I. Von der „zweiten Gesellschaft“ zur Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaftliche Netzwerke und Akteure, eine soziale Mobilisierung, öffentliche Proteste und ähnliche Aktivitäten sind in Ungarn nicht erst seit dem Jahre 1989 zu finden. Vielmehr sind in der heutigen Zivilgesellschaft Ungarns noch immer -wenn auch in veränderter Form -sowohl die Traditionen der kommunistischen Kädär-Ära als auch gewisse präkommunistische Traditionen und Potentiale lebendig Die noch kurze Geschichte der postkommunistischen ungarischen Demokratie zeigt bisher eine institutioneile Stabilität mit einer eher „stillen“ zivilen Gesellschaft Ein gradueller Demokratisierungsprozeß charakterisierte das Ende der achtziger Jahre und führte in den Jahren 1989 und 1990 schließlich zur Ausbildung der heutigen politischen Rahmenbedingungen Ich möchte in diesem Beitrag versuchen, darzustellen, wie der politische Wandel in Ungarn die Entwicklung von schon früher existierenden Konflikt-und Protestpotentialen beeinflußt hat, um anschließend die Unterschiede zwischen der zivilen Gesellschaft des „Kädärismus“ und der der neuen Demokratie bzw.des neuen Rechtsstaates nach 1989 gegenüberzustellen.
Die Grundstrukturen für zivile Aktivitäten waren bereits in der Kädär-Ära vorhanden, aber sie funktionierten anders als in den westlichen Demokratien. Sie waren von den autoritären politischen Rahmenbedingungen geprägt, die eine öffentliche, legalisierte und breitere soziale Mobilisierung administrativ verhinderten. Eine zivile Gesellschäft existierte allein innerhalb der sogenannten „zweiten“ Öffentlichkeit im Untergrund und im „Samisdat“, wo inoffizielle Versammlungen und Diskussionen illegal von einem relativ kleinen Kreis von Intellektuellen durchgeführt wurden. In der Kädär-Ära wurden jede Form sozialer Mobilisierung und Netzwerkbildung sowie alle nicht-bzw. antikommunistischen politischen Aktivitäten als illegal eingestuft und politisch verfolgt Wie in allen anderen kommunistischen Systemen galt auch in Ungarn das politische Organisationsmonopol für die Kommunistische Partei und ihre Satellitenorganisationen. Die politische Monopolstellung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) war verfassungsrechtlich verankert. Es gab zwar kein generelles Verbot von Vereinen, aber die existierenden Freiräume im Vereinsrecht konnten nur unter schwerwiegenden Einschränkungen wahrgenommen werden. Eine De-facto-Tolerierung von verschiedenen sozialen Initiativen erfolgte seit den sechziger Jahren, aber der Staatsapparat war dennoch ständig bemüht, die Netzwerkbildung, die Auslandskontakte und die Öffentlichkeitsarbeit dieser Initiativen durch legale oder auch illegale Maßnahmen zu verhindern. Aufgrund der Erfahrungen mit protestierenden Massen im Jahre 1956 unterdrückte die von Jänos Kädär geprägte Führung der USAP bis 1988 alle nicht-bzw. antikommunistischen öffentlichen politischen Demonstrationen mit den Mitteln staatlicher Macht. Diese Art politisch-administrativer Kontrolle, die -verglichen mit der DDR, Rumänien oder der Tschechoslowakei nach 1968 -zwar „liberaler“ war, hat aber gleichwohl schwierige Existenzbedingungen für die unabhängigen sozialen Initiativen geschaffen
Unter diesen Bedingungen kam es zwischen den Akteuren der noch -bzw. schon -existierenden „zweiten“ Gesellschaft zu einer Art „Solidarisierung“. Sie war die Folge der Existenz eines gemeinsamen Gegners, des repressiven Parteienstaates, der als einzig sichtbarer gemeinsamer Gegner die verschiedensten zivilgesellschaftlichen Potentiale dazu brachte, sich miteinander zu verbünden. Der Parteienstaat verweigerte allen gesellschaftlichen Initiativen den Zugang zur Öffentlichkeit, den Ausbau ihrer Organisationsstrukturen und den Erwerb materieller Ressourcen. Im Kdr-System organisierten sich daher infolge des Verbotes der Bildung politischer Organisationen die verschiedenen sozio-politischen Kräfte -auch die, die sich unter rechtsstaatlichen Bedingungen als politische Parteien, Vereine oder Gewerkschaften etabliert hätten -als informelle Bewegungen, Subkulturen und Milieus. Dabei stellte diese Existenz als gesellschaftliche Bewegung keinesfalls ein bewußt angestrebtes Ziel, eine frei gewählte Alternative oder einen entscheidenden Teil der eigenen Identität dar, sondern sie war ein Produkt des Sachzwanges und des Mangels an Organisationsalternativen. Erst der Systemwechsel löste diese politisch-administrative Kontrolle auf. Die politischen Rahmenbedingungen für zivile Aktivitäten in Ungarn konnten sich jetzt weitgehend an die Bedingungen in den westlichen Demokratien anpassen. Seit 1989 kann sich die Mobilisierungskapazität sozialer Gruppen politisch-administrativ ungehindert, legal und öffentlich äußern sowie immer breitere soziale Milieus erfassen.
