1. Einleitende Überlegungen
Am 8. Mai 1945 mußte der nationalsozialistische Totalitarismus bedingungslos kapitulieren -der Untergang vollzog sich blutig und langsam zugleich. Bis zuletzt mobilisierte das NS-System Kräfte, um die unvermeidliche Niederlage hinauszuzögern. Die ohnehin schreckliche Bilanz des Zweiten Weltkrieges fiel dadurch noch düsterer aus. Dem propagierten „totalen Krieg“ folgte die von den Alliierten prophezeite „totale Niederlage“. Deutschland -zunächst ein Aufmarschfeld, dann ein Schlachtfeld, schließlich ein Trümmerfeld -bot 1945 ein Bild des Grauens.
Doch das Ende dieser Form des Totalitarismus bedeutete nicht das Ende jeglicher Art der totalitären Herrschaft in Deutschland. Denn die „AntiHitler-Koalition“ erwies sich als ein bloßes Zweck-bündnis, wie auch der Nichtangriffspakt (mit dem geheimen Zusatzabkommen) im Jahre 1939 zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich ein solches gewesen war. Nach der Zerschlagung des NS-Systems lebten die Gegensätze zwischen der kommunistischen Sowjetunion und den westlichen Alliierten schnell wieder auf, bedingt nicht nur durch machtpolitische Rivalitäten, sondern auch durch ideenpolitische Gegensätze zwischen demokratischen und diktatorischen Anschauungen. Die Sowjetunion unter Stalin errichtete in einer Reihe mittel-und osteuropäischer Staaten Satellitenregime. Die Teilung Deutschlands war keine unmittelbare Folge des Zweiten Weltkrieges, sondern eine Folge des bald ausbrechenden Kalten Krieges. Während in den Westzonen sich binnen kurzem unter der Aufsicht der Alliierten demokratisches Leben zu entfalten begann (symbolisiert durch den paradox anmutenden Terminus vom „freundlichen Feind“ waren die Sowjets in ihrer Zone „in jeder Hinsicht eine Kolonialmacht, welche die im besetzten Deutschland vorhandenen Kräfte dazu nutzte, sowohl ihre inneren als auch ihre äußeren Sicherheitswünsche befriedigend zu lösen“ Bezogen auf Deutschland gelangt man demnach zu dem Befund, daß zwar der eine Totalitarismus in einem Blutbad versank, in dem östlichen Teil sich jedoch allmählich eine andere Form totalitärer Herrschaft festzusetzen begann.
Wie läßt sich die Physiognomie des Totalitarismus erfassen? Der Autor hat an anderer Stelle dessen differentia spezifica darin gesehen, daß sich der totalitäre Staat erstens vom Typ des demokratischen Verfassungsstaates abhebt, zweitens von einer autoritären Diktatur und drittens von allen früheren Formen der Autokratie Insofern ist der totalitäre Staat zugleich antidemokratisch, pseudodemokratisch und postdemokratisch. Antidemokratisch deshalb, weil er allen demokratischen Elementen den Kampf ansagt (z. B. durch Ablehnung des Pluralismus); pseudodemokratisch, weil er Elemente der Demokratie in pervertierter Form benutzt (z. B. durch Einbeziehung der Massen); postdemokratisch schließlich, weil er nicht umhinkommt, die Legitimationsbasis des demokratischen Verfassungsstaates jedenfalls pro forma zu akzeptieren (z. B. durch Bejahung der Volkssouveränität nach außen hin). Das totalitäre System sucht seine Bürger gleichzuschalten, durch eine Ideologie zu formen, sie gleichzeitig zu mobilisieren und seine ideologisch bestimmten Feinde auszugrenzen und gegebenenfalls zu vernichten.
Im Laufe der Jahrzehnte ist eine Reihe von Theorien entwickelt worden, nicht zuletzt um die beiden größten totalitären Systeme im 20. Jahrhundert zu analysieren. Manche haben stärker beschreibenden, manche mehr erklärenden Charakter. Der folgende Beitrag sucht in nuce wesentliche Konzeptionen zum Totalitarismus samt ihrer Stärken und ihrer Schwächen vorzustellen. Auf diese Weise soll gezeigt werden, daß es sich bei den Totalitarismuskonzeptionen um wissenschaftliche Ansätze handelt und Behauptungen, wonach sie genuin politischer Natur seien -ersonnen zur Diskreditierung anders legitimierter Systeme -, so nicht zutreffen.
Wie allerdings die Übersicht zur Totalitarismusforschung vor und nach der welthistorischen Zäsur 1989/91 erhellt, ist die Akzeptanz des Totalitarismusbegriffs stark von den politischen Rahmenbedingungen geprägt (Kapitel II). Das nahezu weltweite Ende des Kommunismus bildete nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive eine Zäsur. Das gilt für die Quantität wie für die spezifische Ausrichtung totalitarismustheoretischer Studien. Der Anfang und das Ende der beiden totalitären Systeme -jedenfalls in Europa -ermöglichen eine neue Sicht.
In den Kapiteln III bis VII soll eine ausgewählte Reihe von Konzeptionen präsentiert werden. Bei diesen Ansätzen handelt es sich um solche, die zum einen den Anspruch erheben können, ein als neuartig empfundenes Phänomen mit neuartigen Erklärungsmodellen versehen zu haben. Zum andern sind sie weithin erörtert worden. Der Verfasser stellt die Ansätze anhand bestimmter Namen vor: Carl Joachim Friedrich, Hannah Arendt, Eric Voegelin, Ernst Nolte und Karl Dietrich Bracher. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, daß sie die Positionen anschaulicher macht, hingegen den Nachteil, daß dadurch Elemente zum Tragen kommen, die wohl für die spezifische Person charakteristisch sind, jedoch nicht für den betreffenden Ansatz in toto. Die knappe Referierung der Positionen wird durch eine ebenso knappe Würdigung ergänzt. Natürlich erhebt eine solche Darstellung keinen auch nur annähernden Anspruch auf Vollständigkeit. Das abschließende Kapitel VIII nennt Unterschiede wie Gemeinsamkeiten in den Ansätzen und gibt eine Antwort auf die Frage nach ihrem wissenschaftlichen Charakter. Die Auswahl der Autoren und die Reihenfolge ihrer Ansätze ergeben sich aus dem folgenden Umstand: Nach der Präsentation zweier „Klassiker“ (Friedrich und Arendt) folgen zwei wissenschaftliche Außenseiter (Voegelin und Nolte), die mit ihren Konzeptionen gleichwohl Beachtung (und Widerspruch) erfahren haben. Der fünfte Ansatz (Bracher) ist übergreifender Natur, fällt damit etwas aus dem Rahmen. Kritikwürdig an dieser Auswahl mag die Fokussierung auf Deutschland sein. Doch rechtfertigt sie sich durch den hohen Bekanntheitsgrad der Ansätze -nicht nur im deutschen Sprachraum.
