I. Einleitung
Die mediale wie wissenschaftliche Diskussion über den Charakter der DDR wird von wenigen, durchaus widersprüchlichen Begriffen beherrscht. Je nach Standort und Interesse bezeichnen Kritiker das SED-Regime vor allem als einen „Unrechtsstaat“, Apologeten sprechen dagegen von einem fehlgeleiteten, aber gut gemeinten Experiment, während um Versachlichung bemühte Kommentatoren mit abstrakteren Etiketten wie „moderne Diktatur“ hantieren Wegen ihrer emotionalen Konnotationen fungieren solche Beschreibungen auch als Katalysatoren der öffentlichen Meinungsbildung, die als weithin sichtbare Zeichen der ideologischen Selbstverständigung wie der Mobilisierung des eigenen Anhangs dienen. Durch ihre Verankerung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Großtheorien suggerieren diese Termini gleichzeitig konträre Analyserahmen und strukturieren dadurch die öffentliche wie akademische Auseinandersetzung. Weil sich in der Debatte verschiedene Abstraktionsebenen, Methodologien und persönliche Erfahrungen vermengen, hat sich fast zehn Jahre nach der Selbstauflösung der DDR keine einheitliche Bezeichnung durchsetzen können. Diese Verwirrung der Begriffe liegt jedoch keineswegs an einem Mangel an diversen Versuchen, ein griffiges Etikett zu finden. Während des demokratischen Aufbruchs im Herbst 1989 erfand der ostdeutsche Volkswitz eine Reihe von sarkastischen Interpretationen der Buchstaben „DDR“, wie z. B. in Anspielung auf die Ausreisewelle „Der Dumme Rest“ der Hiergebliebenen Auch der dezidiert-ironischeGebrauch des Terminus „real existierender Sozialismus“ signalisierte eine gewisse Enttäuschung mit seiner tatsächlichen Erscheinungsform -bei einigen, um desto entschlossener an der Utopie eines „wahren Sozialismus“ festzuhalten Demgegenüber kursierten in konservativen Kreisen des Westens wissenschaftliche Elaborationen des Reaganschen Zitats vom „Reich des Bösen“ in Form von Thesen einer „ideokratischen Partei-herrschaft“ des Kommunismus in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten Andere Beobachter mit mehr Sympathie für egalitäre Experimente -wie der frühere Leiter der Ständigen Vertretung in Ostberlin, Günter Gaus -entdeckten dagegen die kleinen Freiheiten einer „Nischengesellschaft“, in der Bürger die Herrschaftsansprüche der Partei durch Rückzug in die Privatsphäre unterlaufen konnten
Obwohl vor allem Sozialwissenschaftler nach 1990 theoretische Etikette anboten, haben sich die meisten dieser Neuschöpfungen als so ephemer erwiesen, daß sich mittlerweile eine gewisse konzeptionelle Müdigkeit breitmacht Um die unerquicklichen, eher weltanschaulichen als inhaltlichen Debatten der Nachwendezeit hinter sich zu lassen, huldigt die Mehrheit der Historiker fast ein Jahrzehnt nach dem Untergang des SED-Systems nunmehr einer quellengesättigten, empirischen Detailforschung. Im Gegensatz zu früheren, auf veröffentlichte Dokumente beschränkte Analysen zeichnen diese neuen Quellenstudien zu einzelnen Aspekten ein facettenreiches Bild des Innenlebens der DDR, verlieren dadurch aber manchmal die größeren Systemzusammenhänge aus den Augen Um zu einem umfassenderen Verständnis des SED-Regimes zu gelangen, scheint es daher notwendig, einige theoretische und interpretative Grundfragen neu zu stellen. „Dringender denn je brauchen wir Begrifflichkeiten", argumentiert der Soziologe Ulrich Beck in seinen Versuchen einer Standortbestimmung im Umbruch der Postmoderne, „die das uns überrollende Neue neu denken und uns mit ihm leben und handeln lassen“
Einen möglichen Ausweg aus der Ideologiegebundenheit und Selbstbeschränkung der vorherrschenden Bezeichnungen könnte der Ansatz der Begriffsgeschichte bieten, welcher Veränderungen der „Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung“ aus ihrem historischen Kontext zu erklären versucht. Statt eine einzige Bedeutung als die richtige durchsetzen zu wollen, geht diese von Reinhart Koselleck entwickelte Methode dem zeitlichen und ideologischen Wandel der Bedeutungen nach. Auch untersucht dieser historisch-kritische Ansatz die verschiedenen Individuen und Gruppen, die bestimmte Konzepte hervorbringen und weiterentwickeln, verbindet die Dynamik der Ideen also mit den Veränderungen ihrer sozialen Träger 10Zwar weist ein solch historisierender, auf Bedeutungswandel abhebender Ansatz auf die Wichtigkeit einer Aufarbeitung der Selbstdarstellungen und Fremdbeschreibungen der DDR hin, aber er kann kaum klären, welche der diversen Alternativen als Schlüsselbegriffe ihrer Analyse besonders geeignet wären.
Um die Stärken und Schwächen einzelner Konzepte aufzudecken, ist daher eine soziolinguistische Reflexion über die interpretativen Implikationen einiger die Debatte dominierender Begriffe notwendig, die ihre jeweilige Brauchbarkeit überprüft" So wäre z. B. die erstaunliche Renaissance der Totalitarismustheorie nach dem Kollaps des Kommunismus zu hinterfragen, da diese Interpretationsrichtung, wie die Auseinandersetzungen in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zeigten, weitgehend die öffentliche Wahrnehmung bestimmt. Auch wäre den Gründen nachzugehen, weshalb sich die zahlreichen sozialwissenschaftlichen System-Etikettierungen nach 1990 so wenig durchsetzen konnten, daß die meisten im Zuge der Schwerpunktverlagerung auf die Transformationsforschung wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Schließlich sollten einige komplexer argumentierende, modernisierungstheoretische Alternativen auf ihre Aussagekraft über den Grundcharakter der DDR hin befragt werden, um daraus gewisse Anforderungen an eine adäquatere Begriffsbildung abzuleiten Auf der Basis solcher Vorüberlegungen könnte man den Versuch einer eigenen konzeptionellen Neu-prägung wagen, um einige zentrale Aspekte des differenzierter werdenden Bildes der ostdeutschen Vergangenheit zu verdeutlichen.
