I. Einleitung
Der Sturz der kommunistischen Einparteisysteme in Europa 1989-1991 stellt zweifellos eine weltgeschichtliche Zäsur dar. Darüber hinaus bedeutet er auch für die Geschichte theoretischer Ansätze in der Kommunismusforschung einen wichtigen Einschnitt. Dies wird deutlich, wenn man sich den seit 1989 wachsenden Einfluß des Totalitarismuskonzepts -genauer: verschiedener Varianten dieses Konzepts -vor Augen führt. Dieser hat sich in einer rapiden Verbreitung der Termini „totalitär“ und „Totalitarismus“ nicht nur in der politischen Alltagssprache, sondern auch in der Wissenschaft niedergeschlagen. Selbst ehemalige Skeptiker und Gegner betrachten den Totalitarismusansatz seit 1989 mit großem Respekt; charakteristische Aussagen dieses Ansatzes werden von früheren Gegnern zuweilen euphorisch als bedeutende Einsichten in die Funktionsweise kommunistischer Systeme gepriesen
Die seit dem Zusammenbruch kommunistischer Systeme in Europa zu beobachtende Hochkonjunktur in der Verwendung des Totalitarismusbegriffs kontrastiert stark mit.der Situation in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, als das Totalitarismuskonzept bei einem großen (und damals noch wachsenden) Teil der Kommunismus-forscher aus noch darzulegenden Gründen verpönt war und zunehmend seltener Verwendung fand; dieser Zeitraum stellt in der Rezeptionsgeschichte des Ansatzes also eine „konjunkturelle Baisse“ dar. Erste Gegentendenzen zeichneten sich wieder Anfang der achtziger Jahre ab doch erst im Zuge des epochalen Umbruchs 1989-1991 wurde der Totalitarismusansatz in weiten Kreisen westlicher Wissenschaftler „rehabilitiert“.
Ist diese erneute Attraktivität von Totalitarismuskonzepten in der Kommunismusforschung gleichbedeutend mit einer Art „globalem Erkenntnis-fortschritt“ dieser Disziplin? Oder anders gefragt: Haben Totalitarismuskonzepte wegen ihrer höheren kognitiven Leistungsfähigkeit -d. h. ihrer größeren Erklärungskraft und ihres höheren deskriptiven Potentials -gegenüber anderen Ansätzen an Ein-fluß (wieder-) gewonnen? Diese Frage ist keinesfalls bedenkenlos zu bejahen, denn die „Konjunktur“ eines Forschungsparadigmas wird gerade in den Geistes-und Sozialwissenschaften auch durch Faktoren nicht-kognitiver Art bestimmt. Zu derartigen Faktoren gehören vor allem bestimmte „politische Großwetterlagen“ oder allgemein Einflüsse des „Zeitgeistes“, welche sozusagen von außen auf das „Subsystem Wissenschaft“ einwirken. Angesichts dessen kann aus der steigenden Attraktivität eines bestimmten Paradigmas nicht direkt auf dessen höheres Erkenntnispotential geschlossen werden Im Fall der neuerlichen Hochkonjunktur des Totalitarismusansatzes wird man sogar mit einem besonders ausgeprägten nicht-kognitiven Faktor rechnen müssen. Die Gründe dafür liegen vor allem in den politisch wertenden (und daher emotional besetzten) Konnotationen, die Totalitarismuskonzepte neben ihrem explanativen und deskriptiven Gehalt haben und die seit jeher ihre Konjunktur in Wissenschaft und Politik mitbestimmten.
Will man sich ein Urteil über die kognitive Leistungsfähigkeit von Totalitarismusansätzen in der Kommunismusforschung bilden, dann wäre es also unangemessen, die gegenwärtige Popularität dieser Konzeption als Indikator eines entsprechend hohen Erkenntnispotentials zu betrachten; statt dessen ist eine sorgfältige und nüchterne Untersuchung ihres Aussagengehalts unabdingbar. Eine solche Untersuchung mag durchaus die politisch wertenden Aspekte (sowie deren Einfluß auf die Paradigmenkonjunktur) thematisieren; hierbei sollte es jedoch möglich sein, von den politisch wertenden Komponenten von Totalitarismuskonzepten deren genuin kognitive Aspekte zu unterscheiden und beide sachgerecht -sine ira et Studio -zu beurteilen.
In diesem Essay möchte ich zeigen, daß der Konjunkturzyklus des Totalitarismuskonzepts nicht nur durch die wechselnden „politischen Großwetterlagen“ der vergangenen Jahrzehnte erklärbar ist -durch die Schwankungen des „politischen Zeitgeistes“ also -, sondern in einem beträchtlichen Ausmaß auch durch die relative kognitive Leistungsfähigkeit des Ansatzes, d. h. durch seine Erklärungskraft und sein deskriptives Potential im Vergleich zu konkurrierenden Ansätzen.
Es versteht sich von selbst, daß in diesem Essay nicht die ganze Breite der existierenden Totalitarismusansätze diskutiert werden kann; wenn daher im folgenden vereinfachend von „dem Totalitarismuskonzept“ bzw. „den klassischen Totalitarismuskonzepten“ die Rede ist, so sind in erster Linie die beiden paradigmatischen, d. h. meistdiskutierten und international prägendsten Ansätze gemeint: nämlich die Konzeptionen Carl Joachim Friedrichs und Hannah Arendts.
