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Plurale Vorsorge Die Zukunft der sozialen Sicherheit | APuZ 18/1998 | bpb.de

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APuZ 18/1998 Globalisierung und Gesellschaft Plurale Vorsorge Die Zukunft der sozialen Sicherheit Sind die Deutschen reformscheu? Potentiale der Eigenverantwortung in Deutschland

Plurale Vorsorge Die Zukunft der sozialen Sicherheit

Thomas Bulmahn

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der deutsche Sozialstaat ist in den neunziger Jahren an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit geraten. Die Sozialpolitik hat es bisher nicht vermocht, die Systeme der sozialen Sicherung umfassend zu modernisieren. Reformdruck und Reformstau lösen bei den Bürgern Verunsicherung und Vertrauensverlust aus. Eine zukünftige Perspektive der sozialen Sicherung könnte darin bestehen, die zum Teil existierende Vielfalt der Versorgungsleistungen auszubauen und gleichzeitig tragfähige Strategien einer pluralen Vorsorge zu entwickeln. „Plurale Vorsorge“ meint, daß die Bürger eine Vielfalt von Aktivitäten zur Risikovorsorge entwickeln und dabei verstärkt auf die Angebote von Unternehmen, freiwilligen Assoziationen und privaten Netzwerken zurückgreifen. Plurale Vorsorge setzt diese Vielfalt der Angebote voraus, realisiert wird sie jedoch erst auf der Nachfrageseite. Damit kommen unterschiedliche Ansprüche an Versorgungsniveaus und spezifische Bedürfnisse nach Sicherheit ebenso zum Tragen wie individuelle Zugangschancen. Der Abbau von Sozialleistungen und die damit einhergehende Individualisierung der Risikovorsorge bringen gesellschaftliche Veränderungen mit sich, die weit über die Problematik der sozialen Sicherung hinausreichen. Die plurale Vorsorge eröffnet neue Perspektiven der sozialen Sicherung und hält sowohl Chancen als auch Risiken bereit. Einige der Konfliktfelder zeichnen sich bereits heute ab. Auf der Mikroebene der Individuen geht es dabei um Chancenungleichheiten: Pluralisierung der Risikovorsorge verspricht Autonomie, Effizienz und Flexibilität für die einen und bedroht andere mit neuer Abhängigkeit, Ineffizienz und Unterversorgung. Auf der Ebene der Institutionen geht es um die ambivalenten Folgen der Verringerung sozialstaatlicher Leistungen für die Systeme der sozialen Sicherung: „Systemerhalt durch Entlastung“ auf der einen Seite und „Legitimitätsverlust durch Sozialabbau“ auf der anderen Seite. Auf der Makroebene geht es um die Integrationsfähigkeit des Sozialstaates und die mit der Individualisierung der Vorsorge verbundenen Risiken des sozialen Ausschlusses (Exklusion) und die sich eröffnenden Chancen der sozialen Teilhabe (Inklusion).

I. Reformdruck und Reformstau

Eine Krise des Sozialstaates hat es in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben. Das änderte sich Mitte der siebziger Jahre: Die schwere Rezession ließ die Zahl der Arbeitslosen dramatisch ansteigen, das Gleichgewicht von Beitragszahlern und Beitragsempfängern wurde empfindlich gestört, und der Sozialstaat geriet an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Zu diesem Zeitpunkt flammten erstmals heftige Diskussionen über die Leistungsfähigkeit und Zukunftsperspektive der sozialen Sicherung auf Mit einer Kombination aus Beitragserhöhungen und Leistungssenkungen gelang es zwar, die Systeme der sozialen Sicherung wieder zu stabilisieren, doch ihr Nimbus blieb beschädigt zurück

In den letzten Jahren ist der Sozialstaat erneut unter Reformdruck geraten. Heute geht es aber nicht mehr nur darum, konjunkturelle Schwankungen abzufangen. Die Systeme der sozialen Sicherung müssen vielmehr an grundlegend veränderte Rahmenbedingungen angepaßt werden. Die Zunahme der strukturellen Arbeitslosigkeit, demographische Verschiebungen, die sozialen Folgen der deutschen Einheit und die Herausforderungen der Globalisierung haben sie aus der Balance gebracht. Zugleich haben konventionelle Stabilisierungsinstrumente einen Teil ihrer Wirksamkeit eingebüßt.

Einer besonders starken Belastung ist die gesetzliche Rentenversicherung ausgesetzt. Die Verringerung des Renteneintrittsalters und der Anstieg der Lebenserwartung haben dazu geführt, daß sich die durchschnittliche Rentenbezugsdauer im Verlauf der letzten Jahrzehnte deutlich erhöht hat Veränderte biographische Muster und der demographische Wandel unterminieren die Grundlagen des Generationenvertrages. Während die gesetzliche Rentenversicherung, das System der Arbeitsförderung und die Sozialhilfe vor allem durch die Zunahme der Zahl der Leistungsempfänger belastet werden, gerät die gesetzliche Krankenversicherung durch die immer häufigere Anwendung kostenintensiver Diagnose-und Therapieverfahren unter Druck.

Zur existentiellen Herausforderung wurden diese wachsenden Belastungen jedoch erst durch den gleichzeitigen Abbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Seit Anfang der neunziger Jahre sind in der Bundesrepublik Deutschland mehr als zweieinhalb Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen. Selbst bei der sich momentan abzeichnenden konjunkturellen Erholung ist keine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt in Sicht. Im Gegenteil: Für das laufende Jahr 1998 rechnet der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung mit einem weiteren Stellenabbau Alle Hoffnungen auf ein „Jobwunder“ haben sich als Illusion herausgestellt. Die Schere zwischen Leistungsempfängern und Beitragszahlern wird sich in absehbarer Zeit nicht schließen, sondern weiter öffnen.

