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Geschichte umschreiben: Was ist Zionismus? | APuZ 14/1998 | bpb.de

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APuZ 14/1998 50 Jahre Israel: Versuch einer historischen Bilanz Geschichte umschreiben: Was ist Zionismus? Perspektiven der Holocaust-Rezeption in Israel und Deutschland Von Lausanne nach Oslo Zur Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts

Geschichte umschreiben: Was ist Zionismus?

Moshe Zimmermann

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ausgangspunkt der Darstellung ist die Tatsache, daß Geschichtsinterpretation und Geschichtsverständnis einer Gesellschaft Auskunft über deren Selbstverständnis und Identität geben können. Derartige Geschichtsinterpretationen finden ihren Niederschlag in den Lehrplänen für das Fach Geschichte. Der Beitrag gibt zunächst einen Überblick über die Struktur des israelischen Schulsystems und zeigt auf, wie sich die gesellschaftspolitischen Entwicklungen seit der Staatsgründung im Erziehungswesen niedergeschlagen haben. Am Beispiel der Auseinandersetzung um den neuen, in den frühen neunziger Jahren verabschiedeten Lehrplan für das Fach Geschichte an säkularen staatlichen Schulen Israels werden die kritischen Punkte des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels in Israel nachgezeichnet. Es geht um den Wandel im Verständnis des ursprünglich säkularen Zionismus, der durch das Vordringen ultra-orthodoxer und nationalreligiöser Kräfte in Politik und Gesellschaft, die in der Frühzeit des Staates nur eine sekundäre Rolle gespielt haben, zunehmend religiös interpretiert wird. Entsprechend werden die Werte des Staates immer mehr nach orthodoxen Vorstellungen geformt. Diese Tendenz geht mit einer Verunsicherung der säkularen Bevölkerung und einer ideologischen Ausrichtung der Gesellschaft auf einen religiös-staatlichen Partikularismus einher, der auch das Erziehungssystem beeinflussen möchte. Die Diskussion verläuft an den Begriffen des „Post-Zionismus“ und der Assimilation, der pluralistischen Demokratie und des religiösen Nationalismus. Es wird gezeigt, wie die Bastionen des ursprünglichen säkularen Zionismus -Kibbuzim, Militär, Universitäten und Sport -allmählich von religiösen Kräften dominiert oder zurückgedrängt werden. Der Versuch, eine einheitliche Konversion nach orthodoxem Muster in Israel gesetzlich durchzusetzen, wird als Zerreißprobe für die Gesellschaft in Israel bzw. für die Beziehung zwischen israelischem Judentum und Diasporajudentum gewertet. Er zeigt, wie Ende der neunziger Jahre Nation und Religion in Israel identifiziert werden und sich die israelische Gesellschaft dadurch zunehmend einem fatalen Partikularismus hingibt.

I. Einleitung

Den besten Einblick in Ansichten, Absichten, Selbstverständnis und Identität einer Gesellschaft erhält man durch die von dieser Gesellschaft akzeptierten Geschichtsinterpretationen, die ja meist Endergebnisse einer intensiven Debatte innerhalb der Gesellschaft, bisweilen sogar Resultate einer Krise, einer Zerreißprobe, sind. Derartige Geschichtsinterpretationen finden ihren effektivsten Ausdruck in der schulischen Erziehung. Eine kritische Betrachtung der Lehrpläne für das Fach Geschichte und ihrer Genese gibt daher nicht nur eine deutliche Auskunft über den Stand der historischen Forschung bzw. über den Stand der Diskussion unter den Experten, sondern auch über den Verlauf der jeweiligen Fronten in der innergesellschaftlichen Debatte.

Anfang der neunziger Jahre wurde vom Erziehungsministerium des Staates Israel eine Kommission einberufen, die den Lehrplan für das Fach Geschichte an der Sekundarstufe II -hier ist Geschichte Pflichtfach für alle Schüler -reformieren sollte. Im Gegensatz zu Deutschland ist Israel ein zentralistischer Staat, die Curricula werden für alle Schulen zentral konzipiert. Darüber hinaus arbeitet seit der Reform des israelischen Schulwesens Ende der sechziger Jahre ein Curriculum-Zentrum innerhalb des Erziehungsministeriums. Dieses Zentrum ist für die Gestaltung der Lehrpläne, des Unterrichts-materials und sogar für die Herausgabe von Schulbüchern zuständig. Daß diese Konstellation nicht zu einer völligen Zentralisierung des Erziehungssystems geführt hat, ist nicht Folge einer irgendwie vorhandenen föderalistischen Struktur oder verfassungsgebundenen Einschränkung, sondern ein Ergebnis der Aufteilung der Gesellschaft und in der Folge des Erziehungssystems in unterschiedliche Sektoren. Diese Aufsplitterung der israelischen Gesellschaft soll uns in der vorliegenden Darstellung näher beschäftigen.

