig). Die weitaus höhere Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland rührt insoweit zu einem erheblichen Teil aus einem relativ höheren Arbeitsangebot Darüber hinaus ist die Bedeutung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen für die Beschäftigung im Osten seit 1992 stark zurückgegangen, obschon sie noch immer außerordentlich hoch ist. Beides deutet darauf hin, daß sich die Beschäftigungslage im Osten allmählich „normalisiert“.
Um nicht mißverstanden zu werden: „normal“ bedeutet natürlich nicht „gut“, und mit dem obigen Argument soll niemandem das Recht abgesprochen werden, sich um einen Arbeitsplatz zu bemühen. Richtig ist auch, daß Aggregatzahlen immer erhebliche sektorale, regionale und individuelle Unterschiede verbergen; aber diese gab es auch in der DDR, und es gibt sie ebenfalls in den alten Bundesländern. Entscheidend scheint mir indes folgendes zu sein: Je nach Optik vermitteln alle Daten über die wirtschaftliche und soziale Situation in Ostdeutschland offenbar die Vorstellung von einem halbvollen oder halbleeren Glas. Beide Blickwinkel sind legitim: Der Blick nach vorn sagt uns, welch immense Aufgabe noch auf uns wartet; der Blick zurück indes lehrt, welch gewaltiges Stück Weges bereits zurückgelegt wurde. Ferner: Auch wenn aktuelle Lage und zukünftige Perspektiven bei genauerem, unvoreingenommenem Hinsehen weit weniger schwarz erscheinen als häufig gezeichnet, kann man jedenfalls kaum bestreiten, daß die Entwicklung bislang wenig befriedigend verlaufen ist, insbesondere, wenn man sie am Optimismus des Jahres 1990 mißt. Das wirft zwangsläufig die Frage nach der geeigneten Eile auf, an der Erfolg oder Mißerfolg der Vereinigungspolitik gemessen werden können.
Es gibt eine Fülle von Erklärungen für den derzeitigen Stand des Transformationsprozesses in Ostdeutschland, die hier im einzelnen nicht erörtert werden können. Von vielen Kritikern wird aber behauptet, daß der frühe Vollzug der Währungsunion als eine Art wirtschaftspolitischer Sündenfall die entscheidende Ursache für die Misere darstelle. Es kann nicht verwundern, daß die PDS auf diese Weise versucht, ihre eigenen Altlasten zu entsorgen; in einer Denkschrift der Partei heißt es demgemäß: „Im Grunde sind die ökonomischen und sozialen Probleme, mit denen -sichtbar in Ostdeutschland -die deutsche Einheit belastet wurde und belastet ist, zum überwiegenden Teil eine Folge der Währungsunion in der praktizierten Form.“
Eine ähnliche Kritik kommt indes auch aus dem Westen, wobei zuweilen nachgerade ein argumentativer Salto mortale vollführt wird: „Von vielen wird die Erblast des vielfach kritisch beschriebenen DDR-Wirtschaftssystems als Hauptproblem angesehen. Aber diese Sichtweise ist apologetisch und lenkt von den nach 1989 eingetretenen Fehlentwicklungen ab. Aus ökonomischer Sicht dürfte die entscheidende Ursache aller Probleme die schnelle Währungsunion mit den allein aus politischen Gründen gewählten Umtauschsätzen (Mark in D-Mark) sein. Dies führte zu einer faktischen Aufwertung der in Ostdeutschland verwendeten Währung um mehr als das Dreifache, die den ökonomischen Fundamentaldaten diametral wider-sprach. Eine derartige Aufwertung, praktisch ohne jegliche Schutzmaßnahmen, würde auch die blühendste Ökonomie ruinieren. Gleichwohl gab es nach unserer Auffassung keine politisch gangbare, halbwegs durchsetzbare und ökonomisch bessere Alternative. Ein folgenreicher, grundlegender Widerspruch zwischen Ökonomie und Politik hatte sich herausgebildet, der zugunsten der Politik gelöst wurde.“
II. Erfolge und Mißerfolge der Vereinigungspolitik: Maßstäbe
Für die Bewertung der ostdeutschen Transformation werden (meist implizit) ganz verschiedene Kriterien zugrunde gelegt. Man kann z. B. die reale Situation 1989/90 mit der heutigen vergleichen, oder man kann die reale Entwicklung nach 1989/90 an den damals vorherrschenden Erwartungen messen. Beide Perspektiven sind zweifellos interessant und. soweit operationalisierbar, gewiß auch relevant; nicht zuletzt durch sie werden die individuellen Beurteilungen geprägt. Für eine Bewertung der politischen Entscheidungen im Zuge der Vereinigung sind beide Kriterien jedoch wenig brauchbar. Das erste impliziert, daß die Ausgangssituation hätte konserviert werden können; das ist indes in der Regel nicht möglich und im vorliegenden Fall wohl auch kaum wünschenswert. Das zweite Kriterium unterstellt, daß Erwartungen stets eine Beziehung zur Realität aufweisen.
Für eine faire Beurteilung der deutschen Währungsunion sind demgegenüber zwei getrennte Fragen zu beantworten: 1. Gab es rückblickend eine Entscheidungsalternative, die nach dem heutigen Kenntnisstand zu günstigeren Ergebnissen geführt hätte? War die Entscheidung insoweit richtig oder falsch? 2. Gab es ex ante, beim damals vorliegenden Informationsstand, eine bessere Alternative? War die Entscheidung also vernünftig oder unvernünftig?
Die bloße Tatsache, daß die Währungsunion nicht zu den erhofften Resultaten geführt hat, ist -für sich genommen -noch kein hinreichender Grund, die Entscheidung zu kritisieren. Zu Recht hat Hans Willgerodt schon im April 1991 festgestellt: „Mit Unvollkommenheiten war ... zu rechnen; sie haben auch in der Zeit Ludwig Erhards mitgespielt. Es gibt keine völlig fehlerfreie Wirtschaftspolitik. ... Daß heute die Bedingungen für eine Reform teilweise weniger günstig sind als zur Zeit Erhards, kann den Vorwurf nicht begründen, die Einführung der D-Mark und die Wirtschaftsunion der neuen Länder mit der alten Bundesrepublik seien eine Fehlentscheidung und die Kosten dieser Vereinigung zu hoch gewesen. Kosten sind der Verzicht auf Alternativen. Das gilt auch für wirtschaftspolitische Alternativen. Erst der Nachweis, daß ein anderer Weg zu einem besseren Ergebnis geführt hätte, entwertet die getroffene Entscheidung.“ Meine These lautet, daß die Entscheidung der Bundesregierung im Februar 1990, der DDR eine Wirtschafts-und Währungsunion anzubieten, nicht nur vernünftig, sondern auch richtig war!
Der ganze Streit wäre freilich überflüssig, wenn es zu der getroffenen Entscheidung keine Alternative gegeben hätte. Obwohl mitunter dieser Eindruck erweckt zu werden scheint, wird das ernsthaft wohl niemand behaupten. Selbstredend gab es Alternativen, im Grundsätzlichen wie im Detail. Man würde die Verantwortung (aber auch das Verdienst) der politischen Entscheidungsträger schmälern, wollte man dies bestreiten.
