Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49
Die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 gilt seit der Jahrhundertfeier von 1948 und der Gründung der Bundesrepublik im folgenden Jahr als Gründungsakt der Demokratie in Deutschland. Paradoxerweise aber sind die Debatten -bzw. die debattierten Themen -dieses berühmten Parlaments weitgehend unbekannt. Die kritisch-analytische Darstellung über die Frankfurter Nationalversammlung von Frank Eyck ist seit langem vergriffen In den neueren Forschungen zur deutschen Revolution von 1848 stehen Struktur-, sozial-und regionalgeschichtliche Fragen im Vordergrund, weniger oder kaum das Parlament der Paulskirche und dessen Debatten 1988 erschien ein Nachdruck des von Franz Wigard 1848/49 herausgegebenen „Stenographischen Berichts“ über die Verhandlungen der Nationalversammlung unter dem Titel „Reden für die deutsche Nation“ Die Parlamentsprotokolle enthalten sämtliche Plenumsdebatten der Nationalversammlung in neun Bänden im Folio-Format mit einem Umfang von insgesamt über 7 000 Seiten. Das ist alles in allem keine leichte Lektüre.
Der folgende Beitrag wird versuchen, einige Schwerpunkte der Debatten der Paulskirche nachzuzeichnen und dem heutigen Leser verständlich zu machen. Die im Stil der Zeit idealistisch geprägte politische Rhetorik der Abgeordneten der Paulskirche wirkt auf uns heute fremdartig, ja befremdlich. Die damalige historisch-politische Welt scheint weit von der heutigen politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernt zu sein. Die Paulskirchenversammlung war wie alle Parlamente Europas im 19. Jahrhundert ein Männerparlament. Das prägte den politischen Stil der Debatten und manchmal auch die politischen Aussagen und Entscheidungen Und doch wirkt manches, was damals verhandelt wurde, bis in die Gegenwart nach. Das gilt beispielsweise für die Ablösung der alten ständischen Gesellschaft durch die moderne Zivilgesellschaft. Die Geschichte der modernen politischen Parteien und des Parlamentarismus in Deutschland beginnt mit der Frankfur ter Nationalversammlung Das eigentlich Interessante und auch Faszinierende an diesen Debatten ist jedoch der einzigartige Vorgang der Konstituierung und Selbstfindung der Nation als Parlament.
Der erste Schwerpunkt dieses Beitrags liegt bei den Anfangsdebatten im Mai und Juni 1848, in denen sich die Parteien der Nationalversammlung zu profilieren begannen. Sie fanden ihren Höhepunkt mit der Einsetzung der provisorischen Zentralgewalt. Es folgen die Debatten über die Grundrechte im Sommer und Herbst 1848. Den Abschluß bilden die Vorgänge, die der Verabschiedung der Verfassung im März 1849 vorausgingen. Sie lassen die inneren Gründe für das Scheitern der Nationalversammlung sichtbar werden. Vor allem die ausgedehnten Debatten über die Grundrechte dokumentieren in einzigartiger Weise den Übergang von der alten Welt der ständischen und polizeistaatlichen Ordnung zur neuen Welt der modernen Zivilgesellschaft in Deutschland. An den Debatten läßt sich das seltene Schau-spiel verfolgen, wie zwei gänzlich voneinander verschiedene geschichtliche Welten direkt aufeinanderstoßen: eine deutsche Vergangenheit, deren Wurzeln noch bis in das 17. und 18. Jahrhundert reichen, und eine deutsche Zukunft, die auf die zweite Hälfte des 19. und das kommende 20. Jahrhundert verweist. Die Scheidelinie des Jahres 1848 verlief nicht nur zwischen Fortschritt und Reaktion. Die Situation war komplex und vielschichtig und ihr Ausgang ambivalent.
Was ist Deutschland? -Der Weg zum Paulskirchenparlament
Als die Frankfurter Nationalversammlung am 18. Mai 1848 zum ersten Mal in der Paulskirche zusammenkam, war der historisch-politische Rahmen der Nation, für die das Parlament eine Verfassung schaffen sollte, keineswegs eindeutig vorgegeben Das läßt sich nur historisch erklären, und es bedarf deshalb eines Blicks auf die Vorgeschichte der Frankfurter Nationalversammlung. Den staats-und völkerrechtlichen Bezugsrahmen für das alte Reich hatte der Westfälische Frieden von 1648 geschaffen Seitdem bestand Deutschland aus über dreihundert Herrschaften und Territorien, darunter vor allem die Klein-und Mittelstaaten der geistlichen und weltlichen Fürstentümer. Der Reichsdeputationshauptschluß von 1803, der auf dem Hintergrund der Veränderungen zustande kam, die die Französische Revolution und später die Eroberungen Napoleons bewirkten, hob die geistlichen Staaten in Deutschland auf. Schließlich endete das Heilige Römische Reich 1806.
Es war nicht klar, ob und woraus fortan die Nation überhaupt noch bestand. In der auf dem Wiener Kongreß 1815 vereinbarten „Bundesakte“ konstituierte sich der neue „Deutsche Bund“, ein Staatenbund aus 38 Einzelstaaten, unter denen Österreich und Preußen mit Abstand als die beiden größten und einflußreichsten hervorragten. Das Habsburgerreich umfaßte zudem nicht nur das deutsche Österreich, sondern auch slawische, ungarische und italienische Gebiete. Die Tschechen in Böhmen hatten es abgelehnt, Abgeordnete zur Frankfurter Nationalversammlung zu wählen, und der Schriftsteller Palacki hatte dies in einem Schreiben an die Nationalversammlung begründet. Die Nation, auf die man sich in der Paulskirche berief, war eben noch nicht -wie die bestehenden deutschen Einzelstaaten -eine politische Realität. Die Beratungen der Nationalversammlung wurden daher auch zu einem „Nationfindungsprozeß“.
Deutschland war keine Insel. Es wäre gänzlich verfehlt, die 1848er Bewegung in Deutschland losgelöst von dem europäischen Kontext zu sehen, von dem sie ein Teil war. Bereits die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war ein europäischer Vorgang gewesen, der in jedem Land seine eigenen Realisierungen fand. In Deutschland entstand seitdem ein nationales Kulturleben -nicht zuletzt in den Städten -, das seinen Ausdruck im Theater, in der Literatur und in den zahlreichen Zeitschriften fand, aber auch in den Hochschulen, die allmählich dazu übergingen, nicht mehr in der lateinischen, sondern in der deutschen Sprache zu lehren. Über die verschiedenen Zeitströmungen von der Aufklärung über die „Klassik“ zur Romantik und zum literarischen „Realismus“ bildeten sich allmählich gemeinsame Vorstellungen, die ein eigenes nationales geistiges Klima entstehen ließen. Der große Teil der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung -die Juristen, Beamten, Professoren und Lehrer, Geistlichen und Schriftsteller -kam aus diesem Milieu des „Bildungsbürgertums“. Veit Valentin hat in dem ersten Band seiner umfangreichen „Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849“, die zuerst 1930/31 erschien und die bis heute die einzige größere Darstellung der 1848er Revolution geblieben ist, das Panorama der politischen Verhältnisse in Deutschland seit 1815 geschildert, aus denen die 1848er Bewegung hervorging. Die damalige politische Geographie Deutschlands und der einzelnen deutschen Staaten war unter Napoleon zurechtgeschnitten und auf dem Wiener Kongreß besiegelt worden. Man muß eine Vorstellung von dieser Welt der Kleinstaaten haben, um überhaupt realisieren zu können, was für die Deutschen des Jahres 1848 „Einheit“ und „Freiheit“ bedeuteten. DieKleinstaaterei, schreibt Valentin, war die „beherrschende Daseinsform“ Teil dieser politischen Welt waren allerdings auch die deutschen Städte, darunter die vier letzten Freien Reichsstädte, die von der eindrucksvollen politischen Kultur der deutschen Städte des Mittelalters und der frühen Neuzeit nach 1815 übriggeblieben waren: Lübeck, Bremen, Hamburg und Frankfurt. Hier überlebte der Geist der deutschen Stadtrepubliken, die sich dem Adel gegenüber immer als ebenbürtig betrachtet hatten Die Erinnerung an diese städtisch-republikanische Tradition hielt sich aber auch noch in denjenigen alten Reichsstädten, die 1803 und 1815 in die Einzelstaaten eingegliedert worden waren
Die Einzelstaaten und deren Regierungen waren und blieben der eigentliche Gegenpol der Nationalversammlung. Die wichtigsten Entscheidungen für die Einzelstaaten aber trafen nicht die kleineren Staaten, sondern die Höfe bzw. die Regierungen der beiden Großen Österreich und Preußen. Bezeichnenderweise gab es auch nicht nur eine, sondern gleich drei Nationalversammlungen: neben der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt den österreichischen Reichstag in Wien und die preußische Nationalversammlung in Berlin. Die Entscheidungen über den Ausgang und den Erfolg der Frankfurter Nationalversammlung fielen in den Monaten vom Mai 1848 bis Mai 1849 zwischen Frankfurt, Wien und Berlin. Die Entstehungsgeschichte der Frankfurter Nationalversammlung aber beginnt in einem deutschen Kleinstaat -in Baden. Südwestdeutschland wurde die „Wiege der deutschen Demokratie“
Das Großherzogtum Baden hatte unter Napoleon einen neuen Zuschnitt erreicht, der die rechtsrheinischen Gebiete vom Bodensee bis Rheinhessen mit Teilen der ehemaligen Kurpfalz erfaßte. Die südwestdeutschen und die Schweizer Liberalen mit ihrer Hochburg Zürich hatten manches gemeinsam, nicht nur den stolzen deutschen Parteinamen „Freisinn“. Aufmerksam hatte man in Baden verfolgt, wie 1847 die Schweizer Liberalen in dem „Sonderbundkrieg“ die oppositionellen katholischen Kantone niedergeworfen und begonnen hatten, den neuen Schweizer Nationalstaat als Bundesstaat zu schaffen -der einzige Fall übrigens in Europa, bei dem die 1848er Revolution einen dauerhaften Erfolg erzielte
Die führenden Liberalen der „Kammeropposition“ -der Rechtsanwalt Johann von Itzstein, der Staatsrechtler Karl Welcker, der Kaufmann Friedrich Bassermann, Robert von Mohl sowie der junge Anwalt Friedrich Hecker -wurden über die Landesgrenzen bekannt. Sie galten als „geistige Führer des deutschen Liberalismus“ Der Mannheimer Buchhändler Bassermann brachte zusammen mit Karl Mathy seit 1847 die „Deutsche Zeitung“ heraus, die, von dem Historiker Georg Gervinus redigiert, die badischen Debatten auf die nationale Ebene anhob. Zu einer Zeit, als 1847 in Berlin der (erste) „Vereinigte Landtag“ der preußischen Provinzen zusammenkam, setzten die badischen Liberalen ihre nationalen Hoffnungen auf ein Zusammengehen mit einem erneuerten Preußen; man glaubte, die Lösung strittiger Fragen durch einen Kompromiß mit den Regierungen erreichen zu können. Gegen diese kompromißlerische Haltung wandte sich eine Minderheit um den jungen politischen „Star“ im Landtag, Friedrich Hecker, der zusammen mit dem Mannheimer Anwalt von Struve zunehmend radikaldemokratische und republikanische Ideen verfocht. So wurde Baden zugleich das Exerzierfeld für den künftigen Konflikt zwischen gemäßigten „konstitutionellen“ Liberalen und jenen Linken, die -zutiefst mißtrauisch gegenüber den Regierungen -„aufs Ganze“ gehen wollten, „halbe Lösungen“ ablehnten und als letzte Konsequenz die Republik mit revolutionären Mitteln herbeiführen wollten. Diese Ideen lagen einer von Hecker und Struve im September 1847 nach Offenburg einberufenen Konferenz zugrunde.