II. Selbstdarstellungen und Fremdbezeichnungen
Die zeitgenössische Auseinandersetzung um die Existenz eines zweiten deutschen Staates hat eine Reihe von Etiketten hinterlassen, mit denen die diversen Protagonisten versuchten, die DDR zu legitimieren oder zu untergraben. Diese Kampfbegriffe mußten zwar von zentralen Aspekten der damaligen Realitäten ausgehen, überhöhten oder verzerrten diese aber, um ihre jeweiligen politischen Ziele zu erreichen. Außerdem wandelten sich mit den sich verändernden politischen und internationalen Bedingungen auch die beschreibenden Begriffe, so daß gewisse Termini für bestimmte Entwicklungsphasen mehr als für andere zutrafen. Auch waren diese Beschreibungen als Alternativen zueinander gedacht und enthielten durch bewußte Zurückweisung der Etikette der anderen Seite gleichsam auch ihr Gegenteil, sollten also als Gegensatzpaare verstanden werden. Weil sie durch den enormen Propagandaaufwand sozusagen selbstverständlich geworden sind, hat sich die historische Forschung nur am Rande mit ihnen beschäftigt
Die Selbstdefinition der DDR, welche die sechste Auflage des Kleinen Politischen Wörterbuchs des Ostberliner Dietz Verlags von 1986 vorlegte, gibt ein betont positives Bild des ostdeutschen Regimes. Für diese an der Verfassung von 1974 orientierte Binnensicht ist die Deutsche Demokratische Republik „ein sozialistischer deutscher Staat, in dem die von der marxistisch-leninistischen Partei der SED geführte Arbeiterklasse im Bündnis mit der Klasse der Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und den anderen werktägigen Schichten die Macht ausübt“ Diese Etikettierung verweist auf die ideologische Ausrichtung wie die nationale Herkunft des Staates, die Rolle der herrschenden Partei sowie seine soziale Basis in einem Bündnis der Arbeiter, Bauern und anderen Werktätigen. Der Artikel legitimiert die DDR historisch als „die Erfüllung des Vermächtnisses der deutschen Arbeiterbewegung und der antifaschistischen Kämpfer“ gegen den Nationalsozialismus; also als ersten deutschen Staat, „dessen Weg voll und ganz von den Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Fortschritts bestimmt wird“. Die Staatsgründung der DDR wird aus der „antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung“ abgeleitet und die „Entwicklung zum souveränen sozialistischen deutschen Staat“ als „eine schwere Niederlage des Imperialismus“ bezeichnet, um so die Herausbildung einer eigenständigen „sozialistischen Nation“ als bessere Alternative zur Bundesrepublik zu demonstrieren.
Dieses prononcierte Selbstverständnis der DDR als „sozialistischer Staat“ sollte eine Reihe von grundsätzlichen Strukturproblemen überdecken Zwar führte das Wörterbuch weiter aus, daß es sich dabei um „eine Form der Diktatur des Proletariats, die die Interessen des ganzen Volkes der DDR vertritt“, handelt, also sozusagen eine Zwangsherrschaft nicht durch, sondern für das Volk; aber die Eintragung „sozialistischer Staat“ behauptet trotzdem eine „unlösbare Einheit“ mit der „sozialistischen Demokratie“, die durch Volksvertretungen und gesellschaftliche Organisationen gekennzeichnet sei, die bei der Umsetzung der Arbeitermacht in die Praxis mitwirkten Nach „Schaffung der Grundlagen des Sozialismus“ mit Hilfe sowjetischer Unterstützung sei die DDR während der sechziger Jahre in eine neue, reifere Phase eingetreten: „Die Periode des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sich die sozialistische Gesellschaft nunmehr auf ihrer eigenen sozio-ökonomischen Basis entwickelt.“ Diese selbsttragende Wirtschaftsentwicklung werde nicht nur die Lebensqualität verbessern, sondern auch dem Staat „eine höhere Qualität“ geben. Grund-ton dieses aus der Spätzeit der DDR stammenden Selbstverständnisses war ein optimistisches Zukunftsbild, das innere Konflikte leugnete und den weltweiten Sieg des sozialistischen Lagers voraussagte.
Demgegenüber waren die westdeutschen Beschreibungen des SED-Regimes eher auf seine Delegitimierung gerichtet und rangen sich nur langsam zur partiellen Anerkennung der Nachkriegsrealitäten durch. Der von Konrad Adenauer favorisierte Begriff der „SBZ“ oder „Sowjetischen Besatzungszone“ negierte die staatliche Unabhängigkeit Ostdeutschlands, indem er den Rivalen als reines Besatzungsregime der Roten Armee titulierte Die Rede von der „sogenannten DDR“ und der langanhaltende Gebrauch der Gänsefüßchen (in der Bildzeitung bis 1989) waren Reaktionen der Hallstein-Doktrin, welche durch Nichtanerkennung die Etablierung eines eigenständigen Staatswesens in Ostberlin zu verhindern suchte. So fehlte noch in der sechsten Auflage von 1958 des im Herder-Verlag veröffentlichten Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft eine eigenständige Abhandlung zur DDR, und in dem sonst eher sachlichen Artikel über „Deutschland“ werden die „Deutsche Demokratische Republik“ und ihre jeweiligen Bezeichnungen wie „Volksdemokratie“ mit Anführungszeichen zitiert, um dadurch die Distanz der Bearbeiter zu einer unglaubwürdigen Terminologie auszudrücken. Auch wird die SBZ nur als Produkt der „Aufteilung des Deutschen Reichs in Besatzungszonen“ behandelt und die KPD-Linie als „Tarnungsstrategie“ interpretiert, denn sie „gab vor, sie wolle nur eine demokratische Partei neben anderen sein“
Erst die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition konnte diese Begriffsblockade durchbrechen, daWilly Brandts Formel von „zwei Staaten, eine Nation“ einen realistischeren Umgang mit der DDR notwendig machte Die Verhandlungen des Berlin-und des Grundlagenvertrags erzwangen den westdeutschen Gebrauch der offiziellen ostdeutschen Selbstbeschreibung zur Erleichterung von menschlichen Beziehungen, auch wenn die Bundesregierung eine volle völkerrechtliche Anerkennung weiterhin verweigerte. Zum Beispiel gab es in der siebten Auflage des westdeutschen Staatslexikons von 1985 immer noch keinen eigenständigen Artikel über die DDR, aber in der Abhandlung zur „Deutschen Frage“ wird die Deutsche Demokratische Republik nun ohne Anführungszeichen in durchaus sachlicher und detaillierter Form behandelt. Obwohl die Verfasser das staatsrechtliche Festhalten der Bundesrepublik am Gesamtstaatsanspruch positiv schildern, gehen sie differenziert auf den Verfassungswandel der DDR. die Abgrenzungspolitik der SED und ihre Rückwendung zu einer breiteren deutschen Tradition ein Das konzeptionelle Resultat der Ostpolitik war daher u. a. eine wachsende Vielfalt westlicher Begrifflichkeiten, die unterschiedliche Aspekte des ostdeutschen Nachbarn teils lobend, teils weiterhin kritisierend hervorhoben.
Da sie vor allem mit den politischen Tageskämpfen zwischen Ost und West verquickt waren, können diese Selbstdarstellungen und Fremdbeschreibungen kaum dauerhafte Umschreibungen der ostdeutschen Entwicklung bieten. Die offiziellen Selbstbilder der DDR hatten einen weitgehend programmatischen Charakter, wurden aber trotzdem in sprachlich verkürzter Form („Republik“) langsam von der ostdeutschen Bevölkerung angenommen Die in der Bundesrepublik benutzten Bezeichnungen für die DDR waren gleichfalls zu sehr Produkte des Kalten Krieges und seiner langsamen Überwindung, als daß sie weiterhin -was noch vielfach geschieht -ohne Rücksicht auf ihre Entstehungsbedingungen und damaligen Zwecke gebraucht werden sollten. Weil sie das Bewußtsein in den beiden deutschen Teilstaaten weitgehend prägten, bleiben die zeitgenössischen Termini jedoch wichtig als Indikatoren für die jeweiligen
Selbstverständnisse und Feindbilder, bieten also sprachliche Hinweise auf die rivalisierenden Staatsvorstellungen einer getrennt-gemeinsamen Nachkriegsgeschichte. Erst nach der Selbstauflösung des zweiten deutschen Staates bilden sich Anzeichen eines partiellen begrifflichen Konsenses zwischen den unterschiedlichen Richtungen heraus, da das SED-System nun als „ehemalige DDR“ tituliert werden konnte.