Eine Reihe weiterer Aspekte sind für die Bewertung zu beachten: Erstens sollte man sich vergegenwärtigen, daß die Retrospektive an einer fast zwangsläufigen doppelten Informationsverzerrung leidet. Einerseits mag man sich von heute allgemein bekannten Tatbeständen kaum noch vorstellen, daß sie zum Zeitpunkt der Entscheidung zumindest in ihrer vollen Tragweite nicht erkennbar waren (man denke etwa an die große Unsicherheit über den wirtschaftlichen Zustand der DDR), und andererseits werden Informationen und Fakten, die damals tatsächlich entscheidend waren, heute teilweise kaum mehr bedacht (insbesondere die Dramatik der in wenigen Monaten ablaufenden Ereignisse). Zweitens basieren politische Entscheidungen in Demokratien fast immer auf einem Kompromiß unterschiedlicher, häufig auch widerstreitender Interessen; das gilt ebenso für die Entscheidungen im Vereinigungsprozeß und erklärt, warum es zuweilen auch zu inkonsistenten, ja widersinnigen Entscheidungen kommen konnte. Vielfach unterschätzt wird insbesondere der Part, den ostdeutsche Interessenvertreter gespielt haben Drittens muß bei den Entscheidungen die strategische Dimension berücksichtigt werden. Für alle beteiligten Akteure gab es zu jedem Zeitpunkt verschiedene Handlungsmöglichkeiten, deren Wahrnehmung nicht zuletzt von der bundesdeutschen Politik abhingen. Eine ihrer Hauptaufgaben bestand darin, die Handlungsweisen in berechenbare und möglichst konfliktfreie Bahnen zu lenken. Sie hat diese Aufgabe im großen und ganzen meisterhaft bewältigt, viele Negativszenarien sind gerade wegen dieser Umsicht nicht eingetreten. Nichts ist verfehlter, als im Nachhinein den Vorwurf zu erheben, politische Alternativen seien angesichts „irrealer“ (weil sich nicht bestätigender) Befürchtungen verspielt worden. Und ein letzter -vierter -Punkt: Die Entscheidungen zur Währungsunion sind gefallen, und der Streit über nicht ergriffene Alternativen natürlich letztlich hypothetisch; die ganze Frage scheint insoweit für viele gänzlich müßig zu sein So leicht sollte man es sich indes nicht machen -allein schon deswegen nicht, weil der Mythos des Kontrafaktischen („verpaßte Chancen“) stets eine wesentliche Quelle der Legendenbildung war und ist
III. Währungsunion im geteilten Deutschland: Akteure und Drehbuch
Für die Polarisierung für und wider die Währungsunion unter Wirtschaftswissenschaftlern gab es verschiedene Gründe:
Zum ersten dominiert(e) innerhalb der herrschenden ökonomischen Lehrmeinung seit langem die sogenannte „Krönungstheorie“, derzufolge der wirtschaftliche Integrationsprozeß zweier Staaten durch eine gemeinsame Währung eher vollendet denn eingeleitet werden sollte
Zum zweiten gab es für eine Wirtschafts-und Währungsgemeinschaft zwischen einem hochentwickelten kapitalistischen Marktsystem und einer im ganzen eher ineffizienten sozialistischen Planwirtschaft (obschon „in Transformation“) keinen historischen Präzedenzfall; auch die Wissenschaft konnte keine geeigneten theoretischen Konzepte anbieten. Angesichts dieser Sachlage konnte die Meinungsvielfalt unter den Experten kaum verwundern. Nur so wird auch plausibel, warum sehr schnell die westdeutsche Währungsreform von 1948 nachgerade zum Mythos avancieren konnte. Politik kommt ohne Symbole eben nur schwer aus; zumal in gesellschaftlichen Umbruchsituationen brauchen Menschen positive Leitideen, um die Risiken und Kosten eines abrupten Wandels verkraften zu können. Bei aller zutreffenden Kritik an der bemühten Parallelität zum Jahr 1948 scheint die Wissenschaft (zumal die ökonomische) diesen psychologischen Zusammenhang nur wenig begriffen zu haben
Zum dritten gab es eine Fülle von Imponderabilien bezüglich der Ausgangslage in der DDR wie auch der möglichen Konsequenzen einer Währungsunion. Die meisten Wirkungen konnten zwar anhand des Instrumentariums der Ökonomik in ihrer qualitativen Ausrichtung zutreffend prognostiziert werden; in diesem Sinne wurde keiner der entscheidenden Zusammenhänge vernachlässigt. Welches quantitative Gewicht aber den einzelnen Effekten angesichts der ungenügenden Daten-und Informationslage, der letztlich nicht vorhersagbaren Reaktionen der Wirtschaftssubjekte wie auch der vielfältigen Interdependenzen tatsächlich zukommen würde, konnte nur abgewartet werden.
Hat die (ökonomische) Vernunft angesichts dieser Sachlage versagt, war sie durch die entstandene Gemengelage überfordert? Oder war es umgekehrt die Politik, die sich durch Mißachtung wissenschaftlicher Expertise zu Fehleinschätzungen und (aus welchen Gründen auch immer) zu falschen Maßnahmen verleiten ließ? Beide Behauptungen gehen am Kern vorbei.
Zunächst einmal: Trotz des Fehlens einer geschlossenen Transformationskonzeption (vielleicht auch gerade deswegen) gab es seitens der Wirtschaftswissenschaft eine Fülle z. T.sehr dezidierter Meinungen und Vorschläge; einen Königsweg hatte freilich niemand anzubieten Damit allerdings fiel die Qual der Wahl der Politik zu. Sie konnte nicht allen Empfehlungen und Bedenken gerecht werden, vielmehr mußte sie sich für ein Vorgehen entscheiden, und die Bundesregierung (z. T. mit massiver Unterstützung einzelner Oppositionsvertreter) traf diese Entscheidung mit großer Entschlossenheit, anerkennenswerter Souveränität und bemerkenswertem Weitblick. Nur oberflächliche Beobachter können den Eindruck gewinnen, daß dabei wirtschaftswissenschaftlicher Sachverstand keine Beachtung gefunden hätte.
