I. Alte und Neue Rechte
Von der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik ist gesagt worden, sie sei eine Geschichte seiner Unterschätzung. Dies gilt womöglich auch vom Rechtsextremismus.
Während in der Medizin therapeutische Maßnahmen stets erst auf der Grundlage diagnostischer Befunde erfolgen, verfährt die Politik nicht selten eher umgekehrt. Dies gilt vor allem für den schwierigen Umgang mit dem Phänomen des Rechtsextremismus. Das Verwirrspiel beginnt bereits bei den Begriffen: Extremismus, Radikalismus, Neofaschismus, Rechtspopulismus, Neonazismus oder einfach Nazismus -wer kennt sich da noch aus?
Eine übliche Grobeinteilung der Szene rechts vom herkömmlichen Parteienspektrum der Bundesrepublik ist deren Klassifizierung in „drei Lager“: -der altrechte Extremismus, den es seit 1945 gibt und der, obwohl er sein Potential seit der Wende 1989/90 vergrößern konnte, gesamtgesellschaftlich nach wie vor eher ein Nischendasein zu führen scheint; hierzu gehören etwa Parteien wie die „Deutsche Volksunion“ (DVU) des Münchener Verlegers Gerhard Frey, die „Republikaner“, aber auch militante Gruppierungen wie die „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP), die „Nationalistische Front“ (NF) oder die „NSDAPAuslands-und -Aufbauorganisation“ bis hin zu deren rechtsterroristischen Hilfstruppen. Sie leben in der Regel von schlichten Parolen wie „Ausländer raus!“, „Deutschland den Deutschen!“, von Verratsanklagen gegen etablierte Politiker oder huldigen einem kruden Chauvinismus von der Wiedereroberung „Großdeutschlands“. Dieser alt-rechte Extremismus stellt -schon wegen seiner internationalen Vernetzung -einen zwar keineswegs harmlosen, auf lange Sicht ideologisch jedoch steril bleibenden Aktivismus dar, dessen Resonanz -trotz gelegentlicher regionaler Wahl-erfolge -nach wie vor beschränkt ist. Solche meist lautstarken Gruppierungen sind es denn auch, die sowohl in den Medien wie in den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder im Vordergrund des Interesses stehen. -Weit mehr Einfluß auf Teile der öffentlichen Meinung als der altrechte Extremismus gewinnen inzwischen die beiden anderen Spielformen des Spektrums am rechten Rand, die man als „Neue Rechte“ einerseits bzw. als Rechtspopulismus andererseits bezeichnet. Während es sich bei der „Neuen Rechten“ um eine Vielzahl ideologischer Plattformen besonders jüngerer intellektueller Kreise handelt, kämpft der öffentlichkeitswirksame Rechtspopulismus gegen die etablierten Volksparteien, auch um Stimmen und Sitze in den Parlamenten. Als Modell hierfür steht gegenwärtig Jörg Haiders „Freiheitliche Partei Österreichs“ (FPÖ), die sich inzwischen zu einer breiten Bewegung für eine „Dritte Republik“ entwickelt hat. Im Gegensatz zum altrechten Extremismus bewegen sich sowohl die „Neue Rechte“ als auch der Rechtspopulismus zumindest taktisch meist noch im Umkreis der verfassungsmäßig geschützten Meinungsfreiheit. Obwohl beide die eigentlich zukunftsträchtigen, weil programmatisch variationsreichen und flexibleren Manifestationen auf dem rechten Meinungsmarkt darstellen, hängen ihre Erfolgschancen vermutlich auf Dauer in hohem Maße von der Entwicklung des Gesamt-klimas der politischen Kultur in den westlichen Demokratien ab.