II. Das israelische Schulsystem

Unter dem gemeinsamen Begriff des „staatlichen Schulsystems“ finden sich zwei Sektoren: der säkulare, „allgemeine“ Sektor und der religiöse. Beide Sektoren innerhalb des staatlichen Schulsystems haben ihren Ursprung in der vorstaatlichen Periode, also in der Zeit vor 1948, als es neben Schulen der Arbeiterbewegung auch Schulen der bürgerlich-liberalen und der national-religiösen Gesellschaftssektoren gab. Jede Schulrichtung entwikkelte ihre eigenen Lehrpläne gemäß der Ideologie der sie tragenden Gesellschaftsgruppe. Mit der Staatsgründung und dem Streben nach gesellschaftlicher Einheit in dem neuen Staat vereinigten sich die beiden nichtreligiösen Richtungen. Die religiöse Richtung war hingegen nicht bereit, ihre Selbständigkeit aufzugeben. Darüber hinaus existiert außerhalb des staatlichen Schulsystems, aber ebenfalls bereits seit vorstaatlicher Zeit, das ultra-orthodoxe Erziehungssystem mit seinen eigenen pädagogischen, gesellschaftlichen und politischen -antizionistischen -Vorstellungen und Institutionen.

Neben dem jüdischen Erziehungssystem gibt es in Israel auch ein arabisches, das für die Erziehung der israelischen Araber, die insgesamt 20 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen, zuständig ist. Der arabische Sektor ist Teil des staatlichen Schulsystems, jedoch im Hinblick auf „Werte“ und Normen, Geschichte und politische Bildung vom jüdischen System getrennt und ihm untergeordnet, worin das Problem der arabischen Gesellschaft in Israel mehr als deutlich wird. Infolge dieser Sonderstellung des arabischen Sektors berücksichtigt die vorliegende Darstellung nur den jüdischen Erziehungsbereich.

Das gespaltene Erziehungssystem Israels insgesamt, aber auch die Aufsplitterung des jüdischen Erziehungssystems demonstriert mindestens institutionell die tiefen Spannungen in der jungen israelischen Gesellschaft. Solange jedoch im staatlichen System die säkulare Komponente dominant war -nur zirka ein Fünftel der schulpflichtigen Kinder besuchte Schulen des staatlich-religiösen Bereiches solange im Gesamtsystem der jüdischen Erziehung in Israel die Grundwerte des Gründerzionismus ihre Gültigkeit bewahren konnten -und solange die ultra-orthodoxe Bevölkerung eher eine Exklave der israelischen Gesellschaft bildete blieb dieser Gesellschaft eine wirkliche Zerreißprobe erspart. Nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und dem Machtwechsel von 1977 -d. h.der Ablösung der Arbeiterregierung durch die „nationale“ Regierung der Likud-Partei -veränderte sich die Kräfterelation radikal. Seither vertieft sich die Kluft zwischen den Gesellschaftssektoren kontinuierlich, eine Entwicklung, die auch am Erziehungssystem des Landes nicht vorübergehen kann. Inhalte und Ziele der unterschiedlichen pädagogischen Ansätze sowie ihre Implementierung im Lernprozeß deuten zunehmend auf eine Revolutionierung der Gesellschaft hin, deren charakteristische Elemente folgendermaßen beschrieben werden können:

Die immer enger werdende Beziehung zwischen dem nationalen, bürgerlichen Lager und dem national-religiösen Lager in der Politik äußerte sich in einem parallelen Konsens in der Erziehung. Der romantische Nationalismus der politischen Rechten entwickelte eine gemeinsame Sprache mit dem national-messianischen Zionismus, wie er unter anderem in den staatlich-religiösen Schulen anzutreffen war.

Die Ultra-Orthodoxie löste sich seit der Wende 1977, also seit der Gründung der Likud-Regierung, aus ihrer Abseitsposition in der israelischen Gesellschaft. Die generelle Tendenz unter der ursprünglich säkularen Bevölkerung, sich für eine „Rückkehr zur Religion“ zu entscheiden, und vor allem die von Religiösen aller Richtungen politisch und ideologisch instrumentalisierten „heiligen“ Stätten in den besetzten („befreiten“) Gebieten schufen eine gemeinsame Basis für die ursprünglich eindeutig getrennten religiösen Gruppierungen. Diese gemeinsame Basis der religiösen Kräfte dient als Ausgangspunkt zum „Gegenangriff“ auf die säkulare Gesellschaft.

Die säkularisierte Mehrheit verlor nicht nur quantitativ ihre Vorrangstellung, sie verlor auch ihre Selbstsicherheit. Heute will anscheinend sogar die säkulare Bevölkerung nur im Wertesystem der Religiösen die „echten“ Werte erblicken. Dort, wo früher liberale und vor allem sozialistische Werte im Mittelpunkte standen, hat sich Unsicherheit breitgemacht. Es geht nicht alleine um einen quantitativen Zulauf zu den Gruppen der religiösen Bevölkerung, sondern vielmehr um die Bereitschaft der angeblich nichtreligiösen Bevölkerung, religiöse Institutionen, Normen und „Werte“, wenn auch unbewußt, zu akzeptieren. Die unter dem ersten Punkt genannte Kombination beeinflußt auf diesem Wege auch den „nichtnationalistischen“, säkularen Block.

Die radikale demographische Veränderung der Gesellschaftsstruktur im ersten Jahrzehnt nach der Staatsgründung schuf die Voraussetzung für den Erfolg der neuen Kombinationen. Die nichteuropäischen Neueinwanderer -vor 1948 nur zehn Prozent, seit den fünfziger Jahren nahezu 50 Prozent der Gesamtbevölkerung -haben Vorstellungen von Zionismus und jüdischer Identität, aber auch von der Rolle der Religion in das System eingebracht, die sich von denen ihrer europäischen Vorgänger unterscheiden. Diese Bevölkerungsgruppen konnten aufgrund ihrer Traditionen die Kluft zwischen national-religiös und ultra-orthodox schließen und eine alternative Art des Zionismus bzw.der Zionismusinterpretation entwickeln. Sie förderten daher -historisch vom europäischen Sozialismus wenig berührt -die oben genannten charakteristischen Merkmale des gesellschaftlichen Wandels in Israel.