III. Analytische Konzepte für die begriffliche Einordnung der DDR
Der unerwartete Systembruch von 1989/1990 stellte die Suche nach geeigneten Begriffen für die zweite deutsche Diktatur unter die generellere Frage nach den Ursachen des Versagens des Sozialismus. Einige seiner früheren Vertreter griffen auf den zuerst von Trotzki geprägten Terminus „Stalinismus“ zurück, um die Entartung der von außen oktroyierten Gewaltherrschaft zu beschreiben und gleichzeitig an den eigentlichen Idealen der Gleichheit und Brüderlichkeit festzuhalten Kritiker dieser Ideologie machten dagegen -je nach der Betonung ihres politischen Gegensatzes -entweder den Leninismus oder sogar den Marxismus für das im Sowjetsystem angerichtete Unheil verantwortlich und verbanden ihre Kritik oft mit einer gleichzeitigen Abrechnung mit der Verführbarkeit der Intellektuellen zumal in diesem Jahrhundert Verständlicherweise wurde diese Diskussion vom Ende der Sowjetunion geprägt und konnte daher kaum gleichzeitige Erklärungen für die vorherige, langanhaltende Stabilität des Bolschewismus als Herrschaftssystem anbieten. Durch den Zusammenbruch des Kommunismus erlebte die Totalitarismustheorie eine überraschende Renaissance, weil sie eine klare Konzeption der sozialistischen wie nationalsozialistischen Diktaturen anbot. Diese Theorie war während des Zweiten Weltkriegs als Versuch demokratischer Intellektueller entstanden, die Neuartigkeit des totalen Herrschaftsanspruchs der italienischen Faschisten und der deutschen Nationalsozialisten begrifflich zu fassen, um sie von älteren Formen der Unterdrückung abzugrenzen. Gleichzeitig war sie vom Orwellschen Schock des Stalinismus motiviert, reflektierte also auch die tiefe Enttäuschung von Sympathisanten über das Ausmaß der Gewaltherrschaft einer rhetorisch antifaschistischen, aber praktisch repressiven Linken in der Sowjetunion und ihren Satelliten nach 1945. In der westlichen Öffentlichkeit half die Popularisierung des Totalitarismusbegriffs in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, den Wandel der Antagonisten von den besiegten Nationalsozialisten im besetzten Deutschland zu den nunmehr bedrohlichen Kommunisten im Osten und dadurch auch die Aufrechterhaltung militärischer Ausgaben zu legitimieren. Im Zuge von Koexistenz und Entspannung mußte jedoch dieses Feindbild allmählich verblassen und lebte danach eher subkutan als entschiedener Antikommunismus fort
Im Vergleich zu rivalisierenden Ansätzen bietet die Totalitarismustheorie eine Reihe von wichtigen Vorteilen, die ihre Verbreitung nach der Selbstauflösung der DDR erklären helfen. Auch wenn seine genauen Merkmale etwas variieren, bietet Carl J. Friedrichs sechspünktiger Katalog (Ideologie, Partei, Geheimpolizeiterror, Nachrichtenkontrolle, Waffenmonopol, Planwirtschaft) eindeutige Kriterien für die Klassifizierung von politischen Systemen, die den prinzipiellen Unterschied zwischen autoritären und totalitären Regimen erhellen. Gleichzeitig suggeriert diese Beschreibung auch einen Funktionszusammenhang, welcher Unterdrückung als ein ineinandergreifendes Räderwerk von Repressionsmethoden versteht. Implizites Gegenbild ist ein westliches Demokratiemodell, das durch die Umkehrung der Merkmale idealtypisch als freiheitlich definiert ist, also eine attraktive Vergleichsfolie anbietet. Diese typologische Polarisierung erlaubt einen moralischen Rigorismus in der Beurteilung, welcher totalitäre Regime nicht nur beschreiben, sondern auch politisch bewerten, d. h. generell verdammen kann. Besonders für die Leidtragenden wie für die ideologischen Gegner eines solchen Regimes bietet dieses Modell ebenso wichtige Erkenntnisse seiner eigentlichen Funktionsmechanismen wie Argumente gegen verschleiernde Rechtfertigungen von sympathisierenden Linksintellektuellen
Wegen mancher Einseitigkeiten ruft der Totalitarismusansatz jedoch immer wieder Kritik hervor, die die Grenzen seiner wissenschaftlichen Brauchbarkeit aufzeigt. Durch die Fokussierung auf die Zielvorstellungen diktatorischer Machtausübung tendiert das Modell zum Intentionalismus, d. h. zur Reproduktion der einheitlichen Ideologie der herrschenden Partei, und vernachlässigt dadurch ihre oft chaotische Praxis. Gleichzeitig ist die Argumentation zur Feststellung des Vorhandenseins von Diktaturmerkmalen weitgehend statisch; sie wird damit der Dynamik diktatorischer Herrschaftsprozesse durch die Veränderung ihrer jeweiligen Methoden nur unvollkommen gerecht. Darüber hinaus berücksichtigt die Konzentration auf die staatliche Machtausübung zu wenig die Kollaboration der Massen, argumentiert mit einem vereinfachenden actio-reactio-Schema und läßt politisch nicht determinierte gesellschaftliche Prozesse weitgehend im dunkeln. Auch baut dieser Ansatz meist auf der schriftlichen Hinterlassenschaft der Unterdrückungsorgane selbst auf, welche die Vieldeutigkeit diktatorischer Lebens-wirklichkeit nur unvollständig wiedergeben Ohne weitere Einwände anzuführen, soll hier nur noch darauf hingewiesen werden, daß die Totalitarismustheorie oft zirkular argumentiert, weil sie ihre eigenen Wertmaßstäbe der westlichen Demokratie nicht auf deren Unvollkommenheiten hinterfragt. Bei ihrer Anwendung auf die Geschichte der DDR hat die Perspektive des Totalitarismus sich als nur teilweise fruchtbar erwiesen, weil sie zu sehr von einem stalinistischen Kommunismusverständnis ausgeht. So war z. B. Hannah Arendt zwar von möglichen Weiterentwicklungen der Ideologie fasziniert, aber ihre prägenden Eindrücke des Sowjetsystems, welche die Niederschrift ihres Hauptwerkes zeitlich bestimmten, bezogen sich im wesentlichen auf die Hochphase des Stalinismus. Weil sie in den vierziger und fünfziger Jahren formuliert wurde, konnte die klassische Totalitarismustheorie die weiteren Veränderungen und Aufweichungen der Herrschaftsmethoden des Kommunismus nur begrenzt reflektieren Ihre Vertreter müssen daher versuchen, für die späterenJahrzehnte kommunistischer Herrschaft den Begriff weiterzuentwickeln, was bei Eckhard Jesse zu dem Neologismus „autolitär“ geführt und bei Juan Linz den Terminus „post-totalitär“ angeregt hat Der Totalitarismusansatz bleibt zweifellos wichtig, weil er den neuartigen diktatorischen Grundcharakter des Faschismus und Kommunismus hervorhebt, läuft aber bei historischen Detailforschungen Gefahr, komplexere Sachverhalte zu verallgemeinern und schwierige ethische Dilemmata zu vereinfachen. Obwohl sie als Ausgangsbasis unverzichtbar ist, kann die Totalitarismustheorie daher nur eine erste Annäherung an das ambivalente Thema „DDR“ liefern
Zur Bestimmung der Besonderheit einer staatlich verfaßten realsozialistischen Gesellschaft haben sozialwissenschaftliche Kommentatoren daher eine Anzahl von bescheideneren begrifflichen Alternativen vorgeschlagen. In Weiterentwicklung einiger Hinweise von Max Weber prägte Artur Meier den Terminus „sozialistische Ständegesellschaft“, um den vorkapitalistischen Charakter „einer allgewaltigen militärisch-bürokratischen Diktatur“ zu beschreiben. Zwar hebt dieser Ansatz zentrale Elemente von Hierarchie und Privilegien korrekt hervor, aber er ignoriert die Modernität der ostdeutschen Industriegesellschaft und unterschätzt die Komplexität ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit In eine ähnliche Richtung geht die soziale Entdifferenzierungsthese von Sigrid Meuschel, welche die DDR als eine „klassenlose, egalitär nivellierte Gesellschaft“ bezeichnet, um ihre langanhaltende Stabilität zu erklären Dieser Einstieg kann die langsamen Legitimitätsgewinne der SED thematisieren, jedoch nur wenig zur Erklärung der Ursachen des gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR und der Geschwindigkeit ihres Zerfalls beitragen.
