Das Ende der DDR erschien zunächst auch als ein Ende der DDR-Literatur. Diese hat unter sehr spezifischen, vielfach beschriebenen Bedingungen gestanden und -in deren Rahmen -eine ebenso beachtete wie geachtete Qualität erreichen können. Das gilt fast ausschließlich für nichtkonforme Bücher, deren stilistischer Ansatz sich doppelt beschreiben läßt: einmal als Rückgriff aufs pathetische Sprechen des betroffenen Subjekts etwa nach dem Luther-Modell „Hier stehe ich! Ich kann nicht anders!“ Zum zweiten als subversive Rede, die von den vielen Möglichkeiten des Doppelsinns, der Mehrfachlektüre, der listigen/grotesken/ironisch-parodistischen Verschiebung und Verfremdung der Erwartungshorizonte gekonnt Gebrauch macht.
Es ist festzuhalten, daß dieser Ansatz einer Gegenöffentlichkeit bzw. Ersatzöffentlichkeit jene DDR-Literatur, die auch literarisch zählt, sehr weitgehend bestimmt hat. So erklärt sich auch eine gewisse Pause: Die politische Wende bedeutete einen Hinfall dieser Muster. „Die Umwälzung der deutschen Dinge -und nicht nur der deutschen -seit dem Herbst 1989 forderte allen aus der DDR stammenden Autoren, ob dageblieben oder weggegangen, eine neue Selbstverständigung über ihre Lebens-und Berufsperspektiven wie über ihre Autorenrolle ab.“ Das war um so wichtiger, als das Ende der DDR zwar das Ende von Zensur, Gängelung, Überwachung, operativer Verunsicherung und „Zersetzung“ mißliebiger Autoren bedeutete, aber zugleich auch das Abdanken der Literatur als eines Leitmediums, „dem bedeutende politisch-erzieherische Aufgaben übertragen waren“
Das galt strikt politisch: Die Wahl der Decknamen für die „operativen Vorgänge“, als welche die nichtkonformen Autoren angesehen wurden, spricht nicht für irgendeine literarische Sensibilität -von menschlicher ganz zu schweigen. Klaus Schlesinger und Bettina Wegner wurden unter „Schreiberling“ geführt, Hans Joachim Schädlich unter „Schädling“, Franz Fühmann als „Filou“, Elke Erb gar als „Hydra“ Dabei möchte ich der von Joachim Walther dezidiert vertretenen, ihm nicht immer mit Dank abgenommenen These zustimmen, daß die erschreckend verbreitete „inoffizielle Mitarbeit“ von Autoren nicht nur Verrat an Personen, sondern auch Verrat an der Kunst gewesen sei: „Der Dichter als Denunziant: ein Widerspruch in sich. Es gibt einen ungeschriebenen ästhetisch-ethischen Imperativ der Literatur, der ihr evolutionär, also natürlich, zugewachsen ist und ins politisch konkrete Handeln ragt, mag man das nun, wie Pierre Bourdieu, . intellektuelle Autonomie 1 nennen oder, wie Sartre, , litterature engagee . Ihre emanzipatorische und kommunikative Funktion wehrt sich gegen jegliche utilitäre Bindung und Unfreiheit.“
Gibt es das noch: DDR-Literatur?
Die Abhängigkeit der DDR-Literatur in allen Bereichen -der Produktion, Distribution und Rezeption -ist bekannt, sollte aber nicht so übertrieben werden, als ob nur politisch-ideologische Sollerfüllung übrig geblieben sei. So pointiert Wolfgang Emmerich etwas zu stark, wenn er schreibt: „Die literarische Öffentlichkeit war -trotz partieller Liberalisierungen -zu keiner Zeit in vierzig Jahren DDR demokratisch und freizügig gewesen, sondern immer nur eine gelenkte, halbierte, zensierte und sogar geheimdienstlich überwachte. Die literarischen Institutionen -die Ver-läge, der Buchhandel, die Bibliotheken, die Theater, Zeitungen und Zeitschriften mit ihrer Literaturkritik, die Literaturwissenschaft an Universitäten und der Akademie der Wissenschaften, schließlich die Autoren-und Künstlervereinigungen, zumal der Schriftstellerverband -befanden sich grundsätzlich in einem Abhängigkeitsstatus gegenüber der staatstragenden Partei.“
Immerhin gab es ja das, was man mit Walther einen „Nicht-Verrat an der Kunst“ nennen müßte. Nun ist Emmerichs kritische Perspektive literatur-politisch orientiert. Wenn wir formsemantisch/stiltheoretisch fragen, kommen wir zu anderen Akzenten bzw. Einschätzungen. Zu denen gehört die überraschende Wahrnehmung, daß die DDR-Literatur keineswegs so tot ist, wie man -auf beiden Seiten übrigens -regelmäßig sagt. Freilich wird man nun von diesem Begriff Abschied nehmen, auch wenn er bequem und förderlich war. Gehen wir davon aus, daß es die „DDR-Literatur“ gab (auch ohne Anführungszeichen) und daß es ein unnötiger Verzicht auf geleistete Deutungsund Verständigungsarbeit wäre, diesen Begriff ganz preiszugeben. Ich gebe, sozusagen zur Vor-verständigung für unser Thema, zehn Diskurse an, die zur Begründung eines Konzepts „DDR-Literatur“ ihren Beitrag geleistet haben; danach läßt sich die Frage behandeln, ob wir noch von einem Weiterbestehen der DDR-Literatur sprechen können bzw. wollen. Das Ergebnis sei vorweggenommen: Innerhalb von fünf Diskursen ergibt es keinen Sinn, den Begriff beizubehalten, bei weiteren fünf zunächst noch sehr wohl. In Stichworten seien sie hier genannt: 1. Der historische Diskurs verweist auf die Nachkriegszeit, die Bedeutung der Siegermächte, die Teilung, den Kalten Krieg, die Ideologisierung literarischer Konzepte seit den zwanziger und dreißiger Jahren.