Aufgeschreckt durch diese Vorgänge riefen die gemäßigten Liberalen die „Kammeropposition“ aus Baden, Württemberg und Hessen zu einer Konferenz in Heppenheim zusammen, bei der die Repräsentanten des einflußreichen Bürgertums in Deutschland auf den Vorschlag des rheinischen Kaufmanns und Abgeordneten im preußischen Vereinigten Landtag David Hansemann hin eine eigene nationale Reformstrategie miteinander verabredeten. Das Ziel war die Schaffung eines nationalen Parlaments. Am 12. Februar 1848 stellte Friedrich Bassermann in der zweiten Kammer Badens den Antrag, eine Vertretung der deutschen Ständekammer beim Deutschen Bund in Frankfurt einzurichten. Heinrich von Gagern folgte am 27. Februar mit einem noch weitergehenden Antrag in der hessischen Kammer in Darmstadt, der bereits die Befugnisse der künftigen National-Vertretung umschrieb. Zwischen beiden Daten lag der Beginn der Revolution in Paris, die die Juli-Monarchie Louis Philippes von 1830 beseitigte und die Republik ausrief.
Die Revolution wurde eine europäische Bewegung, und die Ereignisse überstürzten sich jetzt. Es folgten die Märzrevolution in Deutschland, der Sturz Metternichs in Wien, die symbolträchtigen „Märzereignisse“ und Barrikadenkämpfe in Berlin; fast überall in Deutschland wurden die Landesregierungen mit Vertretern der bisherigen Opposition umbesetzt, so auch in Preußen mit den rheinischen Liberalen Camphausen und Hanse-mann. Die Gesandten der Einzelstaaten beim Bundestag in Frankfurt wurden ausgewechselt und durch liberale Politiker ersetzt. Doch ganz so glatt, wie sich das liberale Bürgertum den Machtwechsel vorgestellt hatte, verliefen die Dinge doch nicht. Jenseits des bürgerlich-liberalen Milieus hatte der Zusammenbruch der fürstlich-kleinstaatlichen Autoritäten vielerorts radikalere, sozialrevolutionäre Bewegungen freigesetzt, deren Stoßrichtung sich gegen den ländlichen Adel, gegen die nach wie vor bestehenden Feudallasten, aber auch gegen die Juden richtete. Die Aktionen waren oft spontan und unkontrolliert, so in Hessen und in Baden. Unter der Führung Heckers, der sich zunehmend von seinen liberalen Gesinnungsfreunden absetzte, erhielt die sozialrevolutionäre Bewegung in Baden eine festere Organisation. Politisch zielte sie auf eine demokratische Republik. Ein von Hecker schlecht vorbereiteter Aufstand in Baden wurde von der neuen badischen Regierung im April niedergeworfen.
Am 5. März 1848 berichtete die „Deutsche Zeitung“ von der Zusammenkunft von 51 west-und süddeutschen Politikern in Heidelberg, die zur Wahl einer Nationalversammlung aufforderten. Ein von der Heidelberger Konferenz eingesetzter Siebener-Ausschuß berief eine Versammlung der Kammerabgeordneten der Einzelstaaten nach Frankfurt ein -das sogenannte „Vorparlament“, das die künftige Nationalversammlung vorbereiten sollte. Von den rund 500 Teilnehmern kamen 72 aus Baden, 84 aus Hessen-Darmstadt, 52 aus Württemberg, 44 aus Bayern, 26 aus Sachsen, 9 aus Hannover und als größte Delegation 141 aus Preußen. Aus Österreich waren nur zwei Vertreter angereist. Vier Tage lang tagte man in der Pauls-kirche vom 31. März bis zum 3. April.
In der Aussprache des „Vorparlaments“ tauchten die ersten Konfliktpunkte auf: Die republikanische Linke um Struve und Hecker wollte das „Vorparlament“ in Permanenz tagen lassen, gleichsam als Kontrollausschuß gegenüber dem Bundestag, um jeglicher Reaktion vorzubeugen. Sie teilten nicht „den Glauben der liberalen Mehrheit an die alles erlösende Kraft des parlamentarischen Prinzips“ Der Antrag wurde mit 368 gegen 148 Stimmen abgelehnt. Aufgestört durch die beginnenden sozialen Unruhen diskutierte man auch soziale Forderungen zur Verbesserung der Lage der Arbeiter, wenn auch ohne ein konkretes Ergebnis. Schließlich einigte man sich auf die Errichtung des Fünfziger-Ausschusses für den Übergang bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung. Das Wahlrecht, das einen Abgeordneten auf je 50 000 Einwohner vorsah und alle volljährigen Männer -von den Frauen war noch nicht die Rede -für wahlberechtigt erklärte, war das modernste in Europa. Die Durchführung der Wahlen wurde den Einzelstaaten übertragen.
Mit den Beschlüssen zur Einberufung der Nationalversammlung hatte sich die Nation innerhalb von nur zwei Monaten praktisch selbst konstituiert. So schnell und so geordnet vollzog sich nicht einmal der Zusammenbruch der DDR 1989/90, der ja in manchem durchaus Ähnlichkeiten mit dem Zusammenbruch der fürstlich-kleinstaatlichen Ordnung von 1848 aufweist.
Die ersten Verhandlungen
Am frühen Nachmittag des 18. Mai 1848 kamen die neugewählten Abgeordneten der Nationalversammlung in Frankfurt im Kaisersaal des alten Römers erstmals zusammen. Man wählte den siebzigjährigen Hannoveraner Richter Dr. Friedrich Lang zum Alterspräsidenten. Danach begab man sich zum eigentlichen Tagungsort -der modernen, im klassizistischen Stil erbauten Paulskirche. Dieser Umzug symbolisierte gleichsam den Übergang vom Alten zum Neuen. In der zweiten Sitzung am Freitag, den 19. Mai, wurde der hessische Minister Heinrich von Gagern aus Darmstadt zum Präsidenten gewählt. Mit wenigen Worten umriß er nach seiner Wahl mit dem ihm eigenen Pathos die Aufgaben des Parlaments: „Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation (Stürmisches Bravo).“
Bereits an diesem zweiten Sitzungstag wurden Anträge eingebracht, die von einem bemerkenswerten politischen Realismus zeugten und die das Parlament unmittelbar mit zentralen Fragen der deutschen Politik konfrontierten. Es ging um das Verhältnis der Nationalversammlung zu Preußen. Auf einen Beschluß des Vereinigten Landtags war in Preußen gleichfalls eine verfassunggebende Versammlung gewählt worden, die am Montag, den 22. Mai, in Berlin zusammentreten sollte. Die preußische Regierung verlangte von den Abgeordneten, die gleichzeitig in die Berliner wie in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt worden waren, sich für eine der beiden zu entscheiden. Gegen diese Anordnung wandte sich ein Antrag des Kölner Abgeordneten Franz Raveaux, eines Vertreters der republikanischen Linken: Es gehe hier um eine zentrale Frage, nämlich um die Souveränität und Autorität der Frankfurter Nationalversammlung gegenüber der preußischen Regierung. Man erinnerte an den Satz des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. aus den Märztagen -„Preußen geht fortan in Deutschland auf“ -und warnte davor, daß es zu einem Bruch oder zu einem Zwiespalt zwischen beiden verfassunggebenden Versammlungen komme.