Nach einer Phase der schrittweisen ökonomischen und sozialen Liberalisierung setzte sich seit dem Frühjahr 1988 auch in der ungarischen Politik ein Prozeß der weitgehenden Demokratisierung durch. Neue Parteien und politische Organisationen entstanden. Ähnliche Prozesse veränderten die Verbände. Alternative Gewerkschaften, Arbeiterräte, lokale Initiativen und ihre Kooperationsstellen entstanden, die die Interessenvertretung ihrer Mitglieder jenseits der alten etablierten Strukturen wahrnehmen wollten. Um den Zeitraum bis zu den ersten freien Parlamentswahlen im Frühjahr 1990 zu überbrücken, wurde 1989 die Institution des Runden Tisches nach polnischem Muster ins Leben gerufen.
Drei Gesellschaftsbereiche waren am Runden Tisch vertreten: neben der Kommunistischen Partei bzw.der von ihr nominierten Regierung und den neu entstandenen Oppositionsparteien gab es noch die sogenannte „Dritte Seite“. Diese umfaßte die schon im alten System offiziell zugelassenen Gruppen und Organisationen -von der Patriotischen Volksfront bis zu den staatlichen Jugendorganisationen. Durch die Gespräche am Runden Tisch wurde versucht, das Machtvakuum bis zu den ersten freien Wahlen im Jahre 1990 zu füllen. Damit war die Funktion des 1985 noch unter Jänos Kädär gewählten Parlaments bewußt beeinträchtigt und seine Rolle in der politischen Willensbildung untergraben worden; sie sollte erst mit den Wahlen im Frühjahr 1990 wiederhergestellt werden.
Parallel zu dieser Entwicklung verlief jedoch auch ein Prozeß der Reaktivierung des Parlaments. So wurden in den Jahren 1988 und 1989 die Mandate einzelner „konservativer“, d. h. altkommunistischer Abgeordneter im Rahmen des im kommunistischen Parlamentarismus institutionalisierten und auch jetzt noch praktizierten „imperativen Mandates“ widerrufen. Die frei gewordenen Abgeordnetensitze fielen hauptsächlich an Mitglieder neuer politischer Organisationen. Damit entstanden im letzten kommunistischen Parlament echte Fraktionen (die Kommunisten, die neugewählten Abgeordneten der bisherigen außerparlamentarischen Opposition, die Verteidiger von Agrarinteressen etc.), und es wurde ein höheres Maß an Repräsentation erreicht.
Die Reaktivierung der Öffentlichkeit und des öffentlichen Diskurses beschleunigte die institutionellen Veränderungen. Die gesellschaftliche Diskussion wurde durch den neu gewonnenen politischen Pluralismus belebt, und eine Flut von politischen Flugschriften entstand. Im Mittelpunkt dieser Entwicklung standen jedoch die sich öffnenden elektronischen und gedruckten Medien. Die direkte Teilnahme der Bürger am Veränderungsprozeß manifestierte sich sowohl in den Aktivitäten der neuen politischen Organisationen, Parteien, Verbände und anderer Gruppierungen als auch in der sich entfaltenden öffentlichen Diskussion. Diese gesellschaftliche Diskussion konnte, wie das folgende Beispiel des Vereins-und Versammlungsrechtes zeigt, zum Systemwechsel beitragen. Die Vereins-und Versammlungsfreiheit war zwar in der kommunistischen Periode ein uneingeschränkt geltendes Grundrecht, aber es existierte keine detaillierte gesetzliche Regelung und noch weniger eine politische Praxis Es gab also allein einen Verfassungsparagraphen ohne jegliche rechtliche oder politische Praxis, die dieses Grundrecht verwirklicht hätte. Damit standen Anspruch und Realität im krassen Gegensatz zueinander. Tatsächlichwar die politische Kontrolle zu Beginn der achtziger Jahre so restriktiv, daß der von den sich neubildenden zivilen Organisationen beanspruchte Vereinsstatus nicht genehmigt wurde, auch nicht für Organisationen des Umwelt-oder Denkmalschutzes, deren Aktivitäten keine direkte Herausforderung an das Zentrum der politischen Macht darstellten. Nach dem Sturz