Die Bundesregierung war sich durchaus der Risiken des eingeschlagenen Weges bewußt; sie war sich aber ebenfalls darüber im klaren, daß außergewöhnliche Umstände auch außergewöhnliche Maßnahmen erheischen. In seiner Regierungserklärung zum Besuch der Modrow-Regierung in Bonn erläuterte Helmut Kohl am 15. Februar 1990: „Über eines kann kein Zweifel bestehen: In einer politisch und wirtschaftlich normalen Situation wäre der Weg ein anderer gewesen, und zwar derjenige schrittweiser Reformen und Anpassungen mit der gemeinsamen Währung erst zu einem späteren Zeitpunkt. Vor diesem Hintergrund . . . gibt es kritische Stimmen von Experten. Auch der Wirtschaftssachverständigenrat hat sich in dieser Weise geäußert. Wir nehmen die Argumente ernst. Und dennoch sage ich: Wir entscheiden uns für den eben skizzierten Weg. ... In einer solchen Situation geht es um mehr als um Ökonomie, so wichtig Ökonomie ist. Es geht jetzt darum, ein klares Signal der Hoffnung und der Ermutigung für die Menschen in der DDR zu setzen.“
Daß dies gegen das Votum der Expertenmehrheit geschah, kann nur behaupten, wer die Vorbehalte offizieller Politikberatungsinstanzen (insbesondere des Sachverständigenrates aber auch der Bundesbank der bei der Grundsatzentscheidung über die Währungsunion lediglich beratende Funktion zukam) zum einzigen Gradmesser ökonomischen Sachverstandes stilisiert, was ironischer-weise viele, die sich darauf berufen, ansonsten vehement ablehnen würden. Ihrem Gesetzesauftrag gemäß mußte man erwarten, daß sie eher auf die enormen Risiken für die Bundesrepublik abstellen würden: der Bundesbankpräsident auf die Geld-und Währungsrisiken, der Sachverständigenrat auf die fiskalischen Risiken.
Tatsächlich erweist sich das Spektrum der ökonomischen Meinungsäußerungen als weitaus ausgewogener, als es gewöhnlich dargestellt wird. Einige prominente SPD-Politiker z. B. sahen schon früh, daß es zur schnellstmöglichen Währungsunion mit der DDR keine realistische Alternative gab; darunter Klaus von Dohnanyi, Ingrid Matthäus-Maier und Wolfgang Roth Als Befürworter unter den Fachökonomen sind u. a. zu nennen Kurt Biedenkopf, Wolfram Engels, Wilhelm Hankel, Erhard Kantzenbach, Norbert Kloten, Claus Köhler, Jürgen Kromphardt, Hans-Jürgen Krupp, HansWillgerodt sowie der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft selbst einige DDR-Ökonomen konnten sich den Pro-Argumenten nicht verschließen obwohl dort unter den politischen Akteuren (mit Ausnahme der am 5. Februar von Ost-CDU, DSU und DA begründeten „Allianz für Deutschland“) wie auch unter Wissenschaftlern prinzipiell eine eher ablehnende Haltung vorherrschend gewesen sein dürfte Von einem eindeutigen Votum der Fachleute gegen die Einführung der Währungsunion kann jedenfalls keine Rede sein.
IV. Staatsbankrott und Übersiedler: politischer Prolog zur Währungsunion
Als im Spätsommer 1989 eine breite Fluchtwelle aus der DDR hauptsächlich über die CSSR und Ungarn ihren Weg in den Westen suchte, war dies ein deutliches Symptom für die wachsende Perspektivlosigkeit der DDR-Gesellschaft, für den inneren Zerfall des SED-Staates und für die zunehmende Machtlosigkeit seiner Staats-und Parteiführung. Dem Nachfolger Honeckers als Generalsekretär des ZK der SED, Egon Krenz, mußte schnell klar geworden sein, daß nur eine Lockerung der Ausreisebedingungen die Situation zumindest mittelfristig entschärfen konnte, sofern dies überhaupt noch möglich sein sollte; das allerdings barg hohe Risiken, die man sich von Seiten der Bundesrepublik angemessen entgelten lassen wollte. Erstmals in einem Telefonat am 26. Oktober 1989 kündigte Egon Krenz gegenüber Helmut Kohl die Einführung eines neuen Reisegesetzes an, verwies jedoch in diesem Zusammenhang zugleich auf zusätzliche ökonomische Belastungen der DDR, für die man eine Kompensation erwarte
Die chaotische Form jedoch, in der die innerdeutsche Grenze (einschließlich der Berliner Mauer) am Abend des 9. November 1989 für die anstürmenden Massen freigegeben werden mußte, verärgerte nicht nur die sowjetischen Genossen, sondern brachte die SED auch gegenüber der Bundesrepublik in die Rückhand; die ursprünglich nur als Übergangslösung mit Wirkung vom 10. November vorgesehene Regelung konnte ohne massive Gewaltanwendung nicht mehr zurückgenommen werden. Mit diesen taktischen Fehlleistungen hätte die SED indes durchaus leben können; entscheidend für sie war letztlich, daß die Sowjetunion die Bestandsgarantie für die staatliche Eigenständigkeit der DDR aufrecht erhielt. Unter dieser Voraussetzung bedeutete der anschwellende Übersiedlerstrom viel eher einen Druck auf die Bundesregierung als auf die DDR-Regierung, die durchaus glauben konnte, auf diese Weise umfangreiche Wirtschaftshilfen von seilen der Bundesrepublik erzwingen zu können. Mit Kohls Zehn-Punkte-Programm reagierte die Bundesregierung am 28. November konsequent, indem sie behutsame Weichenstellungen in Richtung auf eine Vereinigung beider Staaten vornahm. Der Besuch Kohls und Genschers am 10. Februar 1990 in Moskau brachte dann den entscheidenden Durchbruch.
Bereits zwei Tage nach der Veröffentlichung der Modrow-Initiative „Für Deutschland, einig Vaterland“ deutete sich der Umschwung an. Am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos trafen Kohl und Modrow am 3. Februar 1990 zu einem persönlichen Gespräch zusammen. „Der Spiegel“ berichtete: „Modrow beklagte einen . dramatischen Verfall der Staatlichkeit’. Scharenweise erschienen Polizeieinheiten nicht mehr zum Dienst. Ganze Verwaltungen lägen lahm. Die Nationale Volksarmee zerbrösele. Vor allem aber sei sein Land wirtschaftlich am Ende. Die Produktion sacke ab. Immer mehr müßte importiert werden. Doch dafür sei kein Geld da. Die Kreditwürdigkeit der DDR nehme ab. Zahlungsunfähigkeit drohe. . Bei uns ist es aus 1, erklärte der DDR-Premier dem Bonner Kanzler. . Wir sind am Ende. Unser Geld reicht noch bis Mitte des Jahres .“
Auf derselben Tagung referierte. Wolfgang Berghofer, Oberbürgermeister von Dresden: „Streiks, befristete Arbeitsniederlegungen und desolates Arbeitsverhalten verschlechtern die ökonomische Situation besorgniserregend. Die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft sinkt. Die Folge ist, daß unvermindert täglich 2 000-3 000 Menschen die DDR verlassen und in die BRD gehen. Neben politischen Ursachen bestimmt in wachsendem Maße mangelndes Vertrauen in die Perspektiven der Wirtschaft die Entscheidung wegzugehen. . . . Wir sind nicht in der Lage, diesen Arbeitskräfte-schwund . .. auszugleichen. Wo von zehn Fachleuten sechs fehlen, haben die restlichen vier keine Chancen mehr. Wenn diese Situation nicht schnellstens überwunden wird, führt sie zum politischen und wirtschaftlichen Kollaps in der DDR. Verknappung, Zusammenbruch der Versorgung, Streiks und damit weiterer wirtschaftlicher Zerfall könnten dann Auslöser für unkontrollierbare Gewalt und Radikalismus werden“. Und als Hilfsmaßnahme schlug er vor: „Der schnellste Weg besteht darin, die DDR-Mark zu einem festzulegenden Kurs in DM umzutauschen“
Für Kohl waren diese Hilferufe ein eindeutiges Signal, die Gangart zu beschleunigen und nun auch unkonventionelle Maßnahmen in Erwägung zu ziehen Im engsten Beraterkreis war bereits seit Mitte Dezember 1989 über eine rasche Währungsunion mit Ostdeutschland diskutiert worden und auch die Finanzexpertin der SPD, Ingrid Matthäus-Maier, hatte diesen Vorschlag in einem „Zeit“ -Artikel am 19. Januar gemacht *. Trotz bestehender Vorbehalte griff der Kanzler nun diese Idee auf; am 7. Februar beschloß das Bundeskabinett, der DDR-Regierung anzubieten, unverzüglich in Verhandlungen über eine Wirtschafts-und Währungsunion einzutreten; anläßlich des Besuchs der DDR-Regierungsdelegation in Bonn am 13. Februar wurde Modrow das Angebot unterbreitet
V. Hintergründe und Alternativen: Währungsunion -erster Akt
Was bewog den Bundeskanzler zu einem derart waghalsig erscheinenden Angebot? Es wäre gewiß naiv, zu bestreiten, daß persönlicher Ehrgeiz und (wahl-) politische Taktik eine Rolle gespielt haben Auch solche Motive sind in Demokratien legitim und keineswegs per se ein Indiz für irrationale Entscheidungen; ihr wissenschaftlicher Erklärungsgehalt ist insoweit meist auch sehr gering Auch von marktideologischen Scheuklappen kann angesichts der Tatsache, daß gerade orthodoxe, marktliberale Ökonomen eher ein schrittweises Vorgehen präferiert hätten, nicht ernsthaft die Rede sein. Betrachten wir zunächst die Problemlage, vor die sich die DDR Anfang 1990 gestellt sah.