II. Weltanschauliche Motive der „Neuen Rechten“
Mindestens drei strukturelle Übereinstimmungen lassen sich im Diskurs der „Neuen Rechten“ ausmachen: -Zum einen ist es die starre Fixiertheit auf eine Reihe von „erhabenen“ Kollektivbegriffen, die als substantielle Wesenheiten eine Art Fundament ihrer Weitsicht bilden. Dazu gehören vor allem „das Volk“ und „das Reich“. Sie sollen der Sinn-stiftung im Rahmen einer neuen Identitätspolitik dienen und werden als letzte Gegebenheiten beschworen. Es sind dies neben „Volkstum“ u. ä. m. zugleich die Signal-und Fahnenwörtereines „Deutschen Sonderwegs“, der in der Frühzeit des 19. Jahrhunderts begann und mit dem NS-Regime zunächst beendet schien. -Paradoxerweise will die „Neue Rechte“ allerdings nicht mehr jene deutschnationalen und völkischen Traditionen, sondern umgekehrt die vierzig Jahre der alten Bundesrepublik zum eigentlichen Sonderweg erklären. Seit der deutschen Wiedervereinigung sei nun die Zeit für eine neue Normalität angebrochen, in der das souverän gewordene Deutschland endlich wieder in die Geschichte zurückkehre und sich -wie Phönix aus der Asche -erneut als ein mitteleuropäischer Hegemonialstaat erheben müsse. Mit solchen Umwertungen und semantischen Besetzungen will man die Last jener Erinnerungen loswerden, aus denen einst der Gründungskonsens der alten Bundesrepublik politische Konsequenzen gezogen hat -Als drittes die Rechtsintellektuellen einigendes Band erweist sich die Hinwendung zu einer radikal pessimistischen Anthropologie, die den Menschen -wie schon Oswald Spengler -als ein Raubtier begreifen will, das nur strenge Bindungen und autoritäre Institutionen in Schranken halten könnten. Dieses Motiv ist allerdings keineswegs nur eine weltanschauliche Option rechter, sondern auch das neue Panier einer ganzen Reihe ehedem linker Autoren. Denn Kulturpessimismus ist allgemein wieder „in“ und Ernüchterungsrhetorik ist angesagt.
Es ist kaum zu übersehen, daß die Strömungen der „Neuen Rechten“ heute ihren Gewinn aus weit verbreiteten Aversionen gegen alles ziehen, was den politischen Alltag in vielen demokratisch verfaßten Gesellschaften bestimmt: den oft kaum mehr rational auflösbaren Parteienstreit, medienträchtige Skandale, Korruption und Anzeichen einer um sich greifenden Selbstbedienungsmentalität. Dagegen setzt die „Neue Rechte“ den Ruf nach der starken Hand eines autoritär geführten Staates. Er soll das wieder hervorbringen, was einst Gehorsam, strenge Disziplin und Dienst an „Volk und Staat“ hieß. Es ist daher kein Zufall, daß sich der Geist des Traditionalismus auch in der Bundeswehr findet, die junge Leute anzieht, „die sich in hierarchischen Strukturen wohlfühlen, die nach . Kameradschaft'in Uniform streben und für die Ordnung ein Wert an sich ist. Diese Eigenschaften definieren allein keineswegs Extremismus, aber sie sind jedem Rechtsextremen eigen.“
III. Die „Konservative Revolution“ als Ideenspeicher der „Neuen Rechten“
Paradoxe Begriffskonstruktionen symbolisieren die Vereinbarkeit von scheinbar Unvereinbarem.
Oft geschieht dies zunächst im Bereich der Phantasie und in den Träumen einer rhetorisch beschworenen Rückkehr zur „mythischen Einheit“ nach der Parole: Der Ursprung ist das Ziel.
So auch im Falle der „Konservativen Revolution“.
Hieß Konservativsein bis dahin ein Sichfestklammern am überkommenen Traditionsbestand, so wird nun mittels der Revolutionsmetapher eine Umkehr in Richtung Zukunft symbolisiert. Diese Umpolung verheißt zugleich die Wiedergeburt mythischer Anfänge im Sinne einer Erneuerung des gesamten politischen und sozialen Lebens.