II. Die politisch wertenden Konnotationen des Totalitarismusansatzes als Determinante seiner „Konjunkturen“ in der Kommunismusforschung
Führt man sich den empirischen Ursprung von Totalitarismuskonzepten und die prägenden politischen Erfahrungen ihrer Autoren vor Augen, dann sind die politisch wertenden Konnotationen von Totalitarismuskonzepten sehr deutlich zu erkennen. Die Termini „Totalitarismus“ und „totalitäres System“ wurden zuerst von liberalen Gegnern des italienischen Faschismus (ab 1923) zur Charakterisierung dieses Regimes verwendet diese Bezeichnungen sollten dabei eine negative Bewertung ausdrücken. Eine wachsende Zahl kritischer Beobachter begriff die als „neuartig“ wahrgenommenen Diktaturen des Bolschewismus, des italienischen Faschismus und später auch des Nationalsozialismus trotz des unterschiedlichen Inhalts ihrer Ideologien als „gleichartig“, da sie gleichermaßen radikal die Organisationsprinzipien liberaler Verfassungsstaaten negierten. Derartige Konzeptualisierungsversuche waren zumeist von der Sorge um das Überleben der verfassungsstaatlichen Demokratien motiviert. Ähnliche Erfahrungen, Befürchtungen und Werturteile motivierten auch Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski, ihr Konzept der totalitären Diktatur zu entwickeln, das in der Ära des Kalten Krieges populär wurde und wohl noch immer das am breitesten rezipierte und weltweit einflußreichste Totalitarismuskonzept darstellt. Friedrich und Brzezinski fürchteten nämlich die Ausbreitung der totalitären Diktatur, die -wie die Autoren meinten -„aller menschlichen Freiheit und Individualität feindseliger gegenübersteht als die Autokratien der Vergangenheit“ letztere hielten Friedrich und Brzezinski für „nicht annähernd so entsetzlich, wie die totalitären Diktaturen unserer Zeit es geworden sind“ Die Autoren charakterisierten eine totalitäre Diktatur durch sechs „Wesenszüge“, die für die Aufrechterhaltung eines totalitären Systems funktional notwendig und -im Hinblick auf diese Funktion -interdependent seien. Die sechs Charakteristika beinhalteten im einzelnen 1. eine chiliastische Ideologie, die einen totalen Herrschaftsanspruch begründet, . 2. eine hierarchisch gegliederte Avantgarde-Partei, welche die staatlichen Organisationen dominiert; 3. eine terroristisch operierende Geheimpolizei, die nicht nur reale Gegner, sondern auch willkürlich ausgewählte Bevölkerungsgruppen verfolgt; 4. eine monopolistische Verfügungsgewalt des Parteistaats über die Massenkommunikationsmittel sowie 5. über die Kriegswaffen und staatlichen Zwangsmittel, ferner 6. eine zentrale Lenkung der Wirtschaft Im Hinblick auf dieses „totalitäre Syndrom“ (Friedrich) behaupteten die Autoren eine „Wesensgleichheit“ kommunistischer Systeme einerseits und faschistischer Regime (vor allem des Nationalsozialismus) andererseits. Sie grenzten diese „totalitären Diktaturen“ kategorial nicht nur von den liberalen Verfassungsstaaten, sondern auch von herkömmlichen Autokratien ab. Habe sich einmal in einem Land das „totalitäre Syndrom“ über mehrere Jahre hinweg etablieren können, dann sei es aufgrund der Allgegenwart der Repressionsapparate und der nahezu totalen Kontrolle der Bevölkerung so gut wie ausgeschlossen, daß ein solches Regime „von innen heraus“ -d. h. ohne äußere militärische Unterstützung -gestürzt werden könne
Wie auch immer sich die einzelnen Varianten der Totalitarismustheorie unterscheiden mochten, sie beinhalteten stets eine extrem negative Bewertung der als „totalitär“ bezeichneten Systeme, System-elemente oder Entwicklungstendenzen; dies implizierte eine relativ positive Bewertung aller nicht-totalitären oder gar anti-totalitären Strukturen, insbesondere der Institutionen des liberalen Verfassungsstaats samt dessen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen. Da kommunistische Systeme und Ideen unter diesem Blickwinkel als totalitär (bzw. potentiell totalitär) galten, lehnten diejenigen, die kommunistischen Ideen großes Wohlwollen entgegenbrachten, Totalitarismuskonzepte in der Regel ab -und zwar oft sehr schroff und nicht selten auch ohne Ansehung ihres Aussagengehalts Die Auseinandersetzungen um die Verwendung von Totalitarismusansätzen in der Wissenschaft verdankten sich also zweifellos zu einem großen Teil den Wertimplikationen dieser Konzepte und insbesondere den Emotionen, die durch die Anwendung auf kommunistische Systeme erzeugt wurden. In der Bundesrepublik Deutschland schlugen derartige Emotionen besonders hohe Wellen, denn hier folgten auf die („totalitäre“) nationalsozialistische Diktatur und die anschließende Teilung Deutschlands zwei Systeme, die -gemäß der vorherrschenden Variante der Totalitarismustheorie -den Gegensatz zwischen totalitären und demokratisch-verfassungsstaatlichen Systemen repräsentierten. Eine solche Auffassung implizierte unmittelbar bestimmte Bewertungen der Legitimität dieser Systeme, so daß die Haltung zur Totalitarismustheorie gleichzeitig auch eine bestimmte Position zur Legitimität der beiden deutschen Staaten und letztlich zur „deutschen Frage“ nahe-legte. Deshalb hatte die Haltung zur Totalitarismustheorie im Deutschland der Nachkriegszeit eine noch größere politische Relevanz als in vielen anderen Ländern