Augenscheinlich war, daß der Lebensstandard (im weitesten Sinne) für ein vermeintlich hochentwikkeltes Industrieland extrem niedrig lag, begründet durch die ineffiziente Wirtschaftsweise mit veraltetem und/oder marodem Kapitalstock in den Wirtschaftsbetrieben ebenso wie hinsichtlich der gesamten öffentlichen Infrastruktur. Insbesondere im Vergleich mit der Bundesrepublik war dieser Rückstand deutlich spürbar und den DDR-Bürgern stets bewußt gewesen; nach Öffnung der Grenzen jedoch wurde das Wohlstandsgefälle für viele zur nachgerade traumatischen Erfahrung. Zudem schienen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu zerfallen. Disziplinlosigkeit und individuell-egoistische Vorteilssuche (nicht zuletzt von Funktionären des Systems, die über entsprechende Informationen und Möglichkeiten verfügten) drohten überhandzunehmen; die alte Ordnung zerfiel zusehends, und eine neue war nicht in Sicht. Mangelndes Vertrauen herrschte in die Fähigkeit und/oder den Willen der alten und neuen politischen Kräfte, den Reformprozeß fortzusetzen, wirtschaftliche und politische Stabilität herzustellen sowie das Wohlstandsniveau spürbar anzuheben. Spiegelbildlich dazu wuchs das Mißtrauen gegenüber den alten Kräften, den Reformprozeß stoppen und den Status quo ante wieder herstellen zu wollen und zu können. Schließlich -und letztlich entscheidend -lag die Lösung für all diese Probleme zum Greifen nahe, gleichsam vor der Haustür, war für jeden Bürger nunmehr jederzeit und ohne die früheren Risiken erreichbar.
Erforderlich war demnach eine möglichst rasche materielle Besserstellung der DDR-Bevölkerung, die direkt (via Transfers) oder indirekt (via Kapital und Know-how) allein durch den Westen, insbesondere die Bundesrepublik realisiert werden konnte Ein bloßer Finanztransfer im Sinne einer „Bleibeprämie“ wäre indes kaum ausreichend und aus Sicht der Bundesrepublik auch nicht akzeptabel gewesen; erforderlich waren vor allem Maßnahmen, die den Menschen das nötige Vertrauen in die Zukunft geben konnten, um ihnen eine Lebensperspektive zu Hause zu eröffnen. Alle Vorschläge, die damals gemacht wurden, müssen sich daran messen lassen, inwieweit sie die Möglichkeit boten, Kapital (und Know-how) anzuziehen und die drohende Entvölkerung zu stoppen. 1. Währungspolitische Alternativen Die Notwendigkeit eines Kapitalimports setzte den währungspolitischen Optionen der DDR-Regierung ohnehin enge Grenzen Das Land mußte für ausländische Anleger als Produktionsstandort attraktiv werden; Zögerlichkeit und Halbherzigkeit, mit der die Modrow-Regierung dieser Aufgabe nachzukommen versuchte, sprechen für eine gewaltige Fehleinschätzung sowohl des Zeithorizontes als auch der ökonomischen Substanz der DDR Neben einer vertrauenswürdigen Rechtsordnung war eine stabile und wenigstens teilkonvertierbare Währung unabdingbar. Um diese zu gewährleisten, hätte die DDR-Mark (oder im Zuge einer Währungsreform ein neues Geldmedium) entweder am freien Markt zu einem flexiblen Wechselkurs handelbar werden oder sich mit einem Festkurs an eine Außenwährung binden müssen; nach Lage der Dinge ging es dabei in den einschlägigen Diskussionen nahezu ausschließlich um die DM.
Der erste Weg wäre mit hohen Risiken verbunden gewesen, die weitgehend unkalkulierbar waren; Investoren hätten daher neben der normalen Verzinsung und einer Risikoprämie für die mehr oder minder unreifen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen auch noch eine Kursrisikoprämie zu kalkulieren gehabt; die Investitionschancen in der DDR hätten schon außerordentlich gut sein müssen, um diese Risikozuschläge bedienen zu können. Was immer die Einschätzungen damals gewesen sein mögen -rückblickend jedenfalls scheint klar zu sein, daß solche Ertragschancen ohne eine Vielzahl materieller und immaterieller Verbesserungen, die ihrerseits enormes Kapital erforderten, nie vorhanden waren, auch wenn man konzedieren wollte, daß einige potentielle Chancen nachträglich durch eine ungeschickte Wirtschaftspolitik verspielt worden sein mögen; diese Einschätzung entspricht im übrigen auch den Erfahrungen in sämtlichen Transformationsländern des ehemaligen Ostblocks. Flexible Wechselkurse für die DDR-Währung wurden daher auch von kaum einem Ökonomen in Ost und West ernsthaft in Erwägung gezogen.