2. Literaturgeschichtlich/poetologisch ist die Auffassung der Kunst als „frei von jeder Zeitgewalt“ obsolet geworden. Literatur ist immer Literaturim-Prozeß.
3. Seit dem Aufkommen der Nationalstaaten nimmt Literatur auch das politische Amt nationaler und völkischer Legitimierung wahr, dient der Forderung nach Eigenstaatlichkeit.
4. Literaturpolitisch wäre das Ziel einer Volkserziehung zu nennen, das von Aufklärung bis zu Indoktrination reichen kann. Das Ziel einer „deutschen Kulturnation“ wie die Verpflichtung auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung gehören dazu.
5. Kulturpolitisch lassen sich stets hehre Ziele formulieren; nicht erst seit der Blamage mit der „Bildung zur sozialistischen Menschheitskultur“ ist man damit vorsichtig. 6. Institutionell ist die Literaturlenkung zentral, mit Eingriffen in alle Sektoren -Produktion, Distribution, Rezeption -sowie in deren Verhältnis zueinander. Die Steuerung dieser Bereiche über den sogenannten freien Markt bleibt ein aktuelles Thema.
7. Stilistisch/formsemantisch lassen sich eigentümliche Ansätze benennen. Pathos und Subversion werden hier etwas näher beleuchtet; dazu treten heute u. a. Sarkasmus, Groteske, Elegie und Ironie. 8. Semiotisch/subjekttheoretisch ist die Bedeutung der Klassik-Position interessant: die geforderte Vorverständigung des Subjekts. Das meint zugleich eine Abwehr der Verschränkung von Text-und Subjektkonstitution, wie sie die Moderne kennzeichnet.
9. Inhaltlich/thematisch gibt es Bezüge zur „randständigen“ /bedrohten Lebenspraxis. 10. Rezeptionstheoretisch ist die Leser-Erziehung, die Angewiesenheit auf eine Mehrfach-Lektüre, das Sich-Verstehen auf „Winke“ zurückgetreten. Wenn man eine ganze Anzahl von Diskursen angeben kann, welche für die Konstitution von DDR-Literatur wichtig geworden sind, ergibt es keinen Sinn, den Begriff aufzugeben. Spannender als die Frage, ob es (k) eine DDR-Literatur gegeben habe, ist deren Verschärfung: warum es sie heute noch bzw. wieder gibt und verlegerisch vor allem im Westen. Eine unterscheidende Rede könnte dazu Hinweise geben, die über einen bloßen Streit um Worte hinausführen. Sie würde zum Beispiel die Diskurse 1, 2, 7 und 9 privilegieren, wenn es um die Frage möglicher Kontinuitäten geht. Die folgenden Ausführungen halten sich vor allem an den stilistisch-formsemantischen Diskurs: ein groteskes Erzählen, für das ein Verständnis deutlich heranwächst.
Sich einen Weg suchen. Leben, das den Text erzeugt
Wie sieht eine aus der Staatsgegnerschaft entlassene, eine von ihren subversiven Themen und listigen Formen weitgehend befreite (DDR-) Literatur aus? Unterschieden? Gewiß. Ganz anders? Gewiß nicht. Jedenfalls geht es nicht an, die Versuche der jüngeren Autoren, sich dem Sprachspiel, dem Text-Subjekt, der Erkundung jener Prozesse, die das Subjekt konstituieren, zu überlassen, mit Hilfe des Schlagworts „Stasiplantage“ zu denunzieren. Es ist das gelegentlich überzogene Bemühen, Anschluß an die (post) modernen Avantgarden zu gewinnen, das bis heute die Produktion vieler, vor allem jüngerer Autoren kennzeichnet. In einem programmatisch angelegten Sammelband von 1988 fragte der Herausgeber Egmont Hesse mit einem Zitat von Ingeborg Bachmann: „Haben wir mit unserer spräche verspielt, weil es kein wort mehr gibt, auf das es ankommt? setzt jede form von sprachbenutz Sprachbesitz voraus, oder anders gefragt, besitzen wir noch die worte, die uns besetzen? hat das wort bereits die gesten verdrängt und ist als Zeichen nur noch bezeichnendes?“
Der Buchstaben-Jongleur Stefan Döring hat darauf eine Antwort gegeben, die auch auf jene Labilitäten hindeutet, welche zu dieser Gruppe, zu einem Teil der jungen Dichter gehören: „Beim Sprechen will man auf etwas hinaus, beim Schreiben in etwas hinein. Wie ein Operateur stellt man dabei bzw. danach ein Textgebilde her. Einen Gedichttext zu schreiben ist ja wie sich einen Weg suchen. Zwangsläufig wird dieser verschlungen, weil die Ablenkungen enorm sind. Damit ist aber Schreiben eine Art von Inkonsequenz, Sprechen dagegen Konzentration . . . Wer redet denn eigentlich? Drücke ich mich etwa falsch aus, wenn ich spreche? Wer könnte das beurteilen? Ich? An der Wirkung? Man befiehlt oder bittet doch nicht ständig! Hätte ich denn, wenn ich nichts sagte, auch eine Meinung? Ich bin immer gespannt, was ich als nächstes sagen werde. Man lernt sich kennen. Jeder spricht neben einer Fremdsprache seine eigene.“
Es ist dieser Ansatz, der zu einem für die DDR ganz neuen Typ von Dichtung führte und der z. B. für Wolf Biermann so unverständlich und unannehmbar ist, daß er sein berechtigtes moralisches Urteil gegen die Verräter-Dichter gleich auf die Ästhetik mit ausdehnte.