II. Die Totalitarismusforschung vor und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
Der Totalitarismusbegriff hat eine lange, überaus wechselvolle Geschichte Schon vor 75 Jahren, am 12. Mai 1923, sprach der liberale Demokrat Giovanni Amendola angesichts der faschistischen Machtübernahme von einem „sistema totalitario“ Das war die Geburtsstunde des Begriffs „totalitär“, den Mussolini 1925 auf die eigene Bewegung bezog und ihn damit -kurzzeitig -seiner negativen Konnotation entkleidete. Paradoxerweise fand der Begriff zunächst auf ein System Anwendung, das nicht totalitär war (jedenfalls keineswegs zu diesem Zeitpunkt) -nicht jedoch auf ein offenkundig totalitäres System, das bereits seit 1917 bestand 1925 wurde der Begriff von Amendola dann vergleichend gebraucht -auf rechte wie auf linke Gegner des demokratischen Staates
In der Folge -zunächst zögerlich, seit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten verstärkt -entstand eine Reihe von Studien, die den „Totalitarismus“ als ein neuartiges Phänomen untersuchten, zum Teil auf vergleichender Basis. Besonders Emigranten aus Deutschland, die verschiedenen politischen Lagern entstammten, waren an der Konzeptualisierung unterschiedlicher Totalitarismusansätze beteiligt. Namen wie Hannah Arendt, Franz Borkenau, Ernst Fraenkel, Waldemar Gurian, Richard Löwenthal, Franz L. Neumann, Sigmund Neumann oder Eric Voegelin mögen diesen Befund unterstreichen 1939 fand das erste große Symposium über den „totalitären Staat“ statt Carlton J. H. Hayes begründete die Neuartigkeit des Totalitarismus u. a. mit der Monopolisierung aller Gewalten, der Einbindung der Massen, neuen Formen der Propaganda wie der Technik, der missionarischen Kraft der Ideologie sowie der Eigendynamik der Gewalt 1953, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, folgte ein zweites großes Symposium über den „Totalitarismus“ Auf ihm würdigte Carl J. Friedrich den historisch einzigartigen Charakter der totalitären Gesellschaft. Für ihn glichen sich Kommunismus und Faschismus in den Grundzügen Die Konferenzen von 1939 und 1953 machen auf folgenden Befund aufmerksam: Die Erörterung der Totalitarismuskonzeptionen ist vielfach von bestimmten politischen Konstellationen abhängig. 1939 war der Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich geschlossen worden, und beide Staaten hatten gegen Polen Krieg geführt; 1953 kulminierte der Kalte Krieg. Wenn auch der Zusammenhang von geschichtlicher Entwicklung und der Herausbildung einer jeweils „herrschenden Lehre“ offenkundig ist, so besagt dies allerdings noch wenig über die Plausibilität des entsprechenden Ansatzes. Das gilt für die Forschung zur Zeit des Kalten Krieges wie für jene in der Phase der Entspannung. In den sechziger und vor allem siebziger Jahren geriet das Totalitarismusparadigma nicht zuletzt aufgrund der weltweiten Entspannungspolitik in eine Krise, in eine zunehmende Unsicherheit der Wertorientierung. Im Zuge der kulturrevolutionären Studentenbewegung fanden im intellektuellen Milieu Lehren von Herbert Marcuse, die das westliche System als ebenso totalitär apostrophierten wie das kommunistische, einen gewissen Anklang Aus ökonomisch-deterministischer Sicht stand die „Hinterfragung“ der „kapitalistischen Ordnung“, die gemäß dieser Lesart in Ge-fahr stand, eine Form des Faschismus zu begünstigen, stark im Vordergrund. Der durch die Über-windung „kapitalistischer“ Strukturen gekennzeichnete Sozialismus (nicht notwendigerweise der „reale“, sondern vielfach ein in die Zukunft verlagerter) bildete den Maßstab, der zwischen Liberalismus und Faschismus eine Verwandtschaft zu konstruieren versuchte Faschismusforschung verdrängte zunehmend die -vergleichende -Totalitarismusforschung. In eine ähnliche Richtung, wenn auch unter anderen Voraussetzungen und mit anderer Intention, wirkte die Ausbreitung des Szientismus in den Sozialwissenschaften. Der am Methodenideal der Naturwissenschaften orientierten Forschungsrichtung war der normativ verankerte Typusbegriff des Totalitarismus überaus suspekt In eine ähnliche Richtung wirkte der systemimmanente Ansatz, der sich breiter Zustimmung erfreute Dieser symbolisierte in gewisser Weise die Zangenbewegung von Marxismus und Szientismus, flossen in ihn doch Elemente aus beiden Strömungen ein. So verloren Totalitarismuskonzeptionen in der wissenschaftlichen Diskussion an Bedeutung
Als kritikwürdig wurde neben dem geläufigen Einwand, der Totalitarismusbegriff stelle einen politischen Kampfbegriff des Westens dar, vielfach die -behauptete -Formalität der Argumentation angesehen. Unter „Totalitarismus“ würden linke wie rechte Diktaturen rubriziert, also Staaten, die sich bekämpft hätten und beachtliche Unterschiede aufwiesen. Auf diese Weise ginge der humane Kern des Marxismus verloren. Ein Standardargument war zudem der Vorwurf, dadurch werde der Holocaust relativiert. Angesichts des „statischen“ Charakters von Totalitarismustheorien seien sie ferner ohne Erklärungskraft für die Entwicklung des anderen als totalitär apostrophierten Systems.
Solche und weitere Einwände sind zumal vor dem Zusammenbruch des Kommunismus verbreitet gewesen -in der Publizistik wie in der Wissenschaft
Im Gegensatz zum NS-System vollzog sich der Zusammenbruch des Kommunismus einerseits urplötzlich, andererseits weitgehend friedlich.
Brach der Nationalsozialismus durch äußere Einwirkungen zusammen, implodierte der sowjetische Kommunismus, mehr scheiternd an der eigenen Entkräftung, die freilich auch durch den immer größer werdenden Rückstand zu den USA auf vielen Gebieten bedingt war. Diese welthistorische Zäsur hat der vergleichenden Diktaturforschung erheblichen Auftrieb verliehen. Die in den siebziger und achtziger Jahren vielfach geringgeschätzte Totalitarismusforschung, vom Marxismus-Leninismus stets als „Totalitarismus-Doktrin“ abgewertet, lebt nun wieder verstärkt auf. War bereits vor dem Schlüsseljahr 1989 eine gewisse Abkehr von der Ignorierung des Totalitarismuskonzepts feststellbar nicht zuletzt auch durch Dissidenten aus dem Ostblock so hat sich seither diese Tendenz in der einschlägigen Forschung verstärkt. Eine Art Paradigmenwechsel ist eingekehrt, die „Tabuisierung des Totalitarismusbegriffs“ längst beseitigt. In der Bundesrepublik Deutschland spielt der -naheliegende -Vergleich zwischen der ersten und der zweiten deutschen Diktatur eine wichtige Rolle -ebenso die Frage, ob es sich bei der DDR überhaupt um eine totalitäre Diktatur gehandelt hat Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ sprach sich für einen differenzierten Umgang mit dem Totalitarismusbegriff aus. Dieser sei „auch für die Gegenwart durchaus brauchbar -und zwar nicht nur als erkenntnistheoretisches Instrument, sondern auch als kritischer Maßstab gegen totalitäre Versuchungen, gegen die selbst eine stabile Demokratie nicht von vornherein gefeit ist“
Mag diese Überdehnung des Totalitarismusbegriffs problematisch sein, so ist es umgekehrt die verengte Interpretation als „Gleichsetzung“ zweier Systeme, Bewegungen und Ideologien. Wer etwa, wie Stefan Wolle, die Anwendung des Totalitarismusbegriffs wegen „struktureller Unterschiede“ zwischen dem Dritten Reich und der DDR ablehnt (nach Wolle: In dem einen System blieb die Wirtschaft privat organisiert, in dem anderen kam es zur Verstaatlichung; das eine System fand breite Zustimmung, das andere stützte sich auf die Bajonette einer Besatzungsmacht; das eine fing einen Krieg an und beging organisierten Massenmord, das andere nicht), wer so argumentiert, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, offenkundig mit einem Popanz zu hantieren. Der Autor selber erkennt allerdings zwischen beiden Herrschaftsformen „frappierende Überein-stimmungen: den Führerkult, die uniformierten Massen der Maiparaden, die nächtlichen Fackel-züge, den bellenden und geiferenden Ton der Propagandareden“ In der Tat war die Totalitarismuskonzeption „nicht in der dünnen Luft soziologischer, politikwissenschaftlicher und historischer Seminare entstanden, sondern Produkt politischer Alltagserfahrung“ Hebt diese Argumentation jene nicht auf?
