I. Gedenktage und Verträge
Es sind zumeist Gedenktage, an denen das „kollektive Gedächtnis“ eines Landes oder Volkes seine Wiederbelebung erfährt. Dies gilt sicher auch für den 40. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945. Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hielt vor dem Deutschen Bundestag eine im In-und Ausland vielbeachtete Rede in der er auch derjenigen Deutschen gedachte, denen mit dem Verlust ihrer Heimat „das Schwerste .. . abverlangt“ worden war. Ihnen sei „noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und schweres Unrecht widerfahren“; und er fügte selbstkritisch hinzu: „Um ihrem schweren Schicksal mit Verständnis zu begegnen, fehlt uns Einheimischen oft die Phantasie und auch das offene Herz.“
Das Staatsoberhaupt hätte dergleichen Ausführungen sicher unterlassen, wenn er nicht Grund gehabt hätte, an diejenigen Mitbürger zu erinnern, die den höchsten Preis für die verfehlte und verbrecherische Politik des Dritten Reiches zu zahlen gehabt hatten, nämlich die Heimatvertriebenen. Noch vierzig Jahre nach Kriegsende sah sich der Bundespräsident veranlaßt, sie gegen den ebenso törichten wie ungerechten Vorwurf des „Revanchismus“ in Schutz zu nehmen, und richtete an die Völker Europas die berechtigte Frage, ob man einem Volk trauen könne, „das imstande wäre, seine Heimat zu vergessen?“ Die „Heimatliebe eines Vertriebenen“ sei „kein Revanchismus“. Allerdings hatte er mit ebensolchem Recht kurz zuvor gemahnt: „Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das Schicksal nach dem 8. Mai hingetrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten leben, eine dauerhafte, politisch unangefochtene Sicherheit für die Zukunft zu geben. Dies heißt, den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen.“
Mit diesem entscheidenden Satz hatte Richard von Weizsäcker jedem Gedanken an eine Revision der deutschen Ostgrenze eine eindeutige Absage erteilt, aber erst fünf Jahre später konnte mit dem am 14. November 1990 von den Außenministern Genscher und Skubiszewski Unterzeichneten „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze“ ein Konfliktherd beseitigt werden, der die deutsch-polnischen Beziehungen 45 Jahre lang unheilvoll belastet hatte Ihm folgte am symbolträchtigen 17. Juni 1991 der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“, der u. a. die Rechte der noch im polnischen Staatsgebiet lebenden Deutschen festschrieb, deren Existenz man in Warschau bis zur „Wende“ beharrlich geleugnet hatte „Mit der Unterzeichnung dieses Vertragswerks zogen Deutschland und Polen den Schlußstrich unter eines der schwierigsten Kapitel ihrer Nachkriegs-geschichte.“
Die seit Jahrzehnten anhaltende Diskussion über die Oder-Neiße-Linie, die schließlich doch erfolgreiche Integration der Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft sowie die Lage der noch in Polen bzw. in der damals noch existierenden Tschechoslowakei verbliebenen Deutschen erwiesen sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als derart untrennbar miteinander verwoben, daß sich alle drei nur als ein Gesamtkomplex zureichend behandeln lassen, wenn man die Wahrnehmung von Flucht und Ver treibung in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute zutreffend beschreiben will. Dies wird u. a. auch daran deutlich, daß die Bundesregierung noch während der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Sommer 1990 glaubte, mit Rücksicht auf die Vertriebenenverbände äußerst vorsichtig taktieren zu sollen, bis ihr der amerikanische Präsident George Bush, einer der entschiedensten Förderer des deutschen Wiedervereinigungsprozesses, unmißverständlich erklären ließ, „daß die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze der Preis für die Wiedervereinigung sein würde“
Schon dem ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer war bewußt gewesen, daß er eine Wiedervereinigung Deutschlands nicht würde ablehnen können, hätten die Siegermächte die Anerkennung der Grenze an Oder und Neiße zur Bedingung gemacht. Noch deutlicher hatte sein außenpolitischer Berater Wilhelm Grewe bereits im Jahre 1960 formuliert: „Ich glaube, daß es überhaupt nur eine Aussicht gibt, das deutsche Volk mit einer Lösung zu versöhnen, die größere Gebietsopfer verlangen würde. Das wäre eine Verbindung der Grenzfrage mit einer positiven Regelung der Wiedervereinigungsfrage.“ Genau dies ist dreißig Jahre später in einer gänzlich veränderten außenpolitischen Situation Wirklichkeit geworden. Und diesmal war nicht, wie bei der Entstehung der Grenze an Oder und Neiße, über die Köpfe der Betroffenen -der Deutschen und Polen -hinweg, sondern mit ihrer Beteiligung gehandelt worden