Ebenso akzentuieren die These einer Entsubjektivierung der Ostdeutschen von Michael Thomas und andere ähnliche Ansätze interessante Aspekte von Entmündigung und Entwicklungsunfähigkeit, vernachlässigen aber die durch einen Überschuß von Herrschaft hervorgebrachten gegenläufigen Tendenzen
Auch komplexere Terminologien, die Dimensionen der Differenzierung und Autonomisierung in den Blick nehmen, haben sich bisher nicht recht durchgesetzt, weil die Betonung von Schattierungen das grundsätzliche Bild zwar nuancieren, aber nicht aufheben kann. In ihrer Sozialisationsuntersuchung spricht Christiane Lemke von einer „politischen Doppelkultur“, in der offizielle Zielsetzung und persönliches Verhalten auseinander-klafften und so unter der dominanten Herrschafts-Oberfläche gegenläufige Strömungen auftraten Obwohl die Untersuchung zur Entwicklung einer alternativen politischen Kultur von Ralf Rytlewski eher in die Richtung einer Redifferenzierung der ostdeutschen Gesellschaft nach Generation, Bildung, Kirchennähe usw. geht, setzt sie aber ebenfalls die Existenz einer herrschenden Staats-und Parteikultur voraus Schließlich arbeitet der interessante Vorschlag von Wolfgang Engler, die DDR als „Aushandlungsgesellschaft“ zu begreifen, Elemente eines täglichen Kompromisses von Herrschenden und Beherrschten heraus, unterbelichtet aber die Asymmetrie der bestehenden Machtverhältnisse, welche die einfachen’ Bürger der SED-Willkür auslieferten Solche differenzierenden Begriffsbildungen helfen, die Totalitarismusinterpretation der zweiten deutschen Diktatur zu verfeinern, bieten jedoch wegen ihrer Beschränktheit auf gewisse Einzelaspekte keine umfassende theoretische Erklärung.
Als hauptsächliche Alternative zum Totalitarismusbegriff hat sich schließlich ein Modernisierungsansatz herauskristallisiert, der die DDR als moderne Industriegesellschaft unter anderen zu analysieren versucht. Diese Perspektive knüpft an einen geläuterten immanenten Systemvergleich an, der sich im Zuge der Entspannung herausgebildet hatte, um die Diskussion über den zweiten deutschen Staat durch eine genauere Bestimmung der Leistungen und Defizite der neuen, sich im Osten formierenden Gesellschaft zu entpolitisieren. Im Gegensatz zur reflexartigen Verdammung des SED-Regimes während des Kalten Krieges wollte dieser Ansatz dem fortschrittsorientierten Selbstbild der DDR gerecht werden, das auf die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft zuzusteuern vorgab. Zahlreiche Untersuchungen dieser vor allem von Peter Christian Ludz inspirierten Richtung kompilierten wertvolles Material vor allem zur Funktion des politischen und wirtschaftlichen Systems, wurden aber von einer prekären Datenlage behindert, welche sie mehr auf die Rhetorik der SED als auf empirische Befunde ihrer Umsetzung beschränkte Daher konnten nach 1989/90 Verfechter des Totalitarismus-Paradigmas vehement kritisieren, daß der immanente Systemvergleich den fundamentalen Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur verwische und nicht mehr an dem Ziel der Wiedervereinigung festgehalten habe
Ein bemerkenswerter Versuch der Weiterentwicklung des Modernisierungsansatzes ist der von Jürgen Kocka auf die DDR bezogene Begriff einer „modernen Diktatur“, der eine Synthese von Betonung der „Durchherrschung“ und Eruierung von gesellschaftlichem Wandel ansteuert. Dabei bietet die Methode des Vergleichs, je nach dem dabei verwendeten tertium comparationis, interessante Aufschlüsse über die zentralen Widersprüche des ostdeutschen Systems: Einerseits finden sich im Kontrast zum Dritten Reich oder anderen sowjetischen Satelliten zahlreiche Indizien relativer Modernität der DDR in Aspekten wie den Herrschaftsmethoden durch Propaganda und Kontrolle, der hohen Geschlechtergleichstellung, dem erheblichen Industrialisierungsgrad usw. Andererseits ergibt eine vergleichende Modernisierungsanalyse -vor allem gegenüber der Bundesrepublik -auch gravierende Defizite wie die zögerliche Tertiärisierung der Berufe oder eine schwächere Ausprägung der Konsumgesellschaft, die fehlende Ausdifferenzierung der Subsysteme von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft sowie die unvollständige Absicherung intermediärer Bereiche und Institutionen, die man sogar als , Demodernisierung‘ analysieren könnte. Insgesamt kommt Kockas abwägende Betrachtung zu dem plausiblen, aber etwas unbefriedigenden Schluß: „Der modernisierungshistorische Vergleich führt eben selten zu ganz eindeutigen Ergebnissen, sondern häufig nur zu Schlußfolgerungen nach Art des , einerseits-andererseits’." Ähnlich anregend als Beitrag zur Modernisierungsdiskussion ist der von dem ostdeutschen Soziologen Detlef Pollack vorgeschlagene Begriff einer „Organisationsgesellschaft“. In seiner Untersuchung zur Lage der Kirchen in der DDR versteht er den Prozeß der Umgestaltung der Gesellschaft als eine „Form funktionaler Differenzierung“, als eine zunehmende Unterscheidung „der einzelnen Systembildungsebenen“, die „enorme Anhebung des Komplexitätsniveaus“ und schließlich als Herausbildung von „selbstregulative(n) Medien wie Geld, Recht, Markt, Öffentlichkeit, Verwaltung“ usw. Seine Anwendung dieser vier Kriterien kommt zu dem Befund, „daß die DDR zwar typische Merkmale der Moderne aufwies, daß sich die Spezifik dieser Merkmale aber nicht voll auszuprägen vermochte, da die weitergehende Modernisierung der Gesellschaft gebremst war durch die von der SED-Führung betriebene Zentralisierung aller gesellschaftlichen Steuerungsprozesse“. Daher versteht Pollack das SED-System letztlich als „semimoderne Mischgesellschaft“, in der sich Prozesse der Differenzierung und Homogenisierung, der Minimierung und Maximierung von Systembildungsebenen, der Schließung und Öffnung sowie der Selbstregulierung und Instrumentalisierung eigenartig verquickten und dadurch gegenseitig blockierten