Das herkömmliche Instrument zur Stabilisierung der Sozialsysteme -das Drehen an der Beitrags-schraube -hat seine Wirksamkeit nicht nur verloren, unter den gegenwärtigen Bedingungen des sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs hat sich die Wirkungsrichtung sogar umgekehrt: Eine Anhebung der Beitragssätze könnte zwar die Einnahmesituation der Kassen verbessern -jedoch nur vorübergehend. Diese Maßnahme würde -um Bekanntes kurz anzudeuten -auch zu einer Verteuerung des Faktors Arbeit führen und die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung weiter beschleunigen. Nicht neue Balance, sondern mehr Instabilität wäre die Folge. Dieses Vorgehen würde in letzter Konsequenz dazu beitragen, den Sozialsystemen die ökonomische Basis zu entziehen

Eine andere Strategie scheint auf den ersten Blick wirksamer und mit weniger negativen Folgen verbunden zu sein: die Erhöhung des Bundeszuschusses. Zusammen mit der Entlastung der Sozialkassen von versicherungsfremden Leistungen ließe sich ein stabilisierender Effekt erzielen. Beide Maßnahmen müßten jedoch aus zusätzlichen Steuereinnahmen finanziert werden, da eine weitere Erhöhung der Neuverschuldung des Bundes die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion gefährden würde. Steuererhöhungen, insbesondere die Anhebung von Verbrauchssteuern, hätten jedoch gefährliche Nebenwirkungen: Der zu erwartende Rückgang der Binnennachfrage würde die Konjunktur belasten, zu einem Abbau von Beschäftigung führen und damit letztlich zusätzliche Einnahmeverluste für die Sozialkassen verursachen.

Weder die weitere Anhebung der Sozialversicherungsbeiträge noch steuerfinanzierte Zuschußmodelle sind zur Stabilisierung der Sozialsysteme geeignet. Ein Wirtschaftswunder ist nicht in Sicht -ein Beschäftigungswunder erst recht nicht Die Zeiten der unbeschwerten Verteilung immer neuer Zuwächse sind vorerst vorüber. Die auf Leistungserweiterung und Niveauerhöhung programmierten Systeme der sozialen Sicherung müssen überdacht und neu eingerichtet werden. Der generelle Reformbedarf ist seit längerer Zeit bekannt -getan hat sich jedoch nur wenig. Die politischen Akteure haben es bisher nicht vermocht, die Sozialsysteme umfassend zu modernisieren. Alle größeren Reformvorhaben sind im Labyrinth der institutionalisierten Interessen verlorengegangen. Die von parteitaktischen Kalkülen geleiteten Debatten haben vor allem ein Resultat hervorgebracht: eine tiefe Verunsicherung und einen rapiden Vertrauensverlust bei den Bürgern.

II. Unsicherheit und Vertrauensentzug

Die Ergebnisse einer vom Wissenschaftszentrum Berlin in Auftrag gegebenen Umfrage machen den erreichten Grad der Verunsicherung deutlich: Vor dem Hintergrund der Debatten zum Umbau der Sozialsysteme sind nahezu zwei Drittel der Befragten der Meinung, in Zukunft bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit unzureichend gesichert zu sein. Nur noch eine kleine Minderheit nimmt an, künftig gut gesichert zu sein Besonders alarmierend ist, wie weit sich dieses Gefühl der Unsicherheit bereits ausgebreitet hat. Es betrifft Männer und Frauen, Ost-und Westdeutsche, jüngere Leute und Menschen im mittleren Alter nahezu gleichermaßen. Nur Ältere, Besser-gebildete, Besserverdienende und Vermögende sind kaum betroffen

Vollkommen verunsichert sind diejenigen, die erwarten müssen, demnächst auf Sozialleistungen angewiesen zu sein. Von den Befragten, die ihren eigenen Arbeitsplatz für sehr unsicher halten, glauben fast alle, daß sie in Zukunft unzureichend gesichert sein werden. In der Gruppe derjenigen, die ihren Arbeitsplatz für sehr sicher halten, ist dagegen nicht einmal die Hälfte dieser Ansicht. Der Einfluß des gegenwärtigen Bezugs von sozialen Leistungen auf das subjektive Sicherheitsgefühl ist ambivalent. Die Bezieher von Altersrenten machen sich kaum Sorgen um die eigene zukünftige Versorgung mit sozialstaatlichen Leistungen. Die Empfänger von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Wohngeld oder Sozialhilfe sind nicht so optimistisch. Im Gegenteil: Die überwiegende Mehrheit meint, in Zukunft nur unzureichend gesichert zu sein Dieses unterschiedliche Ausmaß der Besorgnis ist auf eine wesentliche Differenz zwischen den Leistungsarten zurückzuführen: ImGegensatz zu bestehenden Rentenverhältnissen sind Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Wohngeld und Sozialhilfe nicht vor Kürzungen sicher. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Bisher hat es keinen gravierenden Abbau von sozialen Leistungen gegeben, und dennoch ist das Vertrauen in die zukünftige Absicherung bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit schwer beschädigt worden

Vertrauen und Mißtrauen, so Niklas Luhmann, sind „symbolisch vermittelte, generalisierte Haltungen, die nicht mit spezifisch angebbaren objektiven Ursachen variieren, sondern durch subjektive Prozesse der vereinfachenden Erlebnisverarbeitung gesteuert werden“ Vertrauen schlägt in Mißtrauen um, wenn es negative Indizien gibt, die sich zu einer kritischen Masse verdichten Die gravierenden Probleme der Systeme der sozialen Sicherung und die unzureichenden Bemühungen der politischen Akteure zu deren Bewältigung -Reformdruck und Reformstau -haben eine Vielzahl Mißtrauen erregender Anhaltspunkte geliefert. Das fortlaufende Diskreditieren der Systeme der sozialen Sicherung hat das Vertrauen in die Qualität der sozialstaatlichen Risikovorsorge in ihr Gegenteil umschlagen lassen. Eine Atmosphäre des Mißtrauens ist entstanden, in der die Beschwörung von Sicherheit und Stabilität der sozialstaatlichen Arrangements nicht einfach ungehört verhallt, sondern zusätzliche Zweifel hervorruft und weitere Skepsis auslöst.

Der Verlust des Vertrauens in die Zukunft der sozialen Sicherung wirkt sich sowohl auf individuelle Haltungen als auch auf das Meinungsklima insgesamt aus Diese Zusammenhänge sollten nicht als lineare Kausalbeziehungen mißverstanden werden. Es handelt sich vielmehr um interdependente Beziehungsgeflechte aus individuellen Erwartungen, Wahrnehmungen und Bewertungen der eigenen Lage, Interpretationen der gesellschaftlichen Situation und Handlungsabsichten. Diese zunächst individuellen Erwartungen, Haltungen und Absichten verdichten sich zu einem Meinungsklima, das -medial verarbeitet -auf die Individuen zurückwirkt.