Alle genannten Elemente der Kulturrevolution fanden ihren Ausdruck in der politischen Pro-grammatik, in der Erziehung sowie in der Gestaltung der kollektiven Erinnerung und des Geschichtsbewußtseins. Die Vermischung eines romantischen, ethnozentrischen Nationalismus mit Religiosität im Sinne der jüdischen Orthodoxie, nicht der liberalen Richtung der jüdischen Religion, und die Betonung der „jüdischen“ Inhalte im zionistischen Staate traten im Laufe der Zeit zunehmend in den Vordergrund.

III. Infragestellung des israelischen Selbstverständnisses

Der Lehrplan für das Fach Geschichte in israelischen Schulen ist, wie in anderen Ländern wohl auch, darauf bedacht, Geschichtsbewußtsein und kollektive Erinnerung zu gestalten, und ist als solcher angesichts der stark heterogenen Bevölkerungsstruktur durchaus eine problematische Angelegenheit. Ein allgemeines, einheitliches Geschichts-Curriculum ist ausgeschlossen, weil die vier unterschiedlichen Sektoren des Schulwesens völlig voneinander abweichende historiographische Positionen vertreten, die a priori keine Annäherung erlauben. Selbst das im staatlichen System noch in den neunziger Jahren vorhandene Bemühen um eine gemeinsame Formulierung der pädagogischen Ziele wurde inzwischen aufgegeben. Vier Sektoren leben nebeneinander und brauchen jeweils ihre eigenen Historien, um sich selbst bestätigen und, wenn möglich, auf die anderen Richtungen Einfluß nehmen zu können. Die vorliegende Darstellung der Debatte um die Curricula der staatlich-säkularen Schulen, die noch immer die Mehrheit aller Schulen ausmachen, wird zeigen, wie weit die Revolution der israelischen Gesellschaft und Kultur bzw.der „Kulturkampf“ bereits fortgeschritten ist.

Lehrpläne im Fachbereich Geschichte verfolgen kognitive Ziele und Zielsetzungen im Hinblick auf gesellschaftliche Werte. Bereits 1975 und noch einmal 1995 formulierte die Curriculum-Kommission folgende Ziele als anzustrebende Werte: erstens die Beurteilung von historischen Ereignissen aufgrund allgemein-humaner moralischer Werte; zweitens die Förderung von Verständnis und Toleranz gegenüber Gefühlen, Traditionen und Lebensformen von anderen Menschen und Völkern und drittens die Förderung der Identifikation mit Volk und Staat.

Diese Formulierungen waren schon 1975 für das staatlich-religiöse System unakzeptabel. Insbesondere das letzte Ziel ging den Vertretern des staatlich-religiösen Systems nicht weit genug -obwohl es schon in dieser Formulierung ein Kompromiß mit den stärker „patriotisch“ orientierten Mitgliedern der damaligen Kommission war. Sie verlangten bereits 1975, von einer „Förderung der Identifikation mit dem Volk Israel, mit dem Land Israel (Erez Israel), mit der jüdischen Religion und dem Staate Israel“ zu sprechen; ein Zusatz, in dem es nicht nur um die Religion geht, sondern auch um das Land, wobei der Begriff „Erez Israel“ eine klare politische Aussage beinhaltet -gemeint ist das ganze Land, einschließlich der besetzten Gebiete. 1975 konnte jedoch noch der Versuch unternommen werden, ein gemeinsames Curriculum mit unterschiedlich formulierten Zielen der Wertsetzung für säkulare und religiöse Schüler zu veröffentlichen. 1995 mußten die Sektoren absolut getrennte Wege gehen -ein Umstand, der die tiefer werdende Kluft in der israelischen Gesellschaft besonders deutlich zum Ausdruck bringt. Für die Vertreter der religiösen Richtung im Erziehungssystem waren nicht nur einzelne von den zwei ersten, oben genannten Wertsetzungen abgeleitete und neu formulierte Sekundärziele (wie „die Ablehnung jedes dogmatischen Denkens“ oder „die Erkenntnis, daß auch die die Nation betreffenden Fragen aus verschiedenen Perspektiven gesehen werden können“) riskant, sondern auch die zum dritten Ziel gegebene Erläuterung „Kenntnisse über und Einschätzung der kulturellen Traditionen ..., die sich im Laufe der Geschichte im jüdischen Volke im Lande (Israel) und in der Diaspora herauskristallisiert haben“. Insbesondere die Nennung von Traditionen im Plural (!) galt als unerhört. Es wird im weiteren Verlauf dieser Abhandlung gezeigt werden, wie stark die Tendenz in Israel, im „Judenstaat“, zur Entpluralisierung der jüdischen Geschichte und der jüdischen Gesellschaft geworden ist. Man verlangt nach „einem Volk“ mit einer Tradition.

Die neue Curriculum-Kommission wurde im Jahr 1991 deshalb vom Erziehungsministerium einberufen, weil im Geschichtsunterricht wie in anderen Fächern die 15-20 Jahre alten Lehrpläne revisionsbedürftig geworden waren. Die historische Forschung einerseits und die gesellschaftlichen Bedingungen andererseits hatten sich verändert. Darüber hinaus mußte den allgemeinen Tendenzen der Deregulierung und dem Streben nach Dezentralisierung und Privatisierung auch im pädagogischen Kontext Rechnung getragen werden. Alle Faktoren haben sich in dem neu formulierten Curriculum niedergeschlagen: Schulbuchautoren, Lehrer und Schüler erhielen mehr Freiheit in der Auswahl von Inhalten, Schwerpunkten und Methoden. Allgemeine Richtlinien ersetzten rigide Vorschriften, der Rahmen wurde insgesamt gelockert.

