I. Einleitung: Politik im amerikanischen Interesse
Beinahe wäre es zwischen den Vereinigten Staaten und der irakischen Regierung im Februar 1998 zum militärischen Showdown gekommen. Die Vermittlung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (VN), Kofi Annan, hat diese Krise in letzter Minute entschärft. Dies geschah in enger Abstimmung mit der US-Diplomatie, aber auch dank nachhaltiger Unterstützung von den drei einen Militärschlag ablehnenden Mitgliedern des ständigen Sicherheitsrates Frankreich, China und Rußland sowie von den arabischen Partnerstaaten.
In der Weltöffentlichkeit waren in den Wochen zuvor viele Stimmen laut geworden, welche die Sinnhaftigkeit eines von den USA durchgeführten Schlages gegen irakische Anlagen in Frage stellten, in denen Angaben westlicher Geheimdienste zufolge die Herstellung von biologischen und chemischen Waffen vorangetrieben wurde Dennoch konnte das zentrale Argument der Befürworter eines solchen Schlages nicht einfach entkräftet werden, mit der Akzeptanz einer stetigen Brüskierung der UNSCOM-Inspekteure durch Saddam stünde die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen insgesamt auf dem Spiel.
Das Verhalten der US-Regierung in diesem Krisenszenario provoziert Nachfragen: Vor allen anderen trieben die Vereinigten Staaten die Zuspitzung des von Saddam Hussein verursachten Konflikts massiv in Richtung einer militärischen Aktion voran. Offensichtlich versuchten sie dabei, die Weltöffentlichkeit und die Regierungen der maßgeblichen Partnerstaaten für diesen von ihr ohnedies beschrittenen Weg zu gewinnen. Dies gelang jedoch trotz der regen Reisediplomatie von Außenministerin Albright und Verteidigungsminister Cohen nur bedingt.
Zudem wurde deutlich, daß sich die USA international als derjenige Akteur präsentieren, der „zur Durchsetzung des politischen Willens der VN“ notfalls auch militärische Alleingänge vorbereitet, obwohl dieselben VN die USA dabei erklärtermaßen nicht unterstützen. Trotz einer höchst mangelhaften Zahlungsmoral des VN-Mitgliedes USA, die ihrer Regierung schon die Drohung eines Ausschlusses eingetragen hat, beansprucht die US-Regierung für sich selbst den Rang eines Chef-interpreten der VN-Politik. Andererseits verzichtet man nicht gerne auf die Legitimation der eigenen Außen-und Sicherheitspolitik durch die internationale Staatengemeinschaft. In dieses Bild fügt sich, daß Annans Vermittlungsvorschlag ohne die Billigung der US-Regierung gescheitert wäre.
Die Gespaltenheit der US-Regierung gegenüber den Vereinten Nationen und die Einsatzbereitschaft ihres global konkurrenzlosen Militärpotentials flankieren die außen-und militärpolitische Devise der Clinton-Administration: „Together when we can, alone when we must.“ Bei der Konzeption dieser Politik durch die US-Regierung spielt nicht nur der Selbstentwurf vom „wohlwollenden Hegemon“ in der Welt eine Rolle, sondern auch innenpolitische Faktoren wiegen schwer: Der von den Republikanern dominierte Congress bereitet der demokratischen Clinton-Regierung gerade in der internationalen Politik große Schwierigkeiten, und der Zuschnitt der Verteidigungspolitik folgt neben international-strategischen Kalkülen vorrangig Erwägungen, die sich auf Binnenfaktoren wie Standort-, Industrie-und Technologiepolitik beziehen. Das spezifische Gewicht dieser innenpolitischen Faktoren wirkt sich seit jeher auf die Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten aus. Ihr Einfluß ist seit dem Ende des Ost-West-Konflikts noch gestiegen, da seit 1990 die Zeiten relativ selbstverständlicher internationaler Militär-einsätze vorbei sind und die Bevölkerung nun noch sorgfältiger und aufwendiger von der Legitimation sicherheitspolitischer Aktionen ihrer Regierung überzeugt werden will.