Zur DDR-Tradition gehörte eine aufklärerische Poetik: Dichtung diente nur sehr untergeordnet der Selbstvermittlung, Selbstfindung, sollte vielmehr Ausdruck eines Subjekts sein, das mit sich ins reine gekommen war, als vorbildlich gelten durfte. Schiller hat dies in seiner Kritik am Volksdichter Gottfried August Bürger unnachahmlich deutlich zum Ausdruck gebracht: „Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muß es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden.“ Demgemäß gründete die Sprecherrolle, welche die Dichter in der DDR für sich in Anspruch nahmen -ob Stephan Hermlin, Johannes R. Becher oder Stefan Heym, Christa Wolf, Volker Braun, Wolf Biermann und andere -, durchaus in dem Anspruch auf eine weiterreichende Einsicht, was politisch dem Glauben an die Führungskader entsprach. Auch Biermanns Gattung, das Lied, geht von einer Vorverständigung aus, die den Text organisiert.
Die jungen Dichter nicht nur des Prenzlauer Bergs hingegen realisieren die Einsicht, daß es die Grammatik unserer Verhältnisse ist, die das Subjekt organisiert, daß Sprache mehr ist als ein Vehikel, eher uns bewohnt als unser Haus ist. In den Untergrund-Zeitschriften, die „schaden“ oder „Mikado“, „Zweite Person“, „Ariadnefabrik“ oder „Anschlag“ hießen, auch ganz einfach „UND“ oder „USW“, wurde das theoretisch diskutiert.
Hier sehe ich den Anschluß an ein mondial gültiges, zeitgenössisches Poesiemodell vollzogen, wie es z. B. in dem Sammelband „Atlas der neuen Poesie“ dokumentiert ist, der 1995 von Joachim Sartorius herausgegeben wurde. Die Chance für die Gegenwärtigen lautet: hier anzuknüpfen und die Fessel, die das Wort „subversiv“ bezeichnete, abzustreifen. Johannes Jansen hat sein Schreibprogramm entsprechend entwickelt: „die Struktur eines textes entsteht während der herstellung desselben ist also gewachsen nicht konstruiert wie etwa die eines manifests. sie entsteht aus dem leben das den text erzeugt und aus der arbeit am text die das leben ist.“ Jansen wendet sich entschieden gegen ein übersetzendes Lesen und schließt damit an die zur Zeit privilegierte Text-theorie an: Literarische Texte sollen nicht „übersetzt“, also nicht gefragt werden, was sie „eigentlich“ bedeuten. Peter Waterhouse läßt den Text dazu sagen: „Nicht mich übersetze, übersetz dich!“
Es sind nicht mehr die kleinen subkutanen Reize, die heute den Leser faszinieren; das Modell „Sklavensprache“ hat längst ausgedient. Aber die Ausgangserfahrung gilt sehr wohl noch: daß wir uns in jener Sprache, die uns umgibt, nicht wiederfinden, daß wir uns in der Gegenwart nur gelegentlich heimisch fühlen, daß wir „nicht sehr verläßlich zu Haus sind/in der gedeuteten Welt“ (Rilke). Und das hieße, daß jene kulturrevolutionäre Sprach-und Formarbeit, für welche ein Großteil der DDR-Literatur stand, durchaus ihre Bedeutung und Zukunft hat, auch wenn das zur Zeit eher spöttisch-selbstironisch wahrgenommen wird: „so schlepp ich meinen manierismus durch die gegend." Daß es gewagt genug ist, sich an die Ränder bzw. Kanten der Spracharbeit zu begeben, betont Thomas Kunst in seiner wenig wahrgenommenen Lyrik; der „operative“ Ansatz darf aufgegeben werden: „STILL AN GELUNGENEM die gegenstände die du aus dem münd legst/das schwert das messer die nadel/als gäbe es nicht die Verwundung der/sprache durch eine andere.“ Es sind eigene politisch-institutionelle Gründe, nicht ästhetisch-poetologische, die eine produktive, weiterführende Anknüpfung hieran verhindern.