Eine Kommission, in der neben Fachhistorikern aus dem universitären Bereich auch Lehrer und Vertreter des Ministeriums sitzen und deren Mitglieder diametral entgegengesetzte politische Sympathien hegen, hat es selbstverständlich schwer, eine gemeinsame Formulierung eines Curriculums zu erarbeiten. Daß darüber hinaus die eigentliche Entscheidung über ein Curriculum letztlich bei Gremien liegt, deren Zustimmung zu den Kommissionsempfehlungen teilweise aufgrund politischer Erwägung erfolgt, erschwert ein rein sachliches Ergebnis zusätzlich. Dennoch konnte 1995 der neue Lehrplan für das Fach Geschichte in Kraft treten

Das neue Curriculum bot Joel Ben-Nun, einem Rabbiner aus der in den besetzten Gebieten liegenden Siedlung „Ofra“, Grund zu Unzufriedenheit und Protest. Joel Ben-Nun gilt unter den Siedlern als gemäßigter Rabbiner, der sich gegenüber Rabbinern, die den Mord an Ministerpräsident Yitzhak Rabin quasi rechtfertigten, offen und kritisch geäußert hatte. Vier Monate vor der Ermordung Rabins jedoch wandte sich Ben-Nun an Amnon Rubinstein, Erziehungsminister in Rabins Regierung und Abgeordneter der linksgerichteten liberalen Partei Merez, mit einer ausführlichen Kritik an dem neuen Curriculum Es ist bezeichnend, daß ein Vertreter des religiösen, ja sogar des national-religiösen Sektors glaubte, die Entscheidung über das historische Selbstverständnis der säkularen Bevölkerung, d. h.des staatlich-säkularen Erziehungssystems, beeinflussen zu müssen, und daß der Erziehungsminister, der keineswegs zum „nationalen Lager“ gehörte, die Kritik des Rabbiners nicht schon aus diesem Grund zurückgewiesen hat. Das säkulare Lager ist in jeder Hinsicht bereits so weit verunsichert, daß es selbst seine eigene Autonomie -nicht nur im Bereich der Erziehung -anscheinend nicht bewahren kann.

Die einleitenden Worte in Ben-Nuns Brief an den Erziehungsminister veranschaulichen das Ausmaß der (orthodoxen) Kulturrevolution in Israel in den neunziger Jahren. Ben-Nun schreibt dort: „Mehrere Erscheinungen akkumulieren sich und deuten auf einen gewaltigen , säkularen‘ Prozeß in bezug auf den Zionismus und sein Recht, in bezug auf das klassische Wesen Israels und seine Werte sowie in bezug auf Israel als jüdischen Staat.“ Hier wird der Eindruck vermittelt, als wäre der klassische Zionismus religiös und säkulare Vorstellungen post-zionistisch. Dabei werden Begriffe erfunden, und die Geschichte des Zionismus wird auf den Kopf gestellt: Der Zionismus entstand als politische Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und war mindestens bis zur Staatsgründung 1948 ein sich am Vorbild der europäischen Nationalbewegungen orientierendes, säkulares, nicht religiöses Phänomen. Theodor Herzl und seine Entourage haben eine religiöse Ideologie strikt abgelehnt. Der Zionismus der Gründerzeit zeichnete sich dadurch aus, daß er die religiösen Wurzeln, auf jeden Fall aber die orthodox-religiöse Tradition, die sich in der Diaspora entwickelt hatte, schlichtweg negierte. Der Zionismus verstand sich als moderne Nationalbewegung, die einen „neuen Juden“ schaffen wollte und ihn entsprechend modern und national definierte. Die Definition des israelischen Wesens orientierte sich entsprechend an diesen Vorstellungen -eines neuen, säkularen Juden. Die religiösen Zionisten waren eine kleine Minderheit im Zionismus, eine Ausnahme für religiöse (orthodoxe wie liberale) Juden überhaupt, die ja den Zionismus als „falschen Messianismus“ ablehnten. Wenn also ein orthodoxer Rabbiner im Jahre 1995 es wagt, über eine säkulare Geschichtsinterpretation des Zionismus und des israelischen Wesens zu klagen und von einem nichtreligiösen Erziehungsminister die Übernahme einer alternativen, religiösen Interpretation als einzig zulässiger fordert, so ist hier bereits eine dramatische Entwicklung zum Abschluß gelangt.