Die politische Gemengelage, aus der das außen-und sicherheitspolitische Verhalten der USA in all seinen offensichtlichen Widersprüchen erwächst, wirft die Frage nach ihren Strukturbedingungen auf. Offensichtlich kann eine erklärende Antwort hierauf nicht im Rahmen des internationalen Staatensystems gefunden werden. Für die Analyse der Außen-und Sicherheitspolitik von Staaten werden entweder neorealistische oder aber kooperationsorientierte Erklärungsmuster bemüht. Erstere setzen trotz flexibilisierender Modifikationen grundsätzlich weiterhin auf egoistisches Verhalten staatlicher Akteure im anarchischen internationalen System und attestieren diesem eine naturwüchsige, dem Zugriff des Politischen letztlich entzogene Struktur. Letztere betonen die wachsenden Kooperationsspielräume gemeinsamer internationaler Politik von Staaten durch Kommunikation und zunehmende Vernetzungen, wobei den solcherart entstehenden Regimen trotz weiterhin divergierender nationaler Interessen der Mitgliedsstaaten allmählich eine eigene Intensität und Qualität zuwachse.
Beide Ansätze haben stabile Erkenntnisse über das internationale politische Geschehen hervorgebracht. Der Regime-Ansatz ist fruchtbar vor allem für die Analyse der kleinen politischen Schritte hin zu kooperativeren Strukturen er kann gedankliche und konzeptionelle Hilfestellung für die friedensorientierte Bearbeitung von Konflikten sowie für die Formulierung von Prognosen und langfristigen politischen Zielen leisten, blendet jedoch das eigentümliche Gewicht von Interessen-divergenzen zwischen Staaten und deren nationaler Verwurzelung weitgehend aus.
Deshalb wird im folgenden, ohne auf die Nachteile und Vorzüge dieser beiden genannten Ansätze an dieser Stelle weiter einzugehen, ein gänzlich anderer, nämlich auf innenpolitische, gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen der Vereinigten Staaten konzentrierter Erklärungsversuch verfolgt. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um das irregeleitete Anliegen, Politik wiederum wie vordem als ausschließlich von nationalen Interessen motiviert zu begreifen und ihren internationalen Kontext für bedeutungslos zu erklären. Es kann schließlich längst als gesichert gelten, daß die Bedeutung nationaler Grenzen in vielerlei Hinsicht sinkt und wesentliche internationale Entwicklungen sich staatenübergreifend vollziehen.
Dennoch entwickeln sich grundlegende Vorgaben, die das jeweilige staatliche Verhalten normieren und die Politik verregeln, aus der zunächst nationalen Interpretation der eigenen Politik-, Wirtschafts-und Gesellschaftsgeschichte. Die Vereinigten Staaten von Amerika stellen hier einen Sonderfall dar, der sie für eine solche Analyse besonders interessant werden läßt: Für die USA lassen sich zwar in einem zweiten Schritt Überformungen der nationalen Normen durch internationale Gegebenheiten nicht verkennen. Dennoch können gerade die Vereinigten Staaten als derjenige Staat auf der Welt gelten, der am nachdrücklichsten den umgekehrten Weg sucht und auch beschreitet -nämlich die Imprägnierung der internationalen Welt nach den eigenen nationalen Vorstellungen. Aus diesem Grunde ist die Binnen-struktur der US-Sicherheitspolitik auch aus der Frageperspektive der internationalen Politik von Bedeutung.
II. Die „sicherheitspolitische Kultur“ der USA
Die These dieses Beitrags lautet: Die Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten bewegt sich innerhalb eines Rahmens, den die nationale „sicherheitspolitische Kultur“ festlegt. „Kultur“ wird hier nicht mehr als ein -beispielsweise bei Marx aus der Entwicklung der Produktivkräfte, bei Freud aus der Sublimierung von Trieben -abgeleitetes Phänomen mit der Funktion des sinnstiftenden oder rechtfertigenden Überbaus verstanden, sondern als ein Bedeutungsgefüge, das sich aus dominanten Interpretationen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zusammensetzt Trotz des hier zugrundegelegten neueren Verständnisses von Kultur als einer eigenständigen Größe wird jene ältere Perspektive nicht ausgeblendet, da die Entfaltung der Produktiv-kräfte, wie sie sich in der Erzeugung und Verteilung materiellen Reichtums in den USA manifestieren, eine erhebliche Rolle besonders für einen Aspekt sicherheitspolitischer Kultur spielt.