„Ich übe das Alleinsein“. Halt in alphabetischen Gebeten
Die DDR-Literatur (als „politisierte“ genommen) hat nicht einer sogenannten „literarischen Literatur“ den Platz eingeräumt, wie es 1990 noch als „schöne Aussicht“ gefordert und vorausgesagt wurde. Es ist dies eine unzureichende Entgegen-setzung: Das Wort von der „lit. Lit.“ wird doch gewiß nicht heißen, daß sie auf ihre kritische Dimension verzichten könne und solle? Zu einer Zeit und unter Umständen, wo die mehr denn je gefordert und (für Buchhändler wichtig:) gefragt ist? Die vielen guten Beispiele, die man für die Weiterführung einer kritisch-reflexiven Traditionslinie anführen kann, zeigen, daß Buchhandel und Publikum die Herausforderung angenommen haben, angesichts des „Ernsts unserer Lage“ (Adenauer) ein „verspieltes“ Erbe nicht zu verspielen. Gleichwohl haben die „Aussichten“ Recht behalten; es geht jetzt vor allem um Texte. 1990 wurde (im Vorwort des Bandes) vorausgesagt: „schöne aussichten -es gibt keine zirkel mehr, keine ismen. keine sächsische dichterschule, keine prenzlauer-berg-connection. es geht nur noch von text zu text, von autor zu autor. von autorin zu autorin. was sich am ende verbinden läßt, ist eine neue literatur aus der ddr. andere Zeiten sind angebrochen.“ Das klingt zu emphatisch, um plausibel zu sein. Der Verweis auf die individuelle Textproduktion meinte u. a. auch den Zusammenbruch aller Stützungen durch Übersetzungsaufträge (was eine eigene Kultur bedeutete) und andere regelmäßige Zuwendungen, meinte den Hinfall aller institutionellen Zusammenhänge, die für viele Autoren Halt und soziale Absicherung bedeutet haben. Jedenfalls ist ein gewisses Lamento über die Wende unüberhörbar, und je nach Temperament macht sich das lautstark oder leise-„ostalgisch“ bemerkbar. Das vielzitierte Gedicht von Volker Braun „Das Eigentum“
(1990) ist ein Beispiel für recht ungebremsten „Ossi“ anismus. Der Schummel beginnt schon mit der ersten Zeile: „Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.“ Als ob da eine Entscheidung, gar „des Landes“, möglich gewesen wäre. Die moralische Lesart des Vorgangs macht sich's bequem; es ist die lectio facilior, die stets unbillige „leichtere Lesart“: „Es wirft sich weg und seine magre Zierde.“ Wenn es gegen Schluß heißt: „Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle“, so ist das eine verständliche kapitalismuskritische Wendung, aber blauäugig darin, daß die „entwendeten“ Staatsbetriebe ja nie wirkliches Volkseigentum waren. Braun weiß das: „Was ich niemals besaß, wird mir entrissen.“ Doch im Pathos seiner Verse scheint keine Ironie mehr durch; der Reimvers lautet: „Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.“ Es ist ein reduktionistischer Blick, der hier praktiziert wird, der, nun es mault, dem Volke aufs Maul schaut (dem die Dichter zu DDR-Zeiten nur sehr gelegentlich zuzuhören bereit waren).
Brecht hatte den Nachgeborenen zugerufen: „Gedenket/.. . Auch der finsteren Zeit/Der ihr entronnen seid“ -davon ausgehend, daß sie vorbei sei. Diesen Schnitt zur Vergangenheit gab es für die meisten Autoren 1989 nicht -und auch schon vorher nicht, wie u. a. Heinz Czechowski belegt. Die Bindung an die deutsche Vergangenheit war in der DDR viel stärker, die Nachkriegszeit noch immer täglich präsent. Czechowski nimmt das Brecht-Wort auf und fügt die Erinnerung an das brennende Dresden hinzu: „Die Stadt sehe ich im Feuer, aber/Die Zukunft kommt mir entgegen, sicher berechnet, /Doch die Zeit, der ich entronnen bin, /Weint.“ Mit dieser Haltung ist man auf den hereinbrechenden, „sicher berechneten“ Ökonomismus vorbereitet, aber nicht gegen ihn gewappnet. Die neuen Texte von Czechowski folgen weithin dem Muster der Elegie; das meint inhaltlich eine Trauer, die übers Ich hinausgeht, auch wenn sie von dessen Erfahrungen und Schmerzen nicht abzulösen ist. Ein auch im Ton groß angelegter Text („Allmählich verliert sich das Fremde“) endet mit einer explizit reduktionistischen Geste: „Das Stadtlicht/Zerfrißt uns die Augen, blind/Folgen wir einem Alptraum. Wir schlafen/Wie Tiere dem Winter entgegen, Ein stimmloser Laut/Weckt uns, wenn wir es schon lange/Nicht mehr erwarten.“ Czechowski nimmt das Ikarus-Motiv auf. Wie jener der Sonne zu nahe kam und abstürzte, so geht es nun allen, die der Geschichte zu entkommen suchen, vielleicht sogar bis in die Dichtung. Aber auch das Schreiben, der Bleistift, ist nur eine Beschwernis mehr: „Der Flug, der zum Fluch wurde, ist uns vertraut. Jetzt/Beschweren wir uns mit dem Blei, /Das uns zur Verfügung gestellt ist, /Und diesen Misthaufen, in den Ikarus stürzt, /Nennen wir einfach Geschichte.“
Der Verlust einer historischen Perspektive (wie mißbraucht auch immer) macht nicht jeden glücklich. Der bedeutende Gedichtband von Barbara Köhler „Blue Box“ (1995) beginnt mit einem bekenntnisartigen Motto: „Ich übe das Alleinsein, und ich denke, ich habe es darin schon ziemlich weit gebracht. Ich rede mit der Sprache, manchmal antwortet sie. Manchmal antwortet auch jemand anders. Ich rechne nicht mehr damit, verstanden zu werden. Mathematik ist nicht mein Fach.“
Entsprechend sind auch in vielen Prosatexten Rückzüge der zentrale Gestus. Eine Prosaskizze von Wolfgang Hilbig erzählt von der Schiller-straße, die nicht unbedingt nur in Ostberlin oder Leipzig gesucht werden muß. Novembernebel und alte Kastanien geben die Lebensbedingungen in der Straße an. Als die Blätter gefallen, die Äste kahl sind, heißt es über sie: „Feuchtschwarz und starr ragten sie in den eisengußfarbenen Himmel und wirkten plötzlich wie ein Geschlecht widerspenstiger Könige, die ein Zauber aus jedem Bereich des Verständlichen verbannt hatte.“ Die Straße wird ein Opfer der geplanten Fabrik, die Kastanien werden gefällt, die Nebel verschwinden auf immer, wie die Feen in alten Märchen.