Die Diskussion über den Begriff der „modernen Diktatur“ zeigt, daß die Anwendung des Modernisierungsansatzes auf die DDR mehr interessante Fragen aufwirft, als definitive Antworten bietet. Positiv erscheint dabei die Ausweitung des Blicks vom politischen Herrschaftssystem auf die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit, die Differenzierung der Urteile durch Anerkennung vonWidersprüchen, die Hervorhebung von zeitlichen Wandlungsprozessen und die Feststellung von Grenzen der Diktatur Eher problematisch könnte sich bei zu schematischem Vorgehen aber die Überstülpung von Begriffen westlicher Sozial-forschung auf östliche Sachverhalte, die Schwierigkeit einer inhaltlichen Bestimmung von jeweiliger „Modernität“ sowie die implizit normative Konnotation von Modernisierungsvorstellungen auswirken. Durch ihre Betonung von Differenzierung erweisen sich Termini wie „durchherrschte Gesellschaft“ als ein wichtiges Korrektiv für manche Vereinfachungen von auf der Totalitarismustheorie aufbauenden Studien; aber ohne weitere Modifikationen suggeriert die Bezeichnung „moderne Diktatur“ nur einen generischen Gattungsbegriff im Gegensatz zu antiker Gewaltherrschaft, welcher der inhaltlichen Ambivalenz von Modernisierung kaum gerecht wird
Vielleicht ließen sich einige Probleme des Modernisierungsansatzes durch eine stärker auf die Eigenheiten des ostdeutschen Systems eingehende Weiterentwicklung dieses Konzeptes reduzieren. Zunächst wäre es wichtig, die auch in der Transformationsforschung auftretende automatische Gleichsetzung von Demokratie und Moderne aufzubrechen und zu fragen, worin die mit erheblichem Pathos vorgetragenen kommunistischen Alternativvorstellungen des gesellschaftlichen Fortschritts eigentlich bestanden Darüber hinaus könnte man für die DDR über ein Phasenmodell nachdenken, das aus einem anfänglichen Modernisierungsschub durch die antifaschistisch-demokratische Umgestaltung (bei gleichzeitiger Entdifferenzierung), einer darauffolgenden, jedoch steckengebliebenen wissenschaftlich-technischen Revolution und schließlich aus wachsenden Innovationsblockaden bei gleichzeitiger Modernisierungskritik bestehen könnte Oder wäre es produktiver, von Dauerkonflikten zwischen wirtschaftlicher Rationalisierung sowie wissenschaftlicher Autonomie und Strategie der politischen Herrschaftssicherung der SED sowie der Verteidigung sozialer Privilegien der Nomenklatur zu spre-chen? Trotz aller Schwierigkeiten scheint im Vergleich mit politikhistorischen Analysen von Unterdrückungsmechanismen das Potential von eher sozial-und kulturgeschichtlich argumentierenden Erklärungsansätzen noch nicht ausgeschöpft, weil sie einen komplexeren Zugang zur Realität der DDR bieten können.
IV. Neue Begriffsbildungen
Die angedeutete Problematik der politischen Bezeichnungen wie analytischen Konzepte weist darauf hin, daß jede Begrifflichkeit eine Reihe von Anforderungen erfüllen muß, um den eigenartigen Charakter des realen Sozialismus in Ostdeutschland zu erfassen. Erstens sollten analytische Begriffe versuchen, die Erfahrungen von DDR-Bürgern zumindest ansatzweise widerzuspiegeln, also ihre unterschiedlichen und ambivalenten Erinnerungen ansprechen. Zweitens sollten Begriffe nicht nur einen Teilaspekt hervorheben, sondern umfassend genug sein, um den totalen Anspruch der ideologisch gesteuerten Veränderungsabsichten des Regimes aufzugreifen. Drittens sollte jedes Konzept den diktatorischen Charakter des SED-Systems, das in seinem Selbstverständnis als eine „Diktatur des Proletariats“ artikuliert wurde, thematisieren, um die diversen Herrschaftsmethoden der Partei eingehender zu analysieren. Viertens sollten Schlüsselbegriffe jedoch auch auf die unvollständige Umsetzung dieser Programmatik hinweisen und den gesellschaftlichen Brechungen und Widerständen nachgehen, die vielen ein relativ normales Leben innerhalb der Anormalität ermöglichten. Eine adäquatere Beschreibung als die Formel vom „Unrechtsstaat“ müßte gleichzeitig eine generelle Einordnung der DDR wie eine Bezeichnung ihrer Spezifik enthalten Entscheidend für jede Begriffsbildung sind die fundamentalen Aspekte des zweiten deutschen Staates, die dadurch thematisiert werden sollen.
die im Kalten Krieg Während Diskussion von einer entweder positiven oder negativen Eindeutigkeit der DDR ausging, hat die Forschung der letzten Jahre ein wesentlich vielschichtigeres Bild gezeichnet. Jüngere Analysen wimmeln geradezu von Dualismen wie Ideologie und Praxis, An-spruch und Wirklichkeit, Oberfläche und Untergrund usw. und betonen das „gespaltene Bewußtsein“, die „doppelte Zunge“ etc. als charakteristische Phänomene Auch die ambivalenten Resultate der angesprochenen Modernisierungsanalysen passen in dieses Bild einer wachsenden Komplexität der Erfassung ostdeutscher Strukturen wie Erfahrungen. In seinem Kommentar zu der gesellschaftsgeschichtlichen Kontroverse über den Nivellierungsgrad der DDR-Gesellschaft und das Ausmaß der Fremdbestimmung der DDR-Bürger konstatiert Detlef Pollack eine Reihe von fundamentalen Spannungs-und Konfliktlinien, welche es nahelegen, von einer „konstitutiven Widersprüchlichkeit der DDR“ zu sprechen. Auch der eher zu einheitlicher Anklage neigende Stefan Wolle folgert aus dem offensichtlichen Scheitern sowohl der „systemimmanenten Betrachtungsweise früherer Jahre“ wie der „einseitigen Orientierung der DDR-Forschung auf Unterdrückung und Widerstand“ nun: „Das Problem besteht darin, das Phänomen DDR als in sich widersprüchlich, zumindest als ambivalent zu begreifen.“
Einige Versuche einer bewußt paradoxen Begriffsbildung wie „Erziehungsdiktatur“ oder „kommode Diktatur“ gehen in diese produktive Richtung, können aber noch nicht ganz überzeugen Suggestiver ist dagegen Rolf Henrichs interne Kritik der späten DDR unter dem Titel „Der vormundschaftliche Staat“, die an dem Widerspruch zwischen den proklamierten emanzipatorischen Zielen und der eher repressiven Praxis anknüpft. Diese erstaunlich offene Analyse eines Anwalts und Mit-gründers des Neuen Forums wollte „an das hierzulande stillgelegte Unternehmen Aufklärung erinnern“, um die Verwirklichung des „Prinzips der Selbstbestimmung in unserem Handeln“ einzuklagen. In gewisser Hinsicht intendierte Henrichs Argumentation eine Absage an die Honeckersche Formel von der „Einheit von Wirtschaft-und Sozialpolitik“, denn sie kündigte den fundamentalen Sozialvertrag zwischen Bevölkerung und Regime auf, der auf dem quidpro quo von Befriedigung der Konsumbedürfnisse für politisches Stillhalten beruhte. Mit diesem Begriff meinte Henrich nicht nur die individuelle Rechtlosigkeit der Bürger, sondern ebenso die sowjetische Bevormundung, die dem ideologischen Befreiungsanspruch des Marxismus widersprachen Da sie noch vor dem Sturz des Regimes konzipiert war, konnte diese wagemutige Attacke den „Despotismus der Politbürokratie“ nicht beim Namen „Diktatur“ nennen und nur wenig über die inhaltlichen Ziele des „bürokratischen Sozialismus“ aussagen.