Ein weiterer Antrag, den der Kölner Abgeordnete Leueeinbrachte, betraf wiederum Preußen. Diesmal ging es um die Außenpolitik. Leue verwies auf französische Presseberichte, wonach das französische Außenministerium die Pariser Nationalversammlung aufgefordert habe, sich mit der inneren Lage Polens zu befassen Dabei ging es vor allem um das Großherzogtum Posen, das nach dem Wiener Kongreß 1815 zu Preußen gekommen war. In Posen war es im Frühjahr zu einem Aufstand der dortigen Polen gekommen, die die Lösung Posens von Preußen verlangten, um es in ein neuzuschaffendes Polen einzugliedern. Bis 1848 hatten sich die Liberalen in Deutschland für die Wiederherstellung des durch die Teilungen aufgelösten bzw. in russische Abhängigkeit geratenen Polen („Kongreßpolen“) eingesetzt. Inzwischen hatte sich aber das deutsche Meinungsklima gewandelt, denn für den Antragsteller und für die Mehrheit der Frankfurter Nationalversammlung war es nunmehr unbestritten, daß Posen zu Preußen und damit zu Deutschland gehörte. So wurde man in Frankfurt bereits am zweiten Sitzungstag nicht nur mit innerdeutschen Fragen, sondern auch mit Grundsatzfragen der politischen Neuordnung Europas bzw.der deutschen Ostgrenze konfrontiert. Neben der Frankfurter Nationalversammlung und der preußischen Nationalversammlung in Berlin gab es mit dem neuen Österreichischen Reichstag in Wien schließlich drei Nationalversammlungen in Deutschland, zu denen noch die Länderparlamente kamen, die sich zum Teil gleichfalls als konstituierende Versammlungen neu bildeten oder in der bisherigen Form der „Ständekammern“ weiterbestanden. Gegenüber diesen anderen Parlamenten mußte die Frankfurter Nationalversammlung ihre Autorität als Souverän der Nation behaupten und durchsetzen.
Parteien und Abgeordnete
In den Maitagen begannen sich auch die künftigen Fraktionen zu formieren. Robert Blum, der der Hauptsprecher der Linken wurde, war nach den Beratungen des Vorparlaments gleich in Frankfurt geblieben. Der Gasthof „Deutscher Hof“ wurde das Hauptquartier der demokratischen Linken, die am entschiedensten den Gedanken der Volkssouveränität vertrat. Es gab gleichwohl immer wieder Abspaltungen. Die radikale und teilweise revolutionäre Linke bezog den „Donnersberg“. Der Linken gehörten mehr freiberufliche Intellektuelle und Angehörige der unteren Mittelschichten an als den anderen Fraktionen. Die Abspaltung von der Linken um Franz Raveaux, Heinrich Simon, Karl Biedermann und Gabriel Riesser suchte die Verbindung zu dem „Linken Zentrum“ im „Württemberger Hof“, der sich vor allem aus jüngeren süddeutschen Abgeordneten zusammensetzte, die für die parlamentarische Monarchie eintraten. Eine zu den gemäßigten Liberalen tendierende Abspaltung dieser Gruppe wiederum nannte sich nach dem „Augsburger Hof“, während die „Linken im Frack“, die sich recht frei zwischen den Demokraten und Liberalen bewegten, sich nach der „Westendhall" benannten.
Die gemäßigten Liberalen, das „Rechte Zentrum“ -die stärkste parlamentarische Gruppe in der Paulskirche, die auch die Mehrheit im Verfassungsausschuß stellte -, ließen sich im „Casino“ nieder. Aus dieser Fraktion ging als linksliberale Sezession der „Landsberg“ hervor. Das politische Aushängeschild der Liberalen war Heinrich von Gagern, der es aber vermied, sich als Parteimann zu geben. Die Liberalen waren häufig anerkannte Honoratioren, die als Staatsbeamte, Anwälte, Geschäftsleute und Professoren beruflich erfolgreich gewesen waren und deswegen gewählt wurden. Ihr politisches Programm war nicht so scharf fixiert wie bei der Linken, und man entschied häufig pragmatisch von Fall zu Fall. Die Einstellung zur Volkssouveränität war ambivalent. Die gemäßigten Liberalen waren keine demokratischen Republikaner. Mehrheitlich trat man für einen deutschen Bundesstaat mit einer starken Zentral-gewalt und in der inneren Staatsorganisation für die Beibehaltung des Dualismus zwischen fürstlicher Regierungsgewalt und gewählter Volksvertretung als „konstitutioneller Monarchie“ ein.
Die zahlenmäßig erheblich kleinere konservative Rechte wurde von Radowitz organisiert; sie tagte zunächst im „Steinernen Haus“, dann im „Cafe Milani“. Zu dieser Gruppe zählte eine Reihe von Adeligen. Die Konservativen sahen ihren politischen Rückhalt in den Einzelstaaten, weniger in der „Nation“. Die künftige Verfassung sollte mit den Fürsten ausgehandelt werden, und verfassungspolitisch neigte man eher zu einer Weiterentwicklung des bisherigen Deutschen Bundes als zu einem zentralistischen Bundesstaat. Schließlich fanden sich die katholischen Abgeordneten zu einer eigenen Gruppierung zusammen, ohne allerdings eine Verfassungspartei zu werden. Die meisten katholischen Abgeordneten zählten zur Gruppe der „Unabhängigen“.
Etwa ein Drittel der Abgeordneten der Nationalversammlung gehörte keiner festen Gruppierung an. Insgesamt waren die politischen Bindungen lockerer und doch zugleich prinzipienbewußter als die in den modernen Parlamenten des 20. Jahrhunderts. Die gesetzliche Zahl der Mitglieder der Nationalversammlung aus dem Gebiet des Deutschen Bundes betrug 605. Offiziell gehörten der Paulskirche 585 Abgeordnete an. Bei der Eröffnung am 18. Mai waren 300 Abgeordnete anwesend. Später betrug die Zahl der Versammelten in der Regel zwischen 400 und 500. Da es häufig vor-kam, daß Mandate niedergelegt wurden und Vertreter bestellt wurden, gehörten der Nationalversammlung im Laufe der Jahre 1848/49 insgesamt 813 Abgeordnete an Insgesamt war die Pauls-kirche weniger ein „Professorenparlament“, sondern eher ein „Juristen-und Beamtenparlament“. Darin unterscheidet sie sich vielleicht doch nicht so sehr von modernen deutschen Parlamenten, wie so oft behauptet wird.
Die provisorische Reichsregierung
Der wichtigste Ausschuß der Nationalversammlung war der Verfassungsausschuß. Daneben wurde ein volkswirtschaftlicher Ausschuß, ein völkerrechtlicher und internationaler Ausschuß, ein Ausschuß für Marineangelegenheiten, ein Petitionsausschuß und Ausschüsse zu besonderen Anlässen eingerichtet, wie dies etwa bei dem Ausschuß für die Errichtung der Zentralgewalt der Fall war. Am 3. Juni wurde erstmals über mehrere Anträge zur Errichtung einer provisorischen Zentralgewalt für das Reich beraten und ein 15köpfiger Ausschuß eingesetzt, der mehrheitlich von den Liberalen besetzt war und dessen Berichterstatter der Bonner Historiker Friedrich Christoph Dahlmann wurde, der sich bereits im Vor-parlament und im Fünfziger-Ausschuß als Verfassungspolitiker profiliert hatte.
Der mit 13 gegen 2 Stimmen angenommene Mehrheitsvorschlag des Ausschusses sah die Bildung eines provisorischen „Bundesdirektoriums“ zur „definitiven Begründung einer Regierungsgewalt für Deutschland“ vor, das aus drei Männern bestehen sollte, die von den Regierungen der Einzelstaaten (d. h. von Preußen, Österreich und den Staaten des „dritten“ Deutschland, also der kleineren Staaten) benannt werden sollten. Das Konzept der Ausschußmehrheit entsprach nicht den Vorstellungen der Mehrheit der Nationalversammlung, und es wurde bald vom Tisch gefegt. Auch Gegner der Republik wünschten mehrheitlich eine einzelne Persönlichkeit an der Spitze des Reichs, um den Partikularismus der Einzelstaaten zu überwinden. Der wesentliche Unterschied zwischen der linken Minderheit und der rechten Mehrheit bestand in dieser Debatte in der Einschätzung der Rolle der Fürsten. Die demokratische Linke war grundsätzlich mißtrauisch, während die liberale Rechte zu einem Entgegenkommen bereit war, zum Teil allerdings auch aus der realistischen Einsicht, daß faktisch ohne Mitwirkung der Regierungen der Einzelstaaten die Schaffung einer bundesstaatlichen Reichsgewalt gleichsam aus dem Nichts heraus kaum möglich war. In einer berühmt gewordenen Rede schlug schließlich Heinrich von Gagern am 24. Juni vor, daß die Nationalversammlung von sich aus die provisorische Reichsgewalt schaffen solle, also ohne Mitwirkung der Regierungen der Einzelstaaten: „Ich tue einen kühnen Griff; und ich sage ihnen: Wir müssen die provisorische Zentralgewalt selbst schaffen.“ Die Mehrheit der Versammlung, führte Gagern aus, sei zu der Ansicht gekommen, daß die künftige Zentral-gewalt einem „Reichsverweser“ mit verantwortlichen Ministern übertragen werden solle. Dies müsse eine Persönlichkeit sein, die von allen -auch von den Einzelstaaten -mitgetragen werde, und es könne deshalb nur eine Persönlichkeit aus dem Kreis der Fürsten sein.
Am 28. Juni wurde mit 510 gegen 365 Stimmen der Bundestag als Vertretung der Einzelstaaten abgeschafft und mit 450 gegen 100 Stimmen das Gesetz über die Einführung der provisorischen Zentralgewalt angenommen. Am folgenden Tag wurde Erzherzog Johann von Österreich zum Reichsverweser gewählt. Anfang Juli traf dieser in Frankfurt ein. Es gab Jubelfeiern in ganz Deutschland. Kurz darauf wurde die neue Reichsregierung unter Fürst Leiningen gebildet. Mehrere Abgeordnete der Nationalversammlung traten als Minister in die Reichsregierung ein.