Ganz vergleichbar beschreibt Jens Sparschuh die kleine Ostberliner Straße, in der er wohnt, unter dem Titel „Ich dachte, sie finden uns nicht“: „Auf dem Stadtplan muß man unsere Straße, eine kleine Seitenstraße im Norden Berlins, mit der Lupe suchen. Von ihren in natura einhundert Metern verbleiben im Maßstab 1: 25 000 gerade noch vier Millimeter. Nicht eimal ihr Name paßt in ganzer Kürze hinein. Er muß abgetrennt werden: Ein-trachtstraße.“ Das Idyll, das auch für die These steht, daß man in der DDR mehr oder minder unangefochten für sich hat leben können, wird abgebrochen, „eine Altlast liegt auch auf diesem Areal“: „Hier entsteht ein Wohn-und Geschäftshaus.“ Der subtile Humor dieser Darstellung, die noch dem getrennten Straßennamen etwas abzugewinnen weiß, ist unverkennbar; zugleich das ganz unironische Einschwenken auf die Ossi-Klage, der zufolge die „Altlast“ wie eine Besatzungsmacht ins Idyll einbricht.
Mit verhaltener Selbstironie nennt auch Thomas Rosenlöcher seine Texte „Ostgezeter“ und charakterisiert sie als „Beiträge zur Schimpfkultur“. Er macht (sich und uns) deutlich, daß es nicht möglich ist, unparteiisch zu reden, weil „jedes Eingeständnis im deutsch-deutschen Kontext zur Unterwerfungsgeste wird“ So bleibt der halbironische Rückzug auf ein eigenes Recht übrig, versehen mit vielen Fragezeichen: „Ostherkunft als Möglichkeit, sich auf Widerständigkeit zu besinnen? Auf das wenige, was zählt und sich doch nicht rechnet? Auf unser einstiges 11. Gebot: Du sollst nicht Karriere machen? Muß es daher den bösen Westdeutschen geben? Selbst wenn es ihn gar nicht gibt? Im Gegenbild ein Ich zu bewahren, das es auch nicht mehr gibt? Die Reste eines Anders-geworden-bleiben-wollen-Seins? Durch jahrelange Mangel-praxis und abschließendes Untergangswissen?“
Direkter, mit im Westen ganz unbegreiflichem Pathos, beginnt Michael Wüstefelds Gedicht „Überwältigte Vergangenheit“ von 1990: „Das Zeichen vom Revers gefetzt Ideale werden verleugnet Brüderliche Hände auseinander gehetzt Ein ganzes Leben vergeudet.“ Die Aufklärung ist gescheitert, konstatiert (nicht nur) Thomas Rosenlöcher Für die Dichtung ist das Verlust und Gewinn zugleich, wie es schon Frank Wedekind unübertrefflich sarkastisch in seiner Morität „Vom armen Kind“ beschrieb. Durs Grünbeins Gedichte etwa verstehen sich als „Variation auf kein Thema“; die (vorsätzliche?) Sinnleere macht den Blick genauer: „Unwirklich das Zimmer, allein bewohnt. /Im Spiegel Insekten-dreck, Staub/ln den Ecken, gesammelt um Frauenhaar, /Das schon seit Wochen dort liegt. /Keine Früchteschale, keine Vase in Sicht, /Die einzigen Füllhörner, dicht/Gerückt, Bücher...“ Und das Gedicht endet mit einer Geste, die sich gewiß nicht ironisch versteht: „Lächelnd und kaum entsetzt/Suchst du in alphabetischen Gebeten Halt.“ „Es geht nur, weil ich schreibe.“ So lautet der zentrale Satz in Kerstin Hensels sarkastischer Erzählung von einem gebremsten Leben „Tanz am Kanal“ (1994) Der Text macht es dem Leser nicht einfach, auf Abstand zu bleiben: Er ist eine Ich-Erzählung (was die Distanz immer verkürzt) und zugleich ein Rollen-Ich, das nicht eben zur Identifikation auffordert. Wir bekommen mit der Hauptperson eine besondere „Altlast“ aus der DDR vorgeführt, ein Opfer des real existierenden Sozialismus noch 1994: Gabriela von Haßlau, „alter anhaltinischer Adel“, ausgemustert und als Clochard unter Brücken lebend, wo sie Binka genannt wird. Wir erfahren ihre Geschichte nicht zusammenhängend, sondern wie sie ihr einfällt. Es ist überzeugend, daß ihr Erzählen nur langsam vorwärts -und das heißt: rückwärts -kommt. Überzeugend auch, daß so ein Leben einen Halt braucht -hier hat es den des Schreibens gefunden. „Es geht, sage ich, aber es geht nur, weil ich schreibe.“ Anrührend ist ihr Widerstand gegen alles, was kaputt macht: „Mich kriegt ihr nicht!“ Das setzte Gabriela gegen die elterliche Erziehung, die einer Abrichtung glich, ebenso gegen die Schule, das Sozialamt, aber auch gegen ihr gegenwärtiges Leben. Nur gelegentlich hören wir: „Man muß sterbensmüde sein, um unter der Brücke schlafen zu können.“ Kerstin Hensels Heldin will kein Opfer sein, sie lamentiert nicht, lebt am Kanal, zum Tanz kommt es freilich nur im Traum. Die Wende von 1989 bedeutet hier wenig: Gabriela-Binka wird mit dem Hinweis „wir haben jetzt andere Sorgen“ weiterhin abgewimmelt. Bei einem Polizisten findet sie (vorläufigen?) Unterschlupf. Vermutlich ein realistisches Zeichen -nach 1989 berührten und fanden sich manche Extreme. Auch in Hensels Erzählungen „Neunerlei“ (1997) figurieren ausgemusterte Menschen als Hauptpersonen, deren Leben aufs Überleben reduziert ist.