Unterstellt man realistischerweise, daß Wissenschaftler nicht vollständig und nicht ohne Ausnahme unabhängig vom „Zeitgeist“ und entsprechenden politischen Emotionen arbeiten, dann ist klar, daß die Paradigmenkonjunkturen in der Wissenschaft durch Schwankungen der allgemeinen politischen Stimmung in einem Land mit beeinflußt werden. Dies gilt auch für den Totalitarismusansatz: So fällt die nachlassende Anziehungskraft des Totalitarismuskonzepts in den sechziger Jahren in die Zeit der Entspannungspolitik, der Studentenbewegung an westlichen Universitäten und des Vietnam-Kriegs. Diese drei Entwicklungen wirkten sich in Änderungen der politischen Stimmungslage aus, die den politisch wertenden Konnotationen von Totalitarismustheorien eher entgegenwirkten, die Wertimplikationen alternativer Ansätze hingegen begünstigten. Während des Aufstiegs der Entspannungspolitik wurde die eindeutig negative Bewertung kommunistischer Sy-steme, wie sie in Totalitarismuskonzepten enthalten war, als störend empfunden wodurch das Bedürfnis nach einer abgemilderten, „differenzierteren“ Bewertung genährt wurde. Im Zuge des Vietnam-Kriegs und der Studentenbewegung wurde der Blick vieler Zeitgenossen -insbesondere vieler Intellektueller -auf das eigene, westliche politische System zusehends kritischer, und komplementär hierzu stieg die Bereitschaft, kommunistischen Ideen mehr Wohlwollen und „Verständnis“ entgegenzubringen. Alle drei Entwicklungen beinflußten also die allgemeine politische Stimmung in westlichen Ländern so, daß die wertenden Konnotationen der Totalitarismustheorie alles in allem weniger „eingängig“ und weniger „selbst-evident“ erschienen als noch in den fünfziger Jahren Die antikommunistische Grundhaltung, welche das dominierende Totalitarismuskonzept -der Ansatz Friedrichs -nahe-legte, wurde vor allem von Intellektuellen immer häufiger angegriffen. In diesem veränderten politischen Klima an westlichen Universitäten stieß dann auch der allgemeine vergleichende Anspruch des Totalitarismuskonzepts -und die Hypothese, faschistische und kommunistische Regime (zumindest in ihrer stalinistischen Phase) wiesen grundlegende Gemeinsamkeiten auf -von vornherein auf ein starkes, emotional zementiertes Unbehagen, das eine sachgerechte Erörterung von Totalitarismuskonzepten immer schwieriger machte. Der neue, „anti-anti-kommunistische“ Zeitgeist an westlichen Universitäten schuf damit eine steigende Nachfrage nach Theorien, die mit den veränderten „Zeichen der Zeit“ kompatibel waren, also keine offen antikommunistischen Bezüge aufwiesen. Dies erklärt sicherlich zu einem großen Teil, warum viele Theoretiker in den sechziger und siebziger Jahren Totalitarismuskonzepte nicht beibehielten (bzw. gar nicht erst aufgriffen), selbst wenn diese hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit durchaus ausbau-und entwick-lungsfähig waren Der sogenannte „immanente“ Ansatz kam dem damaligen Zeitgeist viel eher entgegen: Seine Vertreter verfolgten explizit das Programm, bei der Beschreibung kommunistischer Systeme sich „zuerst“ an deren „eigenem Selbstverständnis“ zu orientieren und kommunistische Systeme aus ihren „eigenen Gegebenheiten und proklamierten Zielen“ zu beurteilen Überzeugende prinzipielle Gründe für die kognitive Überlegenheit des immanenten über einen nicht-immanenten Ansatz ließen sich freilich nicht anführen
Betrachtet man nun die rasante konjunkturelle Aufschwungsphase des Totalitarismusansatzes seit 1989, so ist auch hier der Einfluß des Zeitgeistes nicht zu übersehen: Das Scheitern der kommunistischen Systeme in Europa 1989-1991 beeinflußte den politischen Zeitgeist so, daß dieser sich nun wieder wesentlich stärker im Einklang mit den politisch wertenden Implikationen von Totalitarismuskonzepten befand. Denn der Zusammenbruch des Kommunismus mußte jedem Beobachter das ungeheure Legitimationsdefizit dieser Regime offenbaren: Das kommunistische Projekt war in den Augen der Bevölkerung, aber auch vieler Funktionäre des Systems gescheitert. Ab jetzt konnten nur noch Sektierer oder Außenseiter kommunistischen Experimenten und den ihnen zugrunde liegenden Utopien mit naiver Unbefangenheit oder gar einer Art „Vertrauensvorschuß“ begegnen. Demgegenüber schienen die Bewertungen kommunistischer Systeme, die in Totalitarismuskonzepten enthalten waren, einen nahezu universalen, geschichtsmächtigen Trend widerzuspiegeln, der sich nun offenbar unaufhaltsam durchsetzte.
Dieser Eindruck verbreitete sich in den Jahren 1989-1991 sehr schnell, und er bildet wohl noch immer eine der wichtigsten Komponenten des gegenwärtigen Zeitgeistes. Vergegenwärtigt man sich, daß die meisten Zeitgenossen das Bedürfnis haben, sich einigermaßen im Einklang mit den „Zeichen der Zeit“ zu befinden, dann ist auch die Neigung vieler Menschen verständlich, seit 1989 bei der Beschreibung und Analyse kommunistischer Systeme zu solchen Termini oder Konzepten zu greifen, die eine eindeutig negative Wertung zum Ausdruck bringen. Daß derlei Umorientierungen auch innerhalb der scientific community nicht selten überhastet vonstatten gehen, läßt sich beispielsweise daran erkennen, wie die Termini „totalitär“ und „Totalitarismus“ oftmals verwendet werden: Häufig bleibt unklar, welchen Begriffsinhalt die Autoren überhaupt zugrunde legen, und damit auch, ob und inwieweit sich der gemeinte Totalitarismusbegriff von den gebräuchlichen Totalitarismusbegriffen (aber auch von den Inhalten anderer Begriffe aus der Kommunismusforschung) unterscheidet Das bedeutet, daß die negativere Bewertung des kommunistischen Projekts, die mit der solchermaßen überstürzten Verwendung der Totalitarismusvokabel zum Ausdruck kommen soll, in den betreffenden Fällen offenbar auf kein hinreichend reflektiertes Fundament theoretischer und empirischer Aussagen gestützt ist. In solchen Fällen scheint das wichtigste Motiv für den Gebrauch der Termini „totalitär“ und „Totalitarismus“ darin zu bestehen, ein eher emotional fundiertes Werturteil zu äußern, und weniger, zu einer genaueren Kennt-nis und besseren Erklärung kommunistischer Herrschaft beizutragen.