Verfassungsberatung und Grundrechte
Von nun an konnte sich die Nationalversammlung erstmals ihrer eigentlichen Aufgabe -der Ausarbeitung der Reichsverfassung -zuwenden. Am 3. Juli begann man mit der Beratung der „Grundrechte des deutschen Volkes“. Der Versammlung lag ein Entwurf über die Grundrechte durch den Verfassungsausschuß sowie ein Bericht des Ausschusses über seine Beratungen und eine Stellungnahme des volkswirtschaftlichen Ausschusses vor Die erste Lesung der Grundrechte zog sich bis zum 12. Oktober hin. Die Grundrechte wurden nach einer zweiten Lesung noch vor der Abstimmung über die Gesamtverfassung am 21. Dezember als Einzelgesetz verabschiedet und zu Weihnachten, am 27. Dezember 1848, verkündet
Als Berichterstatter des Verfassungsausschusses begründete der Greifswalder Rechtshistoriker Georg Beseler am 3. Juli vor dem Plenum, warum man als erstes die Grundrechte und nicht die organisationsrechtlichen Bestimmungen der Verfassung beraten habe. Anfangs seien die Mitglieder der Nationalversammlung einander noch kaum bekannt gewesen. Da habe man Bedenken gehabt, sofort mit den politisch umstrittensten Fragen der Verfassung zu beginnen. Deswegen seien die Grundrechte vorgezogen worden, weil hier von vornherein die größte Übereinstimmung unter den Abgeordneten zu erwarten gewesen sei ’. Die Formulierung „Grundrecht“ war eine Wortschöpfung des Ausschusses. Der gesamte Entwurf der Grundrechte umfaßte zwölf Artikel mit insgesamt 48 Paragraphen. Beseler erläuterte die Ziele des Entwurfs. Es gehe darum, die Rechtsverhältnisse des alten Polizeistaats zu beseitigen: „Wir wollen jetzt aus dem herauskommen, was uns der Polizeistaat der letzten Jahrhunderte gebracht hat. Wir wollen den Rechtsstaat auch für Deutschland begründen.“
Artikel I des Entwurfs regelte das Staatsbürger-recht und das Recht des Wohnsitzes. In Artikel II wurden die Gleichheit vor dem Gesetz, die Abschaffung der Standesprivilegien, der gleiche Zugang zu öffentlichen Ämtern, die gleiche, allgemeine Wehrpflicht, die Freiheit der Person und der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Briefgeheimnis und das Recht der freien Meinungsäußerung geregelt. Artikel III gewährte allen Deutscheh die Glaubens-und Gewissensfreiheit, die Freiheit der privaten und öffentlichen Religionsausübung, regelte das Recht der Neugründung von Religionsgemeinschaften und führte die Zivilehe ein. Artikel IV enthielt den Grundsatz der Freiheit von Wissenschaft und Lehre sowie der Unentgeltlichkeit des Unterrichts in Volksschulen. Bei der Regelung der Verhältnisse zwischen Kirche und Staat sowie zwischen Staat und Schule waren bereits in den Ausschußberatungen erhebliche Meinungsverschiedenheiten und Empfindlichkeiten sichtbar geworden. Artikel V regelte das Recht des Einzelnen gegenüber öffentlichen Behörden. Artikel VI gewährte das Versammlungs-und Vereinsrecht. Bei der Regelung des Eigentumsrechts in Artikel VII kamen die überkommenen, an den Grundbesitz gebundenen Feudallasten ins Spiel, die sämtlich aufgehoben wurden. Artikel VIII regelte das Gerichtswesen, hob die Patrimonialgerichte des Adels und den privilegierten Gerichtsstand von Einzelpersonen auf, sicherte die Unabhängigkeit der Richter, setzte die Öffentlichkeit und Mündlichkeit von Gerichtsverhandlungen sowie die Trennung von Rechtspflege und Verwaltung fest. Artikel IX konstituierte das Recht der Gemeinden auf kommunale Selbstverwaltung als Grundrecht. Dazu zählte die freie Wahl der Vorsteher und die selbständige Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten einschließlich der Polizeiangelegenheiten und der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlungen. Artikel X regelte das Verfassungsrecht der Einzelstaaten, denen eine parlamentarische Vertretung zur Pflicht gemacht und für die der Grundsatz der Ministerverantwortlichkeit aufgestellt wurde. Artikel XI regelte die Rechte ethnischer und sprachlicher Minderheiten in Deutschland und gewährleistete die Gleichberechtigung der Sprachen im Kirchenwesen, im Unterricht, in der inneren Verwaltung und der Rechtspflege in den entsprechenden Gebieten. Artikel XII des Entwurfs betraf das Recht der Deutschen im Ausland. Eine Regelung über die Gleichberechtigung von Mann und Frau war weder in dem Entwurf noch in dem Grundrechtsteil der späteren endgültigen Verfassung vorgesehen.
Aufhebung der ständischen Gesellschaft und der Adelsprivilegien
Das gesellschaftspolitische Kernstück der Grundrechte war die Aufhebung der ständischen Gesellschaft in Deutschland. Der Adel als Stand bildete die Spitze und das Symbol der überkommenen ständischen Gesellschaft. In der Grundrechtsdebatte nahm deshalb dieser Punkt eine zentrale Stellung ein. Am 1. August diskutierte das Plenum über den Gleichheitsgrundsatz. Bei der Formulierung des Verfassungsausschusses „Standesprivilegien finden nicht statt“ verlangte die Linke eine Erweiterung um den Satz: „Alle Standesprivilegien und der Adel sind aufgehoben.“ Weitere Anträge verlangten, auch sämtliche Orden und Titel aufzuheben. Damit wurde eine Grundsatzdebatte über die historische Rolle des Adels ausgelöst. Bei dem Gleichheitsgrundsatz berief man sich auf das Vorbild der Französischen Revolution und der belgischen Verfassung von 1831. Man dachte in der Paulskirche aber nicht daran, der beabsichtigten Abschaffung der ständischen Gesellschaft und der Sicherung der bürgerlichen Zivilgesellschaft die Einführung einer egalitär-demokratischen oder gar sozialistischen Gesellschaft folgen zu lassen, wie es im gleichen Jahr das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels mit großem historischen Pathos forderte.
Als es am 2. August zur Abstimmung über den Antrag der Minderheit auf Abschaffung des Adels kam, wurde er mit 282 gegen 167 Stimmen abgelehnt In der zweiten Lesung der Grundrechte, die am 6. Dezember begann, wurde der Antrag auf Abschaffung des Adels von der Linken erneut eingebracht. Inzwischen hatte sich das Meinungsklima innerhalb des Parlaments gewandelt, nachdem sich sowohl in Österreich wie in Preußen die Reaktion durchgesetzt hatte. In dem politisch angespannten Klima der zweiten Lesung im Dezember kam es zu mehreren Kampfabstimmungen. Schließlich wurde ein Antrag der Linken „Der Adel als Stand ist abgeschafft“ mit 225 gegen 211 Stimmen angenommen er wurde nach einer zusätzlichen Abstimmung am 20. Dezember über eine redaktionelle Änderung mit dem endgültigen Wortlaut „Der Adel als Stand ist aufgehoben“ Bestandteil des endgültigen Verfassungstextes
Zur Aufhebung der ständestaatlichen Ordnung zählten schließlich noch weitere Regelungen, die in den endgültigen, Ende Dezember beschlossenen Gesetzestext der „Grundrechte des deutschen Volkes“ und damit in die Reichsverfassung eingingen: die Aufhebung jeglicher Untertänigkeits-und Hörigkeitsverbände „für immer“ (Art. 166 RV), die entschädigungslose Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit und der grundherrlichen Polizei sowie die Aufhebung der Abgaben und Leistungen aus den guts-und schutzherrlichen Verbänden (§ 167 RV). Die historische Bedeutung dieser Festsetzungen wird erst verständlich, wenn man bedenkt, daß die Gutsherrschaft im ostelbischen Preußen erst siebzig Jahre später im Zugeder deutschen Revolution von 1918/19 aufgehoben wurde. Familienfideikommisse des Adels, die die Erbfolge einschränkten, wurden aufgehoben. Lediglich die regierenden Fürstenhäuser der Einzelstaaten wurden davon ausgenommen (§ 170 RV), Lehensverbände aufgehoben (§ 171) und der Grundsatz ungleicher Besteuerung nach Ständen, von dem der Adel bisher hauptsächlich profitiert hatte, abgeschafft (§ 173 RV). Damit war die seit Jahrhunderten bestehende Feudalordnung beseitigt.
So gesehen enthielten die Grundrechte geradezu ein revolutionäres Veränderungspotential Wäre die Reichsverfassung Wirklichkeit geworden, so hätten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Lande in Deutschland grundlegend geändert. Ein preußischer Adeliger wie der junge Gutsherr Otto von Bismarck, der damals die konservative preußische „Kreuz-Zeitung“ mit Artikeln und seinen König Friedrich Wilhelm IV. mit Eingaben bombardierte, die die Schreckensvisionen für die Zukunft ausmalten, wußte nur zu gut, daß hier die soziale und politische Existenz seines Standes von den „vereinigten Weisen der deutschen Nation zu Frankfurt“, wie er die Abgeordneten der Nationalversammlung in der „Kreuz-Zeitung“ ironisch bezeichnete, bedroht wurde
Abschaffung des Polizeistaats und Sicherung des liberalen Rechtsstaats
Die Beseitigung des Polizeistaats und die Sicherung des liberalen Rechtsstaats bildeten den zweiten Schwerpunkt der Grundrechte. Auf diesem Feld kam die Nationalversammlung eigentlich erst recht zu sich selbst. Hier konnte sie ihr liberales Verständnis von Politik und Gesellschaft sowie von humaneren Formen des nationalen Zusammenlebens ausformulieren; hier erbrachte sie ihre bedeutendsten Leistungen, und schließlich kamen hier die zahlreichen Juristen des Parlaments erst so richtig in ihr Element. Ein Höhepunkt der Lesung der Grundrechte war die Beratung der Artikel über die Freiheit und Unverletzlichkeit der Person sowie der von der Linken eingebrachten Anträge über die Abschaffung der Todesstrafe, der Strafen des Prangers, der Brandmarkung und der körperlichen Züchtigung. Die Beratung begann am 3. August. Sie wurde ebenso intensiv wie gelehrt geführt. Die Redner zogen Vergleiche zum Strafrecht in Frankreich, Belgien, England und den USA. Es gab wenig Dissens. Eindrucksvolle Argumente wurden in der Debatte über die Abschaffung der körperlichen Züchtigung und der Todesstrafe vorgetragen. Bei der Abstimmung am 4. August sprachen sich 228 Abgeordnete für die Abschaffung der Todesstrafe und 146 dagegen aus. Bei der zweiten Lesung am 7. Dezember fiel die Abstimmung mit 256 Ja-Stimmen und 176 Neinstimmen für die Abschaffung der Todesstrafe aus
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Auch die Grundrechte der Unverletzlichkeit der Wohnung, des Briefgeheimnisses sowie der Meinungs-und Pressefreiheit, die am 17. und 18. August in erster Lesung beraten und beschlossen wurden hoben polizei-und obrigkeitsstaatliche Verhältnisse auf und schufen die Grundvoraussetzung einer freiheitlichen Gesellschaft Diese Regelungen waren so unumstritten, daß es gar nicht erst zu einer längeren Debatte kam. Bereits im Juli waren im Anschluß an die Beratung des Gleichheitsgrundsatzes das Recht der Staatsangehörigkeit (§ 110 RV), das Recht der Freizügigkeit und Berufsfreiheit (Gewerbefreiheit), die zu längeren Diskussionen mit den Vertretern des volkswirtschaftlichen Ausschusses geführt hatten, sowie das Recht der Auswanderung beraten worden (§ 110-112 RV). Mit diesen Beschlüssen waren damit bis Mitte August wesentliche Grundlagen des künftigen Rechtsstaats geschaffen. Später kamen noch die Beschlüsse über das Petitionsrecht, die Versammlungsfreiheit und Vereinsfreiheit sowie die Garantie des Rechts auf Eigentum hinzu -gleichsam die wirtschaftliche Grundvoraussetzung der bürgerlichen Gesellschaft, die nun an die Stelle der ständischen Gesellschaft treten sollte.