Kädärs im Frühjahr 1988 wollte die neue Führung der kommunistischen Partei ihren Reformwillen durch ein demokratisiertes Vereins-und Versammlungsrecht manifestieren. Die Initiative ging vom Zentralkomitee der USAP aus. Dieses Gremium hatte vom 13. bis 14. Juli 1988 die Grundlagen für die Regelung der Vereins-und Versammlungsfreiheit diskutiert. György Fejti, damals einer der Sekretäre des Zentralkomitees, skizzierte die gesetzlichen Grundlagen für die Freiräume und für die Entfaltung gesellschaftlich-politischer Kritik Neben allgemeinen Bekundungen wurden auch konkrete Vorschläge für Gesetzesvorlagen gemacht. Diese Vorschläge wurden durch den Mini bis 14. Juli 1988 die Grundlagen für die Regelung der Vereins-und Versammlungsfreiheit diskutiert. György Fejti, damals einer der Sekretäre des Zentralkomitees, skizzierte die gesetzlichen Grundlagen für die Freiräume und für die Entfaltung gesellschaftlich-politischer Kritik 9. Neben allgemeinen Bekundungen wurden auch konkrete Vorschläge für Gesetzesvorlagen gemacht. Diese Vorschläge wurden durch den Ministerrat an die Patriotische Volksfront gesandt, um zunächst die gesellschaftliche Diskussion zu organisieren und danach das Parlament miteinzubeziehen. Bei der Patriotischen Volksfront handelte es sich um eine stalinistische Ersatzinstitution für das unter der USAP aufgelöste Mehrparteiensystem 10. Zeitweise war sie gleichwohl ein Ort für Pluralisierungs-und Demokratisierungstendenzen gewesen, etwa unter ihrem Vorsitzenden Imre Pozsgay zu Beginn der achtziger Jahre.
So trat auch die Patriotische Volksfront im Sommer 1988 für die Reform des Vereins-und Versammlungsrechtes ein. Im Unterschied zu früher wurden Gesetzesvorlagen jetzt in mehreren Tageszeitungen publiziert, um die politisch interessierte Öffentlichkeit von Beginn an in die Debatte mit-einzubeziehen. Infolge dieser öffentlich geführten Diskussionen entwickelten sich zahlreiche neue politische Aktivitäten innerhalb der ungarischen Gesellschaft. Sie orientierten sich „strategisch“ gegen das alte System und forderten eine demokratische Erneuerung und Öffnung. Diese Orientierung vereinte die neuen politischen Organisationen, solange der gemeinsame Gegner in Gestalt des alten Systems noch bestand. Justizminister Kalman Kulcsär wurde durch die vielen Initiativen außerhalb des Parlamentes und des etablierten politischen Systems zu einer ausführlichen Stellungnahme bezüglich des Regierungsstandpunktes zur Diskussion der Gesetzesvorlagen gezwungen 11. In dieser stellte er einen Plan für von oben initiierte politische Veränderungen vor. Kulcsär erklärte, daß die Regierung keine Angst habe, den Demokratisierungsprozeß weiterzuentwickeln, sie wolle ihn sogar fördern. Die Gesetze über die Vereins-und Versammlungsfreiheit seien als Teil einer umfassenden Transformation Ungarns zu einem wirklichen Rechtsstaat anzusehen. Dieser Transformationsprozeß müsse in eine neue Verfassung münden. Die staatsrechtlichen Gesetze -wie jene über das Vereins-und Versammlungsrecht -seien als Schritte in Richtung auf dieses Ziel zu betrachten. Die im Frühjahr 1989 unter dem Druck der neu-entstandenen zivilen Gruppierungen und mit Hilfe der Reformkommunisten -wie etwa Kulcsär und Pozsgay -verabschiedeten Gesetze für das Vereins-und Versammlungsrecht waren wichtige Mechanismen im Systemwechsel 12. Sie ermöglichten den friedlichen Übergang vom kommunistischen Regime zur Demokratie und sicherten neue Betätigungsfelder für die bisher unterdrückten Bürgerinitiativen. Die nächsten Schritte waren ein Parteiengesetz 13 sowie die umfassende Modifikation der Verfassung, die in der Ausrufung der Republik an Stelle der bisherigen „Volksrepublik“ Ungarn am 23. Oktober 1989 ihren Höhepunkt fand.