Abgemusterte Geschichte: Anekdote und Karnevalisierung
Erzählen heißt Legitimieren. Das kritische Erzählen unterläuft diese „natürliche“ Pragmatik des Sagen-Könnens, Hören-Könnens, Machen-Könnens, worin sich die Beziehungen der Gemeinschaft zu sich selbst und zu ihrer Umgebung einspielen Die traditional orientierte DDR-Literatur, dem „Kampf gegen Liberalismus und Skeptizismus“ verpflichtet (11. Plenum des ZK), folgte den klassischen Vorgaben des integrativen Erzählens, wie sie auch die Erzählpraxis und -theorie im Westen bis in die sechziger Jahre hinein bestimmten Die Kritik von Georg Lukäcs am „Zerflattern einer jeden Objektivität“, am „allein als Substanz übrig gebliebenen Subjekt“ stimmt recht genau mit dieser Einschätzung der Moderne als Dauerkrise (Wolfgang Kayser, Emil Staiger) überein und war in der DDR weniger obsolet als ihr Autor.
Eine streng sprach-und subjektkritisch angelegte Erzählweise unterläuft die epische Integration: ein Weg, der in der DDR erst in den achtziger Jahren begehbar wurde (nicht zuletzt durch die Vermittlung entsprechender theoretischer Positionen durch die Heftchen des Berliner Merve-Verlags). Eine andere ist die Rückkehr zu einem Erzählen, das dem bürgerlichen Roman und seiner auf Integration und Ganzheit erpichten Poetik vorausliegt. Diesen Schritt haben kritische Autoren in der DDR regelmäßig getan und dabei erzählerisch wie philosophisch einen Gewinn erzielt, der nicht vorauszuberechnen war. Er war wohl abzusehen, im wörtlichen Sinne: Das Theater hatte längst auf ältere, vorbürgerliche Formen -etwa das Trauerspiel, den Mimus, die Revue -zurückgegriffen, wie auch die Lyrik sich der Vorschrift, der reine Abdruck eines interessanten vollendeten Geistes zu sein, längst entzogen hatte. In den Hiat zwischen normativer Ästhetik und literarischer Praxis dringt das anekdotische Erzählen ein. Es meint einen bewußten Rückweg, zugleich also einen impliziten Protest gegen die Verweigerung von Zukunft. Czechowski: „Das Anschreiben der Poesie gegen die Zukunft scheint mir im Augenblick die einzige Alternative zu sein, um das Vergängliche zu benennen.“
Ernst Bloch hat die kleinen Formen mit einem geschichtsphilosophischen Hinweis verteidigt: Sie deuten auf ein Weniger oder Mehr, das erzählend zu bedenken, denkend wieder zu erzählen wäre;
und er betont, daß in den Geschichten nichts stimmt, weil es mit uns und allem nicht stimmt.
Durs Grünbein hat das zum Leitmotiv seines Gedichts „Biologischer Walzer“ gemacht (in:
„Falten und Fallen“): „Wenn es stimmt, daß wir schwierige Tiere sind/Sind wir schwierige Tiere, • weil nichts mehr stimmt.“ Das ist die Zeit der Anekdote. Sueton, Petronius und Prokop haben Anekdoten gesammelt, um zu beweisen, daß das offizielle Geschichtsbild eine Klitterung, eine parteiliche Fälschung war. Die Histörchen wissen mehr und anderes als die Historie. Auch Fontanes Romane, dem Anekdotischen verhaftet, gehen von der skeptischen Einsicht aus, daß an den Charakteren wie an der gesellschaftlichen Verfassung nur wenig zu modeln sei; sie sind zugleich ein Zeugnis, daß die Anekdote nicht nur einer minoritären Literatur zugehört. Sie ist eine der ältesten Erzählformen, an Namen und auffällige Ereignisse gebunden, auch an die pragmatische Vorgabe, daß ein klug gesetztes Wort die aufgebauten Spannungen zu lösen vermag.
