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Die Sozialpolitik der USA: ein Weg für die Zukunft? | APuZ 19/1998 | bpb.de

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APuZ 19/1998 Amerika first -aber wohin? Die Außenpolitik der USA an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Aspekte sicherheitspolitischer Kultur der Vereinigten Staaten von Amerika Die Gemeinschaft und ihre Verbrecher Neue Wege der Kriminalitätskontrolle in den USA Die Sozialpolitik der USA: ein Weg für die Zukunft?

Die Sozialpolitik der USA: ein Weg für die Zukunft?

Axel Murswieck

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die USA sind -gemessen an europäischen Verhältnissen -kein Sozialversicherungsstaat. Daraus kann allerdings nicht gefolgert werden, daß es keine staatliche Sozialpolitik gibt. Mit dem Maßstab von durch das Versicherungsprinzip hergestellter nationaler Einheitlichkeit von sozialen Leistungen läßt sich nur ein Ausschnitt der amerikanischen Sozialpolitik erfassen. Vielmehr gilt es, die Gesamtheit sozialpolitischer Aktivitäten auf Bundes-, einzelstaatlicher, kommunaler und privater Ebene zu beachten. Nach einer Skizzierung der Grundzüge und Besonderheiten der sozialpolitischen Entwicklung werden die bundespolitischen Sozialleistungssysteme in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung dargestellt und erörtert. Die Vielzahl der Sozialleistungen und ihre Verflechtung bei der Erbringung und Finanzierung zwischen Bund und Einzelstaaten zeigen das besondere Profil gruppenbezogener Sozialprogramme. Die Sozialreformen der letzten Jahre haben die Zuständigkeit und Verantwortung'im Sozialhilfebereich an die Einzelstaaten und private Wohlfahrtsorganisationen zurückgegeben. Auf der einen Seite bestehen Befürchtungen eines weiteren Abbaus der Sozialhilfe, auf der anderen Seite werden die neuen Spielräume zu Innovation und zum Experiment begrüßt. Die USA haben für die Zukunft nicht den Weg einer weiteren Universalisierung von Sozialleistungen gewählt.

L Einleitung

Tabelle 1: Verwaltungs-und Finanzierungsstruktur sowie Ausdehnung der bundesstaatlichen Sozialleistungsprogramme in den USA (1997)

Im Vergleich zu den europäischen Wohlfahrtsstaaten, so auch dem deutschen, gelten die USA als Ausnahme und Nachzügler. Dieser Hinweis bezieht sich nicht nur auf die Einführungszeiten, sondern auch auf den Umfang und die Art von Sozialprogrammen. Am ehesten zutreffend ist das Argument von Ausnahme und Nachzügler, wenn es sich auf national einheitliche Sozialversicherungssysteme für die Risiken Alter, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und -seit neuestem in Deutschland -das Risiko der Pflegebedürftigkeit bezieht. In der Tat ist Amerika daran gemessen kein Sozialversicherungsstaat. Obwohl man teilweise dazu neigt, dies zu tun, kann daraus aber nicht gefolgert werden, daß es keine staatliche Sozialpolitik gibt. Mit dem Maßstab von durch das Versicherungsprinzip hergestellter nationaler Einheitlichkeit von sozialen Leistungen läßt sich nur ein Ausschnitt der amerikanischen Sozialpolitik erfassen. Auch erscheint dieser Maßstab nur bedingt dazu geeignet, eine vergleichende Bewertung von sozialer Sicherung vorzunehmen. Die Gesamtheit sozialpolitischer Aktivitäten auf Bundes-, einzelstaatlicher, kommunaler und privater Ebene ist zu beachten. Es ging in der Vergangenheit und auch gegenwärtig immer darum, ob, in welchen Bereichen und in welchem Umfang der Bund sozialpolitische Verantwortung übernehmen oder ob diese nicht primär bei den Bürgern, privaten Wohlfahrtsorganisationen oder eben auch bei den Einzelstaaten liegen soll. Die amerikanische sozialpolitische Entwicklung ist von dieser Auseinandersetzung geprägt. Die Besonderheiten und die gegenwärtige Ausgestaltung der amerikanischen Sozialpolitik werden im folgenden dargestellt und auch im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung erörtert

II. Grundzüge und Besonderheiten der sozialpolitischen Entwicklung

Tabelle 2: Entwicklung der öffentlichen Sozialausgaben von 1960 bis 1993

Quelle: Statistical Abstract of the United States 1995, S. 374, und 1997, S. 372.

Die bundesstaatliche amerikanische Sozialpolitik begann 1935 mit der Verabschiedung des Sozialversicherungsgesetzes („Social Security Act“) in der „New Deal“ -Ära unter Präsident Franklin D. Roosevelt. Damit hatte der Bund das erste Mal in der amerikanischen Geschichte die sozialpolitische Verantwortung für ein nationales, einheitliches System von Sozialversicherung übernommen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten sich Vorstellungen von bundesstaatlich organisierten Versicherungssystemen nicht durchsetzen. Sozialpolitische Maßnahmen für besondere Bevölkerungsgruppen in besonderen Problemlagen waren vorher fast ausschließlich Angelegenheit der sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt ausbreitenden privaten Wohlfahrtsorganisationen sowie der Armen-fürsorge auf einzelstaatlicher und lokaler Ebene. Ebenso wichtig, wenn nicht sogar bedeutender für die Staaten und Gemeinden war jedoch die Unterstützung der Schulbildung als „Sozialpolitik“ -eine Schwerpunktsetzung, die sich bis heute erhalten hat.

Schließlich gab es aber noch zwei weitere Bereiche, die zeigen, daß schon Vorläufer einer bundesstaatlichen Sozialpolitik vorhanden waren Der eine Bereich betrifft die Familien-und Kinderfürsorgeprogramme („mother’s pension“). Zwischen 1911 und 1920 wurden in 40 Staaten Gesetze zur Einführung derartiger Sozialhilfeleistungen erlassen, an denen sich der Bund finanziell und programmbezogen beteiligte. 1935 wurde bei der Sozialhilfe daran angeknüpft und insofern das Muster gruppenbezogener Unterstützung fortgesetzt. Der andere Bereich betrifft das Veteranen-Pensionsprogramm. Es wurde 1862 für die Veteranen des Bürgerkrieges eingeführt und entwickelte sich zu einem sehr umfangreichen Altersversorgungsprogramm. Zwischen 1880 und 1910 flossen über ein Viertel der Bundesausgaben in dieses Programm. Rund 18 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre, davon 28, 5 Prozent aller Männer und acht Prozent aller Frauen, waren 1910 Pensionsempfänger. Als in den zwanziger Jahren die Bürgerkriegsgeneration nicht mehr vorhanden war, lief schließlich auch das Versorgungsprogramm aus und wurde nicht, wie von einigen gefordert, in ein allgemeines Rentenprogramm für Ältere überführt. Als die wirtschaftliche Depression (1929-1939) die Unzulänglichkeit der zersplitterten und uneinheitlichen Einkommenssicherungsprogramme in den Einzelstaaten offenbarte, war zwar der Weg für eine nationale Lösung geebnet, aber die bisherige Entwicklung markierte gleichzeitig die Grenze des Machbaren.