Hinter dieser bürgerrechtlichen Kritik am „Staatssozialismus“ verbirgt sich der Begriff des „autoritären Wohlfahrtsstaats“, der eine für die preußische Sozialpolitik charakteristische Verbindung zwischen staatlicher Unterstützung und ziviler Unmündigkeit herstellt In seiner demokratisierten Weimarer Form wurde jedoch das traditionelle Abhängigkeitsverhältnis in der Armenpflege durch individuelle Partizipationsmöglichkeiten gemildert und das Wort „Wohlfahrt“ durch den neuen Terminus der „Fürsorge“ ersetzt. In der Gesetzgebung taucht letzterer in der „Reichsfürsorgepflichtverordnung“ vom 13. Februar 1924 und den „Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ vom Dezember des gleichen Jahres auf, in denen die staatliche Unterstützung hinsichtlich der „neuen Armut“ von Kriegsversehrten, Witwen und Waisen sowie von Klein-und Sozialrentnern geregelt wird Im Gegensatz zur religiösen und privaten Hinwendung von ehrenamtlichen Helfern in Innerer Mission oder Caritas suggerierte der vor allem von fortschrittlich bürgerlichen und sozialdemokratischen Kreisen propagierte Begriff der „sozialen Fürsorge“ eine säkulare, öffentliche Betreuung durch professionelle, meist weibliche Sozialarbeiter. Letztlich propagierte der in zahlreichen Artikeln und Streitschriften formulierte Wunsch nach einem „Fürsorgestaat“ das Ziel eines „risikofreien Menschen“, d. h. eines kollektiven Schutzes vor den negativen Zufällen des Lebens Trotz ihrer Verzerrung in eine lebensverachtende eugenische „Vorsorge“ unter dem Nationalsozialismus machte das SED-Regime gewissermaßen einen zweiten Versuch, diese Sozialutopie unter den schlimmeren Umständen nach 1945 in noch konsequenterer Weise zu realisieren. Als bewußte Antwort auf die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft und die politische Unterdrückung im Dritten Reich sollten in der DDR verstärkte Anstrengungen unternommen werden, hinsichtlich der ökonomischen Sicherheit und sozialen Gleichheit, die nach Peter Flora die Kernmerkmale des modernen Wohlfahrtsstaates darstellen: Um den Aufbau eines besseren Deutschlands zu erzwingen, verhärtete das SED-Regime das vom wilhelminischen Autoritarismus und Weimarer Sozialreformismus geprägte Erbe der deutschen Arbeiterbewegung zur offenen Diktatur des Proletariats zum Zwecke einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Durch diese gleichzeitige Radikalisierung der politischen Herrschaftsmethoden und der sozialen Zielsetzungen distanzierte sich die DDR auch bewußt von dem bundesrepublikanischen Rivalen im Westen, der sich nach längeren Kämpfen zur sozialen Marktwirtschaft, zu einer sozialstaatlichen Demokratie entwickelte
Eine Interpretation der DDR als radikalisierter Wohlfahrtsstaat könnte man daher mit den beiden etwas gegensätzlichen Begriffen der „Fürsorge“ und der „Diktatur“ umschreiben. In seiner engeren Bedeutung suggeriert das Wort „Fürsorge“ die „Pflege, Hilfe, die man jemandem zuteil werden läßt“ sowie „tätige Bemühung um jemanden, der ihrer bedarf“; im erweiterten Sinne bedeutet es eine „öffentlich organisierte Hilfstätigkeit zur Unterstützung in Notsituationen oder besonderen Lebenslagen“ Diese Konnotationen der individuellen Hinwendung und kollektiven Hilfeleistung könnten auf den ethischen Anspruch des Sozialismus hinweisen, der nicht nur eine sozialpolitische Betreuung der bedürftigen Schichten, sondern eine weitaus breitere, emanzipatorische Umgestaltung der Gesellschaft bezweckte. Gleichzeitig schwingt aber schon in den Verbindungen dieses Wortes „Fürsorge“ mit „Anstalt“ oder „Erziehung“ ein Unterton von Strenge und Bevormundung mit, der etwa in Günter Grass’ ironischer Anklage in seinem Roman „Ein weites Feld“ zum Ausdruck kommt: „Eure Fürsorge hieß Beschattung.“ Die Koppelung mit dem politischen Systembegriff der Diktatur verschärft diese Doppeldeutigkeit noch zu einer eindeutigen Bezeichnung von politischer Unterdrückung Der Neologismus „Fürsorgediktatur“ versucht daher, die zentrale Spannung zwischen der emanzipatorischen Rhetorik des Sozialismus und der korrumpierten Praxis des Stalinismus in einem einzigen Doppelwort zu fassen.
Welche Dimensionen der DDR-Geschichte würde ein solcher Begriff der „Fürsorgediktatur“ besonders erhellen? Zunächst weist diese Neubildung explizit auf die grundsätzliche Widersprüchlichkeit in den Zielen und Handlungen des SED-Systems hin, die in den scheinbar paradoxen Erinnerungen ehemaliger Bürger an ihr Leben in der DDR auftaucht. Einerseits greift dieser Terminus die ideologischen Intentionen des Sozialismus auf, indem er an das Projekt der egalitären Gesellschaftsreform zugunsten von hilfsbedürftigen Unterschichten wie Arbeitern und Bauern erinnert -also die DDR als Teil der weltweiten Bewegung sieht, die auf eine Solidarisierung und Humanisierung des gesellschaftlichen Lebens hinarbeitete. Andererseits ist in dieser Begriffskoppelung auch eine unzweideutige Kritik kommunistischer Unterdrükkung enthalten, weil sie das Wort „Diktatur“ im zweiten Teil verwendet, das den Zwangscharakter der sozialistischen Utopie sowie ihrer Umsetzung klar kennzeichnet. Mit ihrer bewußten Verbindung von progressivem Anspruch und regressiver Realität ist diese Begriffsneubildung daher ein Versuch, den spezifischen Charakter der DDR im Vergleich mit anderen modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten
Durch die Spannung seiner Komponenten stellt dieser Neologismus eine Reihe von fundamentalen Fragen neu, die fast alle Gebiete des Lebens in der DDR betreffen Wie funktionierten eigentlich die Herrschaftsmechanismen dieses diktatorischen Systems, das seine Bürger zum eigenen Glück zwingen wollte? Da es als auf sowjetische Bajonette gestütztes Besatzungsregime begann und nur von einer Minderheit getragene sozialistische Aspirationen realisieren wollte, verlangte die Durchsetzung des im Staatsnamen enthaltenen Anspruchs auf sozialistische Demokratie der Arbeiter und Bauern eine SED-Alleinherrschaft, gestützt auf Stasi-Kontrolle und bürokratischer Gängelung. Das Politbüro versuchte diesen Widerspruch durch einen vormundschaftlichen politischen Stil zu überwinden, der ihre Fürsorge für die entmündigte Bevölkerung durch einen penetranten Gestus von sozialer Betreuung, materieller Versorgung, kultureller Hegung usw.demonstrierte. Charakteristisch für eine solche Mischung von Zwang und Hinwendung war auch die Institution der Staatssicherheit, deren Überwachung von vermuteten Abweichlern in den letzten Jahren des Regimes fast einen sozialtherapeutischen Charakter annahm. Die Bürokratisierung der Entscheidungsprozesse führte zu einer Herrschaft für, aber nicht durch das Volk, welche die Bürger zu Gehorsam und Akklamation verurteilte
Welche Widersprüche rief diese vorsorgliche Politik, die alte Träume der Arbeiterbewegung realisierte, in der sozialen Praxis hervor? Die Fürsorge-komponente des Konzepts weist auf die zentrale Rolle von Honeckers Formel von der „Einheit der Wirtschafts-und Sozialpolitik“ hin, denn die SED-Diktatur suchte die Zustimmung der Bevölkerung in steigenden Maße durch sozialpolitische Leistungen zu erreichen Zwar war die Mittagsche Planwirtschaft keine Verwaltung des Mangels mehr, aber nach dem Steckenbleiben der wissenschaftlich-technischen Revolution zielte sie hauptsächlich auf die Befriedigung von Konsumbedürfnissen durch eine wachsende äußere Kreditaufnahme, welche zu mangelnden Investitionen und Innovationen führte. Die dadurch möglich gemachte Sozialpolitik einer Subventionierung von Nahrungsmitteln, Wohnungen und Verkehrsmitteln sowie frauenfreundlichen Einrichtungen wie Kitas oder FDGB-Ferienplätzen erfüllte zwar manche Wünsche der Bevölkerung, verlangte aber völligen politischen Gehorsam im Austausch für ein Gefühl von Geborgenheit Die ironische Folge einer solch hypertrophen Fürsorge war die Verschwendung von wirtschaftlichen Ressourcen, die Gleichschaltung von gesellschaftlichen Organisationen und die Verdrängung von Eigeninitiativen in den privaten Bereich, also die Stillegung der von ihr erhofften Zivilgesellschaft.