Wie dem auch sei -die Zahl der Studien zum Totalitarismusbegriff, zu seiner Plausibilität, zur Anwendung der Theorien auf Systeme der Gegenwart und Vergangenheit ist seit einigen Jahren in Deutschland nahezu Legion. So rückt ein Vergleich über „Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert“ nicht die bekannten Themen wie Einparteienherrschaft, Ideologie und Terror in den Vordergrund, sondern weithin „unverbrauchte“ wie die Rolle der Intelligenz, der Kultur, der Frauen und des Geschichtsbildes. Auf diese Weise stellen sich viele neue Erkenntnisse ein Ein anderer Reader spürt der Entfaltung der Totalitarismustheorie in den verschiedenen Ländern nach, führt dabei den Nachweis, daß sie auf unterschiedliche Ideenströmungen zurückgeht: auf sozialistische, liberale und konservative gleichermaßen Ein weiterer Sammelband bezieht stärker die Systemebene ein und prüft die Leistungsfähigkeit des Totalitarismusansatzes -nach dem fast weltweiten Ende des Kommunismus und aufgrund seines Endes Das Buch von Daniel Jonah Goldhagen über „Hitlers willige Vollstrecker“ sorgte in der öffentlichen Meinung Deutschlands im Jahre 1996 für ähnlichen Wirbel wie in Frankreich das „Schwarzbuch des Kommunismus“ ein Jahr später. Wie immer man die wissenschaftliche Bedeutung von Goldhagens Bestseller, der die Totalitarismuskonzeption selbst mit Blick auf das Dritte Reich strikt verwirft einschätzen mag -es hat massiv die verbreitete Befürchtung widerlegt, nach dem Untergang des Kommunismus werde das Interesse für den nationalsozialistischen Totalitarismus erlahmen.
Gleichwohl üben nach wie vor Autoren heftigste Kritik an dem Konzept -u. a.deswegen, weil „eine Wiederaufnahme der Totalitarismusdiskussion zurück in die ideologischen Schützengräben des Kalten Krieges führen“ würde. Selbst wer die Instrumentalisierbarkeit der Theorie nachweisen könnte, hätte über ihre wissenschaftliche Tragfähigkeit noch kein Urteil getroffen. Analoges gilt für den umgekehrten Fall: Eine Theorie, die sich nicht mißbrauchen ließe, muß nicht notwendigerweise heuristisch fruchtbar sein. Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs ist, wie erwähnt, nun einmal die Geschichte eines stark -aber keineswegs ausschließlich -von politischen Konstellationen beeinflußten Konzepts.
Die Renaissance des Totalitarismusbegriffs gilt nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland. Um einige Beispiele aus anderen Ländern anzuführen: In Rußland sucht ein dickleibiger Sammelband über „Totalitarismus im Europa des 20. Jahrhunderts“ die Entstehung und das Scheitern totalitärer Systeme begreifbar zu machen wie überhaupt in Osteuropa das Totalitarismuskonzept in der öffentlichen Meinung und in der Wissenschaft große Aufmerksamkeit findet. Obwohl heutzutage vielfach nüchterner über dieses Thema gesprochen wird, besteht dort nach wie vor ein beträchtliches Informationsdefizit. „The Russians Call Themselves Totalitarian" -so ist ein einschlägiges Kapitel zur jüngsten Entwicklung der Konzeption überschrieben worden In den USA und in England steht insbesondere der Vergleich zwischen der kommunistischen Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland ungeachtet vieler Einwände seit Jahren auf der wissenschaftlichen Tagesordnung. Er ist in den neunziger Jahren intensiviert worden In Italien, wo der Totalitarismusbegriff nie so recht heimisch werden konnte -obwohl er hier aufgekommen ist -, stößt diese Thematik mittlerweile auf große Aufmerksamkeit im intellektuellen Milieu
Und schließlich: In Frankreich schlägt das „Schwarzbuch des Kommunismus“ seit dem Herbst 1997 hohe Wellen -allerdings nicht nur dort. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, daß der Kommunismus in seinen unterschiedlichen, weltweiten Herrschaftsformen etwa 100 Millionen Opfer gekostet hat. Stephane Courtois stellt einleitend Rassen-und Klassen-Genozid auf eine Stufe und beklagt die Vertuschung der Verbrechen des Kommunismus auch im Westen Daß in Frankreich die Empörung über die Darstellung der Affinitäten der beiden totalitären Kräfte so groß ausgefallen ist, mag an dem dort nach wie vor fehlenden antiextremistischen Konsens liegen, obwohl Solschenizyns „Archipel GULag“ in der ersten Hälfte der siebziger Jahre für eine Art Schock sorgte und zum Teil bei Intellektuellen einen Umdenkungsprozeß auslöste. Die Kommunistische Partei gehört in Frankreich gleichwohl nach wie vor zum Verfassungskonsens, der Front National nicht Dieses ist aus extremismustheoretischer Sicht angemessen, jenes nicht.
Die Totalitarismusforschung hat in den neunziger Jahren nicht zuletzt durch den Untergang des Kommunismus in der Sowjetunion und in Europa beachtliche Erkenntnisse erbracht, aufschlußreiche Parallelen und Unterschiede zutage gefördert. Neue empirische Materialien wurden erschlossen, systematische Analysen auf den Weg gebracht Angesichts dieser aktuellen, sich rasch weiterentwickelnden Situation bietet es sich an, zur Vergewisserung der bisherigen Forschung einzelne mehr oder weniger „klassische“ Totalitarismuskonzeptionen herauszugreifen, zumal auch heute noch ständig auf sie Bezug genommen wird. Wodurch zeichnen sie sich aus, was sind ihre Stärken, was ihre Schwächen?