Das Sozialversicherungsgesetz von 1935 schuf lediglich für die Rentenversicherung eine national einheitliche, beitragsbezogene Pflichtversicherung. Das war möglich, weil es in diesem Bereich keine einzelstaatlichen Gesetzgebungsaktivitäten gegeben hatte. In allen anderen Bereichen dominierten die föderalen Interessen, einflußreich insbesondere im Repräsentantenhaus des Kongresses. Vor allem die Südstaaten bildeten ein Bollwerk gegen eine Zunahme des bundesstaatlichen Einflusses. So wurde die ebenfalls eingeführte Arbeitslosenversicherung der Zuständigkeit der Einzelstaaten übertragen. In der Sozialhilfe wurde das System der Mischfinanzierung (Finanzzuschüsse des Bundes) und die Begrenzung auf bestimmte Personengruppen (hilfsbedürftige Alte, Blinde und Kinder) 34 bei autonomer Gestaltung durch die Einzelstaaten eingeführt. Für alle anderen Fälle von Armut und Hilfsbedürftigkeit blieb es bei der alleinigen Finanzierung und Organisation durch die Einzelstaaten und Gemeinden. Diese Sozialversicherungsprogramme sind zu einer Dauereinrichtung geworden. 1935 war das anders gedacht. Die Altersversicherung sollte nur eine Ergänzung privater Vorsorge-maßnahmen darstellen. Von den Sozialhilfemaßnahmen war angenommen worden, daß sie im Laufe der Zeit durch das Zusammentreffen des Ausbaus der Sozialversicherung mit einem wiederbelebten Wirtschaftswachstum überflüssig werden würden. Gleichzeitig wurde der Grundstein für eine bis in die Gegenwart wirkende Spaltung der Sozialpolitikdiskussion gelegt. Die Unterscheidung von Sozialversicherung (social security), wobei der Begriff immer mehr auf die Rentenversicherung und die Krankenversicherung der Rentner (Medicare) eingeengt wurde, und dem Bereich der Sozialhilfe (welfare) bestimmte fortan die politische Diskussion. Beide Bereiche gingen in ihrem Ausbau auch unterschiedliche Wege. Die Tabelle 1 gibt einen Überblick über die derzeitig bestehenden Sozialleistungen des Bundes.

Die Sozialausgaben des Bundes sowie der Einzelstaaten und Gemeinden haben seit 1960 in beträchtlichem Umfang zugenommen. Das zeigt sowohl die Betrachtung der Ausgaben in bezug auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als auch der Anteil der Gesamtausgaben der jeweiligen Gebietskörperschaften (vgl. Tabelle 2). In diesen Ausgaben sind Aufwendungen von der Rentenversicherung über die Schulspeisung bis hin zu den verschiedensten Sozialhilfeprogrammen enthalten -was auf einen sehr weiten Begriff von Sozialpolitik schließen läßt. Dieser Bereich sozialer Sicherung und sozialer Hilfen nimmt inzwischen rund 60 Prozent des Bundeshaushalts und über 80 Prozent der staatlichen und kommunalen Haushalte in Anspruch. In diesem Rahmen betrachtet, ließe sich kaum von einem minimalen Sozialstaat sprechen. Von dem, was an öffentlichen Geldern ausgegeben wird, entfällt der größte Teil auf sozialpolitische Aktivitäten. Eine andere Frage ist, warum nicht mehr ausgegeben wird, um Umfang und Niveau sozialer Sicherung zu erhöhen. Hierfür müßten Ressourcen bereitgestellt werden, entweder durch Steuern oder durch Quasi-Steuern (Beiträge). Sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung sind Steuern nicht sehr beliebt; Versuche, neue staatliche Aufgaben durch neue Steuern oder Steuererhöhungen einzuführen, finden keine Unterstützung. Clintons Gesundheitsreform ist u. a. durch eine derartige antistaatliche und antisteuerliche Gegenwehr gescheitert. Die USA sind weder ein Sozialversicherungsstaat noch ein Steuerstaat, mit dem sich der Vorwurf der Umverteilung verbindet.

Eine weitere Besonderheit der amerikanischen Sozialpolitik kann ebenfalls bereits aus der Zusammensetzung der Sozialausgaben ermittelt werden. Nimmt man den Kern der Sozialpolitik, also den Sozialversicherungs-und Sozialhilfebereich, dann zeigt sich, daß ein Drittel des Bundes-haushalts durch die Renten-und Krankenversicherung der Älteren belegt ist und nur zwölf Prozent der Ausgaben insgesamt auf Sozialhilfeprogramme entfallen. Auf das Familienfürsorgeprogramm (AFDC), das gleichbedeutend für „welfare“ steht und das größte Geldleistungsprogramm darstellt, entfielen nur 1, 13 Prozent der Ausgaben im Jahr 1995. Sozialhilfe, insbesondere in Form von Geld-leistungen, gehört nicht zum Schwerpunkt des Sozialleistungssystems auf Bundesebene. Dieser liegt in der Politik für Ältere, vor allem als Altersversicherung. Auch im internationalen Vergleich zeigt sich diese Besonderheit der geringen Ausgaben für Bereiche außerhalb der Altersprogramme (non-aged). Nach Berechnungen der OECD lag dieser Anteil 1990 für die USA bei 54 Prozent des BIP. Die Bundesrepublik wies einen Anteil von 7, 18 Prozent auf, und der EG-Durchschnitt lag bei 7, 7 Prozent 3. Bei der folgenden Erörterung der wichtigsten Sozialleistungen wird vor allem die Rolle des Bundes im Vordergrund stehen.

III. Die Sozialversicherungsprogramme

Tabelle 3: Beitragssätze 1995 in der gesetzlichen Renten-und Krankenversicherung (in Prozent)

Quelle: Social Security Administration, Fast Facts and Figures about Social Security, Washington, DC 1995, S. 1.

1. Die Rentenversicherung Die Rentenversicherung wurde schrittweise mit jeweils breiten politischen Mehrheiten von 1950 bis 1972 zum modernen Rentenversicherungssystem ausgebaut. Heute sind rund 95 Prozent der Erwerbstätigen in der Rentenversicherung. Die Finanzierung erfolgt durch Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu gleichen Teilen (vgl. Tabelle 3). Selbständige tragen den Beitrag alleine.

Eine Selbstverwaltung im deutschen Sinne existiert nicht. Es gilt das Selbstfinanzierungsprinzip der Träger, d. h., Staatszuschüsse gibt es nicht. Ein analoges Problem wie in Deutschland über Fremdleistungen der Rentenversicherung ist dem amerikanischen System fremd. Insgesamt unterscheidet sich das Rentensystem der USA aber nur wenig vom deutschen.

Eine andere Frage ist, inwieweit man von der Rente leben kann. Ein indirekter Hinweis zur Frage, ob die Rente einen angemessenen Lebensstandard sichert, erhält man, wenn man die Zusatzeinkommen betrachtet. Diese speisen sich aus privaten Pensionen und Vermögen, so daß auch in der Rentenversicherung das Element einer marktorientierten, eigenen Vorsorge zum Tragen kommt und akzeptiert wird. Andererseits ist die Rentenversicherung insbesondere für Einkommensschwache existenzsichernd. Für nahezu die Hälfte der Rentnerhaushalte ist die Rente die einzige Form von Alterseinkommen. Rund 15 Mio. Rentenbeziehern hilft die Rente, ein Einkommen über der Armutsgrenze zu haben.

Die Finanzierung der Rentenversicherung ohne gesetzliche Änderungen ist bis zum Jahre 2011 gesichert; es werden bis dahin sogar Überschüsse erwirtschaftet Die Rentenversicherung hat in der Bevölkerung eine stete, starke Akzeptanz gefunden. Die Beitragsfinanzierung wird befürwortet, da die Beiträge quasi als „Eigentum“ betrachtet werden. Beiträge werden in ihrer Höhe mehrheitlich als angemessen angesehen -im Gegensatz zur Bundeseinkommensteuer und den lokalen Grunderwerbsteuern. Um das Niveau der Rentenleistungen zu halten, wurden stets Erhöhungen von allen anderen Maßnahmen befürwortet Auch in den Jahren der Clinton-Administration mit republikanischen Kongreßmehrheiten blieb die Rentenreformdiskussion außerhalb politischer Kalküle. 2. Krankenversicherung und Gesundheitspolitik Mit Ausnahme der Krankenversicherung für Ältere ab 65 Jahren (Medicare) gibt es in den USA keine gesetzliche, obligatorische Krankenversicherung. Nahezu alle Amerikaner -1995 84, 6 Prozent -haben aber irgendeine Art von Krankenversicherung, die meisten (70, 3 Prozent) eine private, entweder in eigenem Namen oder über Familienangehörige. Von diesen privaten Versicherungen sind 61, 1 Prozent arbeitsplatzbezogen. Die restliche Bevölkerung ist entweder von den staatlichen Versicherungsprogrammen erfaßt oder hat keine Krankenversicherung. Durch Medicare waren 13, 1 Prozent, durch Medicaid, die Krankenversicherung für Arme, 12, 1 Prozent und durch das Militär 3, 5 Prozent versichert. 1995 hatten 15, 4 Prozent oder rund 40, Mio. Personen keinen Krankenversicherungsschutz.

