Elitenwandel in Osteuropa. Einstellungsunterschiede zwischen Eliten und Bevölkerung am Beispiel Ungarns
Susanne Pickel/Gert Pickel
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Zusammenfassung
Am Ausgangspunkt des Demokratisierungsprozesses in Osteuropa steht eine Diskrepanz in den politischen Einstellungen der Eliten auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite, die besonders in den wechselhaften Wahlergebnissen ihren Ausdruck findet. Dabei sind die Konstellation einer Mischung aus neuen und alten Eliten sowie der Prozeß der Herausbildung einer aktuellen Elitenstruktur von Wichtigkeit. Ein zentrales Ergebnis ist die skeptischere Haltung der Bevölkerung zur Demokratie im Vergleich zu den (neuen) politischen und wirtschaftlichen Eliten -Folge eines forcierten Wandels in den Eliten ohne gleichzeitige Verankerung in der Bevölkerung. Die spezifische Entwicklung Ungarns verweist, verbunden mit diesen übergreifenden Überlegungen, auf die Gefahren einer solchen Entwicklung hin. Diese läßt sich dort für die politischen Eliten anhand des „schwebenden Parteiensystems“ gut illustrieren. Ungarn erweist sich dabei als Musterbeispiel eines „Transplacement“ -Prozesses, der die Verschiebung der Rekrutierungsbedingungen in der Phase nach dem Umbruch erkennen läßt. Interessant ist dabei, daß die neu gemischten Führungseliten demokratischere Einstellungen aufweisen als die Bevölkerung. Letztendlich kann aber zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung noch nicht gesagt werden, ob die Eliten diese etwas prodemokratischere Haltung, wenn sie diese überhaupt behalten, an die Bevölkerung weitergeben können oder ob die Differenz zwischen Eliten und Bevölkerung möglicherweise einmal so groß wird, daß die Konsolidierung der Demokratie in Frage steht.
I. Einleitung
Immer wieder wird in der akteursorientierten Diskussion um die Transformation in Osteuropa auf die Divergenzen zwischen Eliten und Bevölkerung verwiesen Fast genauso oft findet man die Betonung der besonderen Wichtigkeit von Akteursentscheidungen für die Stabilisierung, Konsolidierung oder Demokratisierung überhaupt. So stellen zwei der wichtigsten Transitionsforscher, Adam Przeworski und Guiseppe Di Palma, aber auch Samuel Huntington oder Juan Linz, die Tätigkeiten und Einstellungen der Eliten zum demokratischen System sogar ganz eindeutig in den Vordergrund ihrer Analysen von möglichen Faktoren, die eine Stabilisierung der jungen Demokratien oder die Entwicklung einer Zivilgesellschaft, ob in Osteuropa oder Lateinamerika, überhaupt erst ermöglichen
Dies erscheint insbesondere deswegen interessant, weil noch 1990 die politischen Entwicklungen bis zum Transitionszeitpunkt einhellig als stark vom Verhalten der Massen beeinflußt angesehen wurden. In der Folge der Entwicklung einer die Konsolidierungsfortschritte begleitenden osteuropabezogenen Transitionsforschung rücken das Handeln von Eliten, das effektive Funktionieren von politischen Institutionen und/oder die Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Transitionslandes als wichtige Stabilisationsfaktoren osteuropäischer Demokratien in den Mittelpunkt theoretischer und empirischer Erklärungskonzepte. Die Relevanz der Einstellungen der Bevölkerung zum neuen politischen System und seinen Komponenten wird dabei oftmals als kaum beachtenswert eingeschätzt. Daß eine institutionelle Absicherung, eine Einbindung der Eliten in den Demokratisierungsprozeß und eine reine Fokussierung auf wirtschaftliches Wachstum allerdings sehr schnell zu Komponenten werden können, die ohne Bezug zur Bevölkerung „in der Luft hängen“, zeigen nicht zuletzt die Wahlergebnisse in fast allen Reformländern. Sie illustrieren einerseits sehr deutlich die noch große Unsicherheit der Bevölkerung in ihrem Wahlverhalten, andererseits aber auch die Konsequenzen dieser subjektiven Entscheidungen. Zwar wirkt sich natürlich auch die wirtschaftliche Entwicklung auf die Einstellungen der Bürger gegenüber dem politischen System und seinen Repräsentanten aus. Der direkte Zusammenhang zwischen harten ökonomischen Faktoren und den politischen Einstellungen der Bevölkerung ist aber weitaus instabiler, als oft suggeriert wird. Dies zeigen nicht zuletzt die schlechten Wahlergebnisse der konservativen Parteien in verschiedenen osteuropäischen Staaten (zum Beispiel Ungarn und Polen), welche trotz steigender ökonomischer Kennziffern (besonders Bruttosozialprodukt pro Kopf) abgewählt wurden.