Dieses Beispiel der Verabschiedung von Gesetzen, die eine Grundlage für den Systemwechsel darstellten, könnte durch andere Fallstudien ergänzt werden, die zeigen, welche Form des Zusammenspiels bzw.der Zusammenarbeit während des Systemwechsels zwischen den „Softlinern" der Ungarischen Kommunistischen Partei auf der einen Seite sowie der Führungselite der neuen zivilen Gesellschaft und der Bürgerorganisationen auf der anderen Seite bestand. So könnten in diesem Beitrag die einseitige Einstellung des Baus des gemeinsamen ungarisch-tschechoslowakischen Donau-Staudammes durch die ungarische Regierung oder auch die Rehabilitierung und Wiederumbettung des nach dem ungarischen Aufstand 1958 zum Tode verurteilten und hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy am 16. Juni 1989 erwähnt werden.
Tatsächlich konnten im Falle Ungarns die Bürgerinitiativen mit sehr viel mehr Entgegenkommen der alten Eliten rechnen als in der DDR oder in der Tschechoslowakei, wo der Machtkampf auf der Straße durch Demonstrationen oder durch Streiks geführt wurde. Derartige Auseinandersetzungen spielten jedoch auch in Ungarn eine Rolle. So wurden die Reformkommunisten durch den Druck der Bürgerinitiativen in bezug auf ihre Vorstellungen über den Machtwechsel zum Nachgeben gezwung Juni 1989 erwähnt werden.
Tatsächlich konnten im Falle Ungarns die Bürgerinitiativen mit sehr viel mehr Entgegenkommen der alten Eliten rechnen als in der DDR oder in der Tschechoslowakei, wo der Machtkampf auf der Straße durch Demonstrationen oder durch Streiks geführt wurde. Derartige Auseinandersetzungen spielten jedoch auch in Ungarn eine Rolle. So wurden die Reformkommunisten durch den Druck der Bürgerinitiativen in bezug auf ihre Vorstellungen über den Machtwechsel zum Nachgeben gezwungen. Auch mußten sie ihren ursprünglichen Entwurf für den Runden Tisch, im Herbst 1989 einen plebiszitären Staatspräsidenten zu wählen, aufgeben. Die ungarische „Stasi“, die ihre Verfolgung der Bürgerbewegungen fortgesetzt hatte, wurde bereits im Frühjahr 1990, d. h. noch vor den ersten freien Parlamentswahlen, aufgelöst. Der Machtkampf zwischen den Reform-kommunisten, wie z. B. Pozsgay, und den jetzt in Erscheinung tretenden neuen Führern der Bürger-bewegungen kam in Gang, als die „Hardliner“ der alten Kommunistischen Partei in den Hintergrund traten und die ersten freien Wahlen im Frühjahr 1990 bevorstanden.
Es ist heute schwierig, genau darzustellen, welche Ergebnisse des ungarischen Systemwechsels den Einflüssen der zivilen Gesellschaft zuzuschreiben sind. Sicherlich war diese Zivilgesellschaft in Ungarn weniger aktiv als in den „Mobilisierungsländern“ wie Polen, der DDR oder der Tschechoslowakei, wo eine starke Gegenmacht beseitigt werden mußte, gleichzeitig aber aktiver als in den Staaten, in denen die Veränderungen zumeist von oben bestimmt wurden, so z. B. in der Sowjetunion.
II. Probleme der Fragmentierung innerhalb der pluralistischen Zivilgesellschaft nach der Wende
Der Systemwechsel hat in den Jahren 1989 und 1990 neue politische Rahmenbedingungen für politische Aktivitäten geschaffen. Öffentliche, legale Aktivitäten und die „Märkte“ der Politik sind für die Bürger und ihre Initiativen zugänglich geworden. Damit ist die Möglichkeit entstanden, daß soziale Gruppen oder Organisationen der Zivilgesellschaft sich sowohl gegen den Staat und seine Eliten als auch gegeneinander etablieren und mobilisieren können 14. Diese Dynamik der „Bewegung und Gegenbewegung“ 15 ist fester Bestandteil der Protestszene in postkommunistischen Gesellschaften. In Ungarn hat man diese Form der Mobilisierung und Gegenmobilisierung z. B. bei den Konflikten zwischen Abtreibungsgegnern und -befürwortern sowie bei den Auseinandersetzungen von Rassisten und Antirassisten, im Konflikt um die staatliche Unterstützung der Kirchen und um den Religionsunterricht in staatlichen Schulen sowie in der Kontroverse um die staatliche Kontrolle der Massenkommunikationsmittel beobachten können.