Die paradoxe Begriffskomposition, die logische Gegensätze zu einer scheinbaren Einheit zusammenzwingt, besitzt offenbar eine bestätigende Funktion für tiefsitzende Harmoniebedürfnisse gerade auch in der Politik. Wo Feuer und Wasser Zusammenkommen, gibt es nicht bloß Dampf, sondern mitunter auch erregende visuelle und akustische Reize. Die Konstruktion solch paradoxer Doppelbegriffe erzeugt bei den Adressaten ein gleichsam „magisches“ Klima; ihre Verbindung -dies gilt für „Konservatismus“ und „Revolution“ ebenso wie für „Nationalismus“ und „Sozialismus“ -verheißt den Gläubigen die Lösung aller darin enthaltenen Gegensätze. Die semantische Besetzung gleicht so einer Geisterbeschwörung, die neues Leben aus ideologischen Ruinen verspricht: „Ebenso wie der bloße Sozialismus, der nicht auf die konkrete Nation bezogen ist, eine dürre und volksfremde Konstruktion bleibt, muß der bloße Nationalismus wieder in eine gefährliche Nähe zum Individualismus alten Stils führen.“
Ein besonders aussagekräftiges Wortkunststück vollbrachte der Autor des im Jahre 1923 erstmals erschienenen Werks „Das dritte Reich“, Moeller van den Bruck. Er sprach von der Notwendigkeit einer neuen „sozialistischen Außenpolitik“ und meinte damit eine aggressiv ausgreifende Diplomatie, der es unter aktiver Einbeziehung der Arbeiterschaft um eine Erweiterung des deutschen Lebensraumes zu tun sein sollte, um so die Versprechen eines deutschen Sozialismus militärisch zu erfüllen. Auch dieses Programm entsprach der besagten Umschmelzung überkommener, heterogener Begriffe zu einer neuen mythischen Einheit.
Obwohl zwischen „Konservativer Revolution“ und dem Nationalsozialismus, die eine in sich oft widerspruchsvolle Einheit bilden, differenziert werden muß, läßt sich dennoch zeigen, daß auch Hitler sich dieser fabelhaften Kontraktionsmethode zu bedienen wußte. In seiner auf der Gedenkfeier zum Gründungstag der NSDAP am 24. Februar 1938 gelieferten Deutung des Selbstverständnisses der NSDAP heißt es rückschauend: „So war das, was wir damals gründeten, eben doch eine neue Partei, und zwar eine Partei, die man vielleicht am besten bezeichnen kann mit dem Wort , konservativ-revolutionäre Partei 6, d. h., sie hat im Grunde genommen sehr alte, ja ewige Gedanken mit sehr modernen und fortschrittlichen Methoden zu verwirklichen versucht.“
IV. Zum deutschen Sonderbewußtsein
Nation war ursprünglich ein demokratisches Konzept; es sollte Einheit von unten stiften, da „das Volk“ darin als kollektiver Akteur gedacht wird. So lange diese Grundtatsache im einheitsstiftenden nationalen Diskurs lebendig war, konnte die angestrebte Selbstidentifikation eines Volkes mit den Bedürfnissen der Bürger ausbalanciert werden. Da jedoch der Nationbegriff ebenso zur Abgrenzung gegen imaginäre oder reale Feinde und damit zum Instrument der kollektiven Selbstüberhöhung dienen kann, schlägt der plebiszitärdemokratische Ausgangsimpuls der nationalen Idee, wie er seit der Französischen Revolution wirksam war, leicht in einen Fetisch „Natiort“ mit Ewigkeitsanspruch um.
Auch wenn, wie man weiß, die Inspiration zur nationalen Identitätspolitik keineswegs von einem anonymen Volk stammte, sondern von angebbaren intellektuellen Eliten ausging, war die Stellvertreterfunktion solcher Fürsprecher vielfach unbestreitbar. Nationenbildung im Namen und unter Berufung auf einen Volkswillen vollzogen etwa die nationalen Befreiungsbewegungen vieler Länder, die sich aus der Bevormundung ihrer einstigen Kolonialherren zu emanzipieren suchten. In der Regel waren solche Emanzipationsprozesse von einer Entstrukturierung traditional bestimmter agrarischer Gesellschaften begleitet, die nun gleichsam ein neues Obdach suchten, von dem sie Sinnstiftung und kollektive Selbstbestätigung erfahren konnten. Die meist unter Opfern erkämpfte nationale Identität zeigt ihre Ambivalenz oft erst nach Erreichung ihrer Ziele: Erfolgreiche Identitätspolitik führt mitunter zu ethnischer Ausgrenzung; Feindbestimmungen können zum chauvinistischen Alleinvertretungsanspruch und heroischer Patriotismus zur Politik der Säuberung verkommen.
Von der Warte rechtsstaatlicher Verfassungswirklichkeit aus erscheinen solche und andere Formen barbarischer Politik als Rückfall und Regression in längst überwunden geglaubte „Naturzustände“. Doch sollte darüber nicht aus dem Blick geraten, daß auch moderne Verfassungsstaaten in unseren zivilisatorischen Breiten sich nicht selten grausamer Methoden zu bedienen wußten, wenn es darum ging, die der Monopolstellung des staatlichen Zentralismus im Wege stehenden partikularen Gewalten zu integrieren. So lassen sich die Schrecken früher Konstitutionsperioden von Nationalstaaten etwa noch an den vielen Gründungsmythen ablesen, welche jene -häufig kriegerischen -Ereignisse spiegeln und in verklärter Form tradieren, denen die staatliche Einheitsbildung und nationale Integration sich verdanke.