Meine Argumentation sollte deutlich gemacht haben, daß der Trend zur häufigeren Verwendung von Totalitarismuskonzepten (bzw. entsprechender Termini) nicht notwendigerweise einen Erkenntnisfortschritt auf breiter Ebene signalisiert oder gar, daß Totalitarismuskonzepte kognitiv leistungsfähiger als all jene konkurrierenden Konzepte sind, die sich momentan geringerer Attraktivität erfreuen. Der „stille Sieg“ des Totalitarismusbegriffs seit 1989 verdankt sich also zumindest teilweise seiner momentan zum „Zeitgeist“ passenden wertenden Konnotationen -auch wenn deren Einfluß freilich schwer zu quantifizieren ist, denn die Popularitätszyklen theoretischer Ansätze in der Kommunismusforschung haben natürlich auch gewichtige kognitive Gründe.
Im nächsten Abschnitt möchte ich auf einige „konjunkturelle Wendepunkte“ eingehen, die das Totalitarismuskonzept erfahren hat; dabei soll skizziert werden, auf welche Weise die kognitive Leistungsfähigkeit des Totalitarismusansatzes zu dessen Popularitätszyklus beigetragen hat.
III. Zur kognitiven Leistungsfähigkeit des Totalitarismuskonzepts in der Kommunismusforschung
Die allmähliche Ablösung des Totalitarismuskonzepts als dominierendes Paradigma in der westlichen Osteuropaforschung in den sechziger Jahren kann sicherlich nicht nur auf die politisch wertenden Komponenten dieses Konzepts zurückgeführt werden. Zwar ist offensichtlich, daß die vorherrschende Variante des Totalitarismuskonzepts -Friedrichs Ansatz aus den fünfziger Jahren -mit der Behauptung einer Wesensgleichheit von kommunistischen und faschistischen Regimen sowie der Betonung der Notwendigkeit einer strikten anti-totalitären Außenpolitik weniger zur Legitimierung der Entspannungspolitik geeignet war als z. B. modernisierungstheoretische Deutungen kommunistischer Systeme. Ein mindestens ebenso wichtiger Faktor für die zunehmende Skepsis gegenüber Totalitarismuskonzepten war jedoch, daß die Veränderungen in den kommunistischen Ländern Europas nach Stalins Tod wichtigen Aussagen (bzw. Implikationen) klassischer Totalitarismuskonzepte widersprachen.
Aus seiner Konzeption der totalitären Diktatur leitete Friedrich Mitte der fünfziger Jahre ein Szenario für die weitere Entwicklung der sowjetkommunistischen Regime ab Es sei „wahrscheinlich, daß die totalitäre Diktatur im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung trotz eines wiederholten Auf und Ab in der Intensität totaler Herrschaftsverwirklichung diese in zunehmendem Maße durch-bildet“ wohingegen eine Rückbildung in eine „weniger gewalttätige Form der Autokratie“ -wie es damals in einigen Varianten der Modernisierungstheorie prognostiziert wurde -von Friedrich für „nicht sehr wahrscheinlich“ gehalten wurde. Zu den Wesenszügen totalitärer Diktaturen zählte Friedrich auch geheimpolizeilichen Terror gegen „objektive Feinde“, d. h. gegen willkürlich ausgewählte Gruppen der Bevölkerung.
Im Gegensatz zu Friedrichs Szenario verloren in fast allen kommunistischen Ländern Europas (einschließlich der Sowjetunion) terroristische Herrschaftsmethoden seit Mitte der fünfziger Jahre erheblich an Bedeutung, so daß die Unterdrückung für die Bevölkerung berechenbarer wurde: Es war nun kalkulierbarer, welches Verhalten gewaltsame Sanktionen der Repressionsapparate auslöste, und mit welchem Verhalten man dem entgehen konnte. Zudem wurden in der nach-stalinistischen Ära in vielen Ländern Zugeständnisse in kulturpolitischen Bereichen gemacht und Wirtschaftsreformversuche unternommen, was insgesamt (in der Terminologie von Totalitarismuskonzepten) einen Trend zur Detotalisierung der kommunistischen Einparteiherrschaft anzuzeigen schien.
Für eine befriedigende Erklärung dieses Wandels schienen die klassischen Totalitarismuskonzepte kaum geeignet. Dies galt nicht nur für Friedrichs Ansatz, sondern auch für die meisten anderen Varianten der Totalitarismustheorie, insbesondere für alle diejenigen Ansätze, die totalitäre Herrschaft im wesentlichen als ein System auffaßten, das seine revolutionär-terroristische Dynamik inhärent erweiterte und gleichsam „institutionalisierte“.