Folglich ist für die Erhaltung der jungen Demokratien eine langfristige Konsolidierung einer demokratischen politischen Kultur der Bevölkerung unerläßlich Ob es sich dabei um einen Wandel des Demokratieverständnisses der „alten“ Eliten -hin zu einem liberalen, westlich geprägten Demokratieverständnis -und die „Weitergabe“ dieser neuen Haltung an die Bevölkerung handelt oder ob eine parallele, unabhängige Demokratisierung der Einstellungen beider Gruppen erfolgt, ist vorerst unerheblich. Sicher ist jedoch, daß nur im Falle einer weitgehenden Übereinstimmung von politischen Werten und Haltungen der Eliten und der Bevölkerung diese sich durch das jeweilige politische System und die in ihm Regierenden adäquat vertreten sieht und dieses System auch langfristig stabil bleiben kann. Inwieweit dies der Fall ist und ob Divergenzen oder Konvergenzen in der politischen Kultur zwischen beiden Personengruppen bestehen, scheint bisher kaum erfaßt worden zu sein
Die konkrete Entwicklung politischer Einstellungen innerhalb politischer Eliten und der Bevölkerung soll in komparativer Analyse exemplarisch an Ungarn vorgestellt werden. Gerade in Ungarn, dem Land, das von vielen Transitionsforschern als ein Musterbeispiel für ein „Transplacement“ -eine vom gemäßigten, reformorientierten Flügel der sozialistischen Partei initiierte Demokratisierung und ein mit der Opposition ausgehandelter institutionalisierter Übergang -angesehen wird streiten sich verschiedene Elitengruppen -frühere Dissidenten, Reformer in der MSZMP (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) und die Gründer der neuen Parteien -mit dem Volk um das Verdienst, das kommunistische Regime beseitigt zu haben Ebenso wie keine dieser Akteursgruppen alleine in der Lage war, das alte Regime zu stürzen, so ist keine für sich alleine fähig, das neue politische System zu konsolidieren. Vielmehr müssen Erwartungen. Einstellungen und politische Werte von Eliten und Bevölkerung mit den Basis-werten einer Demokratie in Einklang gebracht werden, so daß keine relevante gesellschaftliche Gruppe in die Lage versetzt wird, das demokratische politische System zu beseitigen.
Dabei ist zu beachten, daß die Elitenkoalition, die für den politischen Kompromiß verantwortlich war, der den Umbruch herbeiführte, in Ungarn nicht der Elitenkoalition entsprach, welche in die Phase der Konsolidierung der jungen Demokratie überleitete, und nicht derjenigen Koalition entspricht, die jetzt dafür sorgen muß, daß sich die ungarische Demokratie bewähren kann. Zu hinterfragen ist auch, ob sich nur die Koalitionen, nicht aber die Personen in den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen veränderten. Die Regierungskoalitionen könnten neu gebildet werden, ohne daß die führenden Persönlichkeiten ausgetauscht würden. In diesem Falle käme es z. B. zu einer Veränderung politischer Inhalte, nicht jedoch politischer Eliten.