Bei den Personen ohne Versicherungsschutz sind einige Merkmale hervorzuheben. So ist der Anteil der Nichtversicherten unter Jugendlichen zwischen 18 und 24 Jahren mit 28, 2 Prozent erschreckend hoch, während bei den Älteren durch die Medicare-Versicherung der Anteil mit 0, 9 Prozent das andere Extrem bildet. Ferner zeigt sich, daß Schwarze (21), Hispanics (33, 3), weniger Ausgebildete bzw. Teilzeitbeschäftigte (22) und nichteingebürgerte im Ausland Geborene mit 40, 4 Prozent zum Kreis der Nichtversicherten gehören. Bezüglich der arbeitsplatzbezogenen Versicherung gilt, daß größere Firmen eher als kleinere und mittlere Unternehmen einen Krankenversicherungsschutz anbieten. So erhalten etwa Arbeitnehmer in Firmen unter 25 Personen zu 71, 7 Prozent keinen Versicherungsschutz. Von dem gesamten Personenkreis der Nichtversicherten stellen die Armen 27, 1 Prozent.

Neben dem mangelnden Krankenversicherungsschutz besteht ein weiteres Problem in der Unter-versicherung. Das betrifft in unterschiedlicher Weise auch die arbeitsplatzgebundenen privaten Versicherungen. Bei Verlust oder Wechsel des Arbeitsplatzes besteht jeweils das Risiko der Nichtversicherung. Viele kleinere und mittlere Unternehmen bieten keine Versicherung. Der Einzelne bleibt unversichert oder muß sich individuell absichern.

Das Problem der Unterversicherung besteht auch bei der bundesstaatlichen gesetzlichen Krankenversicherung für Ältere ab 65 Jahren. Zum einen ist diese Medicare-Versicherung nur für die stationäre Behandlung (Teil A) eine beitragsfinanzierte Pflichtversicherung (zum Beitragssatz vgl. Tabelle 3). Der ambulante Versicherungsteil (Teil B) ist freiwillig und kann von jedem ab 65 Jahren durch eine von ihm allein zu tragende monatliche Prämie (1996: 42, 50 US-Dollar) abgeschlossen werden. Die Ausgaben der ambulanten Versorgung werden nur zu 25 Prozent durch die Prämienbeiträge gedeckt. Die restlichen 75 Prozent werden vom Bund aus Steuermitteln finanziert. Bei dieser weitreichenden öffentlichen Subventionierung ist es nicht erstaunlich, daß über 95 Prozent der Älteren auch diesen Teil der Alterskrankenversicherung in Anspruch nehmen.

Aber sowohl bei der stationären als auch bei der ambulanten Versorgung gibt es keine volle Kostendeckung. Die Versicherung war von Anfang an auf Selbstbeteiligung angelegt und schuf so einen privaten Zusatzversicherungsmarkt. Nach Schätzungen der Medicare-Treuhandverwaltung steigen ohne Reformen die Ausgaben von 2, 7 Prozent am BIP im Jahr 1996 auf 8, 1 Prozent am BIP im Jahr 2050. Vorläufig ist noch keine Strategie zur Kostendämpfung bei den staatlichen Gesundheitsprogrammen (Medicare und Medicaid) in Sicht, deren Anteil an den gesamten Gesundheitsausgaben 1995 bei 36, 1 Prozent Tag und weiterhin höhere Wachstumsraten als die privaten Krankenversicherungen aufweist.

Wie bei der Rentenversicherung so zeichnet sich auch bei den Bundesgesundheitsprogrammen vorläufig noch kein konsensfähiges Reformmodell ab, aber alle diskutierten Optionen schließen eine staatlich mitfinanzierte Konsolidierung aus; sie setzen bei marktorientierten privaten Vorsorgeinstrumenten an. In keinem Fall geht es um die Abschaffung der Social Security, aber auch nicht um deren Ausbau, sondern um den Erhalt des -gemessen an der Beitrags-und Leistungshöhe und dem Leistungsumfang -geringen Niveaus beider Programme. Da es in der Rentenversicherung noch nie Bundeszuschüsse gegeben hat, wird sich dieses Thema nur im ambulanten Teil von Medicare stellen, wo der Streit eigentlich nur noch um die Höhe der Subventionskürzung geht. Die Versuche der Clinton-Administration in der ersten Amtszeit zu einer umfassenden Gesundheitsreform sind weitgehend gescheitert.

Präsident Clinton wählte mit seinem Reformplan einen mittleren Weg zwischen konservativ-marktorientierten und liberalen, auf eine Steuerfinanzierung abhebenden Vorschlägen einer Krankenversicherungsreform 6. Clintons Plan baute auf das vorhandene privat-öffentliche System von Versicherung und Gesundheitsversorgung auf. Die Einführung einer national einheitlichen, beitragsfinanzierten Pflichtversicherung stand nicht zur Debatte. Grundlage für den Ausbau zu einem allgemeinen Versicherungsschutz sollte weiterhin die arbeitsbezogene, von den Arbeitgebern angebotene Krankenversicherung sein. Neu und alsSchlüsselmechanismus gedacht, war die Einführung von regional von den Einzelstaaten zu organisierenden und von einer neuen Bundesbehörde zu beaufsichtigenden Trägern der Krankenversicherung. Für dieses Konzept gab es Vorbilder weder in der bundes-noch einzelstaatlichen Sozialgesetzgebung, so daß es den Promotoren in der Clinton-Administration weder gelang, es in der Öffentlichkeit ausreichend zu erklären, noch die Vorwürfe zu entschärfen, daß dadurch neue, mächtige „Nebenregierungen“ entstehen würden. Bei der Kostendämpfung vertraute der Plan auf den administrativ initiierten Wettbewerb und die Leistungsund Abrechnungskontrolle, sowie auf die erwarteten Einsparungen aus den Medicare-und Medicaid-Programmen, da deren Empfänger in die neuen Versorgungsprogramme integriert werden sollten. Es gab eine breite, durch Umfragen ermittelte öffentliche Befürwortung für eine Gesundheitsreform, insbesondere in bezug auf einen umfassenden Versicherungsschutz für alle Amerikaner.

Verglichen mit der Situation im New Deal, wo u. a.der Erfolg der Einführung der Sozial(renten) versicherung darauf zurückzuführen war, daß man politische Freiräume vorfand, gab es in den neunziger Jahren ein privat-öffentliches System der Gesundheitsversorgung mit interessenpolitisch geschützten Besitzständen und ein seit den achtziger Jahren anhaltendes Meinungsklima gegen bundesstaatliche Regulierungen Reformen der Gesundheitsversorgung ja, aber ohne „big government“. Diese in den Umfragen sich widerspiegelnde Ambivalenz der Mehrheitsmeinung übersetzt sich in den politischen Entscheidungsprozeß, der institutionell so angelegt ist, daß umfassende Politikkonzeptionen keine Chance haben.