Da der implizite Anspruch nationaler Identitätspolitik letztlich auf die Schaffung eines funktionalen Äquivalents für obsolet gewordene und nicht länger als legitimierend geltende Identifikationen abzielt, besteht für ein Kollektivsubjekt wie „Nation“ fortwährend die fatale Möglichkeit seiner emotionalen Aufladung. Einem Totem gleich, verselbständigt sich gerade das, was doch historisch ein durch und durch von Menschen Gemachtes ist. Die Entzeitlichung, Enthistorisierung, Verewigung und damit Mythologisierung der Nation, bzw.des Volkes (oder gar der Rasse) liegt immer dann nahe, wenn es an historisch konkreten Bedingungen für die Herleitung nationaler Gemeinsamkeiten mangelt. Helmut Plessner hat den hier gemeinten Zusammenhang der Absolutsetzung solcher Kollektivsubjekte am Beispiel der Entstehung des deutschen Nationalismus gültig bezeichnet: Die Deutschen „suchen .. . nach einem realen Halt in ihrer Geschichte, und, da sie ihn dort nicht finden, noch vor, noch unter der Geschichte.
Darum sind sie von vorgestern und von übermorgen und haben kein Heute . .. Statt eines idealen, obzwar fiktiven Ursprungs . .. sind sie auf der Suche nach einem realen, obzwar mythischen Anfang ihrer geschichtlichen Existenz, der sich im Dunkel unergründlicher Vorzeit verliert. Deutsches Staatsbewußtsein sucht sich in der Geschichte zu verankern ... aber als Ankergrund bietet sich immer wieder nur naturhafte Ursprünglichkeit. Und wenn es sich, stolz auf sein ewiges Barbarentum, gegen den älteren, glücklicheren, nüchternen Westen verteidigt, scheint es, als bildeten alle großen Aufbrüche deutscher Geschichte: der Krieg gegen Napoleon, Luthers Reformation, Widukinds Widerstand gegen Karl einen Kampf der Riesen gegen Rom, den Armin der Cherusker begann.“
Vielleicht ließe sich so der Weg des modernen deutschen Nationalismus als eine verschlungene kollektive Heilssuche interpretieren, woraus die bis heute reichenden Diskurse ihre unterschwellige Emotionalität beziehen. Ob der alte Germanenkult oder der Traum vom neuen Reich, ob Wagners Gesamtkunstwerk oder die Inszenierung brauner Totenfeiern: All dies gewinnt seinen geheimen Sinn durch eine Deutung, die die einstigen Wendepunkte der deutschen Geschichte als verzweifelte und letztlich gescheiterte Suche nach kollektiver Identität begreift.
Auch wenn die Rede von einem deutschen Sonderweg problematisch erscheint, zur Ausbildung eines Sonderbewußtseins kam es in der von Plessner umschriebenen Weise seit der Frühzeit des deutschen Nationalismus gewiß. Wer etwa die öffentlichkeitswirksamen Schriften Ernst Moritz Arndts oder Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ als Zeitdokumente studiert, wird kaum übersehen können, daß hier Linien entworfen wurden, deren -wie immer pervertierte -Grundmuster zu Fermenten eines problematischen Erbes werden konnten, an dem sich Rechtsextremismus und Neue Rechte noch heute zu orientieren suchen. Die jüngere deutsche Geschichte lehrt, daß das stets revitalisierbare Ferment säkularer Heilsversprechen im Sinne eines nationalen Glaubenskanons einen Vorrat an abrufbaren Inszenierungschancen schuf, der über die Ideen von 1914, über die Dolchstoßlegende und das Versailles-Trauma bis zum „völkischen Erwachen“ der NS-Bewegung reicht. Daß solche Jahrhunderte übergreifende Traditionsbestände Handlungsbereitschaften auslösen und Massenmobilisierung ermöglichen, verdankt sich nicht zuletzt den symbolischen Medien, deren sich solche Appelle bedienen.