II. Der Elitenwandel in Ungarn seit 1987
Abbildung 2
Tabelle 2: Politische Einstellungen bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Osteuropa (in Prozent) Quelle: J. Jerschina, A Comparative Analysis of Political and Economic Values in Russia, Ukraine, Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, the Czech Republic, Slovakia, Poland and Hungary. Arbeitspapier, Krakau 1995.
Tabelle 2: Politische Einstellungen bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Osteuropa (in Prozent) Quelle: J. Jerschina, A Comparative Analysis of Political and Economic Values in Russia, Ukraine, Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, the Czech Republic, Slovakia, Poland and Hungary. Arbeitspapier, Krakau 1995.
Spricht man von Elitenwandel, so kommen drei Modelle für den Austausch von Führungspersonal in Betracht Einmal kann mit dem Umbruch ein Generationenwechsel stattfinden, der sowohl die Angehörigen der alten (Reform-) Eliten als auch die Dissidenten betreffen kann (Beispiel Tschechoslowakei), dann vermag bereits die Zeit der Liberalisierung des alten Systems Gegeneliten hervorzubringen, die sich teilweise auch organisieren können (Beispiel Polen). Ein besonders interessantes Beispiel für die wechselnde Zusammensetzung von Eliten im Transitions-und Konsolidierungsprozeß liefert Ungarn. Hier war bereits vor dem Systemwechsel ein Elitenwandel zu beobachten, der zu einer Mischung der politischen Führung aus alten Reformeliten und neuen Oppositionseliten führte und letztlich in die Kompromißfindung der Runden Tische und die „ausgehandelte Revolution“ mündete. Gleichzeitig verschoben sich die Machtverhältnisse innerhalb der politischen Eliten zwischen 1987 und 1990 zunehmend zugunsten der Opposition 1. Zwischen 1987 und 1989 führte die interne Desintegration der MSZMP zur Ablösung Janos Kadars, der Spaltung der Einheitspartei und der Neugründung von Parteien durch oppositionelle Bewegungen und Dissidenten, so daß bis 1989 schließlich in einer Art „Halblegalität“ ein präpluralistisches politisches Umfeld entstanden war (Auftreten neuer Eliten). Neben den politischen Parteien fanden sich 1988 auch 1 000 Wissenschaftler in der ersten demokratischen Gewerkschaft Ungarns seit der Machtübernahme der Kommunisten zusammen. Im Januar 1989 wurden diese neuen politischen Organisationen durch eine Änderung des Vereinigungs-und Versammlungsgesetzes quasi legitimiert. Allerdings war sich die Opposition in ihrer Haltung gegenüber dem Reformflügel der MSZMP keineswegs einig: Während das MDF (Ungarisches Demokratisches Forum) zunächst eine Zusammenarbeit mit den Reformkommunisten versuchte und sich im politischen Raum zwischen der Regierung und der übrigen Opposition einordnete, lehnten die liberalen Parteien SZDSZ (Bund Freier Demokraten) und FIDESZ (Bund der jungen Demokraten) jede Kooperation mit der MSZMP ab. Ihre Aktivitäten intensivierten den Dialog mit der Bevölkerung und schufen eine kritische Öffentlichkeit mit Distanz zur (noch) herrschenden sozialistisch-kommunistischen Partei. 2. Die nächste Phase der mit dem Wandel der politischen Ordnung verbundenen Veränderung der Zusammensetzung politischer Eliten begann Anfang 1989 und dauerte bis zum Herbst desselben Jahres. Gleichzeitig wurde auch der Prozeß der Demokratisierung des politischen Systems aus den bis dahin rein intraelitären Aktionsräumen auf die Bevölkerung übertragen. Die Rehabilitierung von Imre Nagy enthüllte den Betrug am ungarischen Volk: 1956 war in Ungarn keineswegs eine Konterrevolution, sondern ein Volksaufstand gegen das kommunistische Regime niedergeschlagen worden. Die