Wieder einmal hat der Kongreß selbst die Sache in die Hand genommen und schließlich einen Kompromißentwurf vorgelegt, der im Juli 1997 Gesetz wurde. Die wichtigsten Vorschriften des Gesetzes zielen auf Verbesserungen der Situation der Arbeitnehmer, also derjenigen, die Arbeit haben, ohne an dem Modell des arbeitgeberbezogenen, über den privaten Versicherungsmarkt organisierten Krankenversicherungsschutzes etwas zu ändern und ohne das Problem der Nichtversicherten zu lösen. Kernbestimmung ist die vorgesehene Garantie gegen einen Versicherungsverlust bei Arbeitsplatzwechsel. Fortan muß Arbeitnehmern, die einen Arbeitsplatz mit Krankenversicherung hatten, beim neuen Arbeitsplatz sofort wieder Krankenversicherungsschutz gewährt werden, soweit das Unternehmen einen solchen auch bislang anbietet. Ansonsten muß man eine Privatversicherung abschließen, die allerdings ein Versicherungsunternehmen nicht verweigern kann, soweit der Arbeitnehmer vorher versichert war. Es wird geschätzt, daß dadurch ca. 25. Mio. Amerikanern die Angst vor dem Verlust des Krankenversicherungsschutzes genommen wird.

Der sechsjährige Reformprozeß endete also mit Verbesserungen im gegebenen System. Die Absicht der Clinton-Reform, die Versorgungs-und Versicherungsprobleme der Einkommensschwachen und Nichtversicherten durch die Integration der Medicaid-und Medicare-Programme mitzulösen, ist mißlungen. Es hat sich abermals bestätigt, daß es in Politik und Gesellschaft der USA keine Unterstützung dafür gibt, durch Sozialversicherungen oder staatliche Regulierungen privater Sicherungssysteme vorhandene Einkommens-und Armutsprobleme zu bewältigen. 3. Die Unfall-und Arbeitslosenversicherung Die Renten-und Krankenversicherung für Ältere bilden den Kern des Sozialversicherungssystems. Sie sind die einzigen national einheitlichen beitragsfinanzierten Pflichtversicherungen. Die Berufsunfall-und die Arbeitslosenversicherung fallen in die Gesetzeskompetenz der Einzelstaaten. Jeder Staat hat seine eigenen Gesetze, die in hohem Maße unterschiedlich sind.

Die Unfallversicherung ist die älteste Sozialversicherung. 88 Prozent der Arbeitnehmer sind von der Unfallversicherung erfaßt. Die Finanzierung erfolgt allein durch den Arbeitgeber nach dem Prinzip, daß die Kosten von Berufsunfällen Bestandteil der Unternehmenskosten sind. Die von den Arbeitgebern zu zahlenden Versicherungsprämien lagen in den neunziger Jahren durchschnittlich bei 2, 36 Prozent der Lohnsumme. Im Gegensatz zur Arbeitslosenversicherung ist der Bund an der Unfallversicherung nicht beteiligt, weder durch Finanzbeihilfen noch durch den Erlaß von Rahmenrichtlinien.

Die Arbeitslosenversicherung beruht auf einem sich ergänzenden Bund-Staaten-Programm. Dem Bund obliegt die Finanzverwaltung aller einzelstaatlichen Systeme, für die er auch die Verwaltungskosten trägt. Ferner gibt er Finanzhilfen für Langzeitarbeitslose. Ansonsten liegt die Verantwortung bei den Einzelstaaten, sowohl hinsichtlich der Höhe und Dauer des Arbeitslosengeldes wie auch der Festlegung von Wartezeiten und Beschäf-tigungsdauer als Anspruchsvoraussetzung. Obwohl 97 Prozent der Lohn-und Gehaltsempfänger versichert sind, erhält aufgrund der Anspruchsvoraussetzungen immer nur ein Teil der Arbeitslosen Arbeitslosengeld. Waren es in den siebziger Jahren noch rund 41 Prozent, betrug der Anteil 1988 nur noch 31 Prozent; 1996 lag die Rate wieder bei 40 Prozent. Die Unterschiede zwischen den Einzelstaaten können erheblich sein -in bezug auf die Mindestarbeitszeit als Anspruchsvoraussetzung (zwischen 14 und 20 Wochen), die Anspruchs-dauer (allgemein 26 Wochen als Obergrenze im Vergleich zu 52 Wochen in Deutschland) und die Höhe des Arbeitslosengeldes (durchschnittlich 50 Prozent des Nettolohnes). Höhe und Dauer des Arbeitslosengeldes können insgesamt als gering angesehen werden.

Da es keine Arbeitslosenhilfe im Anschluß an das Auslaufen des Arbeitslosengeldes gibt, sind die Arbeitslosen, insbesondere die Langzeitarbeitslosen, auf die Sozialhilfe angewiesen. Allerdings kann es in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit Sonder-programme für einzelne Staaten geben, die eine Leistungsverlängerung um 13 Wochen vorsehen. Diese werden je zur Hälfte vom Bund und von den Einzelstaaten aus Steuern finanziert. Die Versicherung bietet daher nur für einen Teil der Arbeitslosen einen kurzfristigen Schutz gegen den Einkommensverlust, und man bleibt auf die Erfolge arbeitsmarkt-und wirtschaftspolitischer Maßnahmen sowie die Eigeninitiative bei der Arbeitssuche angewiesen. Der Druck zur Eigeninitiative und die Bereitschaft zur Mobilität bei der Arbeitssuche sind als sehr hoch einzuschätzen, was zum großen Teil auf soziokulturelle Unterschiede in der Einstellung zur Arbeit und zu staatlicher Hilfe zurückzuführen ist.

IV. Welfare -Sozialhilfeleistungen und Soziaihilfepolitik*

Den bisher beschriebenen Bereichen sozialer Sicherung lag das Versicherungsprinzip zugrunde. Sozialhilfeleistungen sind steuerfinanziert und beruhen auf dem Fürsorgeprinzip. Sie lassen sich anders als bei der Renten-und der Krankenversicherung für Ältere nicht an Eigenleistungen in Form von Beiträgen zurückbinden und sind daher stärker dem Vorwurf ungerechter Einkommens-umverteilung ausgesetzt.

Das 1935 mit dem Social Security Act eingeführte System von Bundessozialhilfeprogrammen wurde seither kontinuierlich ausgebaut. Einkommensschwache Einzelpersonen und Familien sind die Adressaten. Die Programme sehen Geld-und Sachleistungen vor, diese sind einkommensabhängig und unterliegen vielfachen, unterschiedlichen Anspruchskriterien. Eine der letzten größeren Untersuchungen über Umfang und Anzahl der Bundessozialhilfeprogramme aus dem Jahr 1993 ergab einen Bestand von rund 80 verschiedenen einkommensabhängigen Sozialhilfeprogrammen mit Ausgaben von 223 Mrd. US-Dollar. Der Anteil dieser Bundesausgaben am Bundeshaushalt betrug rund 16 Prozent. 145 Mrd. US-Dollar oder rund 65 Prozent der Gesamtausgaben entfielen auf die fünf wichtigsten Programme: Medicaid, Food Stamps, AFDC, Supplemental Security Income (SSI) und Housing Assistance

In der Reihenfolge der Nennung entfielen auf das Medicaid-Programm (Krankenbeihilfe für Arme) die meisten Ausgaben, gefolgt vom Food Stamps-Programm (Ernährungsbeihilfe), dem SSI-Programm (Einkommensbeihilfe für Alte, Blinde und Behinderte) und schließlich dem AFDC-Programm (Einkommensbeihilfen für Familien mit minderjährigen Kindern). AFDC und SSI stellen Geldleistungen, Medicaid und Food Stamp Sachleistungen zur Verfügung.

Diese Programme werden (mit Ausnahme von SSI) gemeinsam vom Bund und den Einzelstaaten finanziert und verwaltet; sie bilden das wichtigste soziale Netz für die Armen und Bedürftigen. Da die Einzelstaaten bei den Programmen ihrerseits einen Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung behalten haben, gibt es erhebliche Unterschiede in der Leistungsgewährung. Wer von diesem Netz nicht erfaßt wird, ist auf ergänzende Sozialhilfe-programme der Staaten und Gemeinden angewiesen, im allgemeinen als General Assistance bezeichnet. Bei diesen ist die Verschiedenartigkeit von Staat zu Staat und von Gemeinde zu Gemeinde noch größer. Dieses letzte Sicherheitsnetz für diejenigen, die aufgrund der Anspruchs-voraussetzungen von den Bundesprogrammen nicht erfaßt werden, ist äußerst unzureichend.