V. Kerninhalte und Funktionen rechter Mythen
So wie der Mythos seit je zwischen Chaos und Kosmos eine Grenze zog, die der zwischen Profanem und Heiligem korrespondiert, so bewegt sich auch der Nationalismus zwischen einem Größen-WIR der eigenen Nation und minderwertigen Fremden. Dies liefert in Krisenperioden Orientierungsgewißheit und Verhaltenssicherheit. Man kennt nun den Feind und weiß zugleich, daß und wie er gemeinsam zu bekämpfen ist. Allein dies schafft in einer hochkomplexen Gesellschaft eine durchschlagende Einfachheit und mindert, psychologisch gesprochen, jene unbehagliche „kognitive Dissonanz“, der man für gewöhnlich schutzlos ausgeliefert bleibt. Man könnte auch von einer Reduktion von „Komplexität“ sprechen, oder von einer Eliminierung des als quälend empfundenen kontingenten zufälligen Geschehens zugunsten der einfachen Setzung einer alles bewertenden „Welterklärung“. Sie liefert für jene, die an sie glauben, zumindest subjektiv ein Gefühl der Entlastung. Die Forschung steht in der Regel vor einem Rätsel, sobald eine Erklärung dafür zu liefern wäre, weshalb zwischen „gesundem Patriotismus“ und großmäulig verkündetem Haß-Nationalismus keine prinzipielle, für die politische Praxis verbindliche Grenze gezogen werden kann, auch wenn dies theoretisch möglich scheint. Sicher ist nur, daß Maßhalteappelle hier wenig fruchten, wenn es sich bei dieser manichäisch-binären Kodierung des rechtsextremen Weltbildes um eine für den Bewußtseins-und Emotionenhaushalt ihrer Träger durchaus funktionale Dynamik handelt. So scheint es auch sinnlos, Rechtsextremismus allein durch pädagogische oder gar rein disziplinarische Mittel bekämpfen zu wollen, die von diesem gerade unterlaufen werden.
Es ist kaum zu leugnen, daß der Nationalismus seit je auch scheinbar gänzlich „unpolitische Haltungen“ zu mobilisieren versteht, wenn er durch seine Freund-Feind-Schematik „Erklärungen“ für bedrohlich und beängstigend wirkende soziale Zustände liefert. Im Dunkel der Nacht scheint für den Herumirrenden auch ein Funke hilfreich, selbst dann, wenn es sich um ein Irrlicht handelt. Bedauerlicherweise krankt die gegenwärtige Forschung an einer merkwürdigen Berührungsangst, sobald es darum geht, den innerpsychischen Haushalt der Andersdenkenden zu analysieren Während Oswald Spengler zufolge politische Mythen als das zwangsläufige Resultat einer schicksalhaft verlaufenden Geschichte der Massen erscheinen, wodurch Geschichte selbst zum Mythos wird, analysierte Ernst Cassirer in seinem 1945 erstmals erschienenen Buch „Vom Mythus des Staates“ politische Mythen als Medien, die Völkern und Nationen dazu verhelfen sollen, in verzweifelten Lagen einer Situation Herr zu werden. Die Erfahrung der Propaganda im Nationalsozialismus hatte dem aus Deutschland vertriebenen Emigranten Cassirer gezeigt, daß das mythische Denken nicht einfach eine längst überwundene Stufe menschlicher Erkenntnis und Welt-deutung, sondern eine durchaus latente Möglichkeit auch des zeitgenössischen Bewußtseins ist. Mittels moderner technischer Instrumentarien lassen sich über lange Zeit schlummernde Mythengehalte wachrufen und regelrecht organisieren. So ergab eine Analyse der amerikanischen Rundfunk-werbung im Zweiten Weltkrieg, daß -ob Seife oder Herrenrasse, Scheuerpulver oder Judenhaß -prinzipiell alles auf technisch raffiniert inszenierte Weise den Meinungsmarkt erobern konnte.