III. Das herrschaftsstrukturelle Konzept von Carl J. Friedrich
Als locus classicus „der“ Totalitarismustheorie gilt vielfach die „Totalitäre Diktatur“ von Carl Joachim Friedrich (1901-1984) Dieses Grundlagen-werk erschien zunächst 1956 auf englisch (als CoAutor fungierte Zbigniew K. Brzezinski), 1957 auf deutsch (unter der alleinigen Ägide von Friedrich) und in einer veränderten Fassung 1965 auf englisch, wobei Friedrich für die neuen Teile allein verantwortlich zeichnete Daher erscheint es vertretbar, die wohl elaborierteste Konzeption zur Totalitarismusforschung Friedrich zuzuschreiben, zumal dieser vorher und nachher weitere Abhandlungen zur Thematik beigesteuert hat. Er verließ bereits eine längere Zeit vor 1933 Deutschland und machte in den USA als Politikwissenschaftler Karriere. Nach 1945 lehrte Friedrich mit Unterbrechungen in Heidelberg und gehört damit zu den Gründungsvätern der deutschen Politikwissenschaft
Schon 1941 hatte er geschrieben: „All the totalitarian dictatorships have a good deal in common“ -eine politisch bemerkenswerte Aussage im Hinblick auf die bevorstehende „Anti-Hitler-Koalition“. In der Folge ging Friedrich daran, das Gemeinsame dieser spezifischen Diktaturen systematisch herauszuarbeiten. Das bereits erwähnte „basically-alike“ -Prinzip zwischen der bolschewistischen und der nationalsozialistischen Herrschaft zeichnet seine Konzeption aus. Sie versteht den Totalitarismus als Realtypus. Sechs Wesenszüge seien allen totalitären Diktaturen eigen. Zu diesem immer wieder zitierten Sechspunkte-Syndrom gehören eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffenmonopol und eine zentralgelenkte Wirtschaft. „Es ist in jedem Fall so, daß diese sechs Wesenszüge, die untereinander in enger Verbindung stehen, zusammen den Charakter der totalitären Diktatur bestimmen.“ Zur Klassifizierung einer Herrschaftsordnung als totalitär müssen mithin alle Merkmale vorliegen, zumal Friedrich selbst einräumt, das eine oder andere besäßen auch demokratische Verfassungsstaaten (wie das Waffenmonopol oder zum Teil eine zentralgelenkte Wirtschaft). Dieser Merkmalskatalog wird -bis auf das Waffenmonopol -ausführlich erörtert. So erstrecke sich die Ideologie, die eine Art Paradies auf Erden verkünde, auf alle wichtigen Bereiche des menschlichen Lebens. Die Partei, der nicht mehr als zehn Prozent der Bevölkerung angehörten, werde in der Regel von einer Person geführt. Sie gilt mit ihren Kadern als „die Hauptstütze der totalitären Diktatur“ Die Geheimpolizei habe die tatsächlichen Feinde des Systems zu bekämpfen, ebenso die „potentiellen“. Das Herrschaftsmonopol über die Nachrichtenmittel ermögliche Indoktrination, das Waffenmonopol verhindere bewaffneten Widerstand, die zentrale Lenkung der Wirtschaft führe zur totalen Bürokratisierung und Kontrolle.
Friedrich arbeitete neben diesen totalitären Elementen „Inseln der Absonderung“ heraus. Hierzu rechnete er die Familie, die Kirchen, die Universitäten, das Militär. Er nahm dabei vielfältige Abstufungen vor. Die Zukunft der totalitären Herrschaft vorherzusagen erschien ihm spekulativ. Auch wenn Friedrich nicht an einen Zusammenbruch von innen heraus glaubte, hieß es über sie immerhin: „Daß sie sich allerdings auf lange Sicht als eine lebensfähige Form gesellschaftlicher und politischer Organisation erweist, ist recht unwahrscheinlich.“ Wer eine solche kurzgefaßte Charakterisierung totalitärer Herrschaft aus der Sicht Friedrichs vornimmt, darf dessen mannigfaltige Modifizierungen zwischen dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus nicht unterschlagen.
Diese Konzeption ist gleichwohl immer wieder kritisiert worden Sie sei statisch, spezifiziere nicht genügend die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Systeme, könne deren Wandlungstendenzen nicht erfassen und stehe etwa der Entwicklung in der Sowjetunion, die vom „Stalinismus“ weggeführt habe, hilflos gegenüber. Von Friedrich ist später, Ende der sechziger Jahre, eine Modifizierung vorgenommen worden. Terroristische Diktaturen wie die Hitlers und Stalins galten nun als „rather extreme aberrations“ -ausgerechnet die Systeme, die einst bei der Theoriebildung Pate gestanden hatten Hans J. Lietzmann sieht noch einen Schatten am Taufbecken. Er versucht durch eine Analyse der Frühwerke Friedrichs und durch gewisse Analogien bei Carl Schmitt zu beweisen, daß es ihm weniger um eine freiheitliche Demokratie als vielmehr um den Erhalt des Verfassungsstaates gegangen sei, der ebenso eine demokratische wie eine diktatorische Form annehmen könne Es mag sein, daß Lietzmann hier die Kontinuitäten von Friedrichs Denkens überzeichnet; richtig ist jedenfalls der Befund, daß der Totalitarismusbegriff Friedrichs „in einem Set institutioneller Formen, einer Regierung-und Organisationsstruktur“ wurzelt. „Kaum eine andere historische Theorie ist durch die Geschichte selber so völlig widerlegt worden wie das Totalitarismusmodell von Friedrich und Brzezinski.“ Diese These Wolfgang Wippermanns stimmt so nicht. Gewiß hatte Friedrich die Auffassung vertreten, der Zusammenbruch eines totalitären Systems könne nicht auf endogenen Ursachen beruhen. Doch war die Reformpolitik Gorbatschows wesentlich auch eine Reaktion auf exogene Entwicklungen, auf ökonomische, technologische sowie militärische Herausforderungen durch den Westen. Analoges gilt für die Wandlungen in den Staaten Osteuropas wie für das Ende der DDR. Die Systeme brachen ferner zusammen, als konstitutive Elemente von Friedrichs Merkmalskatalog abgeschwächt wurden. Insofern muß das abrupte Ende totalitärer Systeme nicht notwendigerweise gegen das Konzept „des“ Klassikers der Totalitarismusforschung verstoßen, sondern kann es sogar bestätigen An einer ambitiösen ideengeschichtlichen Herleitung war ihm gleichwohl nicht gelegen. Bei Friedrich steht eindeutig der herrschaftsstrukturelle Aspekt im Vordergrund. Das gilt nicht für die folgende Variante eines anderen Klassikers der Totalitarismustheorie.
IV. Die geschichtsphilosophische Theorie von Hannah Arendt
Die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975), aus deren Feder eine Reihe öffentlichkeitswirksamer Bücher stammen entwickelte eine spezifische, ja eigenwillige Totalitarismusversion. Die in die USA emigrierte Autorin, Schülerin von Martin Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers hat im Jahre 1951 mit ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ einen großen -nicht zuletzt an Aristoteles geschulten -ideengeschichtlichen Wurf vorgelegt, der sie über Fachkreise hinaus schnell bekannt werden ließ In den ersten beiden Abschnitten (betitelt „Antisemitismus“ und „Imperialismus“) spürt sie weit ausholend den Ursprüngen des Totalitarismus nach, jedenfalls denen des Nationalsozialismus. Im dritten Teil geht es um die „totale Herrschaft“ des Bolschewismus in der Sowjetunion und des Nationalsozialismus in Deutschland.