Weitere Regelungen des Grundrechtsteils galten der institutionellen Verankerung des Rechsstaats und betrafen die Stellung der Richter, das Gerichtswesen und den Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Rechtspflege (§ 174-183 RV).
Bis dahin hatte es fast den Anschein, als könne die Nationalversammlung, getragen von einer breiten Zustimmung des Volkes, weiterhin ungestört die Utopie einer künftigen liberalen Gesellschaft für Deutschland entwerfen und in Gesetzestexte gießen. Als sich zahlreiche Abgeordnete zur Feier des großen Dombaufestes am 14. August nach Köln begaben, hatte man überall noch einmal die Begeisterung der deutschen Bevölkerung für die Nationalversammlung erleben können. Aber inzwischen zogen dunkle Wolken am Horizont auf, die teilweise mit den außenpolitischen Verwicklungen mit Dänemark um Schleswig-Holstein zusammenhingen. In den kommenden Wochen sollte die Außenpolitik die Verfassungsberatungen zeitweilig gänzlich an den Rand drängen. Aber auch bei den Beratungen des Grundrechts der Religionsfreiheit und der Regelung der Verhältnisse zwischen Kirche, Staat und Schule sollte es sich bald zeigen, daß Gegensätze nicht nur zwischen dem Volk und den Abgeordneten auf der einen und den Fürsten und dem Obrigkeits-und Polizeistaat auf der anderen Seite bestanden, sondern daß tiefgreifende und schwer zu überbrückende Meinungsunterschiede auch im Volk selbst wie unter den Abgeordneten vorhanden waren.
Konfession, Kirche und Staat, Religionsfreiheit
Die Artikel III und IV der Grundrechte im Entwurf des Verfassungsausschusses enthielten Regelungen über die Glaubens-und Gewissensfreiheit, die Gründung neuer Religionsgesellschaften, die private und öffentliche Ausübung der Religion, das Verbot zur Ausübung von Zwang zu kirchlichen Handlungen, die Einführung der Zivilehe (Art. III) sowie den Grundsatz der Freiheit von Wissenschaft und Lehre, der Freiheit des Unterrichts und der Gründung von Schulen, der Unentgeltlichkeit des Unterrichts an den Volksschulen sowie das Recht der freien Wahl des Berufs und der Ausbildung (Artikel IV). Die Diskussionen über diese Artikel führten zu einer ausgedehnten Grundsatzdebatte in der Paulskirche.
Dabei überschnitten sich eine Reihe von Problemkreisen: Bei der Diskussion über das Verhältnis von Kirche und Staat, von Religionsfreiheit und Glaubensfreiheit stellte sich sehr bald heraus, daß das historische Konfessionsproblem in Deutschland unmittelbar mit der Identität der Nation zusammenhing; es war deswegen keineswegs nur ein „religiöses“, sondern zugleich ein nationalpolitisches Problem. Die Konfessionen, die katholische wie die protestantische und seit 1648 auch die protestantisch-reformierte, waren im Heiligen Römischen Reich ein Teil der Reichsverfassung geworden Dies war der große Kompromiß gewesen, mit dem der im 16. Jahrhundert entstandene nationale Konfessionsstreit 1648 politisch beigelegt wurde. Seitdem aber waren Staat und Konfession in Deutschland miteinander eng verzahnt.
Bis 1848 hatte das Staatskirchentum der Einzelstaaten den nationalen Charakter der Konfessionen in Deutschland weitgehend unterdrückt. Im Zuge der Revolution von 1848 brach er aber wieder durch, und die Konfessionen wurden -wie dies bereits im Deutschland des 16. Jahrhundert der Fall gewesen war -wieder nationale Bewegungen, die teils miteinander, aber häufig auch gegeneinander operierten. Sie mußten aber feststellen, daß sich inzwischen jenseits der Kirchen und Konfessionen eine neue geistige Bewegung gebildet hatte, die vom liberalen Bürgertum getragen wurde und die weder von den Kirchen noch von den Konfessionen sehr viel hielt, weil deren Haltung dem modernen wissenschaftlichen Denken nicht mehr angemessen zu sein schien. Diese neue Bewegung argumentierte im Gegensatz zu den Kirchen ausgesprochen szientistisch. Politisch wollte die neue Bewegung, die häufig antiklerikale Züge annahm, die Gesellschaft unabhängig von den Kirchen und gänzlich frei von jeglichem religiösen Bekenntnis organisieren.
Alle diese Richtungen und die damit verbundenen politischen Programme waren in der Paulskirche vertreten; sie beteiligten sich an der großen nationalen Debatte über Religion und Kirche, Staat und Schule, die im August und September stattfand und die es in dieser Dimension noch nie in einem deutschen Parlament gegeben hatte. Am 22. August erreichte die Debatte ihren Höhepunkt mit den beiden Reden des atheistischen Gießener Professors für Zoologie, Carl Vogt, und des katholischen Münchener Professors für Kirchengeschichte, Ignaz Döllinger. Die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat wurde bei der Einzelberatung zu dem § 14 am 29. August behandelt. Angenomen wurde der Antrag: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber, wie jede andere Gesellschaft im Staate, den Staatsgesetzen unterworfen.“ (§ 147 RV) In den gleichen Paragraphen wurde die Formulierung aufgenommen, daß keine Religionsgesellschaft vor anderen Vorrechte durch den Staat genießt und schließlich der ent-scheidende Satz: „Es besteht fernerhin keine Staatskirche.“
Am 28. August fand die erste Abstimmung über die Grundrechtsparagraphen zur Religionsfreiheit statt. § 11 des Entwurfs (der spätere § 144 RV) „Jeder Deutsche hat volle Glaubens-und Gewissensfreiheit“ wurde fast einstimmig angenommen Der Satz wurde um den Zusatz erweitert, daß niemand verpflichtet ist, seine religiöse Über-zeugung zu offenbaren. Mehrheitlich wurde § 12 (§ 145 RV) über die unbeschränkte Freiheit der häuslichen und öffentlichen Religionsausübung angenommen § 13 (§ 146 RV) über die Befreiung der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte von einem religiösen Bekenntnis betraf vor allem die Stellung der Juden. Dagegen sprach sich der Volkswirtschaftler Moritz Mohl aus, ein Linksliberaler aus Württemberg, der für seine Einzelgänge bekannt war. Er wollte den Juden lediglich das aktive und passive Wahlrecht gewähren, aber alle weiteren Rechte einem späteren Reichsgesetz Vorbehalten. Zweifellos bestünden durch die deutsche Sprache Gemeinsamkeiten mit den Juden, aber eine vollständige Integration in das deutsche Volk sei wegen der religiösen Unterschiede nicht möglich. Mohl trug eine Reihe massiver zeitgenössischer antijüdischer Vorurteile vor, die vor allem die wirtschaftliche Rolle der Juden betrafen. Er holte sich dafür aber mehrmals Zischen und Widerspruch aus der Versammlung ein
Ihm antwortete der Hamburger Rechtsanwalt Gabriel Riesser, der jüdische Sprecher in der Paulskirche, der dem „Württemberger Hof“ angehörte. Er war durch eine Reihe von Schriften zur Emanzipation der Juden bekanntgeworden. Unter dem Beifall der Versammlung verwahrte er sich gegen die vorgetragenen Schmähungen der Juden. Er lehnte jeden sonderrechtlichen Status für die Juden ab, wie es Mohl verlangt hatte. Die Nationalversammlung habe den nicht deutschsprechen-den Minderheiten das gleiche Recht wie den übrigen Deutschen zugestanden. Sollten die Juden, weil sie deutsch sprächen, davon ausgenommen sein? „Ich kann zugeben, daß die Juden in der bisherigen Unterdrückung das Höchste, den vaterländischen Geist, noch nicht erreicht haben. Aber auch Deutschland hat es noch nicht erreicht.“ Durch Ausnahmegesetze würde das neue System der Freiheit einen verderblichen Riß erhalten und einen Teil des deutschen Volkes der Intoleranz und dem Hasse als Opfer hinwerfen. „Das werden Sie aber nimmermehr tun“, erklärte Riesser unter starkem Beifall Mohls Antrag zur Sonderregelung der jüdischen Rechte fand nicht die für die Einbringung zur Abstimmung erforderliche Anzahl von 20 Stimmen aus dem Plenum. Nach dem zustimmenden Beschluß über den ursprünglichen Antrag des Ausschusses kam es zu zahlreichen Zurufen aus der Versammlung: „Ein Bekenntnis.“ Die große Mehrheit, die sich in der Nationalversammlung gegen jede Diskriminierung der Juden fand, zeigt, daß die nationale Begeisterung jüdischer Kreise im Revolutionsjahr 1848 einen realen Hintergrund hatte. Rabbiner hatten daher auch ihre Gemeinden aufgefordert, sich an den Wahlen zur Nationalversammlung zu beteiligen
Auf Antrag Riessers wurde in den § 15 -der festsetze, daß niemand zu religiösen Handlungen gezwungen werden dürfe -der zusätzliche Absatz aufgenommen, daß die Eidesformel an kein bestimmtes Bekenntnis gebunden sein soll; eine Regelung, die bewußt auf die religiösen Gebote der Juden Rücksicht nahm Dieser Paragraph wie auch der § 16 über die Einführung der Zivilehe und die Führung des Standesregisters durch die Zivilbehörden wurde ohne längere Beratungen am 12. September angenommen Der Staat der Paulskirchenversammlung war ein moderner säkularisierter Staat geworden.