Die Erwartung, in Zukunft bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit gut gesichert zu sein, geht mit einer hohen individuellen Zufriedenheit einher. „Gut Gesicherte“ -also diejenigen, die meinen, zukünftig gut gesichert zu sein -sind nahezu ausnahmslos zufrieden mit ihrem Leben. Etwa jeder zweite ist sehr zufrieden, nur einzelne sind mit dem Leben sehr unzufrieden. Bei den „schlecht Gesicherten“ -das sind diejenigen, die meinen, in Zukunft schlecht gesichert zu sein -ist die Zufriedenheit deutlich geringer. Nur etwa jeder vierte Befragte aus dieser Gruppe ist sehr zufrieden. Ein relativ großer Anteil ist sehr unzufrieden mit dem Leben

Die Wahrnehmung und Bewertung der gesellschaftlichen Wirklichkeit fällt je nach subjektivem Sicherheitsempfinden unterschiedlich aus. „Gut Gesicherte“ beurteilen das heutige wirtschaftliche System der Bundesrepublik eindeutig positiv. Im Vergleich zur Situation vor fünf Jahren nehmen sie geringfügige Verschlechterungen wahr. Dagegen sehen „schlecht Gesicherte“ das heutige Wirtschaftssystem bereits im negativen Bereich. Rückblickend nehmen sie eine massive Verschlechterung wahr. Das heutige politische System der Bundesrepublik wird ebenfalls ganz unterschiedlich bewertet. „Gut Gesicherte“ bewerten es sehr positiv. Die Beurteilung der „schlecht Gesicherten“ fällt wiederum negativ aus. Im Rückblick nehmen „gut Gesicherte“ eine eher geringfügige Verschlechterung wahr. Dagegen schätzen „schlecht Gesicherte“ das heutige politische System im Vergleich zu vor fünf Jahren wesentlich schlechter ein

Wie relevant derartige Urteile sind, macht ein Blick auf die Wahlabsichten deutlich. Von den „gut Gesicherten“ sagen nur einzelne, daß sie bestimmt nicht an der Wahl teilnehmen würden, dagegen meint ein Viertel der „schlecht Gesicherten“, sie würden ihre Stimme bestimmt nicht abgeben Hier wird deutlich, daß die Beurteilung der gesellschaftlichen Situation und die individuellen Handlungsabsichten in einem engen Zusammenhang stehen.

Diese Befunde lassen sich zunächst als bloße Kritik an den politischen Parteien deuten. Diejenigen, die befürchten, in Zukunft von Kürzungen betrof-fen zu sein, strafen die Politik bereits heute mit schlechten Noten ab. Andere Umfragen haben aber auch gezeigt, daß in den letzten Jahren das Vertrauen in das demokratische System insgesamt rapide gesunken ist. Mittlerweile meint nur noch jeder zweite Bürger, daß die Probleme der Bundesrepublik mit Hilfe der Demokratie gelöst werden können. Es ist ein gravierender Vertrauensverlust eingetreten, der langfristig die Legitimität der politischen Ordnung untergraben könnte

III. Plurale Vorsorge

Die Einschätzung, zukünftig bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit nicht mehr ausreichend gesichert zu sein, geht nicht nur mit einem verringerten Wohlbefinden, mit schlechteren Bewertungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und Politikverdruß einher. In der letzten Zeit ist auch eine wachsende Zustimmung zu alternativen Vorsorgestrategien, die weniger staatliche Fürsorge und dafür mehr Eigenverantwortung umfassen, zu beobachten Dieser Trend resultiert aus der Einsicht, daß der Sozialstaat an seine Leistungsgrenzen gestoßen ist und der notwendige Umbau der sozialen Sicherung mit einem Abbau von Leistungen verbunden sein wird. Drei von vier Bundesbürgern sind mittlerweile davon überzeugt, daß der Umfang der sozialen Sicherung in Zukunft nicht auf dem bisherigen Stand gehalten werden kann Nur noch eine Minderheit (20 Prozent) glaubt, daß beispielsweise die Altersvorsorge im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung vollkommen ausreicht. Die Mehrheit der Bevölkerung (78 Prozent) meint dagegen, daß die Leistungen nicht ausreichen werden und es deshalb sinnvoll ist, neben der gesetzlichen Rente selber für das Alter vorzusorgen

Bereits heute stützt sich die Altersversorgung auf mehrere Säulen: Im Jahr 1995 beliefen sich die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung auf 318 Milliarden DM, die Betriebsrenten, Zusatzversorgungen und Leistungen der Versorgungswerke summierten sich auf 108 Milliarden DM, und die von den privaten Lebensversicherungen ausgezahlte Summe erreichte ein Volumen von 60 Milliarden DM Weitere relevante Beiträge zur Altersversorgung stellen private*peldund Immobilienvermögen sowie die Unterstützung von Familienmitgliedern, Nachbarn und Freunden dar In anderen Bereichen der sozialen Sicherung ist diese Vielfalt der Versorgung und Unterstützung ebenfalls in Teilen noch erhalten bzw. bildet sich in aufbrechenden Versorgungslükken immer wieder neu heraus.

Eine zukünftige Perspektive der sozialen Sicherung könnte darin bestehen, die zum Teil existierende Vielfalt der Versorgungsleistungen auszubauen und gleichzeitig tragfähige Strategien einer pluralen Vorsorge zu entwickeln. Mit Versorgung ist hier die konkrete Leistung beim Eintritt des Risikofalles gemeint: das Krankengeld, die Betriebsrente, die Zahlung der privaten Unfallversicherung, die Unterstützung durch Familienmitglieder usw. Vorsorge bezeichnet dagegen Aktivitäten, die die Bereitstellung einer zukünftigen Versorgung gewährleisten sollen. Dazu gehört das Zahlen der Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung ebenso wie der Abschluß einer privaten Lebensversicherung oder das Engagement in einer karitativen Einrichtung, verbunden mit der Hoffnung, selbst einmal eine vergleichbare Hilfe zu erhalten.