Die Bewegungen und Organisationen der Zivilgesellschaft stehen in einer modernen Demokratie miteinander nicht nur im Konflikt, sondern auch in Konkurrenz um die materielle und persönliche Unterstützung in der Bevölkerung 16. Die verschiedenen Gruppierungen, Bewegungen und Organisationen innerhalb einer Gesellschaft können jedoch auch miteinander um die Rolle des legitimen Fürsprechers oder Repräsentanten für gewisse soziale Gruppen konkurrieren. In Ungarn wird z. B. von den unterschiedlichsten sozialen und politischen Organisationen versucht, die „Agrarinteressen“ zur Grundlage ihrer Aktivitäten und Mobilisierungsstrategien zu machen. Ähnliche Prozesse verliefen während des Systemwandels auf der Ebene der Gewerkschaften, wo die „alten“ und die „neuen“ bzw. die unterschiedlich orientierten Organisationen versuchten, legitime Fürsprecher eines bestimmten Gebietes zu werden sowie die entsprechenden staatlichen und sozialen Ressourcen und Hilfen unter ihre Kontrolle zu bringen. In diesem Konkurrenzkampf verschiedener Interessenverbände wurden auch Mittel der Mobilisierung und Gegenmobilisierung sowie des Protestes angewandt
Konkurrenz geht jedoch Hand in Hand mit Kooperation. Das Kädär-Regime hatte daher versucht, mit allen Mitteln der politisch-administrativenKontrolle die Netzwerkbildung der verschiedenen gesellschaftlichen Initiativen zu unterlaufen. Damit sollte eine gegenseitige Kooperation und somit ein Erstarken der bisher schwachen, isolierten und informellen Gruppierungen und Bewegungen verhindert werden. Die knappen materiellen und personellen Ressourcen der Initiativen und Organisationen innerhalb der zivilen Gesellschaft machten -und machen -es notwendig. Netzwerke zu bilden, um so die bestehenden Ressourcen gemeinsam ökonomischer nutzen zu können.
Die Institutionalisierung des Vereins-und Versammlungsrechtes hat in Ungarn für jede Art ziviler Organisation geregelte Möglichkeiten zur ehemals verbotenen Entwicklung geschaffen. Die neuen Strukturen der Öffentlichkeit und die Rechtsstaatlichkeit haben für die früher informell organisierten Gruppierungen neue Chancen zur Institutionalisierung als politische Partei oder andere politische Organisationsform eröffnet. Die Herausforderung der Demokratie bestand für die ehemals informellen Bewegungen nun in der Entscheidung. sich entweder zu organisieren und die Bürgerbewegungsidentität aufzugeben oder aber unverändert in Form einer zivilgesellschaftlichen Initiative fortzubestehen.
Die schon früher entstandenen Akteure der Zivil-gesellschaft mußten ihre neuen Funktionen im neuen politischen System Ungarns erst finden. Parallel zu diesem Prozeß traten Konflikte auf. und so entwickelten die zivilen Akteure neue Mobilisierungs-und Konfliktformen, die sich von Beginn an in den Rahmen der Rechtsstaatlichkeit und pluralistischen Demokratie einpassen mußten. Die Auswirkungen des Systemwechsels auf den ungarischen Zivilsektor stehen dabei in engem Zusammenhang mit der Herausbildung eines Mehrparteiensystems und mit den Problemen bei der Entstehung neuer Interessenverbände und Vereine. Sie bilden einen wichtigen Teilbereich im schwierigen Wandel der politischen Kultur und Partizipation bzw des politischen Konfliktlösungssystems. Ich möchte anhand einiger Beispiele die Veränderungen näher erläutern, die zivile und gegen das Kdr-Regime gerichtete Oppositionsgruppen im Laufe des Demokratisierungsprozesses durchliefen. Wie in allen ostmitteleuropäischen Ländern waren auch in Ungarn oppositionelle Initiativen für Menschen-und Bürgerrechte die führende Kraft in der politischen Protestszene. Sie manifestierten sich vor allem durch Unterschriftenaktionen im Dienst von Solidaritäts-und Protestkampagnen und stellten mit ihrem „Samisdat“ das Zentrum der „zweiten“ Öffentlichkeit dar Diese Form des Protestes wurde in Ungarn von den verschiedenen Kreisen der ehemaligen „Sechsundfünfziger“ und „Revisionisten" sowie besonders von kritischen Sozialwissenschaftlern und Künstlern zu einem informellen Netzwerk ausgebaut. Die Proteste einer solchen Menschen-und Bürgerrechtsopposition verlieren jedoch ihren Boden, sobald rechtsstaatliche Bedingungen geschaffen werden. Dieser Umstand kann allerdings auch zur formalisierten Organisationsbildung in der Politik führen. So können zwei der im Jahre 1990 ins neue ungarische Parlament gelangten liberalen Parteien -die „Allianz Freier Demokraten“ (Szabad Demokratäk Szövetsege. SZDSZ) und die „Allianz Junger Demokraten“ (Fiatal Demokratäk Szövetsege. FIDESZ) -als Produkte eines derartigen Prozesses der Institutionalisierung früheren oppositionellen Protestpotentials gesehen werden Im Entstehungs-und Entwicklungsprozeß dieser beiden liberalen Parteien spielten frühere Aktivisten der ungarischen Menschen-und Bürgerrechtsopposition eine führende Rolle
Die um das Thema der Menschen-und Bürger-rechte organisierten Protestgruppen sind jedoch auch in Demokratien westlichen Musters nicht funktionslos. So sind Amnesty International und ähnliche Menschenrechtsgruppen auch -oder gerade -in pluralistischen Demokratien aktiv. Eine solche Funktion des Schutzes der Menschenrechte ist in den letzten Jahren in Ungarn von unterschiedlichen zivilen Organisationen und Gruppen übernommen worden; es finden sichInitiativen, die die Rechte von Minderheiten schützen wollen und gegen deren Unterdrückung protestieren, so z. B.der Raoul Wallenberg Verein.