Tatsächlich hat sich in den letzten 50 Jahren in Israel zunehmend eine klare Wende abgezeichnet: Während die religiösen Zionisten, die sich in der Nationalreligiösen Partei (Mafdal) politisch artikulierten, von der Peripherie immer stärker ins Zentrum des Zionismus rückten und ein neues zionistisches Selbstverständnis erzeugten, begünstigte der Beitritt der Ultra-Orthodoxen in die Koalition mit dem „nationalen Block“ Menachem Begins im Jahre 1977 trotz aller Meinungsverschiedenheiten und Differenzen eine Annäherung zwischen Nationalreligiösen und antizionistischen Ultra-Orthodoxen. Eine neue Interpretation des Zionismus und seiner Geschichte war zugleich Ergebnis und Voraussetzung für einen weiteren gemeinsamen Siegeszug der religiösen Kräfte in Israel: Der Zionismus, so hieß es nun, sei nicht erst hundert Jahre, sondern zweitausend Jahre alt. Die Sehnsucht nach Zion, die innere Bindung an das „Heilige Land“ sei eben Zionismus. Dieser Zionismus habe religiösen Charakter. Der politische Zionismus nach Theodor Herzls Vorstellung, so verläuft die Argumentation weiter, sei nur eine neue politische Phase des Zionismus gewesen, habe auf Vorläufern und Vorkämpfern aus dem religiös-orthodoxen Lager beruht -hier beruft man sich immer wieder auf die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkenden Rabbiner Alkalai und Kalischer -und sei selbst hinter der weltlichen Fassade eigentlich religiös gewesen.

Eine derartige Auslegung der Geschichte konnte leicht Verbreitung finden, und zwar nicht nur, weil der Zionismus tatsächlich die dialektischen Keime einer solchen Interpretation in sich trägt, sondern auch wegen der Bezeichnung der Bewegung, die sich als national-jüdische Bewegung und Organisation gegründet hatte und die ursprünglich auch diesen Namen tragen sollte. Nur war es allerdings vor hundert Jahren heikel, als national-jüdische Bewegung aufzutreten oder sich als solche zu bezeichnen: Antisemiten hatten Juden stets doppelte Loyalität und eine Existenz als „Staat im Staate“ vorgeworfen. „National-jüdisch“ als Gegenpol zu „national-deutsch“ oder „nationalfranzösisch“ schien die Vorwürfe der Antisemiten zu bestätigen. Im jüdischen Lager selbst waren orthodoxe wie auch liberale Juden nicht mit einer nationalen Definition des Judentums einverstanden. Um allen Gegnern dieses national-jüdischen Selbstverständnisses ausweichen zu können und Anhänger in der breiten jüdischen Öffentlichkeit zu finden, griffen die Gründerväter der Bewegung zu der scheinbar neutralen, biblisch klingenden Bezeichnung „Zionismus“, die 1893 von Nathan Birnbaum geprägt worden war. Dieser Begriff hat mit der Zeit nicht nur seine neutrale Konnotation verloren, sondern wurde zum Verhängnis für die zionistische, d. h. national-jüdische Bewegung im eigenen Staate. Spätestens seit 1967, seit der Besetzung der im Sechs-Tage-Krieg gewonnenen Gebiete mit ihren biblischen Assoziationen, konnte sich die alternativ zionistisch-religiöse „Bibel-und-Boden“ -Interpretation der Essenz des Zionismus immer stärker durchsetzen. Hier liegen die Wurzeln des in der Einleitung behaupteten Tatbestandes zum Brief des Rabbiners an den Erziehungsminister.

Typisch für die Haltung des religiösen Lagers in Israel ist nicht nur die patronisierende Pose gegenüber den säkularisierten „Ignoranten“, sondern auch die ständige Angst vor einer angeblichen Verschwörung der Nicht-Orthodoxen. „Zwanzig Jahre reichen nicht aus, um ein Geschichts-Curriculum veralten zu lassen und es durch einen neuen Lehrplan ersetzen zu müssen“, meinte Ben-Nun. „Wahrscheinlich ist die Verjährung des Zionismus (im Sinne der religiösen Kräfte -M. Z.) der Grund für diese Entscheidung.“ Die professionelle, zeitgemäße Begründung für die Akzentverschiebung der methodologischen Ansätze im neuen Curriculum -wörtlich heißt es dort: „Gegenüber der vergangenen Betonung der politischen Geschichte und der Ideengeschichte wird, nach dem Stand der neuesten Forschung und gemäß dem Bedarf der Schulkinder, die Sozialgeschichte und die Kultur-geschichte hervorgehoben“ -lehnt der Rabbiner als „diplomatische Formulierung“, die die wahren Absichten der Verfasser vertuscht, ab. Der Rabbiner kennt sich in der historischen Forschung nicht aus. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, sich polemisch über den Begriff „Forschungsstand“ zu äußern. Daß das Curriculum den „entscheidenden Einfluß der westlichen Kultur auf die jüdische Geschichte“ ebenso berücksichtigt wie die „Entstehung des globalen Dorfes“ oder daß die neunziger Jahre als Geschichte behandelt werden, hält er für eindeutige Beweise einer „post-zionistischen Weltanschauung“.