Massendemonstration anläßlich der Bestattung Nagys offenbarte die demokratische Gesinnung der Bürger, dem sozialistisch-kommunistischen Regime war jede Legitimationsbasis entzogen. Auf Elitenebene hatten diese Ereignisse die Anerkennung des de facto bereits bestehenden Mehrparteiensystems durch die MSZMP und die Gründung des sogenannten „Oppositionellen Runden Tisches“ zur Folge. Hier sammelten sich die Oppositionsparteien, um bei der von der MSZMP geplanten Verfassungsreform geschlossen auftreten zu können und eine Aufspaltung ihrer politischen Kraft zu vermeiden. Die inhaltliche Diskussion begann im Sommer 1989 am „Nationalen Runden Tisch“, an dem die MSZMP, der „Oppositionelle Runde Tisch“ und sieben -im alten System etablierte und diesem verpflichtete -gesellschaftliche Organisationen zusammenkamen. Nachwahlen zur Nationalversammlung bescherten der Opposition hohe Siege und untermauerten ihre Position bei den Verhandlungen über die Verfassungsrevision. Nach schwieriger Kompromißfindung und Änderungen im Parteien-und Wahlgesetz konnte im September 1989 der friedliche Übergang in die Demokratie mittels freier Wahlen, die im Mai 1990 stattfinden sollten, festgelegt werden. 3. Ein weitgehender Elitenaustausch erfolgte durch die freien Wahlen 1990. Bereits im Vorfeld löste sich die MSZMP auf: Die Reformer gründeten die MSZP (Ungarische Sozialistische Partei), die „hardliner" die MSZMP als Nachfolgeorganisationen der ehemaligen Einheitspartei. Das ungarische Parlament setzte sich somit bereits vor den Parlamentswahlen im Mai 1990 infolge der Nachwahlen und der Parteispaltungen zwar nicht vollständig aus demokratisch gewählten Repräsentanten, aber zumindest aus Abgeordneten mehrerer, auch oppositioneller Parteien zusammen. Der über die Verfassungsänderung gefundene Kompromiß der politischen Parteien zerbrach mit der Regelung zur Wahl des Staatspräsidenten: Die MSZP befürwortete die direkte Volkswahl des Staatsoberhauptes, MDF, SZDSZ und FIDESZ setzten sich für eine Wahl durch das Parlament ein, um einen „starken Mann“ an der Spitze der ungarischen Republik zu vermeiden. Nach einem Plebiszit über diese Frage gelang es den beiden liberalen Parteien, sich als radikale Opposition gegenüber den Sozialisten und Kommunisten zu etablieren. 4. In der ersten Legislaturperiode zwischen 1990 und 1994 prägten konservative und liberale politische Eliten die ungarische Alltagspolitik. Dabei kann ein Elitenwandel durch politische Praxis beschrieben werden: Im Rahmen der politischen Auseinandersetzung kam es in der Nationalversammlung zu ideologischen Auseinandersetzungen, welche die Parteien in der Öffentlichkeit „unter sich ausmachten“. Es handelte sich um eine „elitäre“ Diskussion, die die Kluft zwischen Regierenden und Regierten, den Zustand des „schwebenden Parteiensystems“ offenkundig machte Parteispaltungen und -neugründungen führten bis 1994 zu einer „Sejmisierung“ des ungarischen Parlaments, einzelne Parteien, wie zum Beispiel FIDESZ veränderten ihr Programm und suchten neue ideelle Koalitionen, das heißt, mit dem Wandel der Parteiziele wendete sich der FIDESZ auch Parteien der anderen, nämlich konservativen politischen Strömung zu. Einige der neuen politischen Gruppierungen wurden auch vom Wähler nicht akzeptiert; so konnte die „authentische“ Teilgruppe der Kleinlandwirte die Wähler nicht überzeugen und nicht ins Parlament einziehen. Im Falle der Ungarischen Sozialistischen Partei ging der Imagewandel sogar so weit, daß die Partei der ehemaligen Reformsozialisten für die überwiegende Mehrheit der Wahlbevölkerung wieder „gesellschaftsfähig“ wurde.