Die „Dominanz“ dieser Interpretationen resultierte, soziologisch betrachtet, im historischen Verlauf jeweils aus einem Wechselspiel zwischen Vorstellungen der Eliten und Einstellungen der breiten Bevölkerung, wobei die Eliten die entsprechenden Optionen formulier(t) en. Schon weil die Angehörigen der Eliten auch durch ihre Artikulationskompetenz charakterisiert sind, bestreiten sie allein die sicherheitspolitischen Diskurse. Dennoch sind sie nicht die einzigen relevanten sicherheitspolitischen Akteure: Wissenschaftliche Studien der letzten Jahre belegen zunehmend, daß die Bürgerinnen und Bürger feste Grundüberzeugungen über außen-und sicherheitspolitische Probleme hegen, die in der Regel stabil und deren Wandlungen rational begründbar sind; wachsendes Interesse und Wissen der amerikanischen Öffentlichkeit wurden diagnostiziert Die Vorstellung, Sicherheitspolitik werde von einer relativ überschaubaren Zahl von Experten formuliert und die Grundüberzeugungen der Bevölkerung seien hierbei eine vernachlässigbare Größe, kann als unzutreffend gelten.
Diesem nun zu skizzierenden Erklärungsversuch der US-Sicherheitspolitik kommt keine theoretische Qualität zu. Die Absicht ist nur, einen systematisierten Vorschlag für die als signifikant erkannten Zusammenhänge vorzubringen und zu begründen. „Sicherheitspolitische“ Kultur wäre der oben angesprochenen Definition zufolge der auf das Politiksegment der äußeren Sicherheit und ihrer Gewährleistungsmittel bezogene Ausschnitt aus dem nationalen Bedeutungsgefüge. Inhaltlich handelt es sich um eine Verknüpfung von drei Strängen, die als „Subjektorientierung“, „Technologiefixiertheit“ und „Transterritorialität“ bezeichnet werden können. Die Deklination dieser drei Stränge sowie ihr Verhältnis zueinander haben sich selbstverständlich seit 1776 mit der umfassenden historischen und ökonomischen Entwicklung in den Vereinigten Staaten -Industrialisierung, nationale Differenzierung, Modernisierung -gewandelt. Dennoch prägen diese drei Säulen in ihrer aktuellen Deutung den Rahmen, innerhalb dessen auch die zweite Regierung Clinton ihre Sicherheitspolitik ausrichtet
Ihr Kern läßt sich bis zum Unabhängigkeitskrieg von 1776 zurückverfolgen. Die Behauptung einer solchen Kontinuität klingt für europäische Ohren einigermaßen kühn. Ihr Hintergrund ist die Verfaßtheit der Vereinigten Staaten als politische Nation, deren Mitglied man durch einen Willensakt werden kann. Das Gemeinsamkeit stiftende Bindemittel zwischen den amerikanischen Staatsbürgern sind ihre Normen und Grundüberzeugungen, ist die von den Maßstäben und Standards der angelsächsischen weißen Protestanten geformte politische Kultur Die USA gründen ihre Identität auf eine normative Idee, die deshalb permanenter Selbstbestätigung bedarf. Der nationale Konsens erscheint stets als fragil und von Zerstörung bedroht.
Die sich aus dieser Grundkonstellation ergebenden Probleme und Charakteristika haben sich wenig verändert: Das Postulat einer offenen Einwanderergesellschaft etwa ließ von Beginn an im Gegenzug ein hohes Maß an Homogenisierungsdruck entstehen. Durch Verknüpfung mit vielen anderen wenig gewandelten Grundthemen und Topoi der gründerzeitlichen Rhetorik, deren bedeutsamster wohl eine spezifische Form des Individualismus darstellt, ist die amerikanische politische Kultur entstanden, die als der „Sonderfall eines vormodernen und vorindustriellen Diskurses bis heute“ beschrieben wird, da sie Probleme des 18. Jahrhunderts wie auch solche der postmodernen Gesellschaft thematisieren könne.1. Subjektorientierung Für die sicherheitspolitische Kultur der USA ist seit der Gründung des Staates der Stellenwert des einzelnen, bewaffneten, männlichen Bürgers von herausragender Bedeutung gewesen. Dieser blieb in der nationalen Imagination ein bürgerliches Subjekt, auch wenn er ab und an militärische Funktionen ausfüllte. Er konnte zwar auch zeitweilig Soldat gewesen sein; der Kern seiner Identität war jedoch nicht die eines Staatsdieners, sondern die eines wehrhaften und nur deshalb vollwertigen Mitglieds einer freiwilligen Gemeinschaft von tugendhaften Individuen. Hier spiegelte sich das Ideal der amerikanischen Gesellschaft wider, das Ideal des „Minuteman“, des in einer Minute einsatzbereiten Bürgersoldaten. Der verfocht, wenn er mit Kameraden kämpfte, stets seine eigenen Interessen -deshalb kämpfte er erfolgreicher, als dies die „Söldner“ der Gegenseite taten.