Im Falle eines festen Wechselkurses hätte entweder die DDR alleine die Kosten der Kurspflege übernehmen müssen, sofern sie ihre währungspolitische Autonomie hätte wahren wollen, oder aber diese aufgeben müssen. Zu ersterem wäre sie -auch angesichts der bereits bestehenden Auslands-verschuldung von 13 bis 21 Milliarden US-Dollar -nicht in der Lage gewesen -ganz abgesehen davon, daß einer Währung, die jederzeit durch die DDR-Regierung auf-oder abgewertet hätte werden können, von Investoren kaum größeres Vertrauen entgegengebracht worden wäre als einer floatenden DDR-Mark. Die Vorstellungen der DDR-Regierung, vieler DDR-Ökonomen, aber auch einiger Wissenschaftler im Westen liefen insoweit darauf hinaus, daß die Bundesbank (oder ein Konsortium internationaler Zentralbanken) die Konvertierbarkeit der DDR-Mark garantieren solle was aber ohne gleichzeitige Übertragung der währungspolitischen Kompetenz von keiner seriösen Zentralbank der Welt hätte akzeptiertwerden können. Wenn man -was noch am ehesten plausibel erschien -annimmt, daß die Bundesbank in die Rolle des Währungshüters für die DDR geschlüpft wäre, dann wäre das Resultat de facto ebenso eine Währungsunion gewesen; zum Abbau inflationären Potentials („Geldüberhang“) hätte dann die DDR aber selber einen geeigneten Währungsschnitt („Währungsreform“) durchführen müssen. Analytisch stellt sich die vollzogene Variante der Währungsunion denn auch als simultane Durchführung eines Währungsschnittes bezüglich der DDR-Mark (differenzierte Umstellungssätze) und einer Anbindung dieser. so reformierten Währung an die DM zum generellen Wechselkurs 1 : 1 dar.
Alle diese Überlegungen mußten indes vergebens sein, wenn es nicht gelingen würde, die Bevölkerung und insbesondere die Arbeitskräfte, deren durchschnittlich recht gute Qualifikation als einer der wenigen Aktivposten der DDR-Wirtschaft angesehen werden kann, im Lande zu halten; in diesem Falle wäre jeglichem potentiellen Kapital-import gleichsam die Geschäftsgrundlage entzogen gewesen. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß dieses Problem mit einer weiterbestehenden DDR-Währung, ganz gleich in welcher Variante, besser zu lösen gewesen wäre als mit der gewählten Währungsunion. Im Gegenteil: jede dieser Alternativen hätte nur Sinn gehabt, wenn eine dramatische Reallohnsenkung realisiert worden wäre. 2. Das strategische Dilemma Hier liegt der eigentlich neuralgische Punkt aller Alternativvorschläge zur Währungsunion. Denn um Vertrauen mußte nicht nur bei potentiellen Investoren, sondern auch bei der eigenen Bevölkerung geworben werden. In diesem komplizierten Sachverhalt war zugleich eine erhebliche Unsicherheit der Ostdeutschen gegenüber der Verläßlichkeit bundesdeutscher Politik im Spiele; Diskussionen und Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesrepublik nährten Befürchtungen, die Bundesdeutschen könnten sich entschließen, die DDR ihrem eigenen Schicksal zu überlassen. Schließlich gab es auch drastische Unwägbarkeiten der internationalen Lage, nicht zuletzt hinsichtlich der Haltung der Sowjetunion. Alle diese Faktoren wirkten tendenziell verstärkend auf die Migrationsneigung. In dieser Situation bedurfte es einer force majeure, die fähig war, dieses Dilemma (spieltheoretisch gesprochen ein klassisches „Gefangenendilemma“) aufzulösen; nach Lage der Dinge konnte nur die Bundesregierung diese Rolle übernehmen. Politische Akteure in der DDR konnten mit ihren diversen Versuchen (die mehrfachen Aufforderungen des Runden Tisches in Berlin, der Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989, Demonstrationen der sogenannten „Hierbleiber“ etc.) keinen entscheidenden Erfolg verbuchen, weil sie außer moralischen Appellen -häufig in linksintellektueller Manier mit erhobenem Zeigefinger vorgetragen -wenig anzubieten hatten und, wenn auch ungewollt, den alten Kräften zuarbeiteten.
Aus Sicht der mikroökonomischen Migrationsforschung hätte das materielle Lebensniveau in der DDR im Durchschnitt schon beträchtlich über dem der Bundesrepublik liegen müssen, um die vielfältigen politischen Unsicherheiten und Risiken kompensieren und die Bürgerinnen und Bürger zum Bleiben bewegen zu können. Bedenkt man dies, so erscheint es eher erstaunlich, daß der Strom der Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik nicht noch breiter war. Das deutet darauf hin, daß hier massive, aber angesichts der Situation stark paralysierte, Mobilitätshemmnisse wirkten, die sich hauptsächlich aus den vielfältigen sozialen und kulturellen Bindungen in der angestammten Heimat erklären dürften.
Schlicht absurd erscheinen vor diesem Hintergrund die Vorstellungen und Vorschläge, den Übersiedlerstrom durch Abbau der „Wanderungsanreize“ seitens der Bundesrepublik (Begrüßungsgeld, Eingliederungshilfen etc.) bremsen zu wollen. Diese Faktoren dürften angesichts der Gesamtsituation bestenfalls einen marginalen Effekt gehabt haben; ihre Wirkung lag wohl eher im Symbolischen. Um eine wirksame Barriere gegen die Übersiedler zu errichten, hätte die Bundesregierung schon sehr viel drastischere Maßnahmen ergreifen müssen; dazu war aus guten Gründen niemand bereit. Selbst wenn man einmal annimmt, daß eine konzertierte Aktion aller politischen Akteure in der Bundesrepublik in der Lage gewesen wäre, die Ungeduld der ostdeutschen Landsleute effektiv zu bremsen, so wäre das Ergebnis wohl wenig erfreulich gewesen: Enttäuschung, Frustration und Verbitterung hätten unweigerlich zu einer Stärkung der alten Kräfte und damit zu einem empfindlichen Rückschlag im Reformprozeß geführt.
Entscheidend ist, daß zur Beurteilung der Übersiedlerproblematik im Frühjahr 1990 neben dem Wohlstandsgefälle die Differenz in den politischen Verhältnissen zwischen Ost-und Westdeutschland einzubeziehen war, wodurch sich das Gewicht der („normalerweise“ dominierenden) Einkommens-und Beschäftigungsfaktoren ganz entscheidend relativieren mußte Nur vergleichsweise wenige Wirtschaftswissenschaftler haben dies in ihrer Argumentation berücksichtigt Viele waren daher auch gar nicht in der Lage, den eminent politökonomischen Charakter des Vorschlages der Bundesregierung zu erfassen: Es bedurfte mehr als der Zusage mehr oder minder großzügiger Wirtschaftshilfen; gefordert war ein entschiedener, auch (aber keinesfalls nur) symbolischer Akt von außen, und die Teilnehmer an Demonstrationen und Versammlungen in der DDR selbst hatten wiederholt deutlich gemacht, worin ein solcher eigentlich nur bestehen konnte. Wenn der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin, Lutz Hoffmann, im Februar 1990 kritisierte, daß die Politik sich und die ökonomische Vernunft dem Druck der Straße gebeugt hätte so ist das nur ein Beispiel von vielen, die belegen, daß Ökonomen sich mitunter schwertun, die strategische Dimension politischer Entscheidungen zu begreifen.