Einzelne Kampagnen wie etwa die „Tu was gegen den Haß!" -Initiative, wenden sich gegen Haß und Gewalt im menschlichen Verhalten. Durch Video-und andere Dokumentationsformen wird versucht, die Öffentlichkeit auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Initiativen wie die „Demokratische Charta“ organisieren Massenproteste gegen Menschenrechtsverletzungen oder gegen rechte Tendenzen in der Gesellschaft. Tatsächlich stellte die von 1991 bis 1995 aktive „Demokratische Charta“ eine neuartige Organisationsform der außerparlamentarischen Opposition in der jungen ungarischen Demokratie dar Sie war eine umbrella Organisation für verschiedene Gruppen bzw. für deren Netzwerke, die gemeinsame Protestaktionen organisierte. Die Menschen-und Bürgerrechte bzw. die demokratisch-sozialen Werte waren in der Deklaration der Charta festgelegt. György Konräd, ein bekannter Schriftsteller und Charta-Aktivist, vergleicht die Funktionsweise dieser Organisation mit der eines „Regenschirmes“, der im Falle der Gefährdung der gemeinsamen zivilen Werte oder einer Krise der Demokratie verwendet wird. Bestehen keine gesellschaftlichen Herausforderungen, dann ruht das Protestpotential der Charta, es wird gleich einem Regenschirm bei schönem Wetter „beiseite gelegt“. Die ungarische Charta setzte bestimmte Aktionen mehrmals um. Es wurden Petitionen eingereicht, Deklarationen veröffentlicht, Unterschriftensammlungen gegen rechte Tendenzen oder den Rassismus, gegen illegale Regierungsinterventionen sowie gegen die Rückkehr antidemokratischer Modelle und präkommunistischer Traditionen, die nach der Auffassung der Charta die Demokratie gefährdeten, durchgeführt. Die Aktionen der Charta orientierten sich an den oppositionellen Traditionen des politischen Protestes der Kädär-Ära bzw. an den Modellen der Bürgerrechtsbewegungen der westlichen Demokratien. Die Charta konnte so zuweilen Zehntausende von Menschen mobilisieren.
Während sich die früher führenden Initiativen zur Thematik der Menschen-und Bürgerrechte inzwischen als politische Parteien mit einer breiteren politischen Agenda institutionalisiert haben, dekken neue Organisationen diese Thematik in der jungen Demokratie auch weiterhin ab. Natürlich haben sich die Rahmenbedingungen dieses Politik-bereiches durch die Institutionalisierung und Verankerung der Menschenrechte in der Verfassung grundlegend verändert. So gibt es jetzt ein Verfassungsgericht, es finden Wahlen von Bürgerbeauftragten für die Menschenrechte statt (einer für Minderheiten, einer für Informationsrechte und ein „genereller“ Beauftragter), ein Verfassungsschutz wurde an Stelle der alten Geheimpolizei eingerichtet, und zahlreiche strukturelle Veränderungen wurden in den Strafverfahren und im Strafrecht durchgeführt.