Das Präzedenzlose des Totalitarismus sah sie u. a. in folgendem Vorgang: „Die totale Herrschaft hat die Begriffe von Verbrechen und Auszeichnung, von Schuld und Unschuld nicht, wie die uns bekannten Diktaturen oder Despotien, nach ihr genehmen Richtlinien . revolutioniert -sie hat sie einfach abgeschafft und an ihre Stelle den in seiner ganzen Furchtbarkeit noch kaum geahnten neuen Begriff der , Unerwünschten und , Lebensuntauglichen gesetzt. Nur Verbrecher kann man bestrafen, Unerwünschte und Lebensuntaugliche läßt man von der Erdoberfläche verschwinden, als hätte es sie nie gegeben; mit ihnen will man noch nicht einmal ein Exempel statuieren.“ Gleich Friedrich spricht Arendt vom „objektiven Gegner“ bzw. „objektiven Feind“: „Wer der zu Verhaftende und Liquidierende ist, was er denkt und plant, ist von vornherein entschieden, sein wirkliches Denken und Planen interessiert keinen Menschen. Was sein Verbrechen ist, ist objektiv, ohne alle Zuhilfenahme subjektiver Faktoren, festgestellt.“ Er hat mithin keine Chance, seinem Schicksal zu entrinnen, auch nicht durch ein anderes Verhalten. Damit bezeichnet Arendt ein charakteristisches Element von Hochphasen im „Stalinismus“ und Nationalsozialismus: Das Ende von Juden oder Kulaken schien den Tätern zur Erfüllung der „Gesetze der Geschichte“ oder der „Gesetze der Natur“ notwendig.
Für Arendt konstituiert neben der Ideologie der Terror das Wesen der totalitären Herrschaft, die damit das Politische an sich vernichte. Terror werde auch nach Beseitigung oppositioneller Bestrebungen nicht überflüssig. „Ja, unsere Erfahrungen mit der Sowjetunion wie mit dem Dritten Reich haben uns gelehrt, daß wir diesen Vergleich noch einen Schritt weiter treiben dürfen: Wie das Gesetz in den uns bekannten Staatsgebilden desto vollkommener herrscht, je weniger Verbrecher es durchbrechen, so wird die vollkommene Herrschaft des Terrors erst dann losgelassen, wenn jegliehe Opposition [. . . ] erloschen ist.“ Arendt betont die „Strukturlosigkeit" der totalitären Herrschaft, hebt auch, stärker als Friedrich, deren polykratischen Charakter hervor. Fragwürdig ist allerdings -und das soll nur ein Beispiel für manche historische Empirieferne sein -, ob die „systematisch hergestellte Strukturlosigkeit“ im Nationalsozialismus wirklich beabsichtigt war und für den Kommunismus überhaupt zutraf.
Ihre Überlegungen sind auch vor dem Hintergrund der Massengesellschaft zu sehen. In ihr werde das Individuum orientierungslos, fühle es sich verlassen. Dies bilde eine Voraussetzung für die Etablierung totalitärer Systeme. Durch die mit Angst verbundene Atomisierung des einzelnen sei die Etablierung totalitärer Herrschaft erleichtert worden 75Die Reflexionen, die sich zuweilen in eigentümlichen philosophischen Höhenflügen ergehen und „anstatt systematisch strukturierter Antworten ein Mosaik assoziativ durchwirkter Hypothesen und Erkenntnisse" bieten, waren entstanden aus dem Schock über Gaskammern und Konzentrationslager. Diese hätten „die Kontinuität abendländischer Geschichte unterbrochen“
Offenkundig ist der eher idealtypisch ausgerichtete Totalitarismusbegriff Arendts -ungeachtet der Bedeutung und Originalität des philosophie-geschichtlichen Werkes -viel zu eng gefaßt. Nur einzelne Phasen des bolschewistischen und des nationalsozialistischen Regimes können damit als totalitär in ihrem Sinne bezeichnet werden. Im übrigen zielt sie mehr auf das NS-System, weniger auf die kommunistische Herrschaftsordnung, die eigentümlich unscharf bleibt. Arendts Theorie ähnelt jenen Totalitarismusversionen, die nicht auf die Struktur des Herrschaftssystems fixiert sind, vielmehr ihren Blick auf dessen revolutionäre Dynamik lenken. So strebten nach Martin Drath totalitäre Regime die Durchsetzung eines anderen Wertesystems an In dieser Konzeption spielt das dynamische Element eine hervorgehobene Rolle. Allerdings ist der Terror für Arendt nicht „ein Mittel zum Zweck, sondern die ständig benötigte Exekution der Gesetze natürlicher oder geschichtlicher Prozesse“
Nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ ist Arendts Theorie nicht zuletzt deshalb aktuell geworden, weil ihre Hinweise auf das Verhalten von Menschen in diktatorischen Systemen anschauliche Erkenntnisse für das Leben in den entkräftet zusammengebrochenen kommunistischen Ländern bieten -weniger wegen ihres eher auf Terror und Ideologie fixierten spezifischen Ansatzes. Auch ihr Hinweis auf endogene Ursachen des Zerfalls totalitärer Herrschaft mag Aufmerksamkeit verdienen. Unter diesem Aspekt ist das Anknüpfen an republikanische Traditionen im Sinne Arendts kein Anachronismus
V. Die sozialreligiöse Interpretation von Eric Voegelin
Die Theorie Hannah Arendts stieß gleich nach ihrem Erscheinen auf heftige Kritik bei dem Emigranten Eric Voegelin weil Arendt nicht (ausreichend) die geschwundene Rolle der Religion für das Aufkommen des Totalitarismus gewürdigt habe. Das hinderte sie aber nicht daran, sich später an der Herausgabe einer Festschrift für Voegelin zu beteiligen Der Wiener Eric Voegelin (1901-1985), der nach 1945 Politikwissenschaft in München lehrte hatte 1938 in seiner schmalen Studie „Die politischen Religionen“ selbst einen Versuch zur Erklärung des Totalitarismus unternommen (Interessanterweise erschienen zur selben Zeit zwei andere einschlägige Publikationen von Raymond Aron und Frederick A. Voigt
Die totalitären Bewegungen firmieren in der Deutung Voegelins als Säkularreligionen Es werde nicht gesehen, „daß die Säkularisierung des Lebens, welche die Humanitätsidee mit sich führte, eben der Boden ist, auf dem antichristliche religiöse Bewegungen wie der Nationalsozialismus erst aufwachsen konnten“ Die komplexe Herleitung der überaus gelehrten Argumentation tut an dieser Stelle nichts zur Sache. Voegelin setzt beispielsweise bei dem Sonnenglauben der alten Ägypter ein, und seine Verbindungslinien, die er zur Gegenwart knüpft, sind für den Leser wahrlich nicht immer nachvollziehbar. Entscheidend ist das Ergebnis: „Die innerweltliche Religiosität, die das Kollektivtum, sei es die Menschheit, das Volk, die Klasse, die Rasse, oder den Staat, als Realissimum erlebt, ist Abfall von Gott“ -Abfall von der „überweltlichen Religion“ (etwa des Christentums oder des Judentums). Zu Recht wird vermerkt, Voegelin sei es darum gegangen, „zu den religiösen Wurzeln der modernen Massenbewegungen vorzudringen“ In der Tat läßt sich die Entstehung eines apokalyptischen, säkularisierten Fundamentalismus aus Sektenbewegungen zeigen
Seine Argumentation läuft im Kern darauf hinaus, daß Politische Religionen kein genuines Phäno-men der Gegenwart seien. Voegelin ist es versagt geblieben, seine Konzeption von den Politischen Religionen näher am Beispiel des Nationalsozialismus und des Bolschewismus zu überprüfen. Gleichwohl hat er „seine religionsphänomenologische Interpretation der modernen despotischen Regime später zu der bekannten und umstrittenen These verdichtet, die politischen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts -Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus -wiesen allesamt einen . gnostischen'Charakter auf“ Damit ist gemeint, daß der Mensch sich an die Stelle von Gott setzt, „Allmacht“ empfindet und weltlichen Verheißungen folgt, die alle gesetzten Schranken niederreißen. Man muß nicht das Konzept von den Politischen Religionen in der Version Voegelins teilen -der Verlust der Religion ebne den Weg für totalitäre Systeme -, um gleichwohl zu erkennen, daß totalitären Weltanschauungen religionsähnliche Elemente innewohnen (z. B. die Bedeutung der Feiern, von Kult und „heiligen Lehren“) Vor allem kann Voegelin durch die Fokussierung auf Politische Religionen den Nachweis führen, daß es nicht in erster Linie -oder jedenfalls nicht nur -Repression ist, weswegen Menschen zu antidemokratischen Bewegungen stehen.