Wolfgang Hilbigs und Christoph Heins Erzählungen sind in dieser Weise anekdotisch gebaut. So führt Heins Titelgeschichte „Exekution eines Kalbes“ (1994) mit größter Genauigkeit in das Kollektiv-und Brigadewesen zurück, und zwar vorsätzlich in einem altertümlichen, etwa an Gotthelf und Keller geschulten Stil. Sie ist human im Ernstnehmen aller jener Winzigkeiten, die das Unerträgliche der Lebenszusammenhänge in der DDR ausmachten. Der Rinderzüchter Sawetzki ist wie eine Figur aus dem 19. Jahrhundert entworfen (er heißt auch noch Gotthold) und kann den planwirtschaftlichen Futtermangel, den fehlenden Stallraum, die zynischen Scheinlösungen nicht begreifen. Die Unmöglichkeit, die Kälber „nach der Ordnung“ zu züchten, führt ihn zu einer rituell angesetzten Protesthandlung: der Exekution eines Kalbes vor den Augen des Vorsitzenden der Genossenschaft. Daß das Kalb in dieser Aktion nicht nur ein Kalb ist, macht das Groteske darin aus: „Die Vermengung menschlicher und tierischer Züge ist eine der ältesten Formen der Groteske.“
Vom kühlen Erzählen Heins, das an Kleists Anekdoten erinnert, geht eine große Wirkung aus. Sawetzki wird festgenommen, offizieller Prozeß und Scheidung folgen, später wird er in den Westen abgeschoben; Sawetzki wird ein normaler Arbeiter in einer westlichen Kerzenfabrik. Die Erzählungen (nicht nur) dieses Bandes arbeiten sich an verqueren Gemütslagen ab. Die als Humanum eingesetzte Hoch-Sprache gibt uns Anspruch und Medium einer Vermittlung dieser Spannungen vor, erhält jene Ansprüche aufrecht, die in den Situationen (bis heute) verlorenzugehen drohen. Anekdotisch ist die völlige Zurückhaltung des Erzählers, der das Urteil ganz dem Leser überläßt, aber auf die Wirkung seiner karnevalesken Geschichte vertrauen kamt.
Man kann insofern von Karnevalisierung reden, geht es hier und in weiteren Handlungen doch um „eine Sprache von konkret-sinnlichen Symbolformen, die von großen und komplizierten Massen-handlungen bis zu karnevalistischen Einzelgesten reicht“.
Bachtins These vom Karneval trifft aber nicht nur die Handlung, sondern zielt auf den temporär erlebten neuen Modus der Beziehung von Mensch zu Mensch: „Benehmen, Geste und Wort lösen sich aus der Gewalt einer jeden hierarchischen Stellung (des Standes, der Rangstufe, des Alters, des Besitzstandes), von der sie außerhalb des Karnevals voll und ganz bestimmt wurden.“ Daß dieser Formzug kritisch einsetzbar war, zeigt z. B. Uwe Kolbes „Gruß“ an „die heidnische Gottheit“ mit der karnevalesken Botschaft: „Wir sollten jene Sprache wieder erlernen, die vor den Gazetten und Kameralügen lag, sich den Bauch hielt und lachte. /Ich bin nur einer der Boten. /Kommt, laßt uns lästern die Prediger des Wassers. Wir lachen sie kaputt.“ Ein besonders spektakuläres Beispiel für den Siegeszug des anekdotischen wie des karnevalesken Erzählens ist Thomas Brussigs Erfolgsroman „Helden wir wir“ (1996). Die Tradition des Schelmenromans (Pikaro) mit einem jugendlichen Ich-Erzähler, einem nicht eben romantischen Taugenichts -also mit einem gespannten Verhältnis zum Leistungsdenken und ein episodisches Erzählen bestimmen auch Brussigs Roman. Plenzdorf hatte das (1972) erfolgreich vorexerziert. Als karnevalesken Zug wird man die Sexbesessenheit des Helden verbuchen können. Doch die meint ja zugleich mehr: die Unmöglichkeit des Helden, irgendwo sinnvoll landen zu können -die Rückwendung auf den Leib als Versuch, sich nicht ganz zu verlieren: ein Residualprogramm. Brussig macht von Hilbigs „Ich“ -Studie Gebrauch, wenn er seinen Helden, der auch mal Mielke diente, memorieren läßt: „Alles, was ich jetzt durchlebe, sind nur Vorläufigkeiten. Jemand hatte Pläne mit mir, und alles, was mir geschieht, sind Mosaiksteine, die sich zu einem Bild fügen und einen Sinn ergeben werden. Ich fühlte mich so aufgehoben. Ich war gewiß, daß ich nur tun muß, was man mir sagt, und daß darüber hinaus nichts in meiner Macht steht. Ich warte, und nichts von dem, was ich in dieser Zeit tun werde, ist von mir so gemeint oder beabsichtigt. Ich habe deshalb auch niemandem geschadet. Ich war das nicht, der einbrach, kidnappte, verfolgte, verunsicherte, verängstigte. Ich habe nur gewartet.“
Es ist eine sehr kommode Lesart von Rimbauds berühmten Diktum „Car Je est un autre“ (Das Ich ist ein anderer), die Brussig hier -gewiß nicht ohne Anspielung an Sascha Anderson & Co. -hochnimmt. Die grotesken Züge verweisen auf das kaputte/kleingemachte Ich Das fragt sich zwar: „Warum bin ich so schäbig?“, findet aber keine Antwort. Der Autor hilft seinem Ich-Erzähler, indem er ein karnevaleskes Element einführt: Nach einem Unfall vergrößert sich der Penis des Helden zu sagenhaftem Umfang, was ihm auch das Selbstbewußtsein verleiht, im Literaturstreit gegen Christa Wolf zu motzen. Als er das Volk unschlüssig am Tor der Mauer stehen sieht, läßt er seine Hosen herunter, und was die Grenzer sehen, macht sie so sprach-und wehrlos, daß sie das Tor entriegeln: „, So‘, schrie ich, laut genug, daß mich das hinter mir versammelte Volk hören konnte, dem ich mich aber nicht mit dem Gesicht zuwenden wollte, solange ich meine Hosen nicht wieder geschlossen hatte, , loslaufen müßt ihr selber! 1“ So bringt die Erzählung eine Lösung für die Situation 1989: „Alle freuten sich, und keiner hatte begriffen, was wirklich passiert war.“ Brussigs Held als das „missing link“ der jüngsten deutschen Geschichte!