Die Schulfrage
Die Fortsetzung der Beratung der Grundrechte über Schule und Staat begann am 18. September während des Frankfurter Aufstands. Der Ausschuß für Schule und Unterricht, der von Lehrern dominiert wurde, hatte inzwischen eine Neufassung des Artikels IV des Grundrechtsentwurf (mit den Paragraphen 17 bis 20) vorgelegt, der im Gegensatz zu dem Entwurf des Verfassungsauschusses eine antiklerikale Tendenz enthielt. Die Neufassung sah auch vor, daß die Lehrer als Beamte in den Staatsdienst einzustellen seien. Die in § 19 vorgesehene Abschaffung der geistlichen Schul-aufsicht und die Unterstellung des gesamten Schulwesens unter die staatliche Schulaufsicht warfen erneut die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat auf.
In der Plenumsdebatte meldete sich der münsterländische Pfarrer Wilhelm von Ketteier zu Wort. Ketteier gab für die katholische Kirche die Bereitschaft zu erkennen, die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht hinzunehmen, allerdings unter der Voraussetzung, daß das Elternrecht zur Grundlage des Schulwesens, zumindest für die Volksschule, gemacht werde und die Eltern über die religiöse Gestaltung der Schulform entscheiden könnten. Ketteier sprach sehr eindringlich. Er berief sich dabei auf zahlreiche Petitionen aus der katholischen Bevölkerung an die Nationalversammlung. Es handele sich hier keineswegs nur um eine konfessionelle Frage, sondern es sei vielmehr eine nationale Frage: „Sie würden der Einheit Deutschlands den schwersten Stoß versetzen. Ich darf es kühn sagen, wenn ich neben meinen religiösen Pflichten, die ich als katholischer Priester dem Volke gegenüber zu erfüllen habe, noch ein hohes politisches Interesse habe, so ist es gerade das, die Einheit Deutschlands hergestellt zu sehen. Sie würden aber sehr viele Männer, die mit Ihnen stehen würden, um mit Leib und Seele die Einheit Deutschlands zu begründen, auf das empfindlichste verletzen und sie nötigen, gegen Sie in die Schranken zu treten, wenn Sie Gesetze erlassen, die in die Gewissensfreiheit, in das Recht der Kirche eingreifen.“ Ketteier ging mit seiner nationalpolitischen Warnung noch einen Schritt weiter: „Wenn Sie diesen Weg nicht einschlagen, so werden Sie nie die wahre Einheit schaffen, Sie werden die Einheit Deutschlands im Prinzipe unmöglich machen.“
Am 26. September wurde beschlossen: „Das gesamte Unterrichts-und Erziehungswesen steht unter der Oberaufsicht des Staates.“ In namentlicher Abstimmung wurde anschließend mit der Mehrheit der Liberalen und der Linken von 316 gegen eine katholische und protestantische Minderheit von 74 Stimmen der Satz angenommen: „Das gesamte Unterrichts-und Erziehungswesen ist der Beaufsichtigung der Geistlichkeit als solcher enthoben.“ Es gelang schließlich der Minderheit, bei der zweiten Lesung am 15. Dezember eine Abmilderung dieses Satzes zu erreichen, indem zumindest für den Religionsunterricht die Schulaufsicht durch die Kirche erhalten wurde Mit einer knappen Mehrheit von 220 zu 218 Stimmen gelang es ferner in der zweiten Lesung, einen Antrag durchzubringen, der das Recht zur Errichtung von Privatschulen begründete Das Elternrecht, für das Ketteier so eindringlich plädiert hatte, wurde nicht als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen. § 155 RV dagegen konstituierte eine Pflicht der Eltern, für einen minimalen Schulunterricht der Kinder zu sorgen Seit jenem 26. September begannen sich die Wege der Liberalen und der Katholiken, die zu Anfang der revolutionären Bewegung des Jahres 1848 in ihrer Opposition gegen den Obrigkeitsstaat vieles gemeinsam gehabt hatten, in Deutschland zu trennen.
In gewissem Sinn war der spätere Kulturkampf der 1870er Jahre hier bereits vorgezeichnet Wie später auch in Frankreich, so stießen hier die unterschiedlichen Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und religiöser Gemeinschaft, die zwischen Liberalen und Katholiken bestanden, unversöhnlich aufeinander Seit den schweren Abstimmungsniederlagen im August und September verloren führende Katholiken das Interesse an der Nationalversammlung. Man fühlte sich ins nationale Abseits gedrängt. Ketteier legte im Januar 1849 sein Mandat nieder Das Mainzer Domkapitel, das Ketteier bei dessen Adventspredigten in Mainz 1848 kennenlernte, wählte ihn 1850 zum Bischof von Mainz. In den beiden folgenden Jahrzehnten wurde er der führende politische Sprecher des deutschen Katholizismus. Er brachte die deutschen Katholiken dazu, nach anfänglichem Widerstreben die „kleindeutsche“ Lösung der Bismarck-sehen Reichsgründung von 1871 zu akzeptieren. Während des Kulturkampfs der 1870er Jahre war er einer der führenden Verfechter der katholischen Interessen.
Unmittelbar im Anschluß an die Rede Kettelers vom 18. September verlas der Präsident der Nationalversammlung eine Eingabe, die ihm eine Depu-tation am Vortag überreicht hatte. Darin hieß es, „daß die Majorität von 258, welche in der Nationalversammlung am 16. d. Mts.den schändlichen Waffenstillstand angenommen hat, von dieser Volksversammlung hiermit für Verräter des deutschen Volkes, der deutschen Freiheit und Ehre erklärt“ wird. Die Nationalversammlung hörte sich diese. Anklage wegen Volksverrats durch Volksbeschluß widerspruchslos an und leitete die Eingabe an den Petitionsausschuß weiter.
Verrat an der Nation?
Bei dem „schändlichen Waffenstillstand“ handelte es sich um den Waffenstillstand von Malmö, den Preußen am 26. August 1848 mit Dänemark geschlossen hatte. Es ging um die schleswig-holsteinische Frage, die seit 1846 die deutschen Gemüter erregte. Der dänische König Friedrich VII., mit dem die beiden „Elbherzogtümer" in Personalunion verbunden waren, hatte angekündigt, Schleswig in das Königreich Dänemark einzubeziehen. Im April 1848 war Schleswig in den Deutschen Bund aufgenommen worden, nachdem der Landtag von Schleswig die dänische Herrschaft aufgekündigt hatte. Es ging also auch um „landständische“ Rechte. Deutsche Truppen unter preußischem Oberbefehl unter General von Wrangel fielen in Schleswig und Jütland ein, um die deutschen Interessen zu sichern. Die Militäraktion fand die begeisterte Zustimmung der deutschen Nationalbewegung, die auch für den raschen Aufbau einer deutschen Flotte Geld spendete.
Anfangs waren sich die demokratische Linke und die liberale Rechte der Paulskirche in ihrer nationalen Begeisterung für Schleswig-Holstein einig. Nach der Gründung der provisorischen Zentral-gewalt, der Bildung der Reichsregierung und der Auflösung der Bundesversammlung war der Einsatz Preußens in Dänemark automatisch eine Reichsangelegenheit geworden. Folglich befaßte sich auch die Nationalversammlung mit dem Waffenstillstand von Malmö. Preußen hatte den Waffenstillstand abgeschlossen, nachdem sich der Krieg als verlustreich erwiesen hatte. Durch die Sperrung des Sunds wurde die Ausfuhr aus den Ostseeprovinzen blockiert, und der Schiffsverkehr über die Ostseehäfen war zum Erliegen gekommen. Auch war der Krieg von der deutschen Bevölkerung Schleswigs keineswegs einhellig unterstützt worden. Ausschlaggebend für den preußischen Rückzug war aber auch die Furcht vor einer Intervention Rußlands und Englands sowie einer möglichen Ausweitung des lokalen Kriegs in eine größere Auseinandersetzung.
Die kontroversen nationalpolitischen Haltungen der Fraktionen wurden in den Debatten über den Waffenstillstand sichtbar, die mit zwei namentlichen Abstimmungen am 5. und am 16. September verbunden waren. Während bei der ersten Abstimmung eine Mehrheit von 238 Abgeordneten gegen 221 Stimmen den Waffenstillstand abgelehnt hatte, sprachen sich bei der zweiten 258 Abgeordnete bei 237 Gegenstimmen für den Waffenstillstand aus. Die Gegner des Waffenstillstands kamen bemerkenswerterweise hauptsächlich aus den Fraktionen der Linken, während die Fraktionen der Rechten und der Unabhängigen mehrheitlich für den Waffenstillstand votierten Das Auffallende an den Septemberdebatten über den Waffenstillstand ist, daß die Redner der Linken betont nationalistisch und idealistisch argumentierten, ständig die „deutsche Ehre“ beschworen, während die Redner der Rechten das nationale Pathos zu vermeiden suchten, die Bedeutung des Waffenstillstands herunterspielten und nicht zuletzt mit Blick auf eine mögliche größere Kriegsgefahr pragmatisch und realistisch argumentierten Es waren ausgerechnet Sprecher der konservativen Rechten, also nicht der Liberalen und der Linken, die in der dreitägigen Debatte vom 14. bis 16. September auf die Folgen der Fortsetzung oder gar Ausweitung des Krieges sowie auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung hinwiesen.