Insgesamt hatten sich nach der zweiten Parlamentswahl die politischen Eliten mehrfach gewandelt: Zunächst waren die sozialistischen Politiker nach dem Systemwechsel diskreditiert, neue konservative und dissidente politische Führer übernahmen die Regierung. Nach Ansicht einiger Autoren hat sich mit dem Regierungsantritt der sozialistisch-liberalen Koalition lediglich die Klientel des bereits aus spätsozialistischer Zeit herrührenden Klientelismus vom oppositionell-dissidenten Personal der konservativen Regierung Joszef Antall/Peter Boros zum reformsozialistischen Personal der Regierung Guila Horn gewandelt, auch besteht über mögliche Modelle des Elitenwechsels in Ungarn keineswegs Einigkeit Allerdings erscheint nach repräsentativen Studien über Eliten in Ungarn klar, daß zwar zwischen 1989 und 1994 neue politische Eliten in der Führung des Landes aufgetaucht sind, die ökonomischen Eliten sich jedoch zum Großteil aus Personen rekrurierten, die bereits 1988 Leitungsfunktionen in Wirtschaftsbetrieben innehatten. Daraus folgt, daß -wie in anderen Transitionsstaaten auch -kein vollständiger Elitenaustausch stattgefunden hat; vielmehr muß nun nach dem tatsächlichen oder nur angeblichen Einstellungswandel bei denjenigen Führungspersonen gefragt werden, die zur Aufrechterhaltung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung notwendig sind, sich zum Teil jedoch noch aus dem „alten“ politischen System rekrutieren Passen ihre politischen Über-zeugungen zur politischen Kultur der ungarischen Bevölkerung, oder unterscheiden sie sich von ihren Bürgern?
III. Denken die Eliten anders als die Bevölkerung?
Wurde im vorangegangenen Punkt das Augenmerk auf einen exemplarischen Prozeß des Eliten-wandels in der Realität eines Transformationslandes (Ungarns) gelegt, so soll nun ein kurzer Blick auf einen bisher noch etwas vernachlässigten Bereich der Transitionsforschung geworfen werden. Angelehnt an die gerade aufgeworfene Frage nach der „Demokratisierung“ der Einstellungen von Eliten, handelt es sich um den bereits in der Einleitung angesprochenen Bereich der politischen Unterstützung des neuen demokratischen Systems welches in hohem Umfang durch die Einstellungen der Bevölkerung zu verschiedenen Komponenten der neuen Demokratie geprägt wird. Diesem Bereich wird nicht nur seitens der Transitionsforschung oft wenig Bedeutung zugemessen sondern man geht oft implizit davon aus, daß Eliten und Bevölkerung entweder ähnliche Einstellungen und auch eine ähnliche Entwicklung dieser Einstellungen besitzen oder daß die Eliten als demokratische Repräsentanten die Bevölkerung auf die Dauer „demokratisieren“ werden. Inwieweit dies für die Realität Osteuropas zutreffend ist, soll nun kurz beleuchtet werden. Dabei ist für diese Betrachtung die Beantwortung der Frage: „Was sind eigentlich Eliten?“ eine Grundvoraussetzung. Üblicherweise unterscheidet man zwischen soge-nannten Funktionseliten (zum Beispiel Politiker), die sich aufgrund ihrer Tätigkeit für das Gemeinwohl für eine Elitenposition qualifizieren, und Positionseliten (zum Beispiel kirchliche Würdenträger, Kulturträger), die aufgrund ihres hohen Status als Eliten eingeschätzt werden. Für eine Betrachtung Osteuropas bietet es sich an, zwischen ökonomischen und politischen Eliten, ggf. noch kulturellen Eliten (Künstler, dissidierte