Seit den Verträgen vom 14. November 1990 und vom 17. Juni 1991 ist das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen völkerrechtlich geklärt, die Oder-Neiße-Grenze ohne weiteren Rechtsvorbehalt von deutscher Seite als die Westgrenze Polens anerkannt. Damit wurde nun endlich auf beiden Seiten auch der Weg frei für eine emotionslosere Betrachtung der Vorgänge zu Kriegsende und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die nach dem Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden im besetzten Polen und an zahlreichen Polen zu Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen mit ihren grauenvollen Begleitumständen geführt haben. Bis dorthin mußten viele, von manchen Rückschlägen begleitete Anstrengungen unternommen werden, um den „Schutt wegzuräumen, den eine politisierende und ideologisierende Geschichtsschreibung aufgetürmt hat“ Im Verhältnis zur Tschechischen Republik scheinen die beiderseitigen Verletzungen und Ressentiments einstweilen noch schwerer zu wiegen. Aber auch hier ist man sich bewußt, daß -wie es in der „Deutsch-Tschechischen Erklärung“ vom 21. Januar 1997 heißt -„der gemeinsame Weg in die Zukunft ein klares Wort zur Vergangenheit erfordert“
II. Die Ausgangslage: Flucht, Vertreibung und Integration
Stellt man sich vor diesem Hintergrund über fünfzig Jahre nach Kriegsende die Frage nach der Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung in der deutschen Nachkriegsgeschichte, so wird erkennbar, welch weiter „Weg nach Osten“ inzwischen zurückgelegt worden ist Als Millionen enteigneter und vertriebener Menschen im durch Bomben-krieg und Kriegsschäden zerstörten Rest-Deutschland eintrafen und zunächst notdürftig in Lagern und Behelfsunterkünften untergebracht und versorgt werden mußten, ging es für einen großen Teil der deutschen Bevölkerung nicht selten um das nackte Überleben Der Osteuropahistoriker Dieter Bingen, der kürzlich -ob berechtigt oder nicht, wäre noch zu erörtern -von deutschen „Verdrängungsleistungen nach 1945“ gesprochen hat, konnte immerhin nachvollziehen, „daß die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR vollauf mit dem Wiederaufbau, der Schaffung von beruflichen und familiären Existenzen beschäftigt waren und in jedem zusätzlichen Nachbarn aus dem Osten instinktiv und fälschlich eine unerwünschte Belastung sahen, obwohl die Zuwanderung eine ökonomische Bereicherung und schließlich ein Grundstein für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg wurde“
Bevor dies jedoch gelingen konnte, galt es für die Heimatvertriebenen in beiden Teilen des geschlagenen Deutschland eine Phase bitterster Not und Entbehrung zu durchleben, die in vielen von ihnen traumatische Erinnerungen wachhielt Nicht wenige von ihnen fanden zunächst keinen ihrer beruflichen Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz und mußten vor allem in ländlichen Regionen oft genug und meist widerwillig weniger angesehene Tätigkeiten ausüben Auch die Währungsreform von 1948, die das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ initiierte, benachteiligte die Flüchtlinge, da diese im Gegensatz zu den Einheimischen über keine Sachwerte verfügten und das von ihnen eventuell gerettete Bargeld über Nacht seinen Wert verlor. Erst mit der 1952 einsetzenden, anfangs heftig umstrittenen Lastenausgleichsgesetzgebung begann die wirtschaftliche und soziale Integration der Heimatvertriebenen, die mit der Auflösung des nicht zuletzt für diese Fragen zuständigen Bundesvertriebenenministeriums nach dem Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt auch äußerlich als abgeschlossen gelten konnte Wohl eigentlich das größte Nachkriegswunder, die friedliche Integration der etwa zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen, war damit Wirklichkeit geworden.