Das Angebot zu einer Währungsunion war zunächst ein Akt der Selbstbindung seitens der Bundesregierung, am Willen zur Vereinigung festzuhalten und damit auch die unmittelbare Verantwortung für den politischen und wirtschaftlichen Reformprozeß zu übernehmen; als Gegenleistung wurde von der DDR-Regierung gefordert, unverzüglich die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen für die Übertragung der DM auf das Wirtschaftsgebiet der DDR zu schaffen. Erst das Junktim zwischen Währungsunion und Wirtschaftsreform gab dem bundesdeutschen Vorschlag seinen Sinn und trug den Befürchtungen vieler Kritiker Rechnung Letztere hatten insoweit natürlich recht, als das Problem der DDR nicht primär in ihrer Währung lag; daraus jedoch zu folgern, daß eine Währungsunion mit der DDR (die fälschlicherweise auf eine radikale Variante einer Währungsreform reduziert wurde) nicht notwendig gewesen wäre, heißt die Funktion zu verkennen, die dieser Maßnahme als Vehikel zur Durchsetzung konsequenter Wirtschaftsreformen in der DDR zukam.
Nach Ankündigung und Implementierung der Entscheidung zugunsten einer Währungsunion erhielt denn auch das Übersiedlerproblem eine zunehmend „normale“ Qualität; gerade die oben genannten sozial-kulturellen Migrationsschwellen können erklären, warum die Ost-West-Wanderungen trotz weiterbestehendem erheblichem Wohlstandsgefälle und schwindender Beschäftigungsmöglichkeiten sich recht schnell normalisierten Im Januar 1990 betrug die Zahl der Übersiedler rd. 74 000, nachdem im Dezember 1989 mit einer Größenordnung von 43 000 gegenüber 133 000 im November eine gewisse Stabilisierung eingetreten war, was u. a. mit einem -freilich schnell verspielten -Vertrauensvorschuß an die neue Regierung unter Hans Modrow Zusammenhängen dürfte. Hätte sich diese Entwicklung fortgesetzt, so wäre im Verlauf des Jahres 1990 mit Übersiedlerzahlen in der Größenordnung von einer Million -und damit von etwa sechs Prozent der DDR-Bevölkerung, insbesondere ihrer aktivsten Teile -zu rechnen gewesen; tatsächlich waren es „nur“ 395 000, davon allein 199 000 im ersten Quartal und 257 000 im ersten Halbjahr. Mit dem Angebot der Währungsunion durch die Bundesregierung und seiner Annahme durch die am 18. März erstmals demokratisch gewählte DDR-Regierung unter Lothar de Maiziere sanken die Übersiedlerzahlen fortlaufend und erreichten im Juni, dem Monat vor Einführung der Währungsunion, einen Wert von 11000
Natürlich konnte niemand ernsthaft erwarten, daß sich der Erfolg der Maßnahme sofort und vollständig einstellen würde; vielmehr durfte lediglich mit einem sukzessiven, aber signifikanten Rückgang, mittelfristig jedoch mit dem praktischen Verschwinden des Übersiedlerdruckes gerechnet werden. Genau dieses Verlaufsmuster ist eingetreten Nicht nachvollziehbar ist daher, wie man in Kenntnis dieser Tatsachen zu der Folgerung kommen kann, daß sich der „vielfach . . . vorgetragene Legitimationsversuch, die rasche Währungsunion sei unabdingbar gewesen, um den Übersiedlerstrom einzudämmen. . . angesichts der vorliegenden Statistiken als unhaltbar (erweist): Der , Übersiedlerstrom'ist durch den vorübergehenden , DM-Strom’ in die DDR keineswegs gebremst worden.“
Die Alternativen zu einer raschen Währungsunion basieren zum großen Teil auf der Prämisse, ein „behutsamerer“ Transformationsprozeß sei im Prinzip die bessere Strategie, weil erfolgreicher und/oder weniger schmerzhaft. Ob dies zutrifft, mag man angesichts der Erfahrungen in den Transformationsländern Mittel-und Osteuropas bezweifeln: Weder theoretisch noch empirisch scheint mir diese Frage abschließend geklärt. Daß Länder, die über keine mit Ostdeutschland auch nur annähernd vergleichbare Unterstützung verfügen, meistens schließlich doch keine andere Wahl geblieben ist bzw. bleibt, als zu einer eher gradualistischen Strategie überzugehen, weil die Bevölkerung sonst überfordert wäre, läßt die Entwicklung dort durchaus vermuten. Damit wird der Anpassungsprozeß zeitlich und organisatorisch gestreckt und die unmittelbaren Transformationskosten werden vermutlich gesenkt; es steht aber zu vermuten, daß es diese Vorteile nicht umsonst gibt, daß also die Gesamtkosten (kumulierte Wohlfahrtsverluste) letztlich höher ausfallen als bei einer möglichst umfassenden und raschen Umstellung.
VI. Diskussionen über den Umstellungskurs: Währungsunion -zweiter Akt
War man vor allem auf ostdeutscher Seite stillschweigend davon ausgegangen, daß bei der Währungsunion ein einheitlicher Umstellungskurs der DDR-Mark gegenüber der DM von 1 : 1 angewendet würde so sorgte der Bundesbankvorschlag eines Kurses von 2 : 1 für eingie Irritation und Empörung; damit war die zweite Phase der Diskussion um die Währungsunion eröffent Da es keinen im echten Sinne marktbestimmten Wechselkurs zwischen den beiden Währungen gab, mußten entsprechende Berechnungen vorgenommen werden, für die verschiedene Grundlagen existierten; eine politische Entscheidung war daher gefordert. Umzustellen waren Stromgrößen (laufende kontraktuell und gesetzlich bestimmte Zahlungen) und Bestandsgrößen (Guthaben und Schulden), wobei nicht weniger als drei sehr unterschiedliche Ziele möglichst in Übereinstimmung gebracht werden sollten Es sollte 1.der Umstellungskurs den (in Mark der DDR) bestehenden Geldüberhang beseitigen;
2. die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft (insbesondere der Industrie) nicht zusätzlich geschwächt werden;
3. das Einkommens-und Vermögensniveau der Ostdeutschen nicht allzusehr abgesenkt werden. Es war klar, daß alle diese Ziele mit einem einzigen Umstellungssatz nicht unter einen Hut zu bringen waren; verschiedene differenzierte Modelle wurden erörtert. Für die Bundesregierung selbst hatte diese Frage offenbar keine deutliche Priorität; viel würde ohnehin davon abhängen, wie man nach vollzogener Ausweitung des Währungsgebietes der DM mit einer Reihe von Detailfragen würde umgehen können. Ausgehend vom primär strategischen Charakter der Entscheidung zur Währungsunion kam allenfalls dem letzten der drei Ziele noch eine gewisse Bedeutung zu: Der Umstellungssatz mußte so gewählt werden, daß die Bürgerinnen und Bürger der DDR sich fair behandelt fühlten und nicht der Eindruck entstehen konnte, ihre Lebensleistung würde im Vergleich zu der Westdeutscher geringer geschätzt; das sprach für einen Umstellungskurs, der nahe bei 1 : 1 lag, was im übrigen auch in etwa mit den einschlägigen Schätzungen der Kaufkraftparitäten korrespondierte Unbestritten war, daß bei der ganzen Aktion die ökonomischen Risiken nicht unkalkulierbar werden durften; zwei Argumente machten es der Regierung leichter, sich für die präferierte Generallinie zu entscheiden:
Der vorhandene Geldüberhang in der DDR wurde gemeinhin als vergleichsweise gering veranschlagt; eine gravierende Entwertung disponibler Guthaben durch einen entsprechenden Währungsschnitt mußte insoweit nicht stattfinden. Da man das Produktionspotential Ostdeutschlands zu optimistisch einschätzte und die bestehenden Guthaben ostdeutscher Nichtbanken gegenüber der Bundesbank zu niedrig ausgewiesen wurden, kam es durch die Währungsumstellung gleichwohl zu einem leichten inflationären Impuls, der sich indes kaum spürbar auswirkte und von der Bundesbank auch schnell neutralisiert werden konnte -freilich nur mittels einer restriktiveren Geldpolitik. Von der monetären Seite her erwiesen sich die Risiken der Währungsunion damit als hinreichend beherrschbar.