Das historische Vorbild dieser Milizen waren diejenigen Neuengländer, welche im Unabhängigkeitskrieg die britischen Truppen besiegten. Deren Rolle wandelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Sie bestanden nicht mehr anstatt der, sondern neben der U. S. Army, sie wurden als „National Guards“ von den Gouverneuren der Bundesstaaten auch bei innenpolitischen Konflikten wie Streiks eingesetzt, und sie fungierten zunehmend als Reserve für Interventionen oder Kriegseinsätze der zentralstaatlichen Teilstreitkräfte.
Der wesentliche Grund für die spezifische amerikanische Militärpolitik, nämlich die Kombination zentralstaatlicher Teilstreitkräfte mit einzelstaatlichen Milizen, lag in der politischen Konzeption der USA als eines Staatswesens, welches geradezu die Inkarnation des politischen Liberalismus darstellen sollte. Aus dieser Grundstruktur resultierte ein profundes Mißtrauen gegen das gesellschaftliche Übergewicht von Militär als staatlicher Institution. Dabei war die liberale Angstvision die einer starken Zentralregierung, deren Kommando über die Streitkräfte die Entfaltung einer zivilen Gesellschaft in dem Fall akut bedrohte, wenn ein Tyrann die Regierung übernähme. Bereits die Gründerväter der Vereinigten Staaten bewiesen ein ausgeprägtes Gespür für die Problematik der Rolle von
Militär in einer Republik und hofften, ihr liberal geprägtes demokratisches Staatswesen werde die Kontrolle der Streitkräfte, den zivilen Primat der Militärpolitik, exemplarisch durchsetzen.
Den Wehrbürger der USA stellte man sich stets als vernünftiges, autonom bleibendes Individuum vor, als mißtrauisch gegenüber zentralstaatlichen Machtgelüsten der Regierung, als Bollwerk gegen deren mögliche Übergriffe. „Militarismus“ war ein Problem für Staaten wie Preußen oder Paraguay und wurde ausschließlich auf Regierungen von Staaten bezogen. Die liberale amerikanische Lösung des Problems politischer Kontrolle über Streitkräfte sah folgende Konsequenzen vor: keine stehende Armee zu installieren, sowie einerseits der Gesellschaft als Gemeinschaft vernünftiger Wehrbürger, die Dienst als Milizen in den Einzelstaaten taten, und andererseits der kritischen Öffentlichkeit die bedeutsame Kontrollfunktion zu überantworten.
Diese liberale Sicht von Staat und Regierung als möglichst klein zu haltender, mit einer drohnenhaften (Ernst Fraenkel) Bürokratie verbundener Institution, von Gesellschaft dagegen als Hort der zivilen, auf Frieden sowie Handel und Konsum ausgerichteten Vernunft zeichnet sich durch beeindruckendes Problembewußtsein angesichts des für Demokratien stets spannungsträchtigen Verhältnisses von Gesellschaft und Streitkräften aus. Jedoch blendet sie die Perspektive einer Militäraffinität in der Gesellschaft selbst qua definitionem aus, wie sie in den USA besteht. Diese Militärbezogenheit hat eine Neigung zum bewaffneten Konfliktaustrag in vielen Fällen erleichtert. Archetypen der zivilen Militäraffinität in der Gesellschaft der USA sind der Siedler, der mit der Waffe in der Hand gegen Indianer und „Gesindel“ kämpft, und der Pionier, der sich die in Richtung Westen erstreckende „Wildnis“ aneignet. Konfliktsituationen werden als Duell zwischen Kriegern, nicht als Gefecht zwischen Soldaten verfeindeter Armeen, entworfen und -etwa im Genre des „Western“ -reproduziert. Hier werden die nicht durch politische Institutionen vermittelten Erfahrungen vieler Einzelner, etwa an der mythenhaften „Frontier“ (der Westgrenze des US-Territoriums, die erst 1893 mit dem Erreichen des Pazifiks zu einem geographischen Endpunkt gelangte), gespiegelt und heroisiert. Manche Autoren sprechen von „dezentraler“ Militärbezogenheit (John Tirman),von „kriegerischem Geist“ (Marcus Cunliffe), der die Gesellschaft der USA dominiert habe, vom „Mythos der Regeneration durch Gewalt als strukturierender Metapher der amerikanischen Erfahrung“ (Richard Slotkin).