III. Die Zivilgesellschaft in der Konsolidierungsphase
Wie unser Überblick gezeigt hat, haben die zivilgesellschaftlichen Akteure, die Ende der achtziger Jahre während des Systemwechsels aktiv waren, in den letzten Jahren -in der Periode der Institutionalisierung der ungarischen Demokratie -keine zentrale Rolle mehr gespielt. Einerseits sind die früheren Bürgerbewegungen heute als politische Parteien oder sonstige politische Organisationen etabliert und bedienen sich anderer Mittel für ihre politischen Aktionen als der gesellschaftlichen Mobilisierung und des öffentlichen Protestes.
Andererseits haben sich die Strukturen der politischen Konflikte infolge des Konsolidierungs-und Stabilisierungsprozesses der ungarischen Demokratie verändert; neue Themen bzw. Potentiale haben die früher zentralen Fragen und Gruppierungen der zivilen Gesellschaft beiseite gedrängt Frühere Aktions-und Mobilisierungsformen sowie die Erfahrungen aus den Krisen und aus der Umbruchperiode des Systemwechsels sind in der Phase der Institutionalisierung der Demokratie und Marktwirtschaft schnell veraltet. Sie sind unter den Bedingungen der repräsentativen Demokratie und des freien ökonomisch-sozialen Wettbewerbes oftmals nicht mehr zu gebrauchen. Die Bürgerbewegungen, die ihre Identität als soziale Bewegung auch im neuen System aufrechterhalten wollen, müssen neue Wege gehen. Dies ist jedoch weder einfach, noch gibt es zuverlässige Erfolgsrezepte, denn die Lernprozesse dieser Bewegungen durchlaufen schwierige individuelle (Führung, Motivation) und kollektive (Organisation, Aktionsform) Krisen und Konflikte. Während also die Akteure der früheren kommunistischen Schattengesellschaft, des oppositionellen Untergrundes, sich verändern müssen oder sogar verschwinden, entstehen infolge neuer sozio-politischer Konflikte neue Bürgerbewegungen in der zivilen postkommunistischen Gesellschaft Un-garns.
Der Gegner stellt heute kein einheitliches, in der alten kommunistischen Elite personalisiertes Bild dar, so daß man nicht mehr einfach -wie vor 1989 -zwischen „uns“ als dem Reich des „Guten“ und „ihnen“ als dem Reich des „Bösen“ unterscheiden kann. Es gibt jetzt vielmehr zahlreiche unterschiedliche Konfliktlinien, von denen eine der wichtigsten die Frage des Mittragens der durch die Veränderungen des Wirtschafts-und Sozialsystems entstandenen sozialen Kosten ist. Durch die Einführung der Marktwirtschaft wurden klare Rollen für „Verlierer“ und „Gewinner“ definiert; die frühere Einheit der Zivilgesellschaft innerhalb der inoffiziellen „zweiten“ Gesellschaft wurde aufgelöst. Es stellt sich nunmehr die Frage, wie ein radikaler sozialer Protest gegen demokratisch verfaßte Regierungs-oder Parlamentsentscheidungen zu artikulieren ist. Die zivile Gesellschaft muß neue Wege finden, ihr Blockadepotential zu entwickeln -jetzt, da sich keine strategische Einheit der Orientierungen gegen ein autoritäres System mehr bilden läßt. Ein ähnliches Problem zeigt sich in den Konflikten um die Legalität demokratisch verfaßter Regeln und um die Fragen der Legitimität zivilgesellschaftlichen Widerstandes. Tatsächlich stellt es für die von kommunistischer Willkür befreite zivile Gesellschaft ein schwieriges Problem dar, in nur wenigen Jahren einen Übergang von einer autoritären in eine neue Welt der rechtsstaatlichen, pluralistischen politischen Kultur finden zu müssen.
Ein Beispiel dafür sind die berüchtigten drei Tage der sogenannten Taxifahrer-Blockade im Oktober 1990 Damals löste eine plötzliche, deutliche Erhöhung der Benzinpreise durch die Regierung eine Protestwelle von Taxifahrern und Transport-unternehmern aus. Große Teile der Öffentlichkeit solidarisierten sich mit ihnen. Die Taxifahrer blokkierten alle wichtigen Verkehrsknotenpunkte in Budapest und im Lande und legten so den Ver-kehr in ganz Ungarn für drei Tage lahm. Dieses Ereignis stellte die erste große gesellschaftliche Mobilisierung und den ersten großen öffentlichen Protest in der jungen ungarischen Demokratie dar. Zwar wurden von Protestierenden unzählige Straftaten begangen, aber trotz der offenkundigen Rechtsbrüche wurde den Demonstranten von der Regierung in den späteren Verhandlungen Straffreiheit gewährt, um eine politische Lösung des Konfliktes zu ermöglichen. Die Blockade mobilisierte alle Akteure des ungarischen politischen Systems und löste eine breite öffentliche Reaktion aus. Die Konflikte wurden schließlich durch einen am Verhandlungstisch erzielten Kompromiß des „Rates für Interessenausgleich“ (Erdekegyeztetö Tanäcs, ET) beigelegt, und die Massenproteste wurden eingestellt. Man einigte sich auf eine geringere Preiserhöhung, auf die Einbeziehung von Marktmechanismen bei der Berechnung der Benzinpreise sowie auf die bereits erwähnte Straffreiheit für beteiligte Demonstranten. Während der dreitägigen Blockade gab es keine ernsthaften Zwischenfälle oder Gewaltakte zwischen den Protestierenden und der Polizei.