Welche Konsequenz hatte der ideologische Anspruch des Aufbaus einer sozialistischen, Gleichheit und Sicherheit bietenden neuen Gesellschaft? Einerseits konnte sich die Propaganda der DDR auf den Geist des Antifaschismus, auf das Erbe eines bürgerlichen Humanismus und die Traditionen der Arbeiterkultur berufen, um die SED-Herrschaft als Förderung der kulturellen Interessen der Bevölkerung zu legitimieren. Eine Folge dieser Haltung war das für Intellektuelle nicht uninteressante, aber immer wieder scheiternde Projekt, den Massen eine demokratisierte Hochkultur zugänglich zu machen. Andererseits bedeutet die Hinwendung der Partei zu den Ideologieproduzenten und Kulturschaffenden in der Praxis die Etablierung einer strengen, wenn auch erratischen Zensur, die zumindest anfangs versuchte, einen kleinbürgerlichen Stil des sozialistischen Realismus zu diktieren, die moderne Kunst als Dekadenz zu diffamieren und in der Populärkultur einen rabiaten Anti-Amerikanismus zu propagieren. Durch die Verdrängung von Öffentlichkeit verkehrte sich der Anspruch einer aufklärerischen Befreiung und sozialen Stützung des Menschen in Bevormundung und Behinderung von Kreativität, welche die Kultur zu einem weiteren Mittel der Beherrschung reduzierte. Auch auf dem Gebiet der Kultur war also die Wirkung der belagernden Fürsorglichkeit der DDR durchaus ambivalent Der Begriff der Fürsorgediktatur trägt einerseits dazu bei, die erstaunliche Stabilität der DDR zu erklären, die das ungeliebte System über vier Jahrzehnte mit über sowjetische Bajonette hinausgehenden, sich verfeinernden Methoden an der Macht hielt. Nachdem eine Mischung von Vertreibung und Repression sowie der Bau der Mauer ältere Formen von antikommunistischem Widerstand gebrochen hatte, konnte sich die Strategie der SED in den sechziger Jahren von auf Gewalt basierender Einschüchterung verlagern auf subtilere Formen der Machtausübung wie die Etablierung eines eigenen Herrschaftsdiskurses und die Befriedigung materieller Bedürfnisse. Weil sie keine Alternative mehr hatte und auch die westliche Ostpolitik von der langfristigen Existenz des zweiten deutschen Staates ausging, mußte sich die Bevölkerung mit dem System arrangieren, lernten die ostdeutschen Bürger also sich gleichsam selbst zu beherrschen, ohne aber deswegen ihre eigenen Alternativvorstellungen ganz aufzugeben Jedoch beruhte diese „widerwillige Loyalität“ weitgehend auf dem Funktionieren der materiellen Fürsorge, so daß die realsozialistische Diktatur unterschwellig labil blieb, denn die Kooperation der Bevölkerung hing von der jeweiligen Qualität der Versorgung ab. Im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie und sozialen Marktwirtschaft des Westens, die als Werte an sich verstanden wurden, erreichte die „sozialistische Demokratie“ des Ostens zwar eine zeitweilige Loyalität, aber keine permanente Legitimität, blieb also aufkündbar
Andererseits weist dieser Ansatz auch auf gewisse selbstzerstörerische Tendenzen des realsozialistischen Experiments hin, die sein schließliches Scheitern mit herbeiführten Konzipiert als radikale Antwort auf Probleme der klassischen Industriegesellschaft, war die DDR nicht auf den unvorhergesehenen Übergang zur post-industriellen Risikogesellschaft vorbereitet Da die soziale Reform des Kapitalismus das Leid der großen Depression, des rassistischen Völkermords und der beiden Weltkriege nicht zu verhindern vermocht hatte, sollte die konsequentere kommunistische
Revolution der Gesellschaft ein für alle Mal die Wurzeln dieser Übel beseitigen und eine Wiederholung der vom Nationalismus angerichteten Zerstörungen dauerhaft verhindern. Ironischerweise blockierten aber gerade die bei diesem Versuch angewandten Mittel der Forcierung einer klassischen, arbeitsintensiven Industriestruktur und der Errichtung einer politbürokratischen Parteidiktatur eine kreative Reaktion auf die neuen Herausforderungen der tertiären Konsumgesellschaft und zivilen Mündigkeit. Weil die Ineffizienz der ostdeutschen Planwirtschaft die soziale und kulturelle Fürsorge auf Dauer unbezahlbar machte und die Diktatur nach dem Aufkommen von Oppositionsbewegungen und dem Wandel zur Perestroika in der Sowjetunion nicht mehr aufrechtzuerhalten war, erwies sich diese auf der Koppelung der genannten Komponenten beruhende Staatsform schließlich als ein Irrweg, der sich in den Augen der Bevölkerung selbst widerlegt hatte
V. Zur Einordnung der DDR
Die Auseinandersetzung um die begriffliche Fassung von historischen Entwicklungen ist gleichzeitig Teil der Ereignisse und damit ein Aspekt ihrer Aufarbeitung. Obwohl der Streit um Etikette manchmal überflüssig erscheint, ist er doch notwendig, weil Begriffe durch ihre Bündelung von Inhalten und ihre Suggestion von Wertungen die zeitgenössische Debatte wie die spätere Reflexion nachhaltig beeinflussen. So kann man z. B. an dem unterschiedlichen Gebrauch von Begriffen wie „Judenvernichtung“, „Shoah“ oder „Holocaust“ diskrete Stufen der Diskussion sowie unterschiedliche interpretative Positionen, die den Genozid der Juden betreffen, verdeutlichen Der begriffs-geschichtliche Ansatz von Koselleck und Conze weist darauf hin, daß historische Grundbegriffe ein schweres Gepäck von multiplen Bedeutungen, Entwicklungsstufen und Emotionen mit sich schleppen, das ihre Benutzung alles andere als selbstverständlich macht und daher bewußte Entscheidungen verlangt. Wie die Popularität des Begriffs „Wende“ im Gegensatz zu „Zusammenbruch“ oder „Revolution“ als Umschreibung für die Ereignisse von 1989/90 zeigt, kann man die Verwendung einer bestimmten Bezeichnung nicht dekretieren, sondern sie muß sich selbst in der Diskussion durchsetzen. Eine sozio-linguistische Perspektive sollte aber über die Rekonstruktion der Begriffsentwicklung hinausgehen und die für eine Bewertung von analytischen Begriffen zentrale Frage aufwerfen: Was kann und was soll das jeweilige Konzept leisten?