Auf dieser breiten und tiefverwurzelten gesellschaftlichen Basis wurde es vor allem im 20. Jahrhundert für die Präsidenten der USA möglich, den antimilitärischen liberalen Reflex der Gesellschaft gegenüber einer stehenden Armee und einem starken, letztlich global einzigartigen Militärpotential zu entschärfen und zu kanalisieren. Im Prozeß der Legitimitätsbeschaffung für die Beteiligung von US-Truppen an Konflikten und Kriegen sahen sich die Regierungen jedoch gezwungen, ihre Begründungsrhetorik an die gerade skizzierten Gebote der sicherheitspolitischen Kultur anzupassen, die sich als „Subjektorientierung“ zusammenfassen lassen: Porträtierung des Konflikts als Duellsituation, Beschreibung der Konfliktursache als Verletzung des amerikanischen Gerechtigkeitsempfindens etc. Es lassen sich in der Sicherheitspolitik der USA auch in der jüngeren Vergangenheit bis hin zur Gegenwart viele weitere Hinweise auf die spezifisch amerikanische Bedeutung entnehmen, die dem Stellenwert des Individuums als einzelner Soldat beigemessen wird und die damit die Subjektorientierung dieser Militärpolitik ausdrücken.
Seit dem Herbst 1993 ist eine aktuelle Konsequenz dieser Subjektorientierung weltweit offenbar geworden, die bei vielen Kommentatoren und Beobachtern zunächst zu Unverständnis über die Sicherheitspolitik der USA geführt hat. Seitdem wird kritisiert, daß die USA keine glaubwürdige militärgestützte Interventionspolitik mehr führen könne, wenn sie derart empfindlich auf den Tod einzelner ihrer Soldaten reagiere. Hintergrund dieser Kritik war die gescheiterte Mission der Vereinten Nationen in Somalia (1992-1994) und der hastige Rückzug der USA nach dem Mord an 18 US-Soldaten im Oktober 1993 in Mogadischu. Ein nackter, toter Gl war, auf den Fernsehschirmen der ganzen Welt sichtbar, durch die Straßen geschleift worden.
Diese neue „Immunitätsdoktrin“ (Stanley Hoffmann) einer gegen null gehenden Akzeptanz von Todesopfern unter US-Soldaten während eines internationalen Einsatzes ist mittlerweile zum strategischen und planerischen Imperativ der gesam-ten Militärpolitik der Vereinigten Staaten geworden. Je weniger selbstverständlich die äußere Lage einen Eintritt der eigenen Soldaten in militärische Kampfhandlungen erscheinen läßt, desto mehr war und ist die Regierung verpflichtet, die eigenen Soldaten mit maximalem Aufwand so zu schützen, daß sie gesund wieder nach Hause kommen.
Die Entwicklung dieser Doktrin hat mehrere Wurzeln. Sie fußt auf dem Baustein sicherheitspolitischer Kultur der USA, der hier als „Subjektorientierung“ bezeichnet worden ist, und verweist damit auf eine spezifische amerikanische Empfindlichkeit, was die Konsequenzen eines militärischen Einsatzes für amerikanische Bürger betrifft. Sie deutet zweitens auf die zunehmende Fragilität der Legitimation für sicherheitspolitische Aktionen der US-Regierung hin. Diese Fragilität ist im übrigen kein Ergebnis der Entwicklungen seit 1989/90, sondern wurde bereits mit der Veröffentlichung jener sechs Kriterien im November 1984 offenkundig, mit denen ihr Verfasser, Verteidigungsminister Weinberger, erstmals definieren wollte, wann der Einsatz von US-Streitkräften legitim sei Daß auch ein republikanischer Verteidigungsminister, der als Falke galt, sich zu diesem legitimatorischen Akt genötigt sah, verrät tiefsitzende Irritationen: Bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre unter der Führung Ronald Reagans, der in Friedenszeiten aufrüsten ließ wie kein Präsident vor ihm, hatte das Selbstverständnis, die Bedrohung durch die kommunistische Sowjetunion und ihre Partnerstaaten stelle eine Überlebensfrage dar, zu erodieren begonnen.