Versorgung und Vorsorge induzieren verschiedene Formen individueller Sicherheit. Die auf Versorgung basierende Sicherheit ist eine vorrangig objektive Sicherheit Sie ergibt sich aus dem Wissen, daß die momentan empfangenen Versorgungsleistungen, am bestehenden Bedarf gemessen, ausreichend sind. Mit anderen Worten: Objektive Sicherheit beruht auf einem Vergleich des aktuellen Leistungsbedarfs mit der tatsächlich erhaltenen Leistung. Unsicherheit entsteht dann, wenn die Leistungen die durch Unfall, Krankheit oder Arbeitslosigkeit etc. entstandenen (materiellen) Einbußen nicht oder nur unzureichend zu kompensieren vermögen. Unsicherheit entsteht aber auch dann, wenn laufende Leistungen gefährdet sind. Dagegen ist die Sicherheit auf der Basis von Vorsorge eher ein subjektives Sicherheitsempfinden. Dieses Gefühl der Sicherheit beruht auf dem Vertrauen, daß die gegenwärtig betriebene Vorsorge eine angemessene Versorgung zukünftiger Bedarfsfälle gewährleistet. Wenn dieses Vertrauen erschüttert wird, dann schlägt Sicherheit in Unsicherheit um. Kurz: Vorsorge erfordert Vertrauen -Versorgung bringt relative Gewißheit.

In Anlehnung an die Konzepte „welfare pluralism“ bzw. „welfare mix“ soll hier der Begriff „Plurale Vorsorge“ eingeführt werden. Plurale Vorsorge meint, daß individuelle Nachfrager eine Vielfalt von Aktivitäten zur Risikovorsorge entwickeln und dabei verstärkt auf die Angebote von Unternehmen, freiwilligen Assoziationen und privaten Netzwerken zurückgreifen. Die Qualität der persönlichen Risikovorsorge basiert zukünftig nicht mehr nur ausschließlich auf den gegebenen Qualitäten der Angebotsstruktur. Mindestens ebenso wichtig wird die Vorsorgestrategie der Nachfrager. Mit Hilfe dieser Strategie kann ein den individuellen Bedürfnissen entsprechender Vorsorgemix arrangiert werden. Sicherheit wird damit zu einer Frage der richtigen Strategie. Mit anderen Worten: Plurale Vorsorge bedeutet vor allem Optimierung des individuellen Vorsorgemix. Dabei kommen unterschiedliche Ansprüche an Versorgungsniveaus ebenso zum Tragen wie spezifische Bedürfnisse nach Sicherheit und individuelle Zugangschancen zu den jeweiligen Vorsorge-angeboten.

Es lassen sich vier Anbieterkategorien unterscheiden: 1. Sozialstaat, 2. Privatwirtschaftliche Unternehmen, 3. Freiwillige Assoziationen und 4. Private Netzwerke. Diese Akteure bieten jeweils spezifische Versorgungs-und Unterstützungsleistungen an. Die Bereitstellung dieser Güter folgt dabei einer jeweils eigenen Operationslogik. Diese geht mit einer Spezifik der Austauschmedien -Recht, Geld, Argumente und Verpflichtungen -und der Leistungsgarantien einher

Die von den sozialstaatlichen Institutionen angebotenen Versorgungsleistungen sind an den Zielen „Sicherheit“ und „Gleichheit“ ausgerichtet. Die zentralen Systeme der sozialen Sicherung folgen zwar primär dem Äquivalenzprinzip. Ergänzt und zuweilen verdeckt wird diese Leitlinie vom Solidarprinzip. Das Sicherheitsempfinden der Bürger basiert im wesentlichen auf der Erwartung, daß die gesetzlich verankerten Ordnungsprinzipien der sozialen Sicherung weiterhin gelten, daß die erworbenen individuellen Anspruchsrechte Bestand haben und daß das Leistungsniveau erhalten bleibt.

Das Handeln privatwirtschaftlicher Unternehmen folgt anderen Leitlinien. Aus einem ganzen Bündel unterschiedlichster Ziele ragen zwei Maximen heraus: das Erwirtschaften von Gewinnen und der langfristige Erhalt des Unternehmens. Der Zugang der Konsumenten zu den angebotenen Vorsorge-leistungen, beispielsweise zu Lebensversicherungen, Berufsunfähigkeits-und Unfallversicherungen, erfolgt nicht über Rechte, zentrales Austauschmedium ist Geld. Die Sicherheitswirkung dieser Vorsorge ergibt sich aus der Erwartung, daß die Zahlungsfähigkeit beider Vertragspartner, des Versicherten und des Versicherers, für die Laufzeit des Vertrages erhalten bleibt.

Das Ziel der freiwilligen Assoziationen ist die Realisierung der Partikularinteressen ihrer Mitglieder. Die Mitgliedschaft in Vereinen und Organisationen ergibt sich zumeist aus dem Wunsch, individuelle Bedürfnisse zu realisieren, sich selbst zu verwirklichen und mit Gleichgesinnten zusammenzusein. Das schließt ein auf das Gemeinwohl gerichtetes Handeln oder ganz konkret den Wunsch, anderen Menschen zu helfen, nicht aus. Im Gegenteil -karitatives Engagement hat in den letzten Jahren seinen altruistischen Charakter verloren und wird verstärkt als attraktives Freizeit-angebot nachgefragt Hilfe und Unterstützung wird in der Regel jedoch nur denen gewährt, die -ganz gleich, ob Mitglied oder nicht -ihre Bedürftigkeit argumentativ belegen können. Der Sicherheitseffekt ergibt sich für die Klienten im wesentlichen aus der Erwartung, daß im Risikofall die individuelle Bedürftigkeit glaubhaft gemacht werden kann und dieser Nachweis ein relevantes Hilfsangebot auslöst.

Private Netzwerke operieren nach einer anderen Logik. In Familien und Freundeskreisen geht es zuweilen zwar auch um persönlichen Gewinn und individuelle Existenzsicherung, und oftmals verfolgen die Mitglieder auch ihre eigenen Interessen. Vorrangiges Ziel ist jedoch der Erhalt von Bindungen, die auf Zuneigung basieren. Hilfe und Unterstützung werden im Sinne gegenseitiger Verpflichtung gewährt und empfangen. Das Sicherheitsempfinden beruht auf dem Wissen um die individuelle Zugehörigkeit und der Erwartung in die Belastbarkeit der Bindungen.