Die Debatte um die historische Ortsbestimmung der DDR dreht sich weitgehend um eine Wahl zwischen Konstrukten, welche entweder den Sozialismus oder die Diktatur als ’ Grundeigenschaft betonen. Erstere Variante, die am Selbstbild des zweiten deutschen Staates ansetzt, wird vor allem von früheren Vertretern oder Sympathisanten des Regimes verwendet, um den spezifischen Charakter des real existierenden Sozialismus „in den Farben der DDR“ herauszuarbeiten. Die analytische Verwendung des Terminus „realer Sozialismus“ nach seinem Ende erlaubt eine Diskussion von „Krisensymptomen“, die eine intellektuelle Selbstkritik der Ursachen des Untergangs des „staatssozialistischen Systems“ ermöglichen Spezifischere Koppelungen wie „parteibürokratischer Sozialismus“ oder „administrativ-zentralistischer Sozialismus“ gehen auf bestimmte Verformungen der SED-Praxis ein, um dadurch das aufklärerische Telos des marxistischen Humanismus von seiner mißlungenen Umsetzung in der DDR zu trennen und für einen erneuten Versuch in der Zukunft zu retten. Manche Neuprägungen, die in „Sozialismus“ enden, laufen daher Gefahr einer retrospektiven Verharmlosung des Regimes durch eine rhetorische Strategie, welche die Verantwortung für seine abschreckenden Aspekte entweder der sowjetischen Besatzungsmacht oder der Politik Ulbrichts und Honeckers zuweist, den Kern der Ideologie aber davon ausspart
Das kritische Gegenstück zu Sozialismusanalysen sind Begriffsbildungen, welche den Diktaturcharakter der DDR als „Unrechtsstaat“ betonen. Es sollte kaum überraschen, daß Etikettierungen wie „SED-Diktatur“ eher von Opfern und ehemaligen Gegnern des Regimes verwendet werden, um seinen menschenbeglückenden Charakter in Zweifel zu ziehen und nicht nur die Praxis, sondern auch die Ideologie für die Unterdrückung der ostdeutschen Bevölkerung verantwortlich zu machen Der Vorteil solcher Bezeichnungen ist die klare analytische wie moralische Distanzierung von dem Honecker/Mielke-Regime, die ungeschminkt seinen despotischen Charakter hervorhebt. Jedoch sagen Etiketten wie „zweite deutsche Diktatur“, die mit Vorliebe von Anhängern der Totalitarismustheorie verwendet werden, um eine zeitliche und inhaltliche Nähe zur ersten Diktatur des Nationalsozialismus zu suggerieren, zu wenig über den andersartigen ideologischen Inhalt dieser Gewaltherrschaft aus Obwohl er differenzierendere Fragen nach den gesellschaftlichen Grenzen dieser Herrschaftsform stellt, bleibt auch der Gattungsbegriff der „modernen Diktatur“ noch zu unspezifisch in seiner Beschreibung des Charakters der DDR, solange er nicht mit konkreterem Inhalt gefüllt wird.
Der hier vorgestellte Neologismus „Fürsorgediktatur“ sollte daher als ein Versuch verstanden werden, die Polarisierung der dominanten Ansätze durch die Formulierung eines neuen, von Elementen beider Grundrichtungen ausgehenden Konzeptes zu überwinden. Statt die multiplen Widersprüche der DDR zu minimieren setzt diese Begriffsbildung geradezu bei ihnen an und versucht, sie in eine produktive Spannung zwischen zwei Teilen eines einzigen Doppelwortes zu verwandeln. Einerseits bemüht sie sich um eine gewisse Empathie mit den ambivalenten Erfahrungen von Menschen, die in diesem System gelebt haben, insistiert aber andererseits auch auf der Notwendigkeit einer analytischen Distanz, welche die Einordnung des Systems in größere historische Zusammenhänge erlauben soll. Eine solche, die eigenartige Beziehung von sozialer Fürsorge und politischer Diktatur thematisierende Perspektive versteht die DDR als eine problematische Verknüpfung von sozialem Wohlfahrtsstaatsdenken mit illiberalem Paternalismus und weist auf ihre Einbettung in breitere Traditionslinien deutscher Geschichte hin. Dadurch regt diese Neubildung auch einen diachronen Vergleich mit der vorhergehenden Diktatur des Nationalsozialismus sowie synchrone Vergleiche mit der konkurrierenden sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik sowie den post-stalinistischen Regimen des Ostblocks an
Kann ein einzelner Begriff, auch wenn er noch so ausführlich begründet ist, die Anforderungen einer umfassenden Rekonstruktion der DDR mit ihren Widersprüchen überhaupt erfüllen? Eine abstrahierende Reduzierung von komplexen Tatbeständen auf ein einziges Etikett wird wohl kaum einem solchen Anspruch genügen; aber durch Betonung gewisser Dimensionen wie der fundamentalen Widersprüchlichkeit der DDR könnte ein Schlüsselkonzept wie das der „Fürsorgediktatur“ eine Perspektive andeuten, aus der sich Interpretationen entwickeln lassen. Auch wird ein einziger Terminus nicht allen Entwicklungsphasen eines vier Jahrzehnte herrschenden Systems gerecht werden; jedoch soll die Konzentration auf einige Aspekte wie den vormundschaftlichen Stil, das sozialpolitische Engagement und die Hegung der Kultur Grundzüge hervorheben, die schon unter Ulbricht auftauchten, aber für Honecker besonders zutreffend wurden. Schließlich ist kein Begriff ganz gegen ideologische oder emotionale Mißverständnisse gefeit; er kann nur versuchen, durch Klarheit der sprachlichen Prägung seine Assoziationen etwas einzugrenzen, indem er -wie im gegebenen Falle -eher positiv konnotierte mit eher negativ besetzten Bedeutungen verbindet Weil sie immer nur gewisse Teilbereiche abdecken können, werden auch weiterhin verschiedene begriffliche Angebote miteinander konkurrieren müssen.
In diesem Sinne möchte der Neologismus „Fürsorgediktatur“ die Diskussion über die begriffliche Fassung des DDR-Systems nicht beenden, sondern sie neu beleben. Die vorgestellte Formulierung könnte einige der Hauptschwächen des Totalitarismusbegriffs wie des Modernisierungsansatzes dadurch beheben, daß sie den emanzipatorischen Anspruch des zweiten deutschen Staates in Beziehung zu seiner repressiven Herrschaftspraxis setzt und die DDR explizit als ein spannungsgeladenes Konfliktsystem behandelt. Statt bereits fertige Antworten zu liefern, will dieser paradoxe Terminus einige Grundfragen zu Charakter und Funktion des SED-Systems mit größerer Schärfe stellen. Durch seine bewußte Offenheit könnte dieses Konzept Tendenzen einer differenzierenden, doch nicht unkritischen Aufarbeitung der ostdeutschen Vergangenheit stärken, welche die Komplexität des zweiten deutschen Staates sowie die unterschiedlichen Haltungen seiner Bürger ernst nehmen. Zweifellos wird diese Begriffsneubildung -wie jede andere Etikettierung-eigene Probleme aufwerfen; aber wenn sie dadurch die Forschung zur weiteren Klärung ihrer zugrundeliegenden Konzepte anregt, hat sie ihren analytischen Zweck erfüllt.