Die umstrittene Zustimmung zum Waffenstillstand am 16. September führte zu einer Kundgebung „auf der Pfingstweide“ am folgenden Tag, bei der die linken Abgeordneten Zitz, Schlöffel und Ludwig Simon vom „Donnersberg“ sprachen In der Nacht zum 18. rief die Reichsregierung, deren Leitung inzwischen der Österreicher von Schmerling anstelle des zurückgetretenen Leinigen übernommen hatte, preußische und österreichische Truppen in die Stadt Frankfurt. Dies löste die Barrikadenkämpfe des Frankfurter Aufstands aus, bei denen die beiden Abgeordneten der Rechten, von Auerswald und Lichnowsky, getötet wurden. Ein Versuch der Aufständischen, während der Schuldebatte am 18. von außen in die Paulskirche einzudringen, scheiterte an der entschlossenen Haltung und persönlichen Autorität des Präsidenten Gagern. Nach der Niederwerfung des Frankfurter Aufstands rief der aus der Schweiz zurückgekehrte von Struve in Lörrach am 21. September die „Deutsche Republik“ aus, wodurch der badische Aufstand ausgelöst wurde, der gleichfalls nach wenigen Tagen niedergeworfen wurde.
Diese Vorgänge im September zeigen, daß es zum Bruch zwischen der liberalen Mitte und der demokratischen Linken gekommen war, der sich auch auf den Fortgang der Verfassungsberatungen auswirken mußte. In der Fraktion „Donnersberg“ waren Stimmen laut geworden, die forderten, aus dem Parlament auszuscheiden Damals schrieb der 33jährige Otto von Bismarck in der „Kreuz-Zeitung“, dem Blatt der preußischen Konservativen: Fünf Monate habe die Frankfurter Nationalversammlung bisher zusammengesessen, „geschwatzt und beraten“ und nichts weiter zutage gefördert als „einen unermeßlichen endlosen Wortschwall“. Da hätte es „nur ein paar Bataillone preußischer und österreichischer Soldaten bedurft, um mit den Bajonetten das erste große Werk deutscher Einigkeit und Eintracht zustande zu bringen“
In seinem Buch über die Frankfurter Nationalversammlung setzt sich Frank Eyck sehr kritisch mit dem Verhalten der Linken auseinander: Die extremen Vertreter der Linken hätten ihre Politik in der Schleswig-Holstein-Frage als Teil eines umfassenderen Programms zur Einführung „einer radikalen Ordnung in Deutschland und Europa“ angesehen. Sie wären deswegen bereit gewesen, größere innen-und außenpolitische Konflikte zu riskieren. Man habe alles oder nichts gewollt und dabei nicht gezögert, selbst die Errungenschaften aufs Spiel zu setzen, die direkt oder indirekt von der Märzrevolution herrührten wie die Einrichtungen der Frankfurter Nationalversammlung oder der Zentralgewalt, wenn diese ihnen nicht genügend radikal erschienen
Politische Krisen
Vor dem Hintergrund der politischen Konflikte in Frankfurt, Wien und Berlin begann der Mythos der Paulskirche zu verblassen. Zunehmend legten Abgeordnete, die nicht in der Routine der parlamentarischen Arbeit aufgehen wollten, ihr Mandat nieder. Sie verstanden sich als Politiker durch Berufung, aber keineswegs als Berufspolitiker. Die weitere Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung wurde seit September 1848 zum Drama. Weder das Parlament noch die Frankfurter Reichs-regierung bestimmten fortan den Gang der Dinge. Sie konnten nur noch auf äußere Ereignisse reagieren. Dazu zählte der Aufstand in Wien, der zur Besetzung der Stadt durch General Windischgrätz führte; dieser ließ Robert Blum, der nach Wien gekommen war und sich an dem Aufstand beteiligt hatte, festnehmen und hinrichten. Blum wurde zum Märtyrer der Revolution, um den sich bald ein Mythos rankte. In Berlin erhielt der aus Dänemark zurückgekehrte General von Wrangel das Oberkommando der Marken und damit über die preußische Hauptstadt.
Die preußische Nationalversammlung wurde von Berlin nach Brandenburg verlegt und im Dezember aufgelöst. Anstelle der bisherigen liberalen Ministerien wurde in Berlin das reaktionäre Ministerium Brandenburg berufen. Die am 5. Dezember 1848 oktroyierte Verfassung lehnte sich allerdings weitgehend an den Verfassungsentwurf der Berliner Nationalversammlung, die sogenannte „Charte Waldeck“, an. Offensichtlich wollte man in Berlin noch nicht vollständig mit Frankfurt brechen. Während der Berliner Krisen im November waren mehrfach Politiker aus Frankfurt zu Gesprächen nach Berlin gereist, darunter Bassermann und Gagern, um einerseits der innenpolitischen Zuspitzung und einem Bruch zwischen Parlament und Krone entgegenzuwirken, andererseits aber auch, um Friedrich Wilhelm IV. für die Annahme der Kaiserkrone des künftigen deutschen Reichs zu gewinnen Aufgrund des Verhaltens Friedrich Wilhelms in den Märztagen konnte man annehmen, daß er nicht von vornherein ablehnend ein- gestellt war. Allerdings scheint die Militanz der Berliner Nationalversammlung, die die Abschaffung des Titels „von Gottes Gnaden“ beschlossen hatte, psychologisch entscheidend dazu beigetragen zu haben, daß er endgültig die Zusammenarbeit mit den Liberalen aufgab und sich dem Einfluß der konservativen Hofkamarilla öffnete So konnten auch Bassermann und Gagem in Berlin und Potsdam wenig erreichen.
Die Wiener Regierung hatte inzwischen den Prager Juni-Aufstand -übrigens weitgehend mit Zustimmung der Frankfurter Nationalversammlung, die in dem Aufstand der Tschechen einen Angriff auf die deutsche Einheit sah -durch General von Windischgrätz niederwerfen lassen. Im Juli und August hatten in Oberitalien die österreichischen Militärs unter General von Radetzky die italienische Widerstandsbewegung gegen die österreichische Herrschaft gebrochen und die Lombardei, Piemont und Venetien zurückerobert. Der Wiener Oktober-Aufstand, der ausgelöst wurde, um die Entsendung österreichischer Truppen nach Ungarn zu verhindern, war am 30. Oktober von Windischgrätz mit tschechischen und kroatischen Truppenteilen niedergeworfen worden. Gegen die Ungarn wurde der kroatische General Jelacic aufgeboten, doch zogen sich die Kämpfe noch monatelang hin. Erst im August 1849 wurden die Ungarn durch Truppen des russischen Zaren Nikolaus, die von Österreich erbeten worden waren, geschlagen. Nach der Niederwerfung des Wiener Aufstands wurde das im März eingesetzte liberale Ministerium durch das Ministerium Schwarzenberg (ein Schwager Windischgrätz’) abgelöst, das jetzt systematisch begann, die Errungenschaften der Revolution wieder abzubauen; es betrieb eine Politik, die auf die Wiederherstellung der sogenannten „Gesamtmonarchie“ hinauslief. Der verfassunggebende Reichstag war inzwischen von Wien in das böhmische Kremsier verlegt worden
Abschluß der Verfassungsberatungen
Vor dem Hintergrund der politischen Krisen in Berlin und Wien begann die Frankfurter Nationalversammlung am 19. Oktober mit der Beratung der Reichsverfassung, nachdem die erste Lesung der Grundrechte abgeschlossen war. Man beriet zunächst die Abschnitte über „Das Reich“ und „Die Reichsgewalt“. Sofort stellte sich erneut -und diesmal verstärkt -die grundsätzliche Frage, aus welchen Teilen eigentlich die Nation bestand. Das Problem war vor allem Österreich mit seinen deutschen und nichtdeutschen Ländern. Als aber der österreichische Ministerpräsident Fürst Schwarzenberg mit der Erklärung von Kremsier am 27. November ankündigte, daß Österreich als Gesamtstaat weiter bestehen werde, waren die bisherigen Frankfurter Pläne eines „Großdeutschen“ Reiches hinfällig. Gagern, anstelle des Österreichers Schmerling seit Mitte Dezember Ministerpräsident der Reichsregierung, versuchte jedoch weiterhin, eine Vereinbarung mit Österreich auszuhandeln. Darüber beriet das Parlament vom 11. bis 13. Januar.
Am 15. Januar begann die Debatte über das künftige Reichsoberhaupt. Die Gruppe der „Kleindeutschen“, die sich vor allem aus protestantischen, norddeutschen und preußischen Abgeordneten zusammensetzte, favorisierte die Konzeption des sogenannten „Erbkaisers“, eines von der Nationalversammlung zum Kaiser zu wählenden deutschen Fürsten, in dessen Haus sich die Kaiserkrone vererben sollte. Tatsächlich lief der Vorschlag auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. hinaus. Dagegen wandte sich die Gruppe der „Großdeutschen“, für die der Verbleib Österreichs im Reich unverzichtbar war. Zu den Großdeutschen zählten natürlich die österreichischen Abgeordneten, die meisten katholischen Abgeordneten, aber auch Abgeordnete der süddeutschen Liberalen wie der Dichter Ludwig Uhland aus Tübingen und Karl Welcker.