Diese Skizzen zur spezifischen Qualität der einzelnen Vorsorgeangebote führen bereits zu der Einsicht, daß einer bloßen Substitution sozialstaatlicher Leistungen enge Grenzen gesetzt sind. Eine Verschiebung des Vorsorgemix wird sich nicht als Nullsummenspiel arrangieren lassen. Die Vorsorgeangebote des Sozialstaates sind durch die Angebote privatwirtschaftlicher Unternehmen, der freiwilligen Assoziationen und der privaten Netzwerke weder vollständig noch folgenlos zu ersetzen Individuelle Strategien der pluralen Vorsorge lassen sich zudem erst vor dem Hintergrund relativ sicherer Erwartungen an Qualität und Umfang zukünftiger Leistungen des Sozialstaates entwickeln. Solange nicht abzusehen ist, wie die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen in Zukunft aussehen werden, solange bleibt die Sicherheitswirkung alternativer Vorsorgemaßnahmen ebenfalls höchst ungewiß

Mit dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen wird das individuelle Bedürfnis nach Sicherheit durch Risikovorsorge nicht geringer werden, sondern ganz im Gegenteil weiter wachsen. Es ist daher zu erwarten, daß die Vorsorgeangebote der privatwirtschaftlichen Unternehmen, der freiwilligen Assoziationen und der privaten Netzwerke für die individuelle Risikovorsorge eine immer größere Bedeutung erlangen werden. Mit der Bedeutungsverlagerung der Anbieter gehen Verschiebungen auf den Ebenen der Anbietermaximen, der Austauschmedien und der Leistungsgarantien einher

Auf der Ebene der Operationslogik wird die wohlfahrtsstaatliche Maxime „Gleichheit und Sicherheit“ in Konkurrenz zu den Zielgrößen „Gewinn und Existenzerhalt“, „Mitgliederinteressen“ sowie „Zuneigung und Bindung“ geraten. „Recht“ wird als dominantes Austauschmedium an Bedeutung verlieren. Die Austauschmedien „Geld“, „Argumente“ und „Verpflichtungen“ werden dagegen immer wichtiger werden. Auf der Ebene der Garantien der Versorgungsleistungen werden „Anspruchsrechte“ um „Zahlungsfähigkeit“, „Bedürftigkeit“ und „Zugehörigkeit“ ergänzt. Diese Verschiebung des Vorsorgemix von der Dominanz des Sozialstaats hin zu einer pluralen Vorsorge wird eine ganze Reihe von gesellschaftlich relevanten Veränderungen nach sich ziehen.

IV. Chancen und Risiken der pluralen Vorsorge

Die Entwicklung und Etablierung der pluralen Vorsorge wird auf mehreren Ebenen der Gesellschaft Prozesse des sozialen Wandels induzieren, die sowohl Chancen als auch Risiken bereithalten.

Diese Chancen und Risiken werden sich nicht gegenseitig aufheben, weil sie sich im sozialen Gefüge ungleich verteilen. In dieser Ungleichheit, die letztlich als Ungerechtigkeit interpretiert werden wird, liegt das Potential für zukünftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Einige der Konfliktfelder zeichnen sich bereits heute ab. Auf der Mikroebene der Individuen geht es dabei um Chancenungleichheiten: Die Pluralisierung der Risikovorsorge verspricht Effizienz und Flexibilität für die einen und bedroht andere mit neuer Abhängigkeit, Ineffizienz und Unterversorgung.

Auf der Ebene der Institutionen geht es um die ambivalenten Folgen der Verringerung sozialstaatlicher Leistungen für die Systeme der sozialen Sicherung: „Systemerhalt durch Entlastung“ auf der einen Seite und „Legitimitätsverlust durch Sozialabbau“ auf der anderen Seite. Auf der Makroebene geht es um das Integrationspotential des Sozialstaates und die mit der Individualisierung der Risikovorsorge einhergehenden Gefahren des sozialen Ausschlusses (Exklusionsrisiken) und die sich eröffnenden Möglichkeiten der Integration (Inklusionschancen).

Mit der Pluralisierung geht eine Individualisierung der Risikovorsorge einher, die Chance und Risiko zugleich ist. Sie ist zunächst einmal eine Chance, weil sie einen Gewinn an Autonomie verspricht. Die Teilentlassung aus dem staatlichen Vorsorge-kollektiv eröffnet den Bürgern individuelle Gestaltungsspielräume: Die Risikovorsorge kann den persönlichen Sicherheitsbedürfnissen besser als bisher angepaßt werden, die Möglichkeiten der Eigenvorsorge können umfassender ausgeschöpft werden, und je nach Lebenslage kann dieser Vorsorgemix optimiert werden. Diese individuellen Strategien der pluralen Vorsorge werden den Herausforderungen einer individualisierten Gesellschaft in größerem Maße gerecht als die kollektiven Arrangements des Sozialstaates. Individuelle Risikovorsorge verspricht Autonomie, Gestaltbarkeit, Effizi-enz und Flexibilität -für diejenigen, die es sich leisten können. Daß es hierbei nicht nur um Zahlungsfähigkeit geht, sollte mittlerweile deutlich geworden sein. Pluralität der Vorsorge setzt zunächst eine Pluralität der verfügbaren Ressourcen voraus, die sich in einen Mix aus vertrauenswürdigen Anspruchsrechten, belastbarer Zahlungsfähigkeit, belegbarer Bedürftigkeit bzw. verpflichtender Zugehörigkeit umsetzen lassen. Dieses Mobilisieren der Ressourcen, darauf hat Franz-Xaver Kaufmann hingewiesen, ist von individuellen Kompetenzen abhängig Beide Bedingungen -Verfügbarkeit von Ressourcen und Kompetenzen zu deren Mobilisierung -engen die individuellen Möglichkeiten zur pluralen Vorsorge ein.

Fehlen im Mix der Versorgungsgarantien jedoch einzelne Elemente, dann verwandeln sich die Chancen der individuellen Vorsorge in massive Risiken. Die Vorsorge wäre im Fall fehlender Anspruchsrechte und mangelnder Zahlungsfähigkeit auf die Angebote von privaten Netzwerken und freiwilligen Assoziationen reduziert. Während der Abschluß privater Versicherungen neben den vertragsrechtlichen Bestimmungen zur Zahlung der Beiträge keine weiteren Verpflichtungen nach sich zieht, führt die Bindung an private Netzwerke bzw. an Vereine und Organisationen zu Abhängigkeiten. Hier ist man auf die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen bzw.des Engagements angewiesen. Anstrengungen zum Aufbau tragfähiger Bindungen sind zudem langfristige Investitionen, die sich kaum optimieren und nicht transferieren lassen. Darüber hinaus sind diese Bindungen nur begrenzt belastbar. Individuelle Risikovorsorge birgt in diesem Fall eine Reihe von Risiken: Autonomieverlust, In-flexibilität und Unterversorgung.