Diese Sozialhilfeleistungen waren und sind sehr umstritten -und alles andere als populär Es ist deshalb abermals angebracht, den relativ geringen Umfang an Bundesausgaben für den Sozialhilfe-bereich in Erinnerung zu rufen. Das gilt insbesondere für das AFDC-Programm. mit dem sich die negative Bedeutung von welfare verbindet. An den 80 Sozialhilfeprogrammen haben die AFDC-Hilfen nur einen Ausgabenanteil von 6, 2 Prozent. Die noch darzustellende Sozialhilfereform von 1996 betraf hauptsächlich das AFDC-Programm, das nun Temporary Assistance for Needy Families -TANF-heißt. 1. Fanlilienbeihilfen -Vom AFDC-zum TANF-Programm Es gibt in den USA keine umfassende und einheitliche Familienpolitik, kein Kindergeld oder andere Formen eines Familienlastenausgleichs. Es gibt lediglich ein Bundesgesetz über einen Mutterschaftsurlaub mit Arbeitsplatzgarantie. Das Gesetz gilt nur für Unternehmen mit mindestens 50 Beschäftigten, und die Freistellung erfolgt unter Lohnverzicht. Vorherrschend bei der Familienbeihilfe ist, wie bei allen Sozialhilfeleistungen insgesamt, die individuelle, einzelfallbezogene Ausrichtung auf einen bestimmten Personenkreis. Die Reform von 1996 wird auch weiterhin den gleichen Personenkreis als Adressaten haben, so daß eine Darstellung des bisherigen AFDC-Programms und seiner Ausrichtung Einblicke in diesen Teil einer marginalisierten Armutsgruppe der Bevölkerung gibt.

Zwischen 1975 (11, 1 Mio.) und 1994 (14, 2 Mio.) ist die Empfängerzahl ständig gestiegen. Von 1994 bis 1995 gab es dann erstmals einen Rü 1 Mio.) und 1994 (14, 2 Mio.) ist die Empfängerzahl ständig gestiegen. Von 1994 bis 1995 gab es dann erstmals einen Rückgang um zehn Prozent auf 12, 9 Mio. Personen. Trotz des Anstiegs der Empfängerzahlen von AFDC-Leistungen über die Zeit sind die Ausgaben von 1975 (23, 9 Mrd. US-Dollar) bis 1994 (22, 7 Mrd. US-Dollar) gesunken. Ebenfalls gesunken ist die Höhe der Leistungen, und zwar um 45 Prozent in den beiden letzten Jahrzehnten. Schließlich hat sich auch nichts an der unterschiedlichen Leistungshöhe in den einzelnen Bundesstaaten geändert. 1994 erhielten AFDC-Empfänger in Mississippi 120 US-Dollar monatlich, in Alaska waren es 923 US-Dollar 10.

Das Profil der Sozialhilfeempfänger zeigt, daß es einerseits um zerrüttete Familien geht, daß es sich ferner um eine Hilfe für alleinstehende Mütter handelt, aber der Empfängerkreis nicht homogen ist, was oft behauptet wird und zu unrealistischen Einschätzungen führt. Die AFDC-Empfängerhaushalte bestanden 1993 zu 87 Prozent aus allein-stehendenFrauen (1995 waren es 90 Prozent). Die meisten „AFDC-Mütter“ verteilten sich auf die Altersklasse von 20 bis 30 Jahren, nur 6, 3 Prozent waren jünger als 20, entgegen einer verbreiteten Ansicht. Nahezu der gleiche Anteil der Empfänger ist weiß und schwarz. Oft wird angenommen, daß es sich vorwiegend um schwarze handelt. Auch beim Bildungshintergrund können verzerrende Wahrnehmungen korrigiert werden, da sich zeigt, daß über die Hälfte einen High School-oder College-Abschluß hatte. Des weiteren gilt, daß die durchschnittlichen „AFDC-Familien“ weniger als zwei Kinder haben, was dem Bevölkerungsdurchschnitt entspricht. Zur Dauer der Inanspruchnahme von Sozialleistungen ist festzustellen, daß ein großer Teil der , AFDC-Mütter‘ die Sozialhilfe über lange Zeit in Anspruch nehmen. Nahezu die Hälfte hat Hilfe von über fünf Jahren bekommen. Nur rund 30 Prozent lagen unter einem Zeitraum von zwei Jahren. In der öffentlichen Debatte hat dieser Befund von Langzeithilfe immer eine große Rolle gespielt.

Als Präsident Clinton im August 1996 das neue Sozialhilfereformgesetz unterzeichnete 11, wurde vom Ende einer sechzigjährigen Bundessozialhilfepolitik gesprochen. Das ist insofern richtig, als der Kern der Reform, nämlich das Ende des AFDC-Programms (Sozialhilfe für einkommensschwache Familien mit Kindern), angesprochen wird. Es war stets Ausdruck von hohen Erwartungen und Verteufelungen einer staatlichen „welfare“ -Politik. Die Bedeutung der Reform liegt weniger im anvisierten Einsparungspotential als in der ideologisch-programmatischen Abkehr vom liberal-demokratischen Bild einer bundesstaatlichen sozialen Verantwortung.

Das AFDC-Programm wird abgelöst durch ein neues Programm mit dem Namen „Temporary Assistance for Needy Families (TANF)'“. Die Staaten sind bei TANF nun allein zuständig. Der Bund beteiligt sich mit reduzierten pauschalen Finanz-beihilfen („ block grants“); das bedeutet, daß die Einzelstaaten nun fast die vollständige Kontrolle über die Festlegung der Anspruchskriterien und die Leistungshöhe haben. Auch das TANF-Programm wird vor allem ein Armutsprogramm für junge Mütter bleiben. Ein Blick in die Armutsstatistik zeigt, daß die Altersarmut, wie bereits erwähnt, gesunken, die Kinder-und Jugendlichen-armut seit Mitte der siebziger Jahre gestiegen ist. Mit dem neuen TANF-Programm ist die bislang vorherrschende Anschauung, daß Armut durch Einkommensunterstützung beseitigt werden kann, abgelöst worden durch die Sicht der Sozialhilfe als Instrument der sozialen Kontrolle und sozialen Erziehung -ein Ansatz mit traditionellen Wurzeln in der Sozialpolitik der Wohlfahrtsverbände des 19. Jahrhunderts, der seit der Reagan-Administration als alternative Strategie offen und öffentlich diskutiert wurde. Damit dürfte der Weg, die Sozialhilfe als ein universalistisches, national einheitliches und mit einem Rechtsanspruch versehenes Sicherungsprogramm auszubauen, zukünftig versperrt sein Die moralisch-ethische (Familie) und marktorientierte (Beschäftigung) Zielkoppelung in der Clintonschen Sozialreform entspricht dem amerikanischen Leitbild eines minimalistischen Wohlfahrtsstaates. 2. Andere Sozialhilfen Das 1965 eingeführte Medicaid-Programm finanziert die Krankenversorgung von einkommensschwachen Personen. Zum Empfängerkreis gehören vor allem arme Frauen, Kinder, Ältere, Blinde und Behinderte. 1996 waren es 37 Mio. Personen. Das Programm sieht eine Staaten-Bund-Mischfinanzierung vor. Jedes Medicaid-Gesetz der Einzelstaaten ist verschieden. Die Staaten haben einen großen Ermessensspielraum bei der Programmdurchführung, was sich auch auf Leistungsumfang, Leistungshöhe und die Kriterien der Leistungsberechtigung erstreckt. Betrachtet man die Empfängergruppen näher, dann zeigt sich, daß das Medicaid-Programm hauptsächlich ein Krankenversorgungsprogramm für arme ältere Personen über 65 ist, die mit Medicaid ihre aus dem Medicare-Programm nicht erstatteten Kosten abdekken, sowie für Blinde und Behinderte. Obwohl dieser Personenkreis nur rund ein Viertel der Empfänger repräsentiert, verursacht er über zwei Drittel der Gesamtausgaben.