Die durch die Blockade mobilisierte Berufsgruppe der Taxifahrer und Transportunternehmer hatte durch ihren Widerstand eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik und einen Protest gegen die sozialen Kosten des marktwirtschaftlichen Systemwandels artikuliert. Damit hatte sie breite Unterstützung in der Bevölkerung gewonnen. Das Mittel der Verkehrsblockade stellt dabei eine Form des Protestes dar, die von einer Vielzahl anderer Berufsgruppen auch in westlichen Demokratien angewandt wird. Ähnliche Proteste hat es auch in weiteren jungen osteuropäischen Demokratien in den letzten Jahren gegeben. Die ungarische Blockade war jedoch insofern außergewöhnlich, als die Taxifahrer mit ihren Protesthandlungen eine allgemeine Unzufriedenheit artikulierten, die sich aus den zentralen Konflikten der postkommunistischen Gesellschaften -d. h. aus den sozialen Konflikten um die Kosten der Einführung der Marktwirtschaft -nährte. Diese Besonderheit machte die Blockade so wirkungsvoll und so folgenreich für die ungarische Politik Mit der Taxifahrer-Blockade hat die zivile Gesellschaft Ungarns versucht, ihren Widerstand gegen die ohne Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte eingeführten Preiserhöhungen zu organisieren. Das Beispiel zeigt das Mobilisierungs-und Blockadepotential der ungarischen Gesellschaft auf, doch bleibt zu klären, wie dieses Potential im Rahmen einer demokratisch legitimierten Verfassung einer frei gewählten Regierung zu vermitteln ist.
Im Laufe der demokratischen Konsolidierung traten in Ungarn mehrere kleinere Initiativen gegen die „unsoziale“ Regierungspolitik, gegen die Einführung marktwirtschaftlicher Elemente, gegen die Sparpolitik der verschiedenen Regierungen und für die Aufrechterhaltung des „sozialistischen Sozialstaates“ -vor allem für ein „kostenloses“ Universitätsstudium und für ein „kostenloses“ Gesundheitswesen -ein. Nach den bisherigen Erfahrungen zu urteilen, gingen dabei in Ungarn die öffentlichen Regel-bzw. Rechtsverletzungen durch Protestbewegungen nicht über den rechtsstaatlichen Rahmen hinaus. Politische Gewalt als Mittel des Protestes wird von den legalen Organisationen überhaupt nicht ausgeübt, politisch motivierte Gewalt bleibt eine Randerscheinung. Das Prinzip der Gewaltlosigkeit und eine Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols als Bedingung für die „Zivilität“ der Gesellschaft sind gegeben. Auch haben in der neuen ungarischen Demokratie bisher keine größeren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei stattgefunden. Die große Mehrheit der Protestierenden und Demonstranten hält sich bisher an den Rahmen des Vereins-und Versammlungsrechtes sowie an die sonstigen Rechtsvorschriften und beansprucht keine illegalen Protestmittel
Recht und Ordnung des Rechtsstaates sind demnach durch die Aktivitäten der demokratischen Zivilgesellschaft in Ungarn bisher nicht ernsthaft in Frage gestellt worden; Krisen wie die der Taxifahrer-Blockade sind vorübergehende Erscheinungen geblieben. In diesem Sinne stellt die Zivilgesellschaft weniger ein Blockade-sondern eher ein Korrektivpotential dar, das versucht, die politische Willensbildung innerhalb der Institutionen mit neuen Initiativen zu kontrollieren und zu beeinflussen. Die institutioneile und gesellschaftliche Stabilität im früheren Ostblock auf der Grundlage der neuen demokratischen Institutionen ist ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung hin zu den demokratischen europäischen Leitbildern. Die zivile Gesellschaft kann im Transformationsprozeß sowohl als Ort der „Unruhe“ und Konflikte als auch als Stätte der Konsensbildung zu dieser demokratischen Entwicklung beitragen.