Für Ernst Cassirer sind Mythen ursprünglich durchaus funktionale und sinnvolle Ordnungs-und Klassifikationsversuche, mittels derer die unübersichtliche Mannigfaltigkeit der sozialen und politischen Erscheinungen zu einem -wie immer simplifizierten -doch stimmigen Ganzen gebildet werden kann. In solchen Mythen werden Instinkte, Hoffnungen und Ängste organisiert, medial objektiviert und symbolisch ausgestaltet. Seit Cassirer tendiert die Mythenforschung dazu, in solchen Bewußtseinselementen eine Bemühung um Klassifikation und Ordnung in der menschlichen Lebenswirklichkeit am Werk zu sehen. Trotz aller Vielfalt der jeweiligen Inhalte gleichen sich die Formen des mythischen Denkens in überraschender Weise. Denn die Einheit in der Vielfalt, die Synthese der mannigfaltigen Phänomene bleibt ihr gemeinsames Ziel: „Sie erwachsen aus demselben Wunsch der menschlichen Natur, sich mit der Realität abzufinden, in einem geordneten Universum zu leben und den chaotischen Zustand zu überwinden, in dem Dinge und Gedanken noch keine bestimmte Gestalt und Struktur angenommen haben.“
Wie alle politische Mythologie ist auch die des Rechtsextremismus ihrer Funktion nach eine imaginäre Kompensation für reale Versagungen, mit denen die Individuen nicht fertig werden können. Solange der Mythengläubige die Vorstellungen, mit deren Hilfe er sich orientiert, nicht als hergestellte Ersatzgebilde zu durchschauen vermag, kann die mythologisierte Welt eine Entlastungsfunktion ausüben. Dies ist der Grund, weshalb ihre Auflösung durch rational-argumentierende Kritik solange scheitern muß, wie die Mythologie einem funktionalen Bedürfnis der in ihrem Banne Stehenden entgegenkommt. Politische Mythologie ist sonach zunächst als eine Zustandsäußerung der „Gläubigen“ zu verstehen. Dafür spricht die starke emotionale Aufladung ihrer Kategorien, wie „Deutschtum“, „Reich“, „völkisches Erbe“ oder negativ: „Verwelschung“, „Entartung“ usw.
Das Wahnhafte in solchen Konstrukten besteht -in der Unkorrigierbarkeit der Überzeugungen durch die Erfahrungswirklichkeit, -in der zwanghaften Tendenz zur Identifizierung sehr heterogener und differenzierter Größen sowie -in einer starren Dichotomie (hell -dunkel, schwarz -weiß).
Mythen beanspruchen nicht rationale Logik, sondern handlungsdisponierende und handlungsauslösende Wirkungen. Sie besitzen durchweg normativen und imperativen Charakter sowie eine kompensatorische Funktion (statt rationaler und systematischer Gesellschaftsanalyse und deren Vermittlung mit dem Primärmilieu, den unmittelbaren Lebenserfahrungen). Sie schaffen eine fiktive Sicherheit, die die Realität selbst nicht zu bieten vermag. Sie integrieren mittels sekundärer Sinngebung und scharfer Abgrenzung nach außen durch eine dichotomische Trennung von Eigen-gruppe und bekämpfter Fremdgruppe. Hierdurch* S. gewinnen Mythen ihren instrumentalen, dezisionistischen Charakter und ihre starre Struktur.
Im Bereich des Politischen ist es gerade dieser instrumentale Charakter, der zum Kriterium ihrer „Wahrheit“ wird. Beides gilt als identisch. In einem Schulungsbrief aus dem Jahre 1939 wird dies zynisch bekannt: „Die national-sozialistische Weltanschauung gilt nicht kraft irgendeines professoralen Beweises ihrer Richtigkeit, sondern kraft ihrer Fruchtbarkeit und Lebensfülle, kraft ihrer Macht über die Seelen und kraft ihres Mutes, mit dem sie die deutschen Dinge verantwortlich in die Hand genommen hat. Kräfte, die wirken, die gestaltend ins Leben eingreifen, ... Werte, die binden und Größe ermöglichen, sind damit auch, , wahr‘.“ Faschismus und Nationalsozialismus erweisen sich in dieser Frage als die Erben Georges Sorels, der die Massenmythen, unabhängig von Wahrheit oder Unwahrheit, für notwendige Vehikel der Geschichte erklärte. „Organische Wahrheit“ sollte ihr Kriterium darin finden, ob sie der Selbstbehauptung einer Nation oder eines Volkes dient oder nicht. Ausschlaggebend ist allein die von solchen Mythen ausgehende Mobilisierungsfunktion.