Das Medicaid-Programm soll die Gesundheitsversorgung der Armen sichern, vor allem jener, die keine Krankenversicherung haben. Aber nur rund 47 Prozent aller Armen erhalten Krankenschutz durch Medicaid. Insgesamt haben 30, 2 Prozent der Armen keine Krankenversicherung (1995). Hiervon sind wiederum die Kinder, aber nicht die Älteren betroffen. Von den unter 18jährigen Armen hatten 21, 4 Prozent und bei denen in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 43, 2 Prozent keinen Versicherungsschutz.

Durch Reformen Ende der achtziger Jahre wurden die Anspruchskriterien von Medicaid erleichtert. Die Ausdehnung des Medicaid-Schutzes bezieht sich auf die arbeitenden Armen („working poor“), aber nicht auf die Eltern, sondern lediglich auf deren Kinder -wiederum ein Hinweis auf die Besonderheit von Unterstützungswürdigkeit im Sozialhilfebereich. Während der Sozialhilfereform von 1996 versuchten die Republikaner, nicht zuletzt wegen der finanziellen Expansion des Programms, Medicaid in ein „block grant“ -Programm umzuwandeln, also wie bei der Familienhilfe (TANF) die Bundesgarantie für den Kranken-schutz der Armen zu beenden und sich nur noch mit reduzierten jährlichen Pauschalzuweisungen daran zu beteiligen.

Nicht zuletzt mit der Begründung der weiterhin notwendigen Hilfe für unversicherte Kinder in arbeitenden Familien, denen eine Garantie für eine Krankenversorgung gegeben werden muß, hat Präsident Clinton mit einem Veto gedroht. Die Medicaid-Vorschriften wurden so, um nicht auch noch das Scheitern der Sozialhilfereform zu riskieren, zurückgezogen. Trotz der einschneidenden Reform bei der Familienbeihilfe gibt es, so hat sich bei Medicaid und der Vorschulerziehung (Head Start) gezeigt, zumindest bei der Kinderfürsorge keinen Abbau von Sozialleistungen. Der Gesamt-blick auf das fragmentierte Sozialhilfe-und allgemeine Sozialleistungssystem sollte erhalten bleiben. Das 1964 eingeführte Ernährungshilfeprogramm in der Form der Zuteilung von Lebensmittelmarken ist ausgerichtet auf einkommensschwache Familien, um eine ausreichende und gesunde Ernährung zu gewährleisten und Hunger auszuschließen. Das Programm wird vom Bund nach national einheitlichen Kriterien zentral verwaltet und finanziert. Die Staaten beteiligen sich an den Verwaltungskosten und übernehmen die Durchführung. Nahezu alle Empfängerhaushalte (90 Prozent) leben unter der Armutsgrenze. Über die Hälfte der Empfänger sind Kinder. Das sind gleichzeitig auch meistens Haushalte, die Familienhilfe (AFDC) beziehen. Arbeitsfähige Erwachsene zwischen 16 und 60 Jahren müssen den Nachweis erbringen, daß sie Arbeit suchen, bereit sind, bestimmte Arbeiten zu akzeptieren, und/oder an Beschäftigungs-bzw. Ausbildungsprogrammen teilnehmen. Arbeitsfähige Erwachsene ohne Kinder können nur drei Monate in einem Zeitraum von 36 Monaten diese Hilfe erhalten. Legale Immigranten sind vom Bezug der Lebensmittelhilfe ausgeschlossen. Das Ernährungsprogramm bleibt eine Besonderheit der amerikanischen Sozialhilfe. Bislang, und so auch während der Debatten zur Sozialreform von 1996, gab es keinerlei ernsthafte Versuche, das Programm abzuschaffen, obwohl sein Beitrag zur Armutsbekämpfung umstritten ist.

Die ergänzende Einkommenssicherungsbeihilfe -Supplemental Security Income (SSI) -hat zum Ziel, das Einkommen einkommensschwacher Personen zu ergänzen, um einen Mindestlebensstandard zu sichern. Anspruchsberechtigte sind Personen im Alter von über 65 Jahren, ferner Personen in jedem Alter, die blind oder behindert sind und deren Einkommen ebenfalls unterhalb einer bestimmten Grenze liegt. Es ist ein vom Bund allein getragenes, steuerfinanziertes Programm. Die Einzelstaaten haben die Möglichkeit, die Leistungen zu ergänzen. In 48 Staaten geschieht dies. Anfangs lag der Schwerpunkt auf der Einkommensunterstützung für Ältere. Zwischenzeitlich ist SSI aber zu einem Sozialhilfeprogramm für Behinderte geworden. 75 Prozent der Empfänger erhielten 1994 ihren Anspruch aufgrund einer Behinderung. Leistungen an diese Gruppe machen nahezu 80 Prozent der Gesamtleistungen aus.

Die Steuerbeihilfen für einkommensschwache Arbeitnehmer -Earned Income Tax Credit (EITC) -wurden 1975 eingeführt. Dieses Programm sollte zwei langfristige Ziele erreichen: zum einen die Last der Sozialversicherungsbeiträge für untere Einkommensbezieher mit Familie auszugleichen und zum anderen unteren Einkommensbeziehern mit Familie einen Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu geben, um so das Abgleiten in die Sozialhilfe zu verhindern. Im Kern handelt es sich um die staatliche Subventionierung von Niedriglöhnen, indem bis zu einer festgelegten Einkommensschwelle Steuernachlässe gewährt werden. Die arbeitenden Armen („working poor“) sollen Arbeit statt Sozialhilfe (welfare) wählen. Es handelt sich um eine Art von negativer Einkommsteuer. Ein Instrument, das auch in Deutschland immer wieder als mögliches Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit diskutiert wird.

Das EITC-Programm hatte immer eine breite Unterstützung, so auch bei der Reform von 1995, wo es republikanische Mehrheiten in beiden Häusern des Kongresses gab. Das Programm wurde seit der Einführung durch Präsident Ford von allen anderen Präsidenten unterstützt. Während der Sozialhilfereformdebatte von 1996 gab es keine Bedrohung des EITC-Programms. Die vorgetragene Kritik bezieht sich insbesondere auf die Gefahr einer Ausweitung von Niedriglohn-und Teilzeitarbeitsplätzen. Diese Argumente und die besondere Struktur der Arbeitsbeziehungen haben in Deutschland bislang eine Einführung dieser Maßnahme nicht ermöglicht. Das EITC-Programm gilt inzwischen, zumindest in der wissenschaftlichen Diskussion, als zukunftsträchtige Alternative zu den traditionellen Sozialhilfe-programmen, da es am ehesten „politische Koalitionen“ hinter sich hat Hingegen dürften Vorschläge zu einer einheitlichen Grundversorgung im Sinne eines in Deutschland diskutierten „Bürgergeldes“ kaum Chancen einer politischen Durchsetzung haben

V. Ehrenamtlichkeit und Partizipation -die heimliche Dimension von Wohlfahrt ohne Staat

Das amerikanische Bild einer „nation of joiners“, einer Nation, die sich über politische und zivil-bürgerliche Vereinigungen („associations“) zusammenfindet, um gemeinsam die gesellschaftlichen Probleme zu lösen, ist in den neunziger Jahren (abermals) in Frage gestellt worden. Eine Abnahme des politischen und gesellschaftlichen Engagements wurde diagnostiziert Derartige Entwicklungen wären für die USA besonders gravierend, würde sich doch bei der weiterhin vorherrschenden antistaatlichen Haltung in der Bevölkerung eine Lücke bei der Bewältigung gesellschaftlicher und sozialer Probleme auftun. Von einer diesbezüglichen Partizipationslücke freiwilliger, ehrenamtlicher Betätigung („voluntarism“) kann aber nicht gesprochen werden. Das gilt sowohl hinsichtlich ehrenamtlicher Tätigkeit im engeren politischen Bereich, der hier nicht im Mittelpunkt steht, als auch im sozialen und gesellschaftlichen Bereich allgemein So ergab eine jüngere Untersuchung, daß 68 Prozent der Amerikaner einer nichtpolitischen Vereinigung verbunden sind, entweder als Mitglied oder als Spender. Die USA sind ein ausgesprochen religiöses Land, in dem es niemals eine Staatskirche gegeben hat, aber zahlreiche religiöse Glaubensgemeinschaften, die neben der Schule und der Familie seit jeher zu den wichtigsten Sozialisationsinstanzen zählten, in denen gesellschaftliches und politisches Engagement sowie Verantwortung ein-geübt wurden und werden.