Eine solche Konzeption hatte z. B. auch Hannah Arendt in ihren Origins of Totalitarianism aus dem Jahr 1951 vertreten; später -in einem 1966 geschriebenen Vorwort zur Neuauflage dieses Buches -stellte sie fest, daß auf dem sowjetischen Volk „heute nicht mehr der Alptraum eines totalitären Regimes“ laste, sondern das Volk „nur noch unter den vielfältigen Unterdrückungen, Gefahren und Ungerechtigkeiten (leidet), die eine Einparteiendiktatur mit sich bringt“ für Arendt hatte „die totale Herrschaft ... mit dem Tod Stalins in Ruß-land nicht weniger ihr Ende gefunden als in Deutschland mit dem Tod Hitlers“ Diese Feststellungen waren jedoch lediglich ad-hoc-Aussagen; eine konzeptionell stimmige Erklärung der historischen Entwicklung kommunistischer Systeme wurde von ihr nicht entwickelt. Im Rahmen von Arendts Ansatz blieb also fraglich, wie ein System, das seine terroristische Dynamik perpetuiert zu haben schien, sich evolutionär in eine (nicht mehr totalitäre) kommunistische Einparteiendiktatur verwandeln konnte Dieses Erklärungsdefizit wiesen zwar nicht alle, aber die meisten der damaligen Totalitarismuskonzeptionen auf
Auf die sogenannte „Entstalinisierung" wurde innerhalb der Totalitarismusforschung in der Folgezeit auf zweierlei Art reagiert: Manche Theoretiker -zu ihnen gehörte z. B. Hannah Arendt -behielten ihren früheren Totalitarismusbegriff bei (und erachteten also „Massenterror“ nach wie vor als notwendiges Merkmal von „totalitärer Herrschaft“); dies hatte zur Konsequenz, daß der Geltungsbereich des Totalitarismusbegriffs im Fall der sowjetkommunistischen Regime auf den Stalinismus eingeschränkt blieb. Bei dieser Art der Konzeptualisierung stand man gleichwohl weiterhin, wie oben angedeutet, vor dem Problem, das Ende totalitärer Herrschaft -das hier mit der Entstalinisierung zusammenfiel -theoriekonsistent zu erklä-ren
Andere Totalitarismustheoretiker -wie z. B. Carl J. Friedrich -hielten die Kontinuität zwischen stalininistischen und nach-stalinistischen Regimen für so groß und die repressive Qualität der letzteren noch immer für derart außergewöhnlich, daß sie es als angemessen erachteten, auch die nach-stalinistischen Regime als „totalitär“ zu bezeichnen. Um dies tun zu können, mußte der ursprünglich gewählte Begriff totalitärer Herrschaft neu definiert -und das hieß: der Inhalt des Begriffs reduziert -werden. Carl Joachim Friedrich etwa ersetzte das frühere Wesensmerkmal „terroristisch operierende Geheimpolizei“ durch das Merkmal „voll entwickelte Geheimpolizei“. „Terror“ wurde also nicht mehr als notwendiges Merkmal einer totalitären Diktatur erachtet, was im Kontext von Friedrichs Totalitarismustheorie bedeutete, daß Terror nun nicht mehr als funktionales Erfordernis einer „gereiften“ totalitären Diktatur angesehen wurde Somit umfaßte Friedrichs modifizierter Totalitarismusbegriff nicht mehr nur die klassischen Anschauungsobjekte der Totalitarismustheorie -den Faschismus (vor allem in Gestalt des Nationalsozialismus) und den sowjetischen Stalinismus -, sondern auch die nach-stalinistischen Regime.
Dieser Versuch zur Korrektur der klassischen Totalitarismuskonzeption stieß jedoch auf wenig positive Resonanz in der Osteuropa-und Kommunismusforschung. Friedrich hatte mit der Verringerung des Begriffsinhalts, wie es schien, eine rein terminologische Veränderung vorgenommen, die zwar eine Erweiterung des Begriffsumfangs zur Folge hatte (d. h. eine Vergrößerung der Zahl der Objekte, welche nun unter den Begriff subsumiert werden konnten); ein nennenswerter Erkenntnis-fortschritt war aber nicht erkennbar. Die Verringerung des Begriffsinhalts (und die dadurch erzielte Erweiterung des Begriffsumfangs), so wurde von zahlreichen Forschern vermutet, sei daher in erster Linie auf Friedrichs politisch-propagandistisches Interesse an einer Verdammung sämtlicher Spielarten des Kommunismus zurückzuführen, denn mit Hilfe dieser Begriffsmodifikation konnten nun auch die nach-stalininistischen Systeme mit dem politisch wertenden „Buh-Etikett“ des Totalitarismus versehen werden
Die Veränderungen in kommunistischen Systemen schienen vielen Kommunisforschern mit Hilfe anderer Ansätze -wie z. B. bestimmter Varianten der Modernisierungstheorie -besser erklärbar. Zudem herrschte vielerorts der Eindruck vor, daß andere Ansätze bessere Möglichkeiten böten, Theoreme und Argumentationsmuster aus den sich rasch ausbreitenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen -insbesondere der Soziologie -zu integrieren Dieser Einschätzung (und der dadurch motivierten Abwendung vom Totalitarismusansatz) lag eine bestimmte methodologische Orientierung zugrunde: Die Besonderheiten kommunistischer Systeme sollten so weit wie möglich als besondere Ausprägungen von allgemeinen soziologischen Variablen beschrieben und möglichst nicht als einzigartige Phänomene aufgefaßt werden. Letztere Auffassung hätte nämlich nur eine weitgehend idiographische Beschreibung adäquat erscheinen lassen, während es aufgrund der ersteren Position möglich schien, die Charakteristika kommunistischer Systeme mittels im Prinzip allgemeingültiger Theoreme zu erklären Dieses Bestreben stand jedoch in Kontrast zu manchen Aussagen klassischer Totalitarismustheorien; deren Anhänger beharrten oft auf dem Diktum der „Einzigartigkeit“ totalitärer Systeme (Friedrich) und ihrer „fundamentalen Verschiedenheit“ (Arendt) von allen bisherigen Herrschaftsformen. Vielen Anhängern des Totalitarismusansatzes erschien die Suche nach gleichartigen Merkmalen in demokratischen Verfassungsstaaten einerseits und „totalitären“ Systemen andererseits daher prinzipiell unangemessen