In weit geringerem Maße galt das hinsichtlich der realwirtschaftlichen Faktoren. Damalige Schätzungen der gesamtwirtschaftlichen Produktivität der DDR lagen bei ca. 50 Prozent ihr durchschnittliches Arbeitseinkommen betrug ca. 35 Prozent des westdeutschen Niveus; erwartet wurde daher mehrheitlich, daß die Lohnstückkosten in Ostdeutschland nach einer 1 : 1-Umstellung von Löhnen und Gehältern im Durchschnitt nicht höher sein würden als in Westdeutschland. Zudem hoffte man offensichtlich, daß der günstige Umstellungskurs zumindest zunächst zu einer Zurückhaltung bezüglich weiterer Einkommensforderungen führen würde. Diese Hoffnung hat sich nicht bestätigt im Nachhinein erweist sie sich auch als wenig realistisch. Die entscheidende Frage ist hier ebenfalls, was die Politik dagegen hätte tun können; ein von vielen angemahnter niedrigerer Umstellungskurs von 2 : 1 bis 5 : 1 hätte vermutlich nur zu höheren Nachforderungen und somit insgesamt zu einer noch stärkeren Lohndynamik geführt Um politisch gegenzuhalten, hätten sehr viel einschneidendere Maßnahmen -etwa eine zeitweilige Aussetzung der Tarifautonomie für Ostdeutschland -ergriffen werden müssen; sie wären ordnungspolitisch problematisch und wohl auch nicht durchsetzbar gewesen.
Die schließlich gewählten Umstellungsmodalitäten von DDR-Mark zu DM waren ein Kompromiß zwischen der Forderung der DDR-Seite nach einem generellen 1 : 1-Umstellungssatz und den Vorbehalten seitens der Bundesministerien für Wirtschaft und Finanzen, der Bundesbank sowie vieler anderer Experten, die eher für eine generelle 2 : 1-Relation plädiert hatten Durch Anwendung eines differenzierten Umstellungskurses von 1 : 1 für Stromgrößen (Löhne und Gehälter, Renten, Mieten etc.), 2: 1 für alle Schulden und 1 : 1, 2 : 1 bzw. 3 : 1 für unterschiedliche Guthaben (nach Höhe, Inhaber und Zeitpunkt der Entstehung) errechnet sich ein durchschnittlicher Satz von 1, 8: 1 der beiden Seiten einigermaßen gerecht wurde. Aus der unterschiedlichen Behandlung von Forderungen und Verbindlichkeiten ergab sich ein Defizit des Bankensystems der DDR, das durch eine Forderung an die Staats-kasse in Form eines „aktivischen Ausgleichspostens“ gedeckt werden mußte; dieser betrug zum Stichtag (31. Mai 1990) 26, 4 Mrd. DM, ist allerdings aufgrund von Unsicherheiten über die Ein-bringbarkeit der eingestellten Forderungen eine variable Größe.
In der Folgezeit wurde vielfach die Behandlung der Altschulden der Unternehmen aus DDR-Zeiten kritisiert und nachträglich häufig eine generelle Entschuldung gefordert. Diese Forderung hat in der Tat vieles für sich. Ganz so einfach, wie es sich manche Kritiker vorstellen, war allerdings auch das nicht. Die Altschulden der Unternehmen beliefen sich nach der Umstellung (2: 1) insgesamt noch auf 115, 8 Mrd. DM; ihre Verteilung war freilich politisch und kaum ökonomisch bedingt. Komplett streichen hätte man sie nicht können, ohne zugleich auch die Sparguthaben der DDR-Bevölkerung (als bilanzmäßigen Gegenposten) vollkommen zu vernichten. Was die ökonomische Seite betrifft, so war stets klar, daß die Unternehmensschulden letztlich Forderungen an den Eigentümer (vertreten durch die Treuhandanstalt) darstellten; die Treuhandanstalt (THA) hat daher auch die Zinsdienste weitgehend übernommen; auf diese Weise konnte sie ihre Unternehmen an der kurzen Leine führen. Daß die Altschulden den Ertragswert der Unternehmen senken und daher zu entsprechenden Mindererlösen bei deren Veräußerung führen mußten, ist unbestritten. Wie heute bekannt ist, waren viele Unternehmen überschuldet, hatten also einen negativen Marktwert; dafür gab es freilich auch noch andere Gründe, etwa die rechtlichen und ökologischen Altlasten, die in ihrer Dimension weit schwerer einzuschätzen waren, sowie die enorme Belastung durch rasant steigende Lohnkosten.
Die formelle Übernahme der Altschulden durch die THA (letztlich durch den Bund) hätte gewiß die Sachlage optisch bereinigt; inwieweit dies die erhofften positiven Konsequenzen für Privatisierung und Investitionsaktivitäten gehabt hätte, erscheint angesichts der Tatsache, daß die Schulden im Verkaufsfalle mit dem Kaufpreis zu verrechnen waren, d. h. faktisch von der THA übernommen werden mußten, durchaus fraglich. Das Problem bestand wohl eher darin, daß alle Beteiligten ursprünglich von einem rückblickend geradezu absurd hohen Vermögenswert der DDR-Anlagen ausgegangen waren. Es dauerte lange, bis diese Illusionen weitgehend überwunden waren und die THA daran ging, ihre Erlösvorstellungen realistisch anzupassen.