Als einen Ausweg aus dem restriktiven Rahmen, den die neue Doktrin der vorrangigen Opfervermeidung unter Soldaten der USA mit sich bringt, skizzieren vor allem konservative Kommentatoren wie Edward Luttwak nunmehr die Notwendigkeit, noch nachdrücklicher als bislang auf die Investition in neuentwickelte oder noch zu entwickelnde Hochtechnologiewaffen zu setzen, um die sie lenkenden Soldaten im Konfliktfall entfernt vom Geschehen und damit ohne große Gefahr für deren Leben einsetzen zu können 2. Technologiefixiertheit Mit der Befürwortung dieses Weges durch Luttwak und viele andere soll einer Entwicklung entgegengesteuert werden, an deren Ende möglicherweise eine sicherheitspolitisch bewegungsunfähige Regierung und damit die weitgehende gesellschaftliche Entmachtung des Militärpotentials der USA stehen könnte. Zudem hat diese Perspektive der Opfervermeidung durch militärische Verwendung von Hochtechnologien den Vorteil, daß sie in der Gesellschaft der USA jederzeit mit erheblicher Resonanz rechnen kann.
Seit dem frühen 19. Jahrhundert haben die Bewohner der Vereinigten Staaten, die zunächst in geringer Zahl weite Flächen bewohnten, Maschinen eingesetzt, um nicht vorhandene menschliche Arbeitskraft zu ersetzen. Dieses ökonomische Grundmuster hat sich trotz des mit der Industrialisierung einhergehenden fundamentalen Wandels der wirtschaftlichen Verhältnisse in der Sympathie für Problemlösungen durch Maschinen erhalten.
Maschinenstürmerei als massenhafte, die staatliche Ordnung wie in Europa bedrohende Erscheinung war kaum denkbar. Historische Soziologien der USA haben stets darauf verwiesen, daß ein empfindlicher Mangel an spezialisierten Facharbeitern seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zur Suche nach Ersatzlösungen und damit zur frühzeitigen Orientierung auf maschinelle Produktion geführt habe Ungezählte Bemerkungen wie die von Eliot Cohen über die „machine-mindedness“ in den USA rekurrieren auf dieses Grundmuster Technologischer Fortschritt allgemein wie auch die Mechanisierung speziell wurden zudem aus einem sehr zivilen Grund heraus etwa seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts als etwas genuin Amerikanisches und damit nicht als Gefahr, sondern als Eröffnung von Chancen gesehen: Er wurde als Garant des demokratischen Versprechens, bezahlbaren Konsum für die gesamte Bevölkerung bereitzustellen, betrachtet und begrüßt
Seit 1790 war Industrie-wie gesellschaftsgeschichtlich die Mechanisierung von Produktionsverfahren sehr eng mit der Entstehung einer Kleinwaffenindustrie in den USA verbunden Diese auf privaten Waffenbesitz abgestellte Produktion bestätigt den ökonomischen Hintergrund der oben skizzierten bürgerlichen Militärbezogenheit. Das Credo des Wehrbürgers der Vereinigten Staaten manifestiert sich im zweiten Verfassungszusatz, der das Recht auf individuellen Waffenbesitz festschreibt.
Die Entwicklung der vielfältigen Verflechtungen zwischen technologischem, ökonomischem und rüstungswirtschaftlichem Fortschritt seit der Durchsetzung der Industrialisierung in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß seit 1880 technologischer Fortschritt vor allem im militärischen Anwendungsbereich (zunächst: bei der Navy) stattfand. Es entwickelte sich ein verwobenes System aus konzentrierten Wirtschaftsunternehmen, staatlicher Lenkung, systematischer Ressourcenallokation und stetig verbesserten Verfahren in der industriellen Fertigung. Durch zunehmendes staatliches Engagement wurde der mit Errichtung der staatlichen Arsenale 1794 etablierte Zusammenhang zwischen Militär und Technologie immer enger. Für die militärischen Erfolge der USA im Jahrhundert wurden ihre Ausstattung an menschlichen und materiellen Ressourcen, ihre Produktionskapazität sowie die Bereitschaft der Politiker zur Voraussetzung, das Land im Bedarfsfall (1917, 1939, ab 1950) sehr zügig auf eine staatlich gelenkte Kriegswirtschaft einzustellen.