Mit dem Begriff „Post-Zionismus“ operiert das national-religiöse Lager, um die kritischen Historiker und Sozialwissenschaftler in Israel zu diskreditieren. Nachdem die religiösen Ideologen die klassische zionistische Weltanschauung usurpiert und neu interpretiert und den Zionismus für sich vereinnahmt hatten, gingen die religiösen Zionisten -abgesehen von einer kleinen moderaten Gruppe innerhalb dieses Lagers -zum Gegenangriff über. Dieser Gegenangriff verlief nun besonders erfolgreich -und das zeigt gerade der Versuch, den Begriff „Post-Zionismus“ als Argument im Diskurs mit dem liberalen Erziehungsminister zu benutzen -, weil die traditionelle zionistische Historiographie und ihre Anhänger die Kritik der von ihnen als „Post-Zionisten“ bezeichneten soge-nannten „neuen Historiker“ ebenfalls grundsätzlich ablehnen. So entstand die sonderbare Koalition, die unheilige Allianz, der traditionellen säkularen Zionisten und der „neuen“, d. h. religiös-orthodoxen Zionisten, die die von Rabbiner Ben-Nun vertretene Meinung unterstützen. Und in der Tat leitet der liberale Erziehungsminister seine apologetische Antwort an Rabbiner Ben-Nun mit den Worten ein: „Ich nehme an der Kritik am sogenannten Post-Zionismus teil und werde dafür sogar gescholten“, um dann dazu überzugehen, das neue Curriculum als -doch -nicht post-zionistisch zu verteidigen. „Um dem Erlernen der Geschichte einen Fokus zu verleihen und eine Synthese anzustreben, wurde (im Lehrplan) versucht, die Trennung zwischen jüdischer'und allgemeiner’ Geschichte zu überwinden“, heißt es im neuen Curriculum. Und weiter: „Es gibt eine Geschichte, und die Einheit der Geschichte kommt u. a. durch die Benutzung der gemeinsamen Begrifflichkeit zum Ausdruck ... Die Geschichte (der Juden) wird ständig in ihrem allgemeinen Zusammenhang gelernt.“ Diese Umsetzung des oben erwähnten Ziels der „Beurteilung von historischen Ereignissen aufgrund von allgemein-humanen moralischen Werten“ oder die Benutzung allgemein gültiger Paradigmen durch das neue Curriculum gelten den Vertretern der national-religiösen Interpretation als rotes Tuch, wobei diese Interpretation inzwischen, wie bereits erwähnt, auch im nationalistisch-säkularen Lager Fuß fassen konnte und nun das gesamte System nach ihren Vorstellungen prägen möchte. Diese Interpretation geht a priori von der Besonderheit des jüdischen Volkes aus und lehnt deshalb jeden Versuch ab, Geschichte komparativ zu betrachten. Wenn die Besonderheit und Auserwähltheit des jüdischen Volkes und seiner neuesten, israelischen Geschichte ein Axiom sind, dann ist jeder Vergleich einer Ketzerei gleichzusetzen. Daß gerade über den Vergleich nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch Besonderheiten zum Vorschein kommen können, irgnorieren die Vertreter dieses neuen Zionismus, des Post-Zionismus im eigentlichen Sinne, kategorisch. Die Geschichte des Antisemitismus, so Ben-Nun, dürfe nicht als Beispiel des Rassismus behandelt werden; der Holocaust dürfe nicht unter dem Gesichtspunkt des Zweiten Weltkriegs oder als „Beispiel eines mörderischen Faschismus“ unterrichtet werden; und -für diese Abhandlung am wichtigsten -„es gibt keine Parallele zur zionistischen Rückführung der Exulanten“. Zionismus „ist kein , Nationalismus 1, sondern Rückführung der Exulanten“. Daß der Rabbiner den Text des neuen Curriculum hier nicht richtig gelesen oder falsch verstanden hat, ist Nebensache. Die aufoktroyierte, apriorische Weltanschauung sui generis ist entscheidend. Aus ihr leitet sich nach Ben-Nun die Schlußfolgerung ab, daß im Gegensatz zu anderen Völkern, bei denen „die Geschichte ausdrücklich säkular“ sei, die Geschichte im Hinblick auf das Volk Israel ein religiöser Grundpfeiler ist. Daß diese Position auch den säkularen, israelischen Juden abverlangt wird, zeigt wiederum das Ausmaß der Kulturrevolution im Zionismus.

Assimilation war der Begriff, der die gesellschaftliche und kulturelle Anpassung der Diaspora-Juden an ihre Umgebung beschreiben sollte. Jüdische Assimilation ist der große Feind des orthodoxen Judentums, aber auch des Zionismus. Im Wörterbuch des Zionismus sind die Begriffe „Assimilation“ und „Assimilant" von Anfang an stark negativ besetzt gewesen. Hier ergibt sich wieder eine gemeinsame Front der religiös-orthodoxen Nicht-Zionisten sowie der national-religiösen und der säkularen traditionellen Zionisten. Die Instrumentalisierung des Begriffes „Assimilation“ kann sich deshalb besonders effektiv auswirken. Und so ist die zentrale Schlußfolgerung, die Rabbiner Ben-Nun aus seiner gesamten Kritik zieht, außergewöhnlich bezeichnend: Ben-Nun begreift das neue Curriculum zusammenfassend als „Assimilation der Geschichte der Juden an die allgemeine Geschichte, wie es die Assimilanten seit Generationen wollten“. Die Betrachtung der jüdischen Geschichte unter Berücksichtigung des allgemeinen historischen Kontexts als Assimilation zu verurteilen ist jedoch nicht nur ein Verstoß gegen die Grundregeln der modernen Historiographie, sondern auch eine buchstabengetreue Übernahme und Anwendung des biblischen Wortes von dem „Volk, das für sich alleine wohnt“, also ein Plädoyer für die absolute Absonderung und Besonderheit Israels.

Ein innovatives Element im neuen Curriculum sind jährliche „historische Querschnitte“ -integrative Themen, die eine längere Zeitspanne abdekken und unter Umständen chronologisch bis in die Zeit des jeweiligen Schuljahres reichen. Hier finden sich als Themenvorschläge u. a. „Interkulturelle Begegnungen vom 10. bis zum 18. Jahrhundert“ für die 7. Klasse, „Die Änderung der Raumvorstellung -von der Kutsche bis zum Flugzeug“ für die 8. Klasse, „Widerstand gegen Tyrannei im 17. -20. Jahrhundert“ oder „Zeremonien und Riten im 18. -20. Jahrhundert“ für die 9. Klasse. Rabbiner Ben-Nun vermißte hier „jüdische Themen“ und hielt die Querschnittsthemen für „absolut säkular, absolut assimiliert, absolut neutral“. Statt sich die im detaillierten Plan angedeuteten Hinweise auf Vergleichselemente aus der jüdischen Geschichte zu merken, verlangte Rabbiner Ben-Nun die Hervorhebung bestimmter Voreingenommenheiten in bezug auf den jüdischen Beitrag zur Weltgeschichte, um das Curriculum zu „entsäkularisieren“.