VI. Ethnopluralismus gegen Multikulturalismus
Im Blick auf Völker und Nationen vertreten sowohl der Rechtsextremismus als auch die Neue Rechte gegenwärtig den sogenannten Ethnopluralismus. Er besagt, daß nur durch gegenseitige Separierung „völkischer“ Eigenart die ersehnte „Reinheit“ ihrer „Wesensmerkmale“ und damit auch der Selbstbehauptungswille eines Volkes garantiert werden könne, nach der Parole: Rassenmischung ist Völkermord! An dieser Mythisierung der Kategorien „Volk“ und „Volkstum“ läßt sich das Grundmuster völkischer Ideologien ablesen. Sie bilden seit je eine besonders extreme Variante des deutschen Nationalismus, die zum Rassismus und Antisemitismus hinführt. Dieser Mythisierung des Volkes in den völkischen Bewegungen ging eine Stufe seiner Vergöttlichung voraus. Federführend waren hier eine Reihe von Vordenkern, auf die sich nicht nur der spätere Nationalsozialismus immer wieder berief: Allen voran Houston Stewart Chamberlain, Richard Wagner, Julius Langbehn, Paul de Lagarde und -last, but not least -Johann Gottlieb Fichte. Dieser hat die für die Folgezeit richtungweisenden Bestimmungen von Nation und Volk gegeben: Waren sowohl die Nation als auch der Staat in eine Entwicklungsgeschichte westeuropäischer Demokratien historisch eingebettet, so entbehrte der Volksbegriff in Deutschland von Anfang an einer solchen Konkretion An die Stelle der historisch-sozialen Situierung trat daher eine gleichzeitige Sakralisierung und Naturalisierung im Sinne einer „tragenden Kraft des geschichtlichen Lebens“. Volk ist statisch, vorpolitisch und wird daher stets als „ewig“ vorgestellt, unabhängig von jeder besonderen Staats-und Verfassungsform. Diese seine „Wesenhaftigkeit“ läßt den Volksbegriff ursprünglicher und werthöher erscheinen als die vom Individualismus westlicher Naturrechtslehren her bestimmten Kategorien des liberal-demokratischen Nationalstaates, die aus der Sicht deutschen Sonderbewußtseins „bloß“ zeitlich und daher relativ gelten. „Der einzelne ist klein und schwach, das Volk dagegen groß und stark ..., der einzelne vergeht, das Volk scheint in Ewigkeit zu bleiben: das Volk muß leben, auch wenn viele einzelne zu Grunde gehen.“ Diese Kompensation politischer Defizite in der Realgeschichte gehört zu den zentralen Funktionen solcher Mythen. Die Mythen der Periode des Wilhelminismus und der Weimarer Republik (Reichsmythos, schlafender Kaiser, Nibelungen-und Führermythen) waren stets Reaktionen auf die als Ohnmacht erlebte Realgeschichte, entsprangen einem Bedürfnis nach Trost und Ansporn in dürftiger Zeit.
VII. Das rechtsextreme Weltbild
Manche Schwierigkeiten bei der Definition des Rechtsextremismus ergeben sich schon allein daraus, daß es sich bei ihm nicht um eine ausformulierte Ideologie handelt, die man auf ihre Prämissen und Widersprüche hin kritisch befragen könnte. Was hier vorliegt, ist vielmehr ein Mythen-Konglomerat, das sich zu einer bestimmten Mentalität und Gesinnung ausformt. In ihrer Perspektive erscheint die Normativität des Alltags nicht selten außer Kraft gesetzt, da die Haltung des „ewigen Kämpfers“ ihre Bewährung allein in Ausnahme-und Grenzsituationen finden kann. Das Bild vom schicksalhaft-notwendigen Kampf -sei es der Einzelnen, sei es der von Völkern oder Rassen -bildet generell ein Kernmotiv rechtsextremen Denkens.
Im Gegensatz zu den Hochideologien des 19. Jahrhunderts wie Liberalismus, Konservatismus oder Sozialismus sind Weltanschauungen weit stärker im Emotionen-Haushalt ihrer Träger verankert Prüft man daraufhin die Kernstruktur rechtsextremer Einstellungen, so ergibt sich der Eindruck eines gleichsam flächendeckenden Angebots sowohl in metapolitischen wie im engeren Sinne politisch-gesellschaftlichen Bereichen. Ein Blick auf die darin enthaltenen Deutungsangebote ergibt stichwortartig den Katalog rechtsextremer „Welterklärung“:
Mensch: Wesensungleichheit, Eliten-Massen-Schema und der daraus folgende Anti-Egalitarismus, der bis hin zum Rassismus reicht;
Geschichte: Ethnifizierung sozialer Konflikte, die eine Identifikation mit Kollektiv-Subjekten wie Nation, Volk und Rasse erlaubt; Dekadenz-und Konspirationstheorie als Ausdruck der Angst vor allem „Fremden“ sowie mythologische Geschichtsdeutungen;
Politik: Feindbildkonstruktion nach dem Modell des Manichäismus (dualistische Weitsicht); hieraus ergibt sich ein permanenter Aktionismus, der Gewaltanwendung als die rasche und einfachste Lösung politischer Probleme begrüßt.