Der Bau militärisch genutzter Flugzeuge ist eng mit dem technischen Fortschritt verbunden. Zwar wurde erst 1947 mit der Air Force eine eigene Teilstreitkraft geschaffen; die Visionen einiger Angehöriger der Army Air Force um General Billy Mitchell richteten sich bereits nach dem Massensterben im Ersten Weltkrieg auf das Flugzeug als technologisch-militärischen Ausweg, Menschenleben zu schonen. Luftkriegsführung erschien in den dreißiger Jahren als reinere, modernere Form des Kämpfens, Piloten wurden als „Ritter der Luft“ dargestellt, als Helden im Einzelkampf, die sich nicht wie die anonymen Soldaten der Bodentruppen abschlachten lassen mußten. Hier schien heldenhafte individuelle Grenzüberschreitung als Flucht aus einem unheroischen, zunehmend komplexeren, verregelten und eingeengten Alltag möglich 20. Mit der praktizierten Atomspaltung erreichte das Verhältnis von Militär, Technologie und Kultur in den USA nach 1945 zweifelsohne eine neue Dimension. Bei dem Bau der Atombombe folgte die Regierung einer Entwicklung zu noch mehr staatlicher Steuerung, Bürokratisierung und Zentralisierung, die durch den New Deal der dreißiger Jahre gefestigt, aber schon mit der Industrialisierung eingeleitet worden war. Die Atombombe half, den Nationalen Sicherheitsstaat durchzusetzen Sie war ein technologisches wie auch ein gesellschaftliches Großprojekt, dessen Fortschrittlichkeit Hoffnungen auf eine neuartige soziale Vision der USA im Kalten Krieg nährte: militärischer Schutz nach außen bei sozialer Einheitlichkeit und unbegrenztem Wohlstand (durch angeblich fast kostenfreien Atomstrom) nach innen. Politik und Technologie wurden auf eine Weise verschmolzen, die technikkritischere politische Ansätze als nahezu aussichtslos erscheinen läßt -zu sehr sind die Versprechen von effektivem Schutz, Wohlstand und Konsum für die Bevölkerung an technologischen Fortschritt geknüpft worden.
In den Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem damit einhergehenden Ende des „Atomzeitalters“ wird an den aktuellen rüstungstechnischen Entwicklungen -Fernsteuerung, Mikroelektronik, Informationserfassung und -Verarbeitung -erkennbar, in welchem Ausmaß sich die Technologiefixiertheit zu einem Gebot der Sicherheitspolitik entwickelt hat, dem gewissermaßen eine autonome, nicht mehr unter Begründungszwängen stehende Qualität zuerkannt worden ist. 3. Transterritorialität Die Zielvorstellung US-amerikanischer Sicherheitspolitik in den ersten Jahrzehnten der Republik beruhte auf einer von der europäischen gänzlich verschiedenen Erfahrung: Territoriale Grenzen waren nicht besonders wichtig. Grenzüberschreitungen waren für eine Siedlernation im Werden -so sah man es -geradezu ein natürlicher Prozeß.
Die Grenzüberschreitung von „innen“ nach „außen“ durch die west-, süd-und nordwärts wandernden neuenglischen Siedler hatte erstens den Charakter einer förmlichen Expansionspolitik, denn sie bestand aus Kauf oder Eroberung von Territorium auf dem nordamerikanischen Kontinent. Diese Politik der faktischen Landnahme unter Einschluß militärischer Mittel fand am Pazifik 1893, im Norden an der kanadischen Grenze und im Süden nach dem Krieg mit Mexiko ihr Ende. Das Siedlungsgebiet der USA war 1848 im wesentlichen komplett; 1866 wurde Alaska Ruß-land abgekauft, das gemeinsam mit Hawaii 1959 zum 49. bzw. 50. Bundesstaat wurde. 1890 schloß sich die imperialistische Phase der US-Außenpolitik an, um dann über die Außenhandelspolitik der „Offenen Tür“ seit 1901 in die Phase der informellen Hegemonie einzutreten.