Ben-Nun verhielt sich zwar kritisch und distanziert gegenüber den Rabbinern und Siedlern, die Verständnis für das 1994 von Baruch Goldstein verübte Massaker an 29 betenden Muslims in Hebron oder für die Ermordung des häufig als „Verräter“ bezeichneten israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin 1995 zeigten. Doch die historische Interpretation und Weltanschauung, die er in seiner Kritik am neuen Curriculum für das Fach Geschichte zum Ausdruck brachte, enthält letztlich die wichtigsten Elemente des Abschieds vom traditionellen säkularen Zionismus, die am 4. November 1995 in der Ermordung Rabins kulminierten.

Wie verunsichert die Vertreter des säkularen zionistischen Lagers geworden sind, zeigte im hier erörterten Fall die gesamte Reaktion des Erziehungsministers Zunächst überließ der Minister die Antwort nicht einem Sprecher des Erziehungsministeriums oder dem Vorsitzenden der Curriculum-Kommission. Die Autorität eines Rabbiners, auch wenn er zu den Siedlern auf der West-Bank gehört, ist sogar in den Augen der säkularen Israelis unumstritten. Bereits hingewiesen wurde auf den Umstand, daß die Antwort apologetisch formuliert wurde.

Symptomatisch ist darüber hinaus die Art des Versuchs des Ministers, die Methode des historischen Vergleichs zu verteidigen. Im Rahmen des Kapitels über „die politischen Systeme zwischen den Weltkriegen“, wo der Kommunismus, der Nationalismus und die demokratisch-liberalen Regime zu behandeln sind, ist im neuen Curriculum ein Unterkapitel über „Tendenzen im Diaspora-Judentum“ vorgesehen. Erläuternd wurde im Unterrichtsplan festgelegt, daß hier „Assimilation, politische Strömungen (Bund, Zionismus etc.) usw.“ zu behandeln sind. Diese Zusammenstellung ist für national-religiöse Kritiker wiederum unakzeptabel -den „jüdischen Arbeiterbund“ in Zusammenhang mit dem Zionismus zu nennen, könne nicht gestattet werden. Eine sozialistische, nicht zionistische und in der Diaspora tätige Organisation dürfe auch indirekt nicht mit dem Zionismus verglichen werden. Daß der „Bund“ vor dem Zweiten Weltkrieg nicht weniger Mitglieder als die Zionistische Bewegung hatte, wird nicht als Gegenargument akzeptiert. Der Erziehungsminister greift dieses Beispiel auf, um zu zeigen, daß der Vergleich für Ben-Nuns Positionen günstig ausfällt: „Wer parallel über den Bund’ und den Zionismus lernt, wird sofort in der Lage sein, zwischen einem historischen Kuriosum und einer erfolgreichen nationalen Bewegung zu unterscheiden, deren Frucht der Staat Israel ist“, schrieb der Minister in seiner Antwort. Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen, daß es der militärische Erfolg des Deutschen Reiches in Polen und der militärische Erfolg des Britischen Empires in El Alamein waren, die den Unterschied zwischen dem vermeintlichen Kuriosum und dem angeblichen Erfolg hervorriefen. Einen Monat nach der Antwort des Erziehungsministers wurde Yitzhak Rabin ermordet.

IV. Israel zwischen Demokratie und religiösem Nationalismus

Die Diskussion um das neue Curriculum hat bisher nicht zu einem entscheidenden Eingriff im Sinne des Angriffs von Ben-Nun geführt. Doch der liberale Erziehungsminister befindet sich heute in der Opposition, das „nationale Lager“ ist wieder an der Regierung. Im Erziehungsministerium -jetzt von einem national-religiösen Minister geleitet -steht die Errichtung einer „Abteilung für Werterziehung“ im Mittelpunkt. Zum 50. Jahrestag der Gründung des Staates Israel entsteht die Initiative „des jüdischen Bücherschranks“, mit der allen jüdischen Israelis die Meisterwerke des Judentums empfohlen werden. Allerdings handelt es sich bei diesem Bücherschrank um eine orthodox-religiöse Bibliothek. Das Schicksal des neuen Geschichts-Curriculums der staatlich-säkularen Schulen ist noch abzuwarten.

Die gesamte Diskussion steht stellvertretend für eine breitere Diskussion um den Charakter des Zionismus und die Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft im heutigen Israel. Die Bastionen des Gründerzionismus sind bereits gefallen. Die Kibbuzim, einst Paradebeispiele für den neuen, säkularen Zionismus, sind nicht nur wirtschaftlich bankrott, sie sind zum Prügelknaben der Nation geworden. Daß die Kibbuzim in der Mehrheit heute auch eine orthodoxe Synagoge haben, ist nur ein zusätzliches Zeichen der Umwertung der Werte des „neuen zionistischen Menschen“ von 1948.