Der Wiener Sozialpsychologe Friedrich Hacker hat in einer Nachlaß-Schrift über „Das Faschismus-Syndrom“ die psychischen Konstellationen, die das politische Phänomen des Rechtsextremismus begünstigen, in einer Kategorientafel wie folgt klassifiziert: die Maximierung der Ungleichheit, das Recht des Stärkeren, das Führerprinzip, die Irrationalität, die Dauermobilisierung, die Vereinheitlichung, die organische Ganzheit, der Total-einsatz, die Gewalt und der Terror von oben sowie das Uralte und das ganz Neue
Es ist nicht dieses oder jenes Einzelmerkmal, das rechtsextremes Denken ausmacht, sondern vielmehr die Kombination mehrerer solcher ideologischer Elemente. Gruppiert man diese unter einem dynamisierten sozialpsychologischen Aspekt, so tritt deren polare Verkoppelung durch zwei einander bedingende Wahnformen -den Verfolgungs-und den Größenwahn -hervor. Analog den beiden Brennpunkten einer Ellipse ergeben sich dann in konzentrischer Anordnung -Hacker modifizierend -die beiden folgenden Merkmalsreihen: 1. Größenwahn: Nationalismus, Rassismus, Heroen-Mythen, Elitismus, Ethnozentrismus, Ethnopluralismus, Führerprinzip sowie Volksgemeinschaft. 2. Verfolgungswahn: Feindbilder, Verschwörungshypothesen, Antisemitismus, Dekadenzdiagnosen, Anti-Intellektualismus, multikjulturelle Unterwanderung, Bürgerkrieg, Chaos sowie Klassenkampf.
Als gemeinsamer Hintergrund der Syndrome rechtsextremistischer Weltanschauung können Grundstimmungen einer verunsicherten Gesellschaft und kollektive Ängste gelten. Mögliche Reaktionen auf die Merkmale sind Flucht und Vermeidung, aber auch Aggression und Verdrängung. Es sind frei flottierende Ängste, die sich ihre Objekte suchen, um sich dadurch zu entlasten. In besonderer Weise politisch relevant ist jene Form der Angstbearbeitung, die innere Konflikte in äußere umpolt. Ein brisantes Beispiel dafür ist die Projektion von Feindbildern.
Besonders in sozialen und politischen Krisenzeiten lassen sich verschwörungstheoretische Projektionen zur Bewältigung der kollektiv aufkommenden Bedrohungsängste instrumentalisieren. Ungeachtet der Frage, ob solche Ängste objektiv begründet sind oder nicht: Sie besitzen, als eine Art „kollektiver Paranoia“, einen hohen Ansteckungsgrad. Darüber hinaus befreit die Konzentration auf eine äußere, verfolgende Macht (etwa das „Weltjudentum“) von Binnenkonflikten, da so ein Teil der sozialen Aggressionen an solch fiktiven, doch nichtsdestoweniger gerade darum politisch äußerst wirksamen Feindbildern festgemacht und abreagiert werden kann. Aggressiv ist stets „das Judentum“, nicht man selbst.
Alle bekannten Formen psychologischer Kriegs-führung, politischer Massenmobilisierung und Propagandatechniken zielen letztlich auf ein Potential latent-regressiver, antimodernistischer Tendenzen und auf ein kollektives Bedürfnis nach projektiver Entlastung. Mit ihr gehen regelmäßig pauschale Simplifizierungen komplexer Zusammenhänge einher, dogmatische Schwarz-Weiß-Urteile sowie fatale Ausgrenzungstendenzen gegenüber allem „Fremden“ -in uns und außer uns. Ein allmählicher Abbau solch politisch erzeugter Angst wäre allein durch rückhaltslose Thematisierung des „Angstmachenden“ möglich. Hingegen wirken Abwehrreflexe und Tabuisierungen auf Dauer kontraproduktiv.