War es lange still um das Konzept der Politischen Religion, so ist es in letzter Zeit mehrfach für die Totalitarismusforschung nutzbar gemacht worden -nicht zuletzt deshalb, um zu erklären, wieso totalitäre Diktaturen zumindest zeitweise Unterstützung selbst von den Unterdrückten erfahren haben Repression ging auch mit Enthusiasmus einher. Das Heil, das aufgrund der behaupteten Einsicht in den Ablauf der Geschichte versprochen wurde, löste ein beträchtliches Maß an Glaubensbereitschaft aus. Man kann totalitäre Herrschaft jedenfalls nicht auf die Ausübung von Terror reduzieren, sondern muß vielmehr auch die Verführungskraft totalitärer Ideologien in Rechnung stellen. Dieses Verdienst kommt dem Konzept Eric Voegelins zu. Allerdings hat es den gravierenden Nachteil der Empirieferne.
VI. Der genetisch-interaktionistische Ansatz von Ernst Nolte
Die unter dem Namen „Historikerstreit“ bekannt-gewordene Auseinandersetzung ist eng mit dem Berliner Historiker Ernst Nolte (geb. 1923) verbunden Vor zwölf Jahren -am 6. Juni 1986 -erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein Artikel Noltes, der provozierend fragte: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine , asiatische Tat'vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer asiatischen'Tat betrachteten?“ Diese suggestiv formulierte Frage bildete den Beginn des mehr emotional als rational geführten „Historikerstreits“, der eine Fülle von Studien nach sich gezogen hat und dessen Wogen bis heute nicht geglättet sind Was seinerzeit für so viel Wirbel sorgte, hätte eigentlich keinen derartigen Sturm des Protests entfachen müssen, wäre den Kontrahenten die wissenschaftliche Position Noltes -dem, im Unterschied zu manch anderem Beteiligten, nicht an politischer Meinungsführerschaft lag -hinreichend bewußt gewesen. Bereits in „Faschismus in seiner Epoche“, seinem ersten Werk, das ihn bekannt machte, hatte er den Faschismus folgendermaßen definiert: „Faschismus ist Antimarxismus, der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten trachtet, stets aber im undurchbrechbaren Rahmen nationaler Selbstbehauptung und Autonomie.“ In seinen weiteren Studien ist dieser Befund -Nationalsozialismus als Reaktion auf den Bolschewismus -, zumal nach dem „Historikerstreit“, immer wieder erörtert, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre jedoch verschärft worden Noltes Totalitarismuskonzeption wohnt ungeachtet mancher Akzentverschiebungen ein hohes Maß an Kontinuität inne
Sie wird besonders deutlich im „Europäischen Bürgerkrieg“, der in einer Rohfassung bereits zu Beginn des „Histerikerstreits“ fertiggestellt war In diesem Werk versucht Nolte einen „kausalen Nexus“ zwischen dem Bolschewismus und dem Nationalsozialismus aufzuzeigen. Jener habe diesen wesentlich hervorgerufen. Beide totalitären Bewegungen waren nach Nolte von Enthusiasmus erfüllt und fest entschlossen, den Gegner zu vernichten. Nolte entwickelt mit zahlreichen Paradoxien -zu Ende des Zweiten Weltkrieges sei das Dritte Reich „internationalistischer“ und die Sowjetunion „nationalistischer“ geworden -ein facettenreiches Bild des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Bolschewismus. Es sei geprägt von einem wechselseitigen Vor-und Schreckbildcharakter zugleich. Gleichwohl hält der Historiker an der These von der Singularität der Untaten des stärker vom Antikommunismus als vom Antisemitismus motivierten Nationalsozialismus fest.
Noltes Position der Aufeinanderbezogenheit der beiden totalitären Bewegungen ist heftig kritisiert worden" Sie erkläre wegen ihrer Fixierung den Nationalsozialismus nicht aus den Vorbelastungen der deutschen Geschichte und laufe auf eine zumindest partielle Verharmlosung der Untaten des Dritten Reiches hinaus, wenn diese als „Reaktion“ firmierten. Der „kausale Nexus“ sei konstruiert; „Auschwitz“ könne nicht in einen Zusammenhang mit dem „GULag“ gebracht werden. Wie immer man zu diesen und anderen Argumenten stehen mag -jene Einwände sind nicht förderlich, die mehr oder weniger volkspädagogisch argumentieren: Noltes Gedankengang sei „gefährlich“, „entlastend“, „verräterisch“, „apologetisch“, „aufrechnend“, rufe zumindest den „Beifall von der falschen Seite“ hervor. Sollte sich sein Ansatz von den Wechselbeziehungen des Nationalsozialismus und des Bolschewismus als erhellend erweisen, so geht jede Deutung fehl, die sein Interpretationsparadigma nur „geschichtspolitisch“ zu würdigen sucht -sei es negativ, sei es positiv.
Noltes Position muß in der Sache erörtert und kritisiert werden, wie dies vorbildlich in dem Briefwechsel zwischen Francois Furet und dem Berliner Historiker geschehen ist Furet sprang Nolte einerseits bei, indem er viele Wechselbeziehungen zwischen der einen und der anderen totalitären Variante bestätigte; andererseits verwarf er zen-trale Elemente aus dem Gedankengebäude des Berliner Historikers. So ließ er die These nicht gelten, der Nationalsozialismus habe seinen wesentlichen Ursprung in der bolschewistischen Bedrohung, und entschieden wandte er sich vor allem gegen die Wendung Noltes vom „rationalen Kern“ des Nationalsozialismus
Noltes Ansatz ist angemessen als „genetisch-interaktionistisch“ zu klassifizieren. Er selbst bezeichnet ihn als „historisch-genetisch“ blendet damit aber einen wesentlichen Aspekt aus, geht es ihm doch nicht nur um die Frage der Ursprünglichkeit („genetisch“), sondern auch um die der Wechselbeziehung der beiden totalitären Systeme („interaktionistisch“), die stark vom jeweiligen Selbstverständnis her betrachtet werden. Selbst wer nicht alle seine Thesen wegen mancher Überspitzungen teilen kann, kommt nicht umhin, die universalgeschichtliche Perpektive als wissenschaftlich weiterführend und inspirierend zu betrachten.