Basiert die Vorsorge dagegen ausschließlich auf Anspruchsrechten und Zahlungsfähigkeit, ergeben sich andere, nicht minder riskante Nebenwirkungen. Die Flexibilität marktwirtschaftlicher Angebote und die relative Sicherheit sozialstaatlicher Leistungen haben ihren Preis: Die Kosten der Vorsorge steigen mit wachsendem Risiko (Markt) bzw. mit höherem Individualeinkommen (Sozialstaat). Zudem bleibt die Versorgung auf vorwiegend monetäre Leistungen beschränkt und ist damit einem Inflationsrisiko ausgesetzt. Es drohen sowohl Ineffizienz als auch Versorgungsdefizite.

Der Grat zwischen Chancen und Risiken der pluralen Vorsorge ist schmal. Die Ungleichheit der individuellen Verfügbarkeit von Ressourcen und der individuellen Kompetenzen zu deren Mobili-, sierung wird zu einer unterschiedlichen Verteilung von Chancen führen. Mit anderen Worten: Der Prozeß der Individualisierung der Risikovorsorge wird alte Verteilungsungleichheiten in neue Chancenungleichheiten transformieren.

Eine weitere Konfliktlinie zeichnet sich auf der Ebene der Institutionen ab. Der Abbau sozial-staatlicher Leistungen hat für die Systeme der sozialen Sicherung ambivalente Folgen. Auf der einen Seite hat die daraus resultierende Entlastung der Kassen stabilisierende Effekte. Erst deutliche Leistungskürzungen werden die Ausgaben sinken lassen. Nur auf der Grundlage dieser neuen Balance von Ausgaben und Einnahmen wird wieder Vertrauen in die Zukunft der Sozialsysteme entstehen können. Andererseits wird ein verschlechtertes Beitrags-Leistungs-Verhältnis die Legitimität der Sozialsysteme untergraben. Wenn die Höhe der Sozialbeiträge nicht verringert wird, dann bedeutet plurale Vorsorge auch plurale Belastung. Die Akzeptanz der sozialen Systeme würde vor allem bei den Jüngeren weiter zurückgehen, die neben der größeren Vorsorgebelastung auch die Ungewißheit über das zukünftige Leistungsniveau zu tragen haben

Die Legitimität des Sozialstaates beruht jedoch nicht nur auf globalen Reziprozitätskriterien im Sinne eines ausgewogenen Beitrags-LeistungsVerhältnisses. Folgt man der Argumentation von Peter Taylor-Gooby, dann werden die Einstellungen der Bürger zum Wohlfahrtsstaat von einem umfassenderen Eigeninteresse bestimmt Besondere Attraktivität genießt der bundesdeutsche Sozialstaat bei der Mittelschicht, weil er ihr lange Zeit Wohlfahrtszuwächse, sozialen Aufstieg und Statussicherung garantierte. Drastische Kürzungen im Rahmen einer Reform der sozialen Sicherung könnten auch einige liebgewordene Privilegien der Mittelschicht berühren. Das Interesse am Erhalt des bestehenden sozialstaatlichen Arrangements würde sich unter diesen Umständen vermutlich deutlich abschwächen.• Einen radikalen Sozialabbau wird es im Rahmen des korporatistischen Wohlfahrtsregimes der Bundesrepublik wohl nicht geben. Wahrscheinlicher sind Szenarien, die von einer längeren Phase der Stagnation in der Sozialpolitik ausgehen, in der sukzessive die Sozialleistungen vor allem für soziale Minderheiten beschnitten werden. Diese Prognose wirft Fragen nach der Integrationsfähigkeit des Sozialstaates auf.

Die Systeme der sozialen Sicherung sind als Mechanismen der kollektiven Risikovorsorge auch Bestandteil einer großen Umverteilungsmaschinerie. Ressourcen werden von einkommensstarken zu einkommensschwachen Gruppen, von jüngeren zu älteren Menschen, von Erwerbstätigen zu Erwerbslosen und von wohlhabenden in ärmere Bundesländer transferiert. Dieser auf gesellschaftlicher Solidarität beruhende Ausgleich trägt wesentlich zur Integration in der Gesellschaft bei. Der Abbau sozialer Leistungen vermindert die Ausgleichsfunktion des Sozialstaates und schwächt damit sein Inklusionspotential' Eine Zunahme der Exklusionsrisiken ist zunächst einmal für diejenigen zu erwarten, die in besonderem Maße auf die Leistungen des Sozialstaates angewiesen sind: erwerbs-bzw. mittellose, alleinstehende Hilfebedürftige. Doch wären nicht nur Randgruppen von der schwindenden Integrationskraft betroffen. Die Individualisierung der Risikovorsorge würde Tendenzen der Entsolidarisierung verstärken, die letztlich die gesamte Gesellschaft ergreifen.

Gleichzeitig würden sich auf der Ebene von Gemeinschaften jedoch neue Inklusionschancen eröffnen. Die Pluralisierung der Vorsorge könnte gemeinschaftliche Bindungen in privaten Netzwerken oder im Rahmen von Nonprofit-Organisationen aktivieren, ausweiten und stabilisieren helfen. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es kann in diesem Zusammenhang nicht darum gehen, vormoderne Gemeinschaftsformen wiederzubeleben. Ganz im Gegenteil -soziale Innovationen sind gefragt, die sich in den Rahmen einer modernen Bürgergesellschaft einfügen

Das Inklusionspotential von privaten Netzwerken und von freiwilligen Assoziationen sollte aber auch nicht überschätzt werden. Die Zunahme der räumlichen und sozialen Mobilität in der modernen Gesellschaft hat die Bindungsbereitschaft und die Bindungsfähigkeit der Menschen erodieren lassen. Zudem ist das zivile Engagement in den verschiedenen sozialen Gruppen ungleich ausgeprägt Eine Kompensation gesellschaftlicher Exklusionsrisiken durch gemeinschaftliche Inklusionschancen ist also nicht zu erwarten. Vielmehr ist zu befürchten, daß insbesondere Randgruppen doppelt ausgeschlossen werden -von der Gesellschaft und den Gemeinschaften.