Schriftsteller) zu unterscheiden, wie dies bereits im ersten Teil des Beitrags für Ungarn geschehen ist. In den folgenden Betrachtungen wird der Fokus hauptsächlich auf die politischen Eliten gelegt werden, da diese für die Demokratisierung von besonderer Wichtigkeit sind bzw. dafür öffentlich in der Verantwortung stehen. Zieht man eine Bilanz für deren Bewertung durch die Bevölkerung, so gelangt man zu einem eher düsteren Bild. So wird den politischen Eliten -also den Repräsentanten in Politik und Verwaltung -im großen und ganzen kein besonders hohes Vertrauen entgegengebracht. Beispielsweise empfinden in Ungarn zirka 75 Prozent der befragten Bürger, daß die gewählten Repräsentanten den Kontakt zur Bevölkerung verlieren. Eng damit verbunden ist ein extrem niedriges Vertrauen in die Parteien. So bekennen in Ungarn 1995 10 Prozent, in der Tschechischen Republik immerhin 25 Prozent, aber in Polen nur 8 Prozent der Bevölkerung, ein zumindest mittelmäßiges Vertrauen in die Parteien zu besitzen Im Gegenteil -man empfindet, und zwar noch viel häufiger als in Westeuropa, die tagespolitischen Eliten als korrupt, unfähig oder bestechlich und alles in allem in ihrer Arbeit wenig effektiv. Gründe für diese negative Beurteilung liegen in der erfahrenen Verschlechterung der ökonomischen Situation und der in vielen osteuropäischen und ostmitteleuropäischen Ländern immer sichtbarer werdenden sozialen Ungleichheit Diese Prozesse werden überwiegend den wechselnden politischen, aber auch den ökonomischen Eliten angekreidet. Sichtbare Reaktion ist die noch immer hohe Instabilität der Regierungsbeteiligung von politischen Gruppierungen (Parteien), das heißt die hohe Zahl an Regierungswechseln infolge von Wahlen in nahezu allen Ländern Osteuropas. Dies hat natürlich Konsequenzen für den Prozeß der Demokratisierung in den osteuropäischen Transformationsstaaten. So ist zu fragen, inwieweit diese Eliten eine Vorbildfunktion hinsichtlich der Demokratisierung ausüben können, ob sie nicht vielmehr einer Demokratisierung der Bevölkerung hinderlich sind.
Dabei weist die Zusammensetzung der Eliten in Osteuropa (wie am Beispiel Ungarn deutlich vorgeführt) einige Besonderheiten auf. Die dortigen Eliten setzen sich aus ehemaligen Sozialisten, Dissidenten, aber auch ökonomischen Aufsteigern nach dem Umbruch bzw. sogar infolge des Um-bruchs zusammen. Funktionale und positionale Eliten stehen, kombiniert aus grundverschiedenen sozialen und politischen Gruppen, nebeneinander. Nun ist es einfach zu behaupten, Eliten und Bevölkerung unterschieden sich auch jetzt noch in ihren zentralen Einstellungen zu demokratischen Prinzipien, demokratischen Tugenden und in ihrer politischen Unterstützung Weniger einfach ist es dagegen, diese Behauptungen fundiert zu belegen. Anders als oft aus persönlichen Eindrücken gewonnen oder einfach aus singulären Tagesereignissen geschlußfolgert, soll hier in aller Kürze versucht werden, einige Unterschiede darzustellen, ohne dabei das Instrument einer Elitenbefragung in Osteuropa zur Verfügung stehen zu haben. Für die empirische Betrachtung ergibt sich somit die Frage: Wie kann man Eliten in normalen Bevölkerungsumfragen erfassen?
Einen möglichen Ansatz für solch ein Vorgehen liefert Jan Jerschina der eine Aufteilung der Bevölkerung in vier Personengruppen vorschlägt.