VII. Das politikgeschichtlichnormative Vorgehen von Karl Dietrich Bracher
Stehen in der Konzeption von Ernst Nolte die Wechselbeziehungen der totalitären Ideologien, Bewegungen und Systeme im Vordergrund so verweist der Bonner Politikwissenschaftler und Historiker Karl Dietrich Bracher (geb. 1922) vor allem auf den unaufhebbaren Gegensatz zwischen den demokratischen Verfassungsstaaten und den Diktaturen autoritärer wie totalitärer Observanz. Das hat mit seiner Habilitationsschrift über „Die Auflösung der Weimarer Republik“ angefangen und dürfte mit den „Wendezeiten der Geschichte“ nicht zu Ende sein. Der Titel der ihm gewidmeten Festschrift lautet charakteristischer-weise „Demokratie und Diktatur“ Wie Noltes Werk so zeichnet sich das von Bracher durch ein hohes Maß an Kontinuität aus -unabhängig vom jeweiligen Zeitgeist Die enge Verbindung von empirischem und normativem Bezug bewahrte ihn vor Fehleinschätzungen und Überspitzungen.
Bracher hat im engeren Sinne keine Totalitarismustheorie ausgearbeitet. Charakteristisch für seinen Totalitarismusbegriff ist vielmehr dessen „integrationistische“ Anlage. Er greift Totalitarismuskonzepte unterschiedlicher Observanz auf und strukturiert sie. In gewisser Weise sind bei ihm Friedrich, Arendt, Voegelin und Nolte in mehrfacher Hinsicht „aufgehoben“ -gleichermaßen im Sinne von bewahrt, beseitigt und höhergeführt. So betont er neben der etatistisch-absolutistischen Seite des Totalitarismus seine dynamisch-revolutionäre. Dem Konzept der Politischen Religionen ist er ebensowenig abhold, wie er die Wechselbeziehungen zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus nicht leugnet, ohne diese ins Zentrum zu rücken. Der „Integrationismus“ bezieht sich zudem auf die Verbindung normativer und empirischer Elemente, auch auf die Synthese eines historischen und politikwissenschaftlichen Zugriffs.
Besonderes Gewicht hat Bracher auf jene Ideen und Ideologien vor dem Ersten Weltkrieg gelegt, aus denen sich im 20. Jahrhundert totalitäre Bewegungen und Systeme speisten „Der Aufstieg totalitärer Bewegungen und Diktaturen ist nicht denkbar ohne die Machtmittel der ideologischen Verführung, und diese wird erst (so total) möglich durch die Verheißung einer zum politischen Glauben, ja zur politischen Religion gesteigerten Ideologie.“ In seinen großen Synthesen spielen totalitäre Bewegungen von rechts und links als Antipoden des demokratischen Verfassungsstaates eine Hauptrolle. Stets hat Bracher mit Nachdruck auf „die totalitäre Verführung durch die Verbindung von modernem Effizienzdenken mit Heilsoder Glückserwartungen und die tiefe Ambivalenz des modernen Fortschritts“ aufmerksam gemacht.
Die Kritik an Bracher entzündete sich vor allem daran, daß er die parlamentarische Demokratie unkritisch verteidige und daß seine Ausführungen trotz ihres wissenschaftlichen Anspruchs „eher dem Bereich politisch-publizistischer Auseinandersetzungen zuzuordnen“ seien. Anhand Brachers Werk läßt sich gut zeigen, daß der Totalitarismusbegriff „im Spannungsfeld zwischen analytischer und wertender Betrachtungsweise“ angesiedelt ist. Er wird bei Bracher in dem ersten Sinne, mehr aber noch in dem zweiten Verständnis gebraucht. „Wiewohl Bracher die sozialwissenschaftliche Herrschaftsstrukturanalyse mittels der Totalitarismustheorie ausdrücklich bejaht, operiert er selber [.. . ] kaum mit diesem Instrumentarium. Seine Verwendung des Totalitarismusbegriffs, insbesondere seit den siebziger Jahren, markiert vielmehr den Beginn von dessen Ausweitung zur komparativen Epochenkategorie, insofern Bracher auf der Basis des strukturanalytischen Befundes der Neuartigkeit totalitärer Herrschaft Zeiträume der Ausformung dieses Regimetyps unterscheidet und vergleicht.“ Insofern sei es nur konsequent, daß er das 20. Jahrhundert als das „Jahrhundert des Totalitarismus“ bezeichnete -und zwar noch vor dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus. Nach Karsten Fischer stellt diese Charakterisierung des 20. Jahrhunderts durch die Einbeziehung der „komparativen Epoche demokratischer Wert-und Herrschaftsordnung“ eine „Erweiterung der komparativen Komponente des Totalitarismuskonzepts“ dar.
Selbst Wolfgang Wippermann, ein heftiger Kritiker des Totalitarismuskonzepts, kommt nicht umhin, Bracher Respekt entgegenzubringen. Angesichts der mangelnden Plausibilität bisheriger Totalitarismustheorien sei es berechtigt, „einfach auf Theorien zu verzichten und, um einen auf den Faschismus bezogenen Ausspruch Angelo Tascas abzuwandeln, Totalitarismus .definiert, indem man seine Geschichte schreibt [.. . ] Es wird auch weiterhin möglich und auf jeden Fall legitim sein, auf diesem von Bracher gewiesenen , empirischen Weg durch eine historische differenzierte Bestandsaufnahme eine . Theorie totaler Herrschaft zu gewinnen.“
Brachers Konzeption besticht weniger durch eine neuartige Theorie als vielmehr durch ihre konsequente Ablehnung aller diktatorischen Formen -ob autoritär verkleidet oder in totalitärer Offenheit -, und zwar der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Seine Warnung vor totalitären Versuchungen, Sehnsüchten und Verführungskräften ist nicht überholt
VIII. Abschließende Überlegungen
Keiner Konzeption steht es zu, einen Anspruch auf Ausschließlichkeit geltend zu machen. Diese und andere Ansätze ließen sich nach bestimmten Kriterien auf ihre wissenschaftliche Tragfähigkeit hin untersuchen: Wie ist es um die analytische Aussagekraft der jeweiligen Theorie bestellt? Wie groß ist die Gefahr ihrer politischen Instrumentalisierbarkeit? In welchem Umfang muß die Theorie veränderten Zeiterfahrungen angepaßt werden? Basiert sie auf den Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates? Die vorgestellten Ansätze vergleichend nach ihrem Erkenntniswert zu untersuchen, soll an dieser Stelle unterbleiben.