Die Bedeutung von nichtpolitischen Vereinigungen in der amerikanischen Gesellschaft läßt sich auch gut durch einen internationalen Vergleich belegen. Es zeigt sich, daß ein höherer Anteil der Amerikaner Mitglied in gesellschaftlichen, gemeinnützigen Vereinigungen („voluntary associations“) im allgemeinen und in religiösem im besonderen ist. 82 Prozent der Amerikaner sind zumindest Mitglied in einer Vereinigung. Ebenfalls sind die Amerikaner eher bereit, in diesen Vereinigungen ehrenamtlich mitzuarbeiten, als die Bevölkerung anderer Länder. Drei Fünftel geben an, ehrenamtliche, unbezahlte Arbeit zu verrichten.

Im Bereich sozialer Wohltätigkeit zeigt sich kein Rückzug der Unterstützungsbereitschaft, weder bei der aktiven Mitarbeit noch bei der Spendenbereitschaft. Im Gegenteil ist von 1977 bis 1995 der Prozentsatz derjenigen, die sozial aktiv geholfen haben („charity or social service activities“), wie z. B. in der Armen-, Kranken-oder Altenhilfe, auf 54 Prozent gestiegen. Der Charity-Bereich gehört zu denjenigen Bereichen, die vor allem Unterstützung durch Spenden erhalten. Zu 80 Prozent unterstützen diejenigen, die sich mit den Wohlfahrtsorganisationen verbunden fühlen, diese durch Spenden. Der Begriff „Charity“ wird oft auch weiter gefaßt als nur im Sinne sozialer Sachund Dienstleistungen. In diesem engeren Sinne ist es der Bereich, der nach den religiösen Organisationen die meisten Spenden erhält, hier aber oft mit dem Schul-und Bildungsbereich konkurriert. Wenn nahezu die Hälfte der Spenden an den religiösen Bereich geht, so sollte nicht vergessen werden, daß in diesem ebenfalls soziale und bildungsbezogene Hilfen gegeben werden. Insgesamt hat die Spendenbereitschaft stark und stetig zugenommen, wobei weiterhin die meisten Spenden von Einzelpersonen kommen. Der Sektor gemeinnütziger Organisationen („Nonprofit Organizations") ist insgesamt angestiegen. 1987 gab es 939 105 und 1990 waren es 1 024 648

Neben der Arbeit in sozialen Wohlfahrtsorganisationen stellt die Schule einen weiteren traditionellen Bereich ehrenamtlicher Tätigkeit dar. Ebenso gehört die gemeindebezogene, ehrenamtliche Arbeit von Schülern zum Traditionsbestand. Teilweise ist sie in den Lehrplan der Schulen einbezogen. Ehrenamtlichkeit und bürgerliches Engagement haben weiterhin einen hohen Stellenwert in der amerikanischen Gesellschaft. Die Wurzeln gehen bis auf die Gründung der USA zurück und haben im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erfahren. Heute kann die private Wohlfahrtstätigkeit sicherlich nicht mehr die staatlichen sozialpolitischen Maßnahmen ersetzen, wohl aber ergänzen. Gegenwärtig kommt es zu einer Neubelebung der privaten Partizipation. Teilweise sollen dadurch Lücken geschlossen werden', die durch die oben besprochene Sozialhilfereform entstanden sind. Die amerikanische Sozialpolitik ist immer gleichzeitig staatliche und gesellschaftliche Sozialpolitik. Zum Verständnis der amerikanischen Situation ließe sich sagen, daß staatliche sozialpolitische Maßnahmen nur dadurch möglich werden und so auch Anerkennung finden, weil es einen Bereich gesellschaftlicher sozialer Selbstorganisation gibt. Damit sind aber auch die öfters erwähnten bundespolitischen Grenzen sozialpolitischer Tätigkeit angesprochen.

VI. Perspektiven der Zukunft

Der kurze Überblick über die amerikanische Sozialpolitik könnte dazu verleiten, ein düsteres Bild über den gegenwärtigen Zustand der amerikanischen Gesellschaft zu zeichnen. Immer wieder wird erklärungsbedürftig, worauf die Stabilität des amerikanischen Systems zurückzuführen ist. Unabhängig von sozialpolitischen Fragen hilft hier ein Blick auf die allgemeine Befindlichkeit der amerikanischen Bevölkerung.

Jenseits ihrer negativen Bewertung der Leistungen der Bundesregierung sind die meisten Amerikaner nicht unglücklich über ihr Leben. Die Zukunftsaussichten werden positiv eingeschätzt. In einer Umfrage von 1994 zum „American Dream“ äußerten sich 81 Prozent der Amerikaner optimistisch über ihre persönliche Zukunft. 74 Prozent waren der Meinung, daß, wer hart arbeite, alles erreichen könne, und 72 Prozent glaubten daran, daß man als Amerikaner immer Wege finden werde, die vorhandenen Probleme zu lösen. In einer anderen Umfrage aus dem gleichen Jahr unterstützten 78 Prozent der Amerikaner die Ansicht, daß die Stärke des Landes vor allem auf dem Erfolg der amerikanischen Wirtschaft beruhe. Die meisten Amerikaner bleiben äußerst patriotisch und religiös und glauben daran, daß sie in der besten Gesellschaft der Welt leben, die ihnen persönliche Chancen und wirtschaftliche Sicherheit bietet. Der amerikanische Traum lebt also noch, und von daher ist die Feststellung wohl berechtigt, daß trotz allem Mißtrauen gegenüber der Regierung das politische System nicht in Gefahr ist

Eine ähnliche Beständigkeit zeigt sich bei den Werten, mit denen man den Kern der amerikanischen Ideologie zu erfassen versucht. Im Zentrum steht ein weitreichender Individualismus. Unterstützt wird privates Eigentum, Gleichheit der Chancen, aber nicht der Resultate. In der Politik geht es um individuelle Freiheit und einen minimalen Staat. In der Gesellschaft geht es um die Gleichheit der Person. Wichtig ist, was man tut, und nicht die soziale Herkunft. Soziale Rangordnungen werden abgelehnt. Beispielsweise hat niemand etwas dagegen, wenn jemand viel Geld hat. Nicht akzeptiert aber wird, wenn jemand meint, besser als ein anderer zu sein. Festzustellen ist insgesamt also ein Betonen der individuellen Fähigkeiten und der persönlichen Verantwortung, getragen von einer Anerkennung der moralischen Gleichheit des einzelnen. Das weitgehende Fehlen von Sozialneid wird so verständlich. Daraus ergeben sich komplexe Verhaltensweisen, die aber, hinterfragt man sie, durchaus mit dem Wertesystem übereinstimmen. Beispielsweise lehnen die meisten Amerikaner die Bundessozialhilfe ab bzw. sind gegen deren Erhöhung. Das heißt aber nicht, daß die Amerikaner unsozial oder unmenschlich gegenüber Armen sind. In einer diesbezüglichen Umfrage waren über zwei Drittel der Befragten der Meinung, daß zu wenig für die Unterstützung von Armen getan werde. Da Sozialhilfe (welfare) im Zusammenhang mit fehlender persönlicher Anstrengung und Verantwortung arbeitsfähiger Personen gesehen wird, ergeben sich so die schlechten Noten. Man glaubt nicht an den Erfolg der bundesstaatlichen Sozialhilfe. Das heißt aber eben nicht, daß es keine Bereitschaft zur Unterstützung von Bedürftigen und Armen gibt