Daß in der Übertreibung die den Verhältnissen entflohene Wahrheit vielleicht wiederzufinden sei, gehört zu den Motiven der Groteske. Karnevaleske Szenen und Züge treten in der neuen „DDR“ -Literatur verstärkt hervor: Immer wieder waren Verhältnisse gegeben, in denen ein solches Stilmittel, sei’s als Zitat, sei’s als Aktion, befreiende Wirkungen zeitigt. Ingo Schulze verknüpft in seinen „abenteuerlichen Aufzeichnungen“, die er „ 33 Augenblicke des Glücks“ nannte (Berlin Verlag 1995), Phantasie und Realität im Sinne des Karnevals. Freude, Ekel, Haß und Liebe wechseln ebenso wie die stilistischen Register. Schulzes Skizzen-roman, anekdotisch angelegt, versteht sich, geht davon aus, daß man sich heutzutage nichts mehr ausdenken muß -„schon der Umwelt zuliebe!“ Seine Petersburger Geschichten sind alles andere als erbaulich, Späße, denen der Tod regelmäßig im Genick sitzt; andererseits sind sie verrückt genug, daß sie der Wirklichkeit genügen und der Erzähler sich trösten kann: „Aus Geschichten wie dieser schöpfe ich jedesmal neuen Mut.“
Kerstin Hensel läßt ihre Underdog-Ichfigur (in: „Tanz am Kanal“) den im Ruderboot unternommenen Anwerbeversuch der Stasi kontern, indem sie das Boot zum Kentern bringt, nicht ohne vorher das Ruder an die Köpfe der Werber gebracht zu haben. Auch Katja Lange-Müller geht (in: „Verfrühte Tierliebe“, 1995) von merkwürdigen Erlebnissen ihrer Ich-Personen aus, denen das Erzählen eine Befreiung bedeutet. Sie weiß, was sie der Banalität des Bösen schuldig ist, antwortet auf die skurrilen Vorfälle mit kleistischem Stil. Jeder Satz ist dabei eine Überraschung, eine kleine Explosion, eine Herausforderung, eine karnevalesk getönte Frechheitsfreude.
Wenn sich Katja Lange-Müller auf Berlin, ihren neuen Erzählstoff, bezieht -die Stadt, die sie als ihre „Busenfeindin“ beschreibt -, geht der karnevaleske Ton ins Rückspiel von Aggressionen über. Berlin ist ihr „ein schäbiger, zugiger Durchgangs-bahnhof“, was nicht ausreichend erläutert, wie es zur aktiven Teilhabe des Ich an reaktiven/reaktionären Aggressionen kommt. Es ist eine literarische Studie von reduzierten Gefühlsformen, die um so verwirrender wirkt, als die Ich-Erzählerin der Autorin ganz nahe gehalten wird Nicht jede Groteske findet also ihre Erlösung im Karnevalesken. Die neuen Erzählungen von Kerstin Hensel („Neunerlei“, 1997) gehen von diesem Erfahrungsstand aus; sie stellen lauter reduzierte Lebensformen vor, denen keine aufhebende Dialektik gewachsen ist. Die Position des Klassik-Erbes, eine Geschichtsphilosophie der Versöhnung, die bis 1990 noch beredte Sprachführer fand, scheint nun grundsätzlich abgedankt. Also Randexistenzen ohne Lachkultur? „Unter den Brücken/sitzen die lautlosen Heimkehrer/wärmen sich am nächtlichen Feuer/Auch wenn du deine Wohnung abschließt/sie kichern dir ein Stigma auf die Haut.“ Solche Zitate lassen sich in größerer Zahl sammeln, als einem lieb sein kann -doch wäre es nicht richtig, den Eindruck zu erzeugen, als ob Klage die Haupttonart sei. Das Ende des Jahrtausends disponiert zur Elegie. Die Literatur „im Osten“ hält den Zusammenhang des Lachens mit der materiell-leiblichen Welt wie mit der Freiheit fest und leistet sich dieses Lachen öfter, als es die thematischen Gestimmtheiten vermuten lassen würden.