Nur so viel: Die Namen von Friedrich („Totalitäre Diktatur“), Arendt („Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“), Voegelin („Die politischen Religionen“) und Nolte („Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945“) sind jeweils mit einem bestimmten Werk eng verbunden, während dies für Bracher nicht zutrifft. Durch sein uvre zieht sich wie ein roter Faden die Absage an totalitäre Diktaturen jedweder Couleur, ohne daß diese einem spezifischen Ansatz zuzuordnen ist. Wie die Ausführungen zumindest ansatzweise aber gezeigt haben dürften, widerstreiten, ergänzen und bestätigen sich die ausgewählten Konzepte vielfältig. In einer vertiefenden Untersuchung ließe sich dies noch detaillierter nachweisen, auch unter Einbeziehung weiterer eigenständiger theoretischer Versuche Hier ist versucht worden, mit Hilfe fünf grundlegender Ansätze ein möglichst breites, repräsentatives Spektrum zu erfassen Weder war es möglich, „die“ Totalitarismustheorie (sie gibt es ohnehin nicht) noch alle einschlägigen Theorien (sie kennt niemand) zu erörtern.
Das Gemeinsame der Ansätze liegt dem Anspruch nach darin, daß sie sich auf rechte wie linke Diktaturen der Gegenwart beziehen (namentlich Bolschewismus und Nationalsozialismus) Sie sind analogisierender Natur, nicht singularisierender, halten also den Vergleich für sinnvoll. Alle sehen (meist explizit, wenngleich mit unterschiedlicher Argumentation) den Totalitarismus für ein Phänomen der Moderne an. Das Thema „Totalitarismus“ fordert aufgrund seiner Totalität offenbar nicht nur eine wissenschaftliche Disziplin heraus. Historia docet: Die historische Erfahrung war das auslösende Moment von Totalitarismustheorien, nicht deren Konstruktion zur Delegitimierung anderer Systeme. Totalitarismusansätze sind erfahrungsgesättigt. Es handelt sich um wissenschaftliche Beiträge zur Beschreibung und Erklärung von Phänomenen, die im 20. Jahrhundert die demokratische Politik vor eine existentielle Herausforderung gestellt haben.
Wer allerdings wie Wolfgang Wippermann die These verficht, es sei berechtigt, „alle vorhandenen Totalitarismustheorien daran zu messen, ob sie in der Lage sind, den Holocaust zu erklären“ läßt offenkundig nur solche Theorien zu, die genuin auf den Nationalsozialismus passen, blendet also die komparative Sicht faktisch aus. Der Vorwurf der Unredlichkeit fällt damit auf den Verfasser zurück. Hingegen ist ihm sehr darin zuzustimmen, daß eine neue Totalitarismustheorie „durchaus politisch wertende Momente enthalten und deutlich machen [kann], daß und warum es legitim und notwendig ist, die parlamentarische Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Das heißt in anderen Worten, daß die Totalitarismusmit einer Demokratietheorie verbunden werden sollte.“ Die Verbindung von Totalitarismus-und Demokratiekonzept scheint vor allem aus folgendem Grund wichtig: Für einen normativen Ansatz ist Antitotalitarismus unzureichend. Der demokratische Verfassungsstaat legitimiert sich nicht nur aus der Ablehnung antidemokratischer Vorstellungen, sondern auch -und vor allem -aus dem Bekenntnis zu universell geltenden Werten. Das „Wofür“ hat Vorrang gegenüber dem „Wogegen“.
Wichtig ist der Hinweis, daß eine Differenzierung zwischen dem jeweiligen Ansatz und der konkreten Ausführung nötig sein kann. So sieht manch einer das Konzept der Politischen Religionen als wegweisend an, nicht aber in der als traditionell empfundenen Variante Voegelins. Ein anderer empfindet den genetisch-interaktionistischen Ansatz als originell, weniger jedoch in der Art Noltes. Das Ergebnis, ob ein bestimmtes System totalitär sei oder nicht, wird durch die Auswahl der meisten Konzepte nicht präjudiziert. Im übrigen macht die Totalitarismusforschung weder die Kommunismus-noch die Faschismusforschung überflüssig, kommt es doch auf die jeweilige Fragestellung an.
Demnach erscheint die Ansicht Christoph Butterwegges abwegig: „Real-und Nationalsozialismus, Hitlerfaschismus und Stalinismus als totalitäre Regime zu identifizieren verschafft schwerlich einen Erkenntnisgewinn, der über das Grundwissen eines Hauptschülers aus dem Sozialkundeunterricht hinausgeht.“ Der Autor fordert demgegenüber, nicht Gemeinsamkeiten aufzuspüren (das sei kinderleicht), sondern Unterschiede auszumachen. Um diese zu erkennen, „bedarf es wissenschaftlicher Methoden und analytischer Fähigkeiten“ Erstens gilt das für Gemeinsamkeiten ebenso; zweitens dürfte sich der Autor nicht an die eigenen Maximen halten, wenn er demokratische Verfassungsstaaten und Rechtsdiktaturen komparatistisch untersucht (oder die Konzeptionen konservativer Demokraten mit denen von Rechtsex-tremisten „vergleicht“) -Nicht nur die normative Sichtweise Butterwegges kann nicht geteilt werden. Die Ablehnung gilt ebenso für seine prospektive Auffassung, wenn er jener Position, die die Ansicht vertritt, Totalitarismuskonzeptionen spielten künftig eine größere Rolle, schlicht unterstellt, der Wunsch sei Vater des Gedankens. „Vielmehr dürfte gerade die Auflösung des Ost-West-Gegensatzes (im alten Sinne) das Schicksal der Totalitarismustheorie wohl endgültig besiegelt haben: Seines aktuellen Gebrauchswertes als politischer Kampfbegriff und als Diffamierungsinstrument weitgehend beraubt, spielt der fragwürdige Terminus , Totalitarismus'nur noch eine untergeordnete Rolle.“ Das Gegenteil dürfte richtig sein. Allenfalls ließe sich die Bezeichnung „totalitär“ a\s fragwürdig klassifizieren.
Nach dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus besteht eine Symmetrie im Vergleich -jedenfalls bezogen auf den europäischen Totalitarismus -insofern, als Anfang und Ende des Bolschewismus wie des Nationalsozialismus feststehen. Die nun unvoreingenommen zu sichtende Hinterlassenschaft der einen wie der anderen totalitären Herrschaft bildet die wichtigste Voraussetzung für die komparative Ebene. Das gilt in zweierlei Hinsicht: Erstens dürfte am Ausgang des 20. Jahrhunderts die Thematik weniger Emotionen als früher hervorrufen, da angesichts der verheerenden Wirkungen des Totalitarismus heute nur noch sehr wenige bereit sein dürften, ihn zu legitimieren. Zweitens ist die Grundlage für sein Studium wissenschaftlich ergiebiger geworden. Totalitäre Systeme, erst einmal zusammengebrochen, sind kein arcanum imperii mehr. Was in den Akten steht, spricht Bände, ebenso das, was die Menschen (Opfer, Mitläufer, in die totalitären Mechanismen Verstrickte, Täter) von der Vergangenheit zu berichten wissen. Auf beide Quellengattungen kann die Totalitarismusforschung nicht verzichten, will sie ein möglichst unverzerrtes Bild gewinnen.