Insgesamt war schon früh abzusehen, daß die Währungsumstellung und die gleichzeitige Libera-lisierung der Märkte zu einer schlagartigen Offenlegung der Effizienzmängel der DDR-Wirtschaft führen mußten, vor allem im industriellen Bereich. Unklar waren allenfalls Geschwindigkeit und Ausmaß, in der sich dies auswirken würde; darüber hinaus bestand im ersten Halbjahr 1990 noch die Erwartung auf einen gewaltigen privaten Investitionsschub.der die Anpassungszeit wesentlich verkürzen würde. Die Bundesregierung hielt die ökonomischen Risiken im Vergleich mit den Chancen und im Hinblick auf die einmalige historische Gelegenheit zu Recht für tragbar, zumal sie selbst mit der Währungsunion die Verantwortung für eine sozialverträgliche Gestaltung des Übergangsprozesses übernommen hatte. Über die Gründe für den scharfen Einbruch der ostdeutschen Produktion nach der Währungsunion ist zwischenzeitlich heftig debattiert und viel geschrieben worden, viel Richtiges, aber auch viel Unsinniges. Die entscheidende Ursache dürfte darin liegen, daß sich die ostdeutschen Produzenten gleichsam über Nacht einer nahezu preisunelastischen Binnennachfrage gegenüber sahen, weil sich die Kaufwünsche schlagartig auf Güter aus dem Westen richteten; die teilweise massiven Preissenkungen der Produzenten um durchschnittlich 50 Prozent zwischen Mai und August 1990 mußten leerlaufen. Das belegt im übrigen auch, daß die Schwierigkeiten bei einem Umstellungskurs der Löhne von 2 : 1 wohl nicht entscheidend geringer gewesen wären zwar hätte dies eine kostenseitige Entlastung gebracht, die aber hauptsächlich der THA zugute gekommen wäre. Der befürchtete „Konsumrausch“ der DDR-Bevölkerung trat indes nicht ein bzw. war ein nur sehr kurzzeitiges Phänomen, das auch bereits vor dem 1. Juli 1990 zu beobachten war. Mit der Währungsunion verlagerte sich der ostdeutsche Import nahezu ausschließlich auf den innerdeutschen Handel (74 Prozent des Gesamtimports im 2. Halbjahr 1990, 81 Prozent in 1991); tatsächlich waren es ganz überwiegend Investitionsgüter (zu denen allerdings auch Privatkraftfahrzeuge und elektronische Geräte zählen, deren Nachfrage am kräftigsten stieg), die bezogen wurden; angesichts des dringenden Modernisierungsbedarfes in Ostdeutschland -sowohl im persönlichen wie im wirtschaftlichen Bereich -kann auch diese Entwicklung per Saldo nicht einseitig negativ beurteilt werden.
Unbestritten ist ferner, daß der vielzitierte Zusammenbruch der Ostmärkte den Nachfrageschock für die DDR-Industrie verschärft hat. Unrichtig erscheint indes die Behauptung, dies gehe wesentlich auf das Konto der währungsunionsbedingten Quasi-Aufwertung der DDR-Währung. Während nämlich im zweiten Halbjahr 1990 der ostdeutsche Import aus den RGW-Staaten abrupt wegfiel (sich weitgehend auf Westwaren verlagerte), erfolgte der Exporteinbruch gegenüber diesen Staaten erst Anfang 1991 Das hat indes andere Hintergründe Auf der RGW-Tagung im Januar 1990 in Sofia wurde nach harten Verhandlungen beschlossen, alle Transaktionen ab Januar 1991 nurmehr in konvertibler Währung abzuwickeln. Damit gerieten die Mitgliedstaaten in ein unauflösbares Dilemma, das über kurz oder lang (unabhängig vom politischen Zerfall insbesondere in der Sowjetunion) zum weitgehenden Erliegen des RGW-Handels führen mußte: Jedes dieser Länder war nun natürlich daran interessiert, für harte Währung auch entsprechende Güter zu importieren, die nur auf den Westmärkten zu bekommen waren; die DDR machte hier sofort nach der Währungsunion den Anfang Gleichzeitig wollten alle Staaten ihre eigenen Güter weiterhin in den RGW exportieren; für die DDR gewährten die Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung immerhin noch eine Schonfrist von sechs Monaten. Daß der Vollzug der deutschen Währungsunion für das Weg-brechen der Ostmärkte nicht entscheidend war, läßt sich auch daran ersehen, daß der Exporteinbruch insbesondere gegenüber der Sowjetunion für andere Länder in Mittel-und Osteuropa weitaus schärfer ausfiel als für Ostdeutschland
Zweifellos gab es bei all dem wirtschaftspolitische Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen; grundsätzlich war dies wohl auch kaum zu vermeiden. In welchem Maße sie den Prozeß tatsächlich hemmten, wäre genauer zu untersuchen. Entgegen dem Bild einer radikalen „Schocktherapie“, die in Ostdeutschland angeblich praktiziert wurde, drängt sich bei näherem Hinsehen eher der Verdacht auf, daß die vielfältigen interventionistischen Elemente, die mit dem westdeutschen Regulierungssystem weitgehend auf Ostdeutschland übertragen wurden, maßgeblich für die dortigen Entwicklungsblockaden verantwortlich sein dürften darüber wird man in Zukunft verstärkt nachdenken müssen. Mit der Frage der Währungsunion hat dies indes wenig zu tun.
VII. Eine abschließende Bewertung: Epilog
Eine Analyse der Hintergründe, Durchführung und Konsequenzen der deutsch-deutschen Währungsunion von 1990 belegt, daß es sich dabei sehr wahrscheinlich um eine insgesamt optimale Entscheidung gehandelt haben dürfte. Unter den gegebenen politischen Bedingungen war sie auch ökonomisch die vernünftige Option. Diese Formulierung trifft den komplizierten Sachverhalt jedenfalls weit besser als der gängige Vorwurf einer politisch motivierten ökonomischen Unvernunft.
Letztlich ausschlaggebende Gründe für diese Entscheidung waren die (nur zu verständlichen) hohen politischen und ökonomischen Erwartungen der Bevölkerung der DDR und die Unfähigkeit ihrer Regierung, diese befriedigen zu können. Aus diesem Spannungsverhältnis ergab sich eine explosive Gesamtsituation der DDR-Gesellschaft im Frühjahr 1990, die das Schlimmste befürchten ließ. Die bundesdeutsche Politik hat auf diese Herausforderung adäquat reagiert, indem sie geeignete Schritte unternahm, um die Situation zu stabilisieren und viele Detailprobleme, die Anlaß für Irritationen hätten werden können, zunächst vertagte. Unter anderen Bedingungen wäre ein anderer Weg vermutlich sinnvoller gewesen, aber Politik war schon. immer die Kunst des (gerade auch wirtschaftlich) Machbaren. Befürchtete Negativ-szenarien, die alle aktuellen Transformations-und Vereinigungsschmerzen weit in den Schatten hät-ten stellen können, sind jedenfalls nicht eingetreten; wie realistisch sie wirklich waren, ist auch heute schwer zu beantworten. Kann man der Bundesregierung ernsthaft vorwerfen, die Probe aufs Exempel nicht gemacht zu haben?
Pikant ist indes, daß viele neoklassische Ökonomen, die doch gewohnt sein sollten, bei ihren Analysen auch die subjektiven Präferenzen und Erwartungen der Menschen zugrunde zu legen, in ihren Empfehlungen zur Wirtschaftsreform in der DDR eher von ökonomischen Wunschvorstellungen denn von den realen Gegebenheiten ausgegangen zu sein scheinen. Der Vorwurf, die ökonomische Profession insgesamt habe zum Transformationsund Vereinigungsprozeß wenig beizutragen gehabt und daher bei den politischen Entscheidungsträgern kaum Gehör gefunden, wird so zumindest verständlich