So unterschiedlich die alternativen, im weitesten Sinn modernisierungstheoretischen Ansätze in Detailfragen sein mochten, hatten sie dennoch wichtige Gemeinsamkeiten, die sie deutlich von klassischen Totalitarismuskonzepten unterschieden. Modernisierungstheoretisch argumentierende Autoren maßen in der Regel Aspekten der technologischen und ökonomischen Entwicklung in kommunistischen Systemen einen wesentlich größeren Einfluß für deren allgemeine politische und gesellschaftliche Entwicklung zu als Totalitarismustheorien. Das Interesse der Herrschenden an der Maximierung politischer Verfügungsmacht und Kontrolle über die Bürger oder das utopische Bestreben, Staat und Gesellschaft vollständig nach vorgegebenen ideologischen Prinzipien umzuwandeln, galten nicht mehr -wie es in Totalitarismustheorien der Fall war -als die bedeutendsten erklärenden Variablen, sondern höchstens als sekundäre oder „abgeleitete“ Faktoren, auch wenn zuweilen vor einem simplifizierenden Ökonomismus gewarnt und die Bedeutsamkeit bestimmter politischer und ideologischer Aspekte betont wurde
Der seit Stalins Tod zu beobachtende Wandel kommunistischer Systeme wurde zumeist auf veränderte ökonomische und technologische Gegebenheiten in der das kommunistische Staaten-system Europas dominierenden Sowjetunion zurückgeführt. So habe die Industrialisierung und technologische Entwicklung in der Sowjetunion dazu geführt, daß die umfassende politische Kontrolle der Gesellschaft sowie die „brutaleren“ Herrschaftsmethoden der Stalinzeit nun immer weniger ihren eigentlichen Zweck erfüllten: nämlich zur weiteren Modernisierung des Landes beizutragen, was in concreto bedeutete, das (nunmehr reichhaltige) industrielle Potential für ein intensives Wirtschaftswachstum zu nutzen und rein extensive Wachstumsstrategien aufzugeben. Da also -so wurde argumentiert -die Beibehaltung terroristischer Herrschaftsmethoden sowie einer umfassenden politischen Kontrolle der Wirtschaft unter den veränderten Rahmenbedingungen „dysfunktional“ war, mußten der Terror abgebaut und materielle Anreize für die Bevölkerung erhöht werden Jener „eigentliche Zweck“, dem die beobachteten historischen Veränderungen zu „gehorchen“ schienen, wurde oft als universal gültiger und makrosoziologisch wirksamer Modernisierungsimperativ gedacht, der mikrosoziologisch nicht weiter aufgeschlüsselt wurde. Es wurde zumeist nicht geklärt, ob für die maßgeblichen Akteure in kommunistischen Systemen überhaupt genügend Anreize gegeben waren, eine durchgreifende „Modernisierung“ anzustreben oder gar zu verwirklichen. Oft vertraute man schlicht darauf, die in kommunistischen Systemen Herrschenden würden das “, was man makrosoziolo„umsetzen gisch als „notwendige Entwicklung“ erkannt zu haben glaubte.
Unter diesem Blickwinkel galten die politischen Veränderungen in den nach-stalinistischen Regimen als Beleg für eine „homöostatische Anpassungsfähigkeit“ kommunistischer Systeme an veränderte technologische, ökonomische und soziale Bedingungen Mit der Modernisierung des Landes verwirklichten die Herrschenden letztlich doch -selbst wenn sie dies widerstrebend taten -allgemeine entwicklungspolitische Interessen. Dieses Argumentationsmuster glich, insbesondere in seiner simplifizierten Form, im Kern dem von Karl Marx für „ökonomische Gesellschaftsformationen“ aufgestellten Entwicklungsschema, wonach die sich (gleichsam automatisch) entwickelnden Produktivkräfte veränderte Produktionsverhältnisse nach sich zögen und wonach die solchermaßen veränderte „ökonomische Basis“ auch entsprechende Veränderungen des politischen und kulturellen „Überbaus“ notwendig mache
Mitte der sechziger Jahre, als nicht nur in der Sowjetunion, sondern ebenfalls in der DDR und wenig später auch in Ungarn und der Tschechoslowakei weitreichende Wirtschaftsreformen angestrebt wurden, war der Einfluß von Modernisierungs-und sogar Konvergenztheorien so stark geworden, daß selbst einige der Wissenschaftler, die die kommunistischen Länder noch als „totalitär“ bezeichneten (und damit eine bestimmte Werthaltung zum Ausdruck brachten), zur Erklärung der historischen Entwicklung im Kern modernisierungstheoretische Argumente verwendeten Daß die klassischen Totalitarismusansätze zunehmend als unangemessen empfunden wurden, belegt auch die im Sommer 1968 vom American Council of Learned Societies organisierte Tagung mit international führenden Kommunismusforschern: erklärtes Ziel der zwei Monate dauernden Tagung war, theoretische Alternativen zum Totalitarismusansatz zu entwickeln
Mit der Unterstellung, in allen industriellen Gesellschaften wirkten gleichartige Entwicklungsgesetzmäßigkeiten und der (oft stillschweigend akzeptierten) Annahme, kommunistische Systeme verfügten über regulative Fähigkeiten zur Selbsterhaltung, mündeten modernisierungstheoretische Argumentationen häufig in eine reformoptimistische Haltung, wonach kommunistische Systeme allmählich und graduell reformiert werden könnten, so daß am Ende ein pluralistischer, vielleicht sogar rechtsstaatlicher Sozialismus entstünde. Diese Haltung war offenbar auch unter den Teilnehmern der oben erwähnten Tagung im Sommer 1968 weit verbreitet, denn 20 von 22 Teilnehmern hielten Anfang August 1968 eine sowjetische Intervention in der „reformistischen“ Tschechoslowakei für unwahrscheinlich Der dann tatsächlich erfolgte Einmarsch der Roten Armee und ihrer Verbündeten bedeutete einen schweren Dämpfer für diesen Reformoptimismus. „Die Erfahrung der Tschechoslowakei zeigte“, so drückte es Chalmers Johnson aus, „daß Wandel in kommunistischen Ländern weder einfach in Gang zu bringen ist noch automatisch abläuft. Aufgrund dieser Erfahrung erschienen zumindest einige einfachere Theorien einer . unvermeidlichen Liberalisierung naiv.“ Die Zweifel an den eher optimistischen Modernisierungstheorien mußten sich in dem Maß verstärken, in dem geplante oder bereits verwirklichte Wirtschaftsreformen auch in anderen kommunistischen Ländern (wie etwa der Sowjetunion oder der DDR) in der Folgezeit zurückgenommen wurden; lediglich in Ungarn hatten die 1966-1968 verwirklichten Wirtschaftsreformen Bestand.