Der Abbau von Sozialleistungen und die damit einhergehende Individualisierung der Risikovorsorge -soviel sollte deutlich geworden sein -bringen gesellschaftliche Veränderungen mit sich, die weit über die Problematik der sozialen Sicherung hinausreichen. Die plurale Vorsorge eröffnet hier neue Perspektiven der sozialen Sicherung und hält eine Reihe von Chancen bereit: Sie verspricht mehr Autonomie für die Bürger, eine Entlastung des Sozialstaates und die Aktivierung eines gemeinschaftlichen Inklusionspotentials. Dem stehen nahezu spiegelbildlich die Risiken gegenüber: Es drohen Unterversorgung und Autonomieverlust, Legitimitätsverfall und Exklusionsgefahren.

Eine aktive und an ordnungspolitischen Leitlinien orientierte Sozialpolitik könnte helfen, die Risiken und damit die gesellschaftlichen Spannungen zu verringern. Die Politik steckt jedoch in mehreren Zwangslagen. Dilemma 1: Werden die Sozialleistungen für tatsächlich hilfebedürftige Randgruppen gekürzt, vergrößert sich das Exklusionsrisiko für diese sozialen Gruppen. Werden statt dessen Besitzstände der Mittelschicht angetastet, droht dem System Legitimitätsverlust. Dilemma 2: Werden die Sozialleistungen nicht gekürzt, entzieht sich der Sozialstaat selbst seine ökonomische Basis. Wird dagegen zu radikal abgebaut, kommt es zu einer konfliktträchtigen Zunahme von Chancenungleichheiten. Wunder sollten also nicht erwartet werden. Der Abbau von Sozialleistungen wird sich nicht Verlust-und konfliktfrei realisieren lassen. Dennoch: Die politischen Parteien müssen einen Konsens über die zukünftige Leistungspalette der Sozialsysteme, die Leistungsniveaus und die Zugangsbedingungen aushandeln und in praktikable Reformvorhaben umsetzen. Erst auf dieser Basis können die Bürger ihre Risikovorsorge pluralisieren. Erst auf dieser Basis kann wieder das Vertrauen entstehen, in Zukunft bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit gut gesichert zu sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u. a. die Beiträge in: Leviathan, Sonderheft, (1978) 1.

  2. Vgl. die Übersichten zur Entwicklung der Sozialpolitik, in: Lothar E Neumann/Klaus Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main u. a. 1982, S. 26 ff. und Gerhard Naegele, Sozialarbeit zwischen Wirtschaftskrise, Sozialabbau und kommunaler Finanznot, in: Thomas Olk/Hans-Uwe Otto (Hrsg.), Der Wohlfahrtsstaat in der Wende. Umrisse einer künftigen Sozialarbeit, Weinheim u. a. 1985, S. 104 ff.

  3. In Westdeutschland stieg die mittlere Rentenbezugsdauer von 11, 2 Jahren (1970) auf 15, 7 Jahre (1996) (Statistische Angaben: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Rentenversicherungsbericht, in: Globus-Kartendienst, Blatt Nc 3456 vom 10. Juni 1996).

  4. Von 1991 bis 1997 sind 2, 527 Millionen Arbeitsplätze abgebaut worden. Für 1998 wird eine weitere Abnahme um 174 000 Stellen prognostiziert. (Statistische Angaben: Statistisches Bundesamt, Sachverständigenrat, in: Globus-Kartendienst Blatt Ka-4559 vom 17. Dezember 1997.)

  5. Steigende Sozialbeiträge machen die Arbeit immer teurer: Der von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu gleichen Teilen zu leistende Beitrag zur Renten-, Kranken-und Arbeitslosenversicherung (und seit 1995 auch zur Pflegever-Sicherung) wuchs von 26, 5 Prozent des Brutteinkommens im Jahr 1970 auf 42, 0 Prozent im Jahr 1997 an (Statistische Angaben: Bundesarbeitsministerium, in: Globus-Kartendienst, Blatt Na-3870 vom 13. Januar 1997.

  6. Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.), Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 1997, in: DIW-Wochenbericht, 63 (1997) 44.

  7. Sozialwissenschaftenbus III/1996 mit der Grundgesamtheit: Deutschsprechende Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland ab 18 Jahre. Realisierte Stichproben-größe: n = 3 097 Fälle.

  8. Frage: „Es gibt im Augenblick Diskussionen zum Sozial-umbau in Deutschland. Wenn Sie an die Zukunft denken, was meinen Sie? Wie werden Sie in Zukunft bei Krankheit, im Alter und bei Arbeitslosigkeit gesichert sein?“ 8 Prozent aller Befragten meinten „gut gesichert“, 29 Prozent sagten „eher gut gesichert“, 45 Prozent „eher schlecht gesichert“ und 18 Prozent „schlecht gesichert“. „Eher schlecht gesichert“ und „schlecht gesichert“ werden hier zusammengefaßt und als „unzureichend gesichert“ interpretiert.

  9. Vgl. Thomas Bulmahn, Reformstau und Verunsicherung. Einstellungen zum Umbau des Sozialsystems, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren ISI, (Juli 1997) 18, S. 6-9.

  10. Vgl. ebd., S. 7.

  11. Zum Vergleich: Im Jahr 1975 wurde ähnlich gefragt: „Sind Arbeitnehmer im Alter, bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit sozial gesichert?“ Damals antworteten 41 Prozent aller Befragten mit „gut gesichert“, 46 Prozent sagten „gerade ausreichend gesichert“ und 8 Prozent meinten „nicht genug gesichert“ (Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bürger und Sozialstaat, Forschungsbericht, Bonn 1980, S. 44).

  12. Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968, S. 74.

  13. Vgl. ebd., S. 71 ff.

  14. Vgl. zu den Folgen der Staatsüberlastung auf das subjektive Wohlbefinden der Bürger Helmut Klages, Überlasteter Staat -verdrossene Bürger? Zu den Dissonanzen der Wohlfahrtsgesellschaft, Frankfurt am Main 1981.