In Deutschland wird sehr oft und gerne über die Armutsproblematik in den USA berichtet Man kann sie beschreiben und interpretieren, aber wohl kaum angemessen ohne Beachtung der besonderen amerikanischen Rahmenbedingungen in Politik und Gesellschaft bewerten. Es sei denn, man will die moralischen Grundlagen unserer Maßstäbe verbindlich machen. Oft entsteht auch der Eindruck, als sei welfare gleich amerikanische Sozialpolitik. Die amerikanische Gesellschaft unterscheidet sich in sozialer Hinsicht von den europäischen Gesellschaften. Auch das Verständnis gesellschaftlicher Solidarität ist ein anderes. Gemeinschaftsnormen passen nicht zur amerikanischen Gesellschaft. Die Grundlage von Solidarität, so ein vorgeschlagener Begriff, ist der moralische Individualismus („moral individualism“) Das freie und gleiche Individuum mit moralischer Verantwortung ist die Basis „gemeinschaftlicher Solidarität“. Gemeint ist also, daß in der pluralistischen Gesellschaft Amerikas Gemeinschaftssinn im Individuum als denkendem, moralischem Akteur verankert ist und nicht in einer abstrakten Gruppensolidarität.

An dem konservativen Versuch, gesellschaftlich-moralische Fragen durch Bundesgesetze zu regeln, läßt sich gut das Fundament der liberalen Gesellschaft und der liberalen Demokratie verdeutlichen. Bis in die achtziger Jahren hätte kein Konservativer daran gedacht, Familienwerte (Ehescheidung, Kindererziehung, Abtreibung) durch Washington regeln zu lassen. Sozial-moralische Fragen waren Angelegenheit des gesellschaftlichen und politischen Prozesses auf Staaten-und lokaler Ebene. Daher ist auch der Trend zur Rückverlagerung von bundesstaatlichen Programmen in die Einzelstaaten akzeptabel.

Die Verteilung von Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Aktivitäten zwischen Einzelstaaten und Bund auf der einen Seite und zwischen privaten und staatlichen Organisationen auf der anderen ist immer noch stark ausgeprägt. Eine ausschließliche Betrachtung und Analyse der Bundespolitik übersieht die lokalen Verwurzelungen und Strukturen sozialer und politischer Beteiligungsformen und Aktivitäten. Im Vergleich zu Europa bleiben auf Einzelstaaten-und Bundesebene staatliche Eingriffe begrenzt („limited government“). Das entspricht nicht nur der Ver-fassungskonzeption, sondern findet auch Unterstützung in der Gesellschaft. Wenig Zwang und Verpflichtung durch staatliches Handeln, dafür viel Freiheitsräume, Chancen und Anreize prägen das Bild von einer liberalen Gesellschaft, in der die unterschiedlichsten kulturellen, ökonomischen, politischen und religiösen Gruppierungen ihre Anerkennung finden von daher gibt es auch weniger Vereinheitlichung und nationale Einheitlichkeit bei den Wegen und Lösungen gesellschaftlicher Probleme. In Deutschland erleben wir einen blockierten Sozialstaat, der derartige Anpassungsund Umlenkungsprozesse kaum ermöglicht. Es geht nicht um das wenig sinnvolle Gerede über „amerikanische Verhältnisse“ in Deutschland, sondern eher um die Einsicht, daß wir wenige institutionelle und interessenpolitische Spielräume für die Bereitschaft zum „Ausprobieren“ von Alternativen haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine ausführliche Darstellung findet sich im vom Autor verfaßten Kapitel über „Die amerikanische Gesellschaft“, in: Willi Paul Adams/Peter Lösche (Hrsg.), Länderbericht USA, Bonn 19983 (i. E.). Zu weitergehenden Literatur-und Quellenangaben sei auf diese Veröffentlichung verwiesen.

  2. Vgl. Theda Skocpol, Protecting Soldiers and Mothers. The Political Origins of Social Policy in the United States, Cambridge, Mass. -London 1995, Kapitel 2.

  3. Vgl. OECD, 1994, S. 60-61.

  4. Vgl. Economic Report of the President 1997, Chapter 3 (Social Security); Edward M. Grämlich, Different Approaches for Dealing with Social Security, in: Journal of Economic Perspectives, 10 (1996) 3.

  5. Vgl. Jennifer Baggette/Robert Y. Shapiro/Lawrence R. Jacobs, Poll Trends. Social Security -An Update, in: Public Opinion Quarterly, 59 (1995).

  6. Vgl. Axel Murswieck, Sozialpolitik unter der Clinton-Administration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8-9/96.

  7. Vgl. Theda Skocpol, Social Policy in the United States. Future Possibilities in Historical Perspective, Princeton 1995, Kap. 9.

  8. Vgl. General Accounting Office, Opportunities to Consolidate and Increase Program Efficiencies, Report GAO/HEHS-95-139.

  9. Vgl. R. Kent Weaver/Robert Y. Shapiro/Lawrence R. Jacobs, The Polls -Trends. Welfare, in: Public Oppinion Quarterly, 59 (1995).

  10. Vgl. House of Representatives, 104th Congress, 2nd Session, Report 104-725; zur Vorgeschichte der Sozialhilfereform und dem politischen Prozeß vgl. A. Murswieck (Anm. 6), S. 18-20.

  11. Zu den möglichen Entwicklungen auf Staatenebene vgl. Tom Corbett, Informing the Welfare Debate: Introduction and Overview, und Thomas Kaplan, Welfare Policy and Caseloads in the United States: Historical Background, in: Institute for Research on Poverty, Special Report Nr. 70, Washington, D. C. 1997.

  12. Vgl. John Myles/Paul Pierson, Friedman’s Revenge, The Reform of „Liberal“ Welfare States in Canada and the United States, in: Politics and Society, 25 (1997) 4, S. 443-472.

  13. Vgl. Fred Block/Jeff Manza, Could We End Poverty in a Postindustrial Society? The Case for a Progressive Negative Income Tax, in: Politics and Society, 25 (1997) 4, S. 473-511.

  14. Vgl. Robert Putnam, The Strange Disappearance of Civic America, in: The American Prospect, (Winter 1996), S. 34-48.

  15. Vgl. Sidney Verba/Kay Lehmann Schlozman/Henry E. Brady, Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics, Cambridge, Mass. -London 1995.

  16. Diese Zahlen beziehen sich auf Angaben der Steuerbehörde, die gemeinnützigen Organisationen Steuerbefreiung gewährt. Vgl. zu den Zahlen The Public Perspective,7 (1996) 4, S. 20.

  17. Vgl. Seymour Martin Lipset, American Exceptionalism. A Double-Edged Sword, New York 1996, S. 287-288.

  18. Vgl. zu diesem Befund mit den dazugehörigen Umfragedaten Everett Carl Ladd, The American Ideology. An Ex-

  19. Vgl. Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 19982, S. 273.

  20. S. M. Lipset (Anm. 18), S. 275.

  21. Vgl. Theodore J. Lowi, The End of the Republican Era, London 1996, S. 8 und 244.

Weitere Inhalte

Axel Murswieck, Dr. Soz. Wiss, habil., geb. 1945; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Sozialpolitik in den USA. Eine Einführung, Opladen 1988; (Hrsg.) Regieren und Politikberatung, Opladen 1994; (Hrsg.) Regieren in den neuen Bundesländern, Opladen 1996; (Hrsg, zus. mit Hans-Ulrich Derlien) Der Politikzyklus zwischen Bonn und Brüssel, Opladen 1998 (i. E.).