Die Intervention der Sowjetunion in der Tschechoslowakei 1968 zeigt beispielhaft, wie eng allgemein-politische und kognitive Faktoren der Paradigmenkonjunktur in der Kommunismusforschung zuweilen verflochten waren: Die Intervention stellte nicht nur ein Ereignis dar, das zumindest vom Standpunkt der im Westen akzeptierten Menschen-, Bürger-und nationalen Selbstbestimmungsrechte extrem negative moralische Wertungen hervorrufen mußte, sondern sie war auch ein Ereignis, das als empirische Bestätigung der Hypothese der Nicht-Reformierbarkeit totalitärer Systeme gelten konnte. Beide Aspekte -sowohl der politisch wertende als auch der kognitive -
wirkten sich in diesem Fall in einer relativen Stärkung von Ansätzen aus, welche die Reformfähigkeit kommunistischer Systeme sehr skeptisch einschätzen. Durch die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings wurde das Schwinden des Einflusses von Totalitarismusansätzen innerhalb der scientific Community gebremst, ja sogar -auf längere Sicht betrachtet -gestoppt. In kurz-und mittelfristiger Hinsicht jedoch wurde dieser „latente Trend“ von der Stärkung (neo-) marxistischer Positionen an westlichen Universitäten im Gefolge der Studentenbewegung überlagert und sogar über-kompensiert. Denn entsprechend der Marxschen Gesellschaftstheorie prägten die „Produktionsverhältnisse“ einer Gesellschaftsordnung auch deren politisch-juristischen und kulturellen „Überbau“, weshalb zeitgenössische, moderne Gesellschaftsformationen (je nach den vorherrschenden Eigentumsverhältnissen) in erster Linie den Kategorien „Kapitalismus“ bzw. „Sozialismus“ zugeschlagen wurden. Stalinismus und Faschismus (bzw. Nationalsozialismus), die innerhalb der Totalitarismustheorie als zwei verschiedene Ausprägungen eines einzigen Grundtyps der Autokratie konzipiert wurden, galten innerhalb des (neo-) marxistischen Denkens konsequenterweise als zwei Phänomene, die höchstens oberflächliche Ähnlichkeiten -und zwar bezüglich der politischen Herrschaftsmechanismen -aufwiesen, sich hinsichlich ihrer „ökonomischen Basis“ jedoch fundamental unterschieden. Während der Nationalsozialismus entsprechend der Faschismus-theorie der Komintern durchweg als „erzreaktionär“, als „durch und durch verbrecherisch“ usw. wahrgenommen wurde, galten die stalinistischen Regime schlimmstenfalls als „bürokratisch degenerierte Arbeiterstaaten“ die auf dem Weg vom Kapitalismus zum Sozialismus „steckengeblieben“ waren, welche aber trotz ihrer „Deformationen“ dem positiv bewerteten Entwicklungsziel der Menschheit -dem Kommunismus -wesentlich näher seien als die „kapitalistischen Länder“ mit ihrem bürgerlich-demokratischen „Überbau“.
Betrachtet man die Entwicklung politischer Ideen-systeme in osteuropäischen Dissidentenkreisen, so bildet hier das Jahr 1968 wohl eine noch wichtigere Zäsur als innerhalb der westlichen Kommunismus-forschung. Die Ereignisse des Jahres 1968 leiteten in Polen das Ende des marxistischen Revisionismus ein. Seither begann sich in Dissidentenkreisen die Terminologie der Totalitarismustheorie zu verbreiten. In anderen Ländern Osteuropas waren die Auswirkungen ähnlich, wenn auch nicht derart eindeutig Regimekritiker in osteuropäischen Ländern verstanden sich nun -anders als noch in den fünfziger und sechziger Jahren -immer seltener als „revisionistische Marxisten“, die das humanistische Erbe im Marxismus betonten und für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ eintraten, sondern in zunehmendem Maße als Oppositionelle, die sich an universal proklamierten Menschen-und Bürgerrechten orientierten. Im Zuge dieser geistigen Umorientierung interpretierten Dissidenten ihre Tätigkeit zusehends häufiger als Kampf gegen ein „totalitäres Regime“, das weniger aufgrund von „Irrtümern“ und „persönlichen Fehlleistungen“ bestimmter Führer oder aufgrund historischer Zufälle Bürgerrechte und politische Freiheit unterdrückte -vielmehr sei diese Unterdrückung ein funktionales Erfordernis kommunistischer Einparteiensysteme als solcher Ähnlich wie das jähe Ende des Prager Frühlings wurde der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Europa häufig als Indiz für die Annahme einer grundlegenden Nicht-Reformierbarkeit kommunistischer Systeme gewertet -und damit auch als Bestätigung einer wichtigen Aussage klassischer Totalitarismuskonzepte Das Scheitern des sowjetischen Reformkommunismus unter Gorbatschow enttäuschte die noch verbliebenen Hoffnungen, die kommunistischen Systeme Europas könnten allmählich so reformiert werden, daß am Ende ein funktionsfähiges pluralistisch-sozialistisches System entstünde, das sich von Systemen mit kapitalistischer Ökonomie wesentlich unterschied. Derartige Erwartungen konnten zwar noch zu Beginn von Gorbatschows Perestroika gehegt werden, sie schwanden jedoch zunehmend, als die Liberalisierung des Sowjetsystems ab 1988/89 eine zusehends radikalere Kritik in der Bevölkerung aufkommen ließ, so daß mit dem Andauern und Fortschreiten der Reformen gesellschaftliche Desintegrationserscheinungen deutlich zu-und nicht etwa abnahmen.