Er identifiziert im Rahmen empirischer Analysen anhand der Achsen aktiv -passiv und hohe -niedrige Position in der gesellschaftlichen Stellung in allen osteuropäischen Staaten folgende vier Bevölkerungsgruppen, wobei die Eliten positional identifiziert werden: -Träger des politischen Wandels (aktive, ggf.
Die Träger des politischen Wandels, aber auch die passiven Experten, verkörpern die Basis der Personen, welche Eliten ausbilden und diese auch stellen, während die Bevölkerung das weniger einflußreiche Bürgertum und weitere, nicht als Eliten zu bezeichnende Gruppen der Staatsbürger widerspiegelt. Es überrascht nicht, daß der Anteil der beiden Expertengruppen im Durchschnitt jeweils zirka 10 Prozent der Befragten in den verschiedenen osteuropäischen Staaten umfaßt, während sich die beiden Gruppen der Bürger um die 40 Prozent bewegen. Dabei variiert die Zusammensetzung in Abhängigkeit von den untersuchten Ländern Zwischen den beschriebenen Gruppen herrscht ein Gefälle der politischen und demokratischen Einstellungen, das sich folgendermaßen beschreiben läßt: „Conductors of Change“ stehen demokratischen Prinzipien meist weitaus positiver gegenüber als ihre weniger in die Politik einbezogenen Miteliten, aber auch positiver als die politisch aktiven Teile der Bevölkerung. Am stärksten in Distanz zum neuen demokratischen System stehen hier die als „passive citizens“ (stille Bürger) bezeichneten Teile der Bevölkerung.
Die in allen untersuchten osteuropäischen Staaten feststellbaren Einstellungsunterschiede zeichnen das Bild deutlich weniger autoritär und nationalistisch geprägter Eliten, insbesondere der aktiven Experteneliten (vgl. Tabelle 2). Dies ist im Gegensatz zu den auch eher nach links orientierten Bürgern zu sehen, die bei weitem nicht so großes Vertrauen in die ökonomische Entwicklung setzen, wie dies die Eliten tun. Die als osteuropäische Eliten identifizierten Personengruppen, sind somit weniger offen für abgrenzende Radikalismen (Authoritarismus, Nationalismus) und hoffnungsvoller, was die zukünftige (ökonomische) Entwicklung angeht. Wie aus anderen Studien zu entnehmen ist, ist auch ihr Vertrauen in die „jungen“ demokratischen Institutionen höher als beim Rest der Bevölkerung
Entsprechend erscheint es nicht verwunderlich, wenn es zwischen dem Elitenhandeln und den Wünschen der Bevölkerung oftmals deutliche Diskrepanzen gibt. Anders als die überwiegend stark in Richtung der Ankoppelung an die Europäische Union ausgerichteten Eliten ist in der Bevölkerung oftmals eher die Suche nach Sicherheit und Reduktion sozialer Ungleichheit vorherrschend. Dabei muß an dieser Stelle ungeklärt bleiben, inwieweit sich die Eliten der Bevölkerung, zum Beispiel aus wahltaktischen Gründen, annähern werden oder die Bevölkerung von den Eliten zu einer stärker dem demokratischem Ideal entsprechenden politischen Haltung „erzogen“ wird Deutlich ist nur, daß die (herrschenden) Eliten in Osteuropa sich nicht auf ein gesichertes Fundament des Vertrauens in der Bevölkerung verlassen können, das ihnen, insbesondere den politischen Eliten, eine dauerhafte Sicherheit der Position ermöglichen würde. Eher sind sie gezwungen, ihre in der Regel prodemokratischeren Einstellungen an die Bevölkerung zu vermitteln.