Das Militär, die zweite Bastion des Zionismus und das unumstrittene Symbol des israelischen Wesens, verwandelt sich in eine Institution, die dem orthodoxen Ideengut Platz einräumt: Seit zwanzig Jahren gibt es orthodoxe Jeshivot (rabbinische Hochschulen) im Rahmen des Militärs. Im Offizierskorps sind religiöse Offiziere gegenwärtig so stark vertreten wie früher die „Kibbuzniks“. Und die extreme chassidische „Chabad“ -Bewegung hat Zugang zu Erziehungsveranstaltungen des Militärs erhalten. Vor dem Hintergrund der heutigen Hauptaufgabe des Militärs, die Westbank, d. h. „Ganz-Israel“, gegen die Übergabe an die Palästinenser zu „verteidigen“, ist diese Entwicklung eine logische Konsequenz.

Die dritte Bastion des Zionismus, die Universität, befindet sich in einem Rückzugsgefecht gegen die Jeshivot. Es gibt bereits mehr Studenten an den Jeshivot als an den Universitäten; Jeshiva-Studenten werden vom Staat subventioniert, und das israelische Parlament diskutiert die Anerkennung des Titels eines Rabbiners als akademischer Titel zum Zwecke der Anstellung im öffentlichen Dienst als Akademiker.

Die vierte Bastion ist der Fußball-Sport. Fußballspieler erscheinen nicht nur in Wahlspots der ultra-orthodoxen Partei Shas, auch die Verlegung der Spiele der Fußbailiga von Sabbat-Samstag auf einen Wochentag, d. h. die Änderung des Charakters des staatlichen Ruhetages aus religiösen Gründen, wird intensiv diskutiert. Wenn diese lange Zeit als unantastbar geltende Bastion fällt, erübrigt sich die Debatte um das Geschichts-Curriculum.

Das Rückzugsgefecht des säkularen Zionismus mit dem Fall der einzelnen Bastionen wird von den religiösen Kräften, wie Ben-Nuns Ausführungen gezeigt haben, unter dem Deckmantel der Singularität und Einheit des jüdischen Volkes geführt. Alternative Richtungen im Judentum und im Zionismus werden als Unterminierung der Einheit des Volkes -nach den eigenen Vorstellungen -und der singulären Aufgabe Israels gebrandmarkt. Im Namen der „Einheit des Volkes“ wurde jeder Versuch abgewehrt, in Israel die Zivilehe einzuführen, die angeblich das Volk spalten werde, weil Kinder der in einer Zivilehe verheirateten jüdischen Paare keine religiösen Juden heiraten werden.

Die heftige Diskussion um ein „Konversionsgesetz“ stellt die israelische Gesellschaft vor die endgültige Zerreißprobe: Die religiösen Parteien streben ein „Konversionsgesetz“ an, nach dem von allen Instanzen in Israel nur eine im Rahmen der orthodoxen Richtung stattgefundene Konversion akzeptiert werden kann. Hier geht es nicht nur um die Ausbreitung der bereits ohnehin bestehenden Monopolstellung der Orthodoxie als religiöse Richtung Israels. Hier geht es um die Bekämpfung der großen alternativen Strömungen, die in der Diaspora die Mehrheit des Judentums ausmachen.

Die parlamentarische Verabschiedung eines entsprechenden „Konversionsgesetzes“ bedeutet die Spaltung zwischen Diasporajudentum und israelischem Judentum!

Verfechter des Monopols der orthodoxen Konversion in Israel, mehrheitlich selbst keine religiösen Menschen, überziehen das Land und die Zeitungen mit Transparenten und Anzeigen, auf denen das Motto „Ein Volk -eine Konversion“ zu lesen ist. Wer Geschichte im universalen Kontext lernt, meidet Parolen, die mit „Ein Volk, ein ...“ beginnen. Wer die jüdische Geschichte isoliert betrachtet, wird mit diesem Slogan keine Probleme haben. Aber noch wichtiger in diesem Zusammenhang ist, daß hier ein religiöser Akt, die Konversion, als entscheidendes Merkmal der Nation, der Nationalität, aufgefaßt wird; hiermit wird eine Identifizierung von Nation und Religion vollzogen, die letztlich zur Abschottung des „einen Volkes“ Israels vom übrigen Judentum samt einer rein orthodox-religiösen Definition der in Israel lebenden jüdischen Menschen führt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lehrplan Geschichte: 6. -9. Klasse des staatlichen Schulsystems, Jerusalem 1995.

  2. Vgl.den Brief von Joel Ben-Nun an Amnon Rubinstein vom 2. 7. 1995.

  3. Vgl.den Brief von Amnon Rubinstein an Joel Ben-Nun vom 1. 10. 1995 (AZ 23628).

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Moshe Zimmermann, Dr. phil., geb. 1943 in Jerusalem; Studium der Geschichte und Politologie in Jerusalem und Hamburg; Professor für deutsche Geschichte und seit 1986 Direktor des Richard-Koebner-Zentrums für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem; Gastprofessuren in Heidelberg, Mainz, Princeton (USA), Köln, Halle, München und Saarbrücken. Veröffentlichungen: Zahlreiche Publikationen in Deutsch und Hebräisch zu Nationalismus, Antisemitismus und zur deutsch-jüdischen Geschichte sowie zum Holocaust, zur Erinnerungsarbeit in Deutschland und Israel, zu den deutsch-israelischen Beziehungen und zur europäischen Integration; zuletzt: Wende in Israel. Zwischen Nation und Religion, Berlin 19972; Die deutschen Juden 1914-1945, München 1997.