Konnte man als Modernisierungstheoretiker zu Beginn der Perestroika noch darauf verweisen, daß das schlichte Faktum eines sehr weitreichenden Reformversuchs die totalitarismustheoretische Annahme der „Immobilität totalitärer Systeme“ widerlegte, so bedeutete der kurz darauf folgende Zusammenbruch die Widerlegung jener reformoptimistischen Annahmen, die vielen modernisierungstheoretischen Deutungsversuchen kommunistischer Systeme explizit oder implizit zugrunde lagen Offensichtlich hatten die modernisierungstheoretischen Ansätze -anders als die Totalitarismuskonzepte -die Bedeutung repressiver Mechanismen für die soziale Integration kommunistischer Systeme stark unterschätzt daher war innerhalb des modernisierungstheoretisch geprägten „mainstreams" in der westlichen Kommunismusforschung kein (konzeptionell stimmiges) Szenario vorstellbar, wonach substantielle Reformen im Kommunismus zu wachsenden Turbulenzen und sehr wahrscheinlich zum Untergang des Systems führen würden. Denn daß Protest und Widerstand gegen ein „grundsätzlich legitimiertes“ System (Jerry Hough) zunehmen, wenn das Regime Versprechen in die Tat umsetzt und politisch liberaler wird, ist in dieser Perspektive kaum konsistent zu erklären. Anstatt sich graduell in eine pluralistisch verfaßte, moderne (sozialistische) Gesellschaft zu transformieren, erlag die Sowjetunion dem Schicksal vieler anderer repressiv-autokratischer Regime, die weitreichende Reformen anstrebten. Bereits Alexis de Toqueville hatte mit Blick auf das absolutistische Ancien regime Frankreichs und die Revolution von 1789 argumentiert, daß „die Regierung, die durch eine Revolution gestürzt wird, fast stets besser ist als die voraufgegangene, und die Erfahrung lehrt, daß der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren beginnt. Nur ein großes Genie vermag einen Fürsten zu retten, der es unternimmt, seinen Untertanen nach langer Bedrückung Erleichterung zu gewähren. Das Übel, das man als unvermeidlich in Geduld ertrug, erscheint unerträglich, sobald man auf den Gedanken kommt, sich ihm zu entziehen. Alles, was man alsdann an Mißbräuchen beseitigt, scheint das Übrige nur um so deutlicher zu zeigen und läßt es schmerzlicher empfinden: Das Übel ist geringer geworden, aber die Empfindlichkeit ist lebhafter.“
IV. Abschließende Bemerkungen
Wenn die vorstehende Analyse einiger konjunktureller Wendepunkte, die Totalitarismusansätze in der Kommunismusforschung erfahren haben, grundsätzlich richtig ist, dann können die beiden anfangs aufgestellten Hypothesen als bestätigt gelten: Für den „Konjunkturzyklus“ ist sowohl der politische Zeitgeist -insbesondere im Intellektuellenmilieu -maßgeblich als auch die relative kognitive Leistungsfähigkeit des Totalitarismuskonzepts.
Obwohl es innerhalb der Totalitarismusforschung in den letzten Jahren (und Jahrzehnten) keine durchgreifenden theoretischen Fortschritte gegeben hat, kann man seit 1989 dennoch von einer erhöhten relativen kognitiven Leistungsfähigkeit von Totalitarismusansätzen sprechen. Da nämlich der konkurrierende „mainstream“ in der westlichen Kommunismusforschung es nicht vermocht hatte, den Zusammenbruch kommunistischer Systeme als eine durchaus mögliche (und im Falle von substantiellen Reformversuchen: sehr wahrscheinliche) Entwicklung zu antizipieren oder auch nur theoriekonsistent zu erklären gewann der vielerorts bereits als „ausgemustert“ geltende Totalitarismusansatz zu Recht wieder an Ansehen: Mit seiner Betonung des repressiven Charakters kommunistischer Systeme, seiner generellen Skepsis gegenüber der Reformfähigkeit des Kommunismus sowie seinen (ab-) wertenden Konnotationen in bezug auf kommunistische Gesellschaftsexperimente war er wieder attraktiv geworden obwohl auch auf der Basis von Totalitarismusansätzen kein zutreffendes Szenario für den Sturz kommunistischer Systeme konstruiert worden war.
Man könnte abschließend die Frage stellen, ob im Fall von Totalitarismuskonzeptionen dieses Unvermögen sozusagen „ansatzinhärent“ ist -wie einige Autoren meinen -, oder ob nicht auch die Erklärungsdefizite der klassischen Totalitarismusansätze durch bestimmte Weiterentwicklungen ihres Aussagengehalts behoben werden können, ohne daß dabei die „Identität“ der Ansätze zerstört würde. Hierauf ist im wesentlichen zweierlei zu antworten: Zunächst einmal beanspruchen bei weitem nicht alle (und auch nicht alle wichtigen) Totalitarismusansätze eine Erklärung des Endes der kommunistischen Regime in Europa, denn viele Begriffe totalitärer Herrschaft sind so konstruiert, daß die nach-stalinistischen Phasen in der Geschichte kommunistischer Systeme außerhalb des Geltungsbereichs des Begriffs liegen und deshalb von vornherein nicht zu dem Gegenstandsbereich gehören, für den eine Erklärung beansprucht werden kann
Der oben genannte Einwand kann sich vernünftigerweise also nur auf diejenigen Totalitarismusansätze beziehen, welche auch die nach-stalinistisehen Phasen unter ihren Begriff totalitärer Herrschaft fassen. Im Falle des (in den sechziger Jahren modifizierten) Totalitarismuskonzepts Carl J. Friedrichs beispielsweise -also eines Konzepts, das noch heute einen beliebten Gegenstand für prinzipielle Kritik an Totalitarismusansätzen darstellt - scheint eine theoretische Weiterentwicklung, welche die berechtigten Kritiken der Vergangenheit erübrigt, durchaus möglich Allerdings steht eine derartige „Theorieforschung“, welche die Aussagen und Implikationen klassischer Totalitarismusansätze mit Hilfe neuerer sozialwissenschaftlicher Analyseinstrumentarien weiterführt noch am Anfang. Man darf sicherlich gespannt sein, ob und wie die zukünftige Totalitarismusforschung dem Anspruch einer theoretisch avancierten und empirisch adäquaten Kommunismusforschung gerecht werden kann.