Die transterritoriale Politik der Grenzüberschreitung hatte neben der, zumeist mit handelspolitischen Interessen begründeten, außenpolitischen Dimension zweitens eine innergesellschaftliche Funktion -die der geographischen Entzerrung drohender Konflikte. Es ging um die „amerikanische Tradition der Aufweichung sozialer oder ideologischer Auseinandersetzungen durch Expansion und Wachstum“ Der Historiker Paul Kennedy attestierte seinen Landsleuten einen historisch tradierten starken Drang zur Verdrängung von Problemen und zur Flucht
Drittens hatte die transterritoriale Politik der Grenzüberschreitung eine mythologische Funktion, die als konstitutiv für die Bildung der USA als Nation beschrieben wird. „Amerikanisierung“ (richtiger, aber zu holperig: „USAisierung“) verlief nach dem Muster der Vergesellschaftung durch erfolgreiche Expansion. Damit wurde die Verwandlung des „Außen“ in ein „Innen“ zur Bedingung für die nationale Entwicklung. Dieses Verfahren der Ausdehnung, Anverwandlung und Aneignung war durch die Kritik, hier handele es sich um kolonialistische Praktiken, nicht zu erschüttern.
Denn amerikanisch zu werden -dessen war man sich in den Zeiten gewiß, als territoriale Ausdehnung in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur „manifest destiny“, zum Schicksal verklärt wurde -sei das wesentliche Begehren der Angehörigen benachbarter und anderer Völker und Nationen. Dahinter steckte die puritanisch gefärbte Überzeugung vieler Bewohner der Vereinigten Staaten von der eigenen moralischen Beispielhaftigkeit: Es gebe ein „Wispern, das sich durch unsere Geschichte zieht: Die Völker der Welt wol-len wie wir sein; die Welt ist von frustrierten oder potentiellen Amerikanern bewohnt. Dies ist einzigartig.“
Diese selbstgewisse Annahme stützte einen Missionsdrang, der deshalb so unerschütterlich war, weil man glaubhaft versicherte, den Menschen nur das Beste, nämlich amerikanische Werte, bringen zu wollen. Dabei blieben viele Vertreter dieser Politik überzeugt, eine solche transterritorial vorgetragene Politik der Vereinigten Staaten habe mit Machtpolitik in einem europäischen Sinn nichts zu tun, bleibe gewissermaßen „unschuldig“ In der Dialektik eines Innen und Außen, von Nähe und Ausgrenzung, von „domestic“ und „foreign“ konstituierten sich die USA als Nation, deren Verhältnis zu ihrer Umwelt in wachsendem Maße von hegemonialen Ideen geprägt wurde. Die historisch empfundene Vision der eigenen Größe schloß die Vorstellung ein, die Umwelt nach eigenen Prinzipien und Regeln umzuformen.
Diese Vision zeigt sich heute zumeist in sanfteren, weniger schockhaften, indirekten Überwölbungsformen, als dies noch an den Interventionen während des Kalten Krieges ablesbar war. Hier geht es vor allem um „soft power“ (Joseph Nye), um die Verbreitung des amerikanischen Lebensstils und entsprechender Vorlieben in den Massenmedien. Aber auch die härtere Form direkten Militäreinsatzes, neben Überwachungsaufgaben wie im ehemaligen Jugoslawien etwa zu „Bestrafungseinsätzen“, ist von Clinton wie vordem praktiziert worden gegen die irakische Regierung.
III. Schlußbetrachtung
Im Jahre 1998 sind diese transterritorialen Tendenzen noch vorhanden, aber in multilaterale Institutionen eingebunden. Der Internationale Währungsfonds und die Nordatlantische Allianz sind mußmaßlich darunter die gewichtigsten. Welche Qualität die Einbindung der Vereinigten Staaten in diese Strukturen tatsächlich aufweist und ob hier wirklich die Einhegung andernfalls unilateral vollzogener Außen-und Sicherheitspolitik der USA stattfindet, kann hier nicht geklärt werden, wobei das bisher Ausgeführte eine gewisse Skepsis nahelegt. Gegen einen wirklich multilateralen Charakter der Außen-und Sicherheitspolitik spricht das faktische Veto-Recht, das die Regierung der USA in den internationalen Institutionen aufgrund ihres Gewichts jederzeit geltend machen kann. Die USA vermögen zudem wie kein anderer Staat Themen auf der internationalen Agenda zu plazieren.
Das Gewicht der Gebote sicherheitspolitischer Kultur in den USA, wie sie hier mit der Subjekt-orientierung, der Technologiefixiertheit und der Transterritorialität skizziert worden sind, dürfte auf absehbare Zeit national verbindlich und damit international spürbar bleiben.