Die neuen Gruppierungen, die durch die unterschiedlichen Einstellungen zu Österreich zustande kamen, bewirkten eine Umschichtung in den bisherigen Fraktionen. Gemeinsam setzten Groß-deutsche und demokratische Linke am 2. März 1849 ein Wahlgesetz durch, das allgemeine, gleiche und geheime Wahlen vorsah. Als aber am 4. März in Österreich eine „Gesamtstaatsverfassung“ oktroyiert und der österreichische Reichstag am 6. März aufgelöst wurde, fiel das Lager der Groß-deutschen auseinander Man wertete das Vorgehen Österreichs als eine endgültige Absage an Deutschland. Am 12. März überraschte Welcker seine Freunde wie seine Gegner damit, daß er den Antrag einbrachte, die Verfassungsberatungen zu beenden, umgehend einen Entschluß über die Gesamtverfassung herbeizuführen und dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiser-krone anzubieten Der Verfassungsausschuß machte sich den Antrag Welckers zu eigen und beantragte, mehrheitlich so zu verfahren. Damit kamen die Verfassungsberatungen der Nationalversammlung im März 1849 zum Abschluß.
Vor der Abstimmung über den Antrag des Verfassungsausschusses und über die Minoritätsanträge kamen die jeweiligen Berichterstatter zu diesen Anträgen zu Wort. Der Richter Gottlieb Schüler aus Jena (Deutscher Hof) begründete den Minderheitsantrag der Linken, über die Verfassung nicht „in Bausch und Bogen“, sondern über die Paragraphen einzeln, aber ohne weitere Beratung abzustimmen. Die beantragte Generalabstimmung bedeute die Terrorisierung der Minderheit durch die Mehrheit. Ein solches Verfahren sei unparlamentarisch.
So würde beispielsweise eine größere Zahl von Abgeordneten der Linken durchaus für den preußischen Kaiser stimmen, wenn einzeln abgestimmt werde. Damit ergäbe sich eine größere Mehrheit für den preußischen König, für den auch Abgeordnete der Linken aus Preußen stimmen würden. Manche hätten von einer kühnen oder verwegenen Tat gesprochen. Aber was sei daran kühn oder verwegen, wenn man sich unter die preußischen Kanonen flüchte? „Ich fürchte, wir tun keine große, keine verwegene Tat, sondern wir machen etwas recht Kleines. Es sind die traurigen alten Zustände, in welche wir zurückgehen wollen. Wir wollen ein Schwert schaffen für Deutschland, aber ich fürchte, es wird nach wie vor gegen die Freiheiten des Volkes gerichtet sein.“ Man sei sich auch nicht sicher, ob der preußische König die erbliche Kaiserkrone annehmen werde. Er werde sie vermutlich annehmen, wenn sie ihm von den Fürsten angetragen werde, aber er wolle kein Kaiser sein, der mit demokratischem Öl gesalbt sei. „Es wird also nicht ein Kaiser des Volkes, sondern ein Kaiser der Fürsten sein.“ Hätte man einen Volkskaiser gewollt, so hätte man ihn aus einer kleineren Dynastie wählen müssen. Wie aber sehe es bei der Stimmung in der Bevölkerung für oder gegen einen Kaiser aus? „Welcher Teil des Volkes ist es, der den Kaiser will und ihn herbeiruft? Der Teil des Volkes, welcher sagt: , Ich wollt, es wäre Schlafenszeit und alles wär vorüber? Sie wollen ihn, um von Politik nichts mehr zu hören, sie haben ein Jahr lang genug davon reden hören . .. Das ist keine wachsende Idee, es ist ein Rückschlag, es ist die Ebbe, die nach der Flut folgt und die naturgemäß erfolgen mußte.“
Als letzter Redner dieser großen Debatte unmittelbar vor dem Beginn der Abstimmungen über die einzelnen Anträge sprach der Berichterstatter des Verfassungsausschusses Gabriel Riesser aus Hamburg, der kurz nach seiner Rede zugunsten der Judenemanzipation in der Aussprache über die Grundrechte zum Vizepräsidenten der Nationalversammlung gewählt worden war. Riesser ging noch einmal ausführlich auf verschiedene Punkte der Debatte ein. Als entscheidendes Argument für eine Einheit ohne Österreich führte er aus, daß es nicht möglich gewesen sei, ein nationales Parlament für Deutschland einschließlich DeutschÖsterreichs zu schaffen. Auf die Haltung der republikanischen Linken eingehend erklärte er, daß eine Einigung mit der liberalen Mitte offensichtlich nicht möglich sei, da die Linke grundsätzlich die Erbmonarchie ablehne. Dagegen wolle diese die konservative Rechte natürlich, aber sie wolle sie für alle Einzelstaaten, nicht als Gesamtregierung für das Reich und ziehe deshalb ein Direktorium der Fürsten vor. Damit werde aber das Prinzip der Einheit negiert. Beide Gruppen -die Republikaner wie die monarchistischen Partikularisten -wären wohl imstande, das Gesamtwerk zu verhindern, aber sie wären natürlich nicht in der Lage, positiv eine andere Verfassung zu schaffen. Eine andere Mehrheit als die jetzige für die Reichsverfassung sei deshalb unmöglich. Die einheitliche Monarchie sei das Heilmittel, um die alte deutsche Krankheit der Zersplitterung der Kräfte zu überwinden. Hierfür fände sich auch eine Mehrheit im deutschen Volk.
Preußen und Deutschland seien aufeinander angewiesen. Preußen sei letztlich ein Kunststaat, Deutschland dagegen ein Volksstaat. Der Name Preußen spreche den politischen Verstand an, der Name Deutschland aber spreche zugleich „zum Herzen“ Nun sei in dieser Debatte immer wieder mit „affektierter Geringschätzung“ auf das „Kleindeutschland von 32 Millionen“ hingewiesen worden. Wenn aber Preußen nach dem Frieden von Tilsit mit nur fünf Millionen Menschen zum politischen Hoffnungsträger Deutschlands geworden sei, dann würde auch ein Deutschland von 32 Millionen in Europa bestehen können. Riesser schloß mit dem Appell: „Bleiben Sie bei Ihrem Charakter, krönen Sie Ihr Werk, erfüllen Sie den alten, edlen Traum des deutschen Volkes von sei-ner Einheit, Macht und Größe, fassen Sie einen großen, rettenden weltgeschichtlichen Entschluß.“ Das Protokoll verzeichnete: „Tiefe Bewegung, stürmischer, anhaltender Beifall auf der Rechten und im Zentrum -Gelächter auf der Linken.“
Schließlich gelang es am 27. März, mit einem Votum von 267 gegen 263 Stimmen die Institution des „Erbkaisers“ zu schaffen. Noch am gleichen Tag wurde die Reichsverfassung beschlossen. Am 28. März wurde Friedrich Wilhelm IV. mit 290 Stimmen bei 248 Enthaltungen zum deutschen Kaiser gewählt. Dann trat das ein, vor dem viele Redner gewarnt hatten: Am 3. April empfing Friedrich Wilhelm IV. eine Deputation von 32 Frankfurter Abgeordneten. Er lehnte das Angebot der Kaiserkrone ab.
Die spätere Bismarcksche Reichsverfassung von 1871 übernahm dann bestimmte Elemente der Frankfurter Verfassung von 1849, so das demokratische Wahlrecht zum Reichstag für Männer, und sie setzte auch die Institution des preußischen Erbkaisers endgültig durch. Zwei entscheidende Einrichtungen der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 waren allerdings in der Reichsverfassung von 1871 nicht enthalten: die Grundrechte und die Verantwortlichkeit der Reichsregierung gegenüber dem nationalen Parlament. Der Beschluß der Nationalversammlung vom 27. März 1849 zugunsten der „preußichen Lösung“ der deutschen Frage schuf aber zweifellos eine wichtige Voraussetzung für die Bismarcksche Reichsgründung von 1871.
Von der deutschen Revolution von 1848/49 und der Frankfurter Nationalversammlung geht bis heute eine starke Faszination aus Was man in Frankfurt erreichen wollte, war der demokratische Nationalstaat. An dieser Aufgabe ist die Nationalversammlung gescheitert. Möglicherweise war diese Aufgabe unter den damals gegebenen Umständen auch tatsächlich nicht lösbar, und es ist zu Recht gesagt worden, daß ein Urteil über die deutschen Liberalen von 1848 dies mit einbeziehen muß Dennoch lassen gerade die abschließenden Debatten vor der Verabschiedung der Reichsverfassung, die weniger bekannt sind und die hier bewußt ausführlicher wiedergegeben wurden, den vorsichtigen Schluß zu, daß das Verfassungswerk nicht unbedingt hätte scheitern müssen.
Die Schlußabstimmung war eine Kampfabstimmung. In der vorausgegangenen Debatte hatten genügend Stimmen -von der Rechten bis zur Linken -davor gewarnt, daß die Lösung des „preußischen Kaisers“, den die schmale Mehrheit anstrebte, bei der späteren Umsetzung des Beschlusses scheitern mußte. Waren die liberal-konservativen „erbkaiserlichen“ Juristen, Historiker und Beamten tatsächlich, wie in der Debatte gesagt wurde, politisch müde geworden, so daß sie insgeheim die Symbiose von „Bürgerwelt und starkem Staat“ herbeisehnten?
Es ist der Frankfurter Nationalversammlung nicht gelungen, einen breiten Grundkonsens für eine parlamentarische Demokratie in Deutschland zu schaffen. Die deutsche Revolution und die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 sind nicht nur an den Fürsten und an der Reaktion gescheitert, auch wenn dieser Mythos liberales Traditionsgut geworden ist. Es war die Weimarer Nationalversammlung -weniger strahlend und weniger bedeutend als die Frankfurter, aber dafür demokratischer -, der es erstmals gelang, über die widerstrebenden politischen, sozialen und weltanschaulichen Lager der Deutschen hinweg, die 1919 nicht weniger wirksam waren als 1849, einen Grundkonsens der Demokraten zu schaffen und darauf die demokratische Verfassung der Nation aufzubauen. Aus beiden Verfassungstraditionen -der Frankfurter und der Weimarer -gingen das Bonner Grundgesetz von 1949 und die deutsche Einigung von 1990 hervor.