  15. Vgl. Anm. 8.

  16. Vgl. T. Bulmahn (Anm. 9), S. 9.

  17. Vgl. ebd., S. 8.

  18. Frage: „Wenn jetzt, am nächsten Sonntag, Bundestagswahl wäre, welche Partei würden Sie dann mit Ihrer Zweit-stimme wählen?“, Vorgabe: „Würde bestimmt nicht an der Wahl teilnehmen“, vgl. T. Bulmahn (Anm. 9), S. 7.

  19. Vgl. Renate Köcher, Die Zweifel wachsen in Ost und West -Arbeitslosigkeit und Reformblockaden unterminieren das Vertrauen in die politische und wirtschaftliche Ordnung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 16. Juli 1997, S. 5.

  20. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Aus der Neuen Welt -Nach Amerika schauen heißt in die Zukunft schauen, in: FAZ vom 13. August 1997, S. 5.

  21. Vgl. Forschungsinstitut für Ordnungspolitik (Hrsg.), Finanzierungs-und Belastungsgrenzen des Sozialstaates im Urteil der Bevölkerung, Arbeitspapier Nr. 1, Köln 1996, S. 73.

  22. Vgl. ebd., S. 80.

  23. Statistische Angaben vgl. Verband Deutscher Renten-versicherungsträger, Bundesarbeitsministerium, Die deutsche Lebensversicherung -Jahrbuch 1996, in: Globus-Kartendienst, Blatt Nc-4140 vom 26. Mai 1997.

  24. Vgl. Martin Diewald, Hilfebeziehungen und soziale Differenzierung im Alter, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 (1993) 4, S. 731-754.

  25. Zum Begriffspaar „objektive Sicherheit -subjektive Sicherheit“ vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1973; siehe auch Hans Braun, Soziales Handeln und soziale Sicherheit. Alltagstechniken und gesellschaftliche Strategien, Frankfurt am Main 1978.

  26. Vgl. das Konzept des Wohlfahrtspluralismus u. a. bei Wolfgang Zapf, Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsproduktion, in: Lothar Albertin/Werner Link (Hrsg.), Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland: Entwicklungslinien bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1981, S. 379-400; siehe auch Richard Rose, Common Goals but Different Roles: The State’s Contribution to the Welfare Mix, in: ders. /Shiratori Rei (Hrsg.), The Welfare State East and West, New York u. a. 1986, S. 13-39; Martin Rein/Lee Rainwater (Hrsg.), Public/Private Interplay in Social Protection -A Comparative Study, Armonk u. a. 1986.

  27. Vgl. zu dieser Systematik und der im folgenden verwendeten Terminologie Adalbert Evers/Thomas Olk, Wohlfahrtspluralismus -Analytische und normativ-politische Dimensionen eines Leitbegriffes, in: dies. (Hrsg.), Wohlfahrtspluralismus. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Opladen 1996, S. 9-60.

  28. Vgl. Eckhard Priller/Annette Zimmer, Ende der Mitgliederorganisationen?, Vortragsmanuskript, Berlin 1997.

  29. Vgl. die Beiträge in Adalbert Evers/Helmut Wintersberger (Hrsg.), Shifts in the Welfare Mix. Their Impact on Work, Social Services and Welfare Policies, Frankfurt am Main u. a. 1990.

  30. Vgl. T. Bulmahn (Anm. 9), S. 6.

  31. Die Terminologie folgt zum Teil A. Evers/T. Olk (Anm. 27), vgl. dort insbes. S. 23.

  32. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Staat und Wohlfahrtsproduktion, in: Hans-Ulrich Derlien/Uta Gerhardt/Fritz W. Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. Festschrift für Renate Mayntz, Baden-Baden 1994, S. 370 ff.

  33. Vor dem Hintergrund der Verteilungswirkungen des sozialen Systems lehnt bereits heute die Mehrheit der 18-bis 35jährigen die umfassende kollektive Risikovorsorge ab und favorisiert statt dessen Vorsorgemodelle, die auf die bloße Grundsicherung reduziert sind. Dagegen ist die Mehrheit der Älteren (65 Jahre und älter) für die vollständige Absicherung durch die gesetzlichen Versicherungssysteme (vgl. Forschungsinstitut für Ordnungspolitik [Anm. 21], S. 94 ff.).

  34. Vgl. Peter Taylor-Gooby, The Politics of Welfare: Public Attitudes and Behavior, in: Rudolf Klein/Michael O’Higgins (Hrsg.), The Future of Welfare, Oxford 1985, S. 72-91; zu den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat im internationalen Vergleich vgl. u. a. Steffen Mau, Ideologischer Konsens und Dissens im Wohlfahrtsstaat, in: Soziale Welt, (1997) 1, S. 17-37.

  35. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Schwindet die integrative Funktion des Sozialstaates?, in: Berliner Journal für Soziologie, 7 (1997) 1, S. 5-19; Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Helmut Berding (Hrsg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität: Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt am Main 1994, S. 15-45.

  36. Vgl. Ralf Dahrendorf, Die Zukunft der Bürgergesellschaft, in: Bernd Guggenberger/Klaus Hansen (Hrsg.), Die Mitte: Vermessungen in Politik und Kultur, Opladen 1993, S. 74-83.

  37. Vgl. Helmut K. Anheier/Eckhard Priller/Wolfgang Seibel/Annette Zimmer (Hrsg.), Der dritte Sektor in Deutschland, Berlin 1998.

Weitere Inhalte

Thomas Bulmahn, Dipl. -Soziologe, geb. 1965; 1990 bis 1995 Studium der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaften in Berlin; seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Abteilung Sozialstruktur und Sozialberichterstattung. Veröffentlichungen u. a.: Sozialstruktureller Wandel: Soziale Lagen, Erwerbsstatus, Ungleichheit und Mobilität, in: Wolfgang Zapf/Roland Habich (Hrsg.), Wohlfahrtsentwicklung im vereinten Deutschland. Sozialstruktur, sozialer Wandel, Lebensqualität, Berlin 1996; (zus. mit Steffen Mau) Zufriedenheiten und Zukunftserwartungen: Tendenz fallend. Vom Wohlstandsklima der 80er Jahre zum Problemklima der 90er Jahre, in: Informationsdienst Soziale Indikatoren (ISI), (Juli 1996) 16; Vereinigungsbilanzen. Die deutsche Einheit im Spiegel der Sozialwissenschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40-41/97.