IV. Fazit
Faßt man die beiden angesprochenen Aspekte zusammen, so werden folgende Punkte deutlich: Wie am Beispiel Ungarn exemplarisch für alle ost-mitteleuropäischen Staaten zu sehen ist, haben sich die Rekrutierungsvoraussetzungen für politische Eliten seit 1988 erheblich verschoben: Waren ehemals eine sozialistische Gesinnung und möglichst eine Parteimitgliedschaft in der MSZMP Bedingung, wenn man eine Position in der Nomenklatur einnehmen wollte, so galt nach 1990 genau das Gegenteil: Antikommunistische Einstellungen, politische Neutralität oder besser politische Opposition vor 1990, aber auch ein deutlicher Gesinnungswandel wurden nun als Voraussetzung für den Eintritt in die politische Elite verlangt. So wundert es nicht, daß 78 Prozent der Angehörigen kommunistischer Eliten in Ungarn nach den Wahlen 1990 Amt und Würde verloren. Die zweiten freien Wahlen 1994 führten wiederum zu einer Gegenbewegung: Drei Viertel der Abgeordneten der (neuen) Nationalversammlung wurden durch das Wahlergebnis ausgetauscht, viele der neuen Mandatsträger waren eigentlich „alte“, sie waren Mitglieder des letzten sozialistischen Parlaments gewesen. Trotz dieser Disparität in der Zusammensetzung der politischen Eliten läßt sich überwiegend eine prodemokratischere Haltung dieser Gruppen feststellen. Sie stehen dabei vor allem der Marktwirtschaft positiver gegenüber, als es in der Bevölkerung im allgemeinen der Fall ist. Zwar sind die institutionalisierten Elemente demokratischer Herrschaft und die Einigkeit über grundlegende Werte -euroatlantische Orientierung (nicht nur Ungarns) -eine gute Basis für die Konsolidierung des neuen politischen Systems; auch darf, wie gerade angedeutet, den „neuen alten“ politischen Eliten ein gewisser Anschauungswandel unterstellt werden, aber es bestehen doch erhebliche Probleme in den internalisierten politischen Einstellungen. Einerseits ist zu hinterfragen, inwieweit die prodemokratischeren Einstellungsmuster nicht in Krisensituationen sehr schnell, insbesondere bei den „gewendeten“ Eliten, an Bedeutung verlieren, andererseits korrespondiert die politische Kultur der Eliten bei weitem noch nicht mit der politischen Kultur der Bevölkerung Diese Diskrepanz kann zu nicht unerheblichen Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Eliten und Bevölkerung führen und drückt sich oftmals auch in extrem niedrigen Werten des Vertrauens zu den politischen Eliten aus. Inwieweit durch solche Spannungen nicht sogar die Stabilität des politischen Systems gewissen Gefährdungen unterliegt, ist eine Frage, die in der Zukunft möglicherweise noch intensiver diskutiert werden muß.
Susanne Pickel, Dr. rer. pol., Dipl. -Pol., geb. 1968; seit 1996 Projektmitarbeiterin am Lehrstuhl für vergleichende Kultursoziologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Gert Pickel) Unterschiede in der Demokratiezufriedenheit und im Wahlverhalten zwischen ost-und westeuropäischen Staaten, in: Oscar W. Gabriel/Jürgen W. Falter (Hrsg.), Wahlen und Einstellungen in westlichen Demokratien, Bem 1996; Ungarn in Europa. Demokratisierung durch politischen Dialog, Wiesbaden 1997; Demokratisierung in Ungarn, in: Gert Pickel/Susanne Pickel/Jörg Jacobs (Hrsg.), Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Bamberg 1997. Gert Pickel, Dipl. -Soz., Dipl. -Pol., geb. 1963; 1992-1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle der Universität Bamberg; seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für vergleichende Kultursoziologie der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Veröffentlichungen u. a. (zus. mit Susanne Pickel) Unterschiede in der Demokratiezufriedenheit und im Wahlverhalten zwischen ost-und westeuropäischen Staaten, in: Oscar W. Gabriel/Jürgen W. Falter (Hrsg.), Wahlen und politische Einstellungen in westlichen Demokratien, Bern 1996; Tendenzen der Demokratisierung und politischen Unterstützung in Osteuropa, in: Gert Pickel/Susanne Pickel/Jörg Jacobs (Hrsg.), Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Bamberg 1997.
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