Schon als Eugen Lemberg und Friedrich Edding im Jahre 1959 ihr im Auftrag der Bundesregierung erarbeitetes voluminöses dreibändiges Standardwerk: „Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben“ vorlegten, wurde von vielen Beobachtern im In-und Ausland die Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in die junge Bundesrepublik als nunmehr vollzogen angesehen. Zwanzig Jahre später schrieb der damalige Staatssekretär im Innenministerium, Siegfried Fröhlich, in seinem Vorwort zu dem von Hans Joachim von Merkatz herausgegebenen Sammelband mit dem ein glückliches Resultat konstatierenden Titel „Aus Trümmern wurden Fundamente. Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler. Drei Jahrzehnte Integration“: „Sie leben politisch, beruflich und materiell nicht anders als die Deutschen, die hier schon seit Generationen ansässig sind. Daß dies gelingen konnte, ist das eigentliche Wunder unserer Nachkriegsgeschichte.“ Spätestens Ende der sechziger Jahre galt die Eingliederung von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen in die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik mithin -wie übrigens schon zu Beginn der fünfziger Jahre in der DDR -als abgeschlossen, und folglich verschwand dieses Thema auch als Forschungsgegenstand weitgehend aus dem wissenschaftlichen Schrifttum
Es bedurfte eines weiteren zeitlichen Abstands von mehreren Jahren, um zu erkennen, daß mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen nur ein, wenn auch besonders wichtiger Aspekt dieses säkularen Vorgangs beschrieben worden war. Die von Dieter Bingen angesprochenen Probleme haben deshalb ihre Bedeutung bis heute nicht eingebüßt, wenn er u. a.fragt, ob es jemals in den vergangenen Jahrzehnten eine angemessene mentale Bewältigung, d. h. eine historische und kulturelle Wahrnehmung des Verlustes in seiner säkularen Dimension gegeben hat. Sicherlich steht hier die wirkliche Auseinandersetzung noch aus. Daß aber -inzwischen auch in internationaler Kooperation -Schritte in diese Richtung unternommen werden, ist seit kurzem vor allem infolge des politischen Umbruchs der Jahre 1989/90 in Ostmitteleuropa kein Wunschbild mehr. Allerdings gilt nicht minder, daß „die deutsche Geschichtswissenschaft ... dieses dunkle Kapitel der Zeitgeschichte schon sehr früh zu behandeln und darzustellen begonnen (hat), und seit gut dreißig Jahren sind zahlreiche Bücher erschienen, die sich mit dem Vorgang der Vertreibung und dem Schicksal der Vertriebenen befassen und sich bemühen, diese Ereignisse in ihrem größeren weltpolitischen Zusammenhang zu sehen, um zu erforschen, wie es dazu gekommen ist“ Es ist daher eben doch die Frage, ob die Vertreibung der Deutschen „ein unbewältigtes Kapitel europäischer Zeitgeschichte“ geblieben ist
III. Neubewertung des Vertriebenenproblems
Der auch außerhalb Deutschlands als eindrucksvollste Leistung gewürdigten friedlichen Integration ist gerechterweise auch die unter ungleich ungünstigeren Voraussetzungen in der SBZ/DDR vollzogene an die Seite zu stellen Im Westen kontrastierte allerdings für manche kritische Beobachter die vielzitierte „Charta der Heimat-vertriebenen“ vom 5. August 1950 und der darin ausgesprochene Gewaltverzicht mit dem beanspruchten „Recht auf die Heimat“ als einem Menschenrecht, dessen Inanspruchnahme man gelegentlich als Ausdruck von „Revanchismus“ oder zumindest „Revisionismus“ hat mißdeuten wollen und denn auch als eine „Mischung aus Radikalität und Mäßigung“ bezeichnet hat Es dürfte dennoch feststehen, daß nicht zuletzt deren Initiatoren mit dafür gesorgt haben, daß sich die deutschen Heimatvertriebenen von Anfang an für eine gewaltfreie, demokratische Politik entschieden haben.
Die bundesdeutsche Politik sowie die öffentliche Meinung der ersten Nachkriegsjahre haben den Anspruch der Heimatvertriebenen vor allem mit Rücksicht auf deren Wählerpotential unterstützt indem sie vom Fortbestand des Deutschen Reiches in seinen Grenzen von 1937 ausgingen und vor allem den Betroffenen auf diese Weise das Gefühl vermittelten, daß die „deutsche Frage“ weiterhin „offen“ sei, was aber aus der Rückschau betrachtet zu keiner Zeit tatsächlich der Fall gewesen zu sein scheint.
Die den Heimatvertriebenen über Jahrzehnte hinweg gewährte, mehr oder weniger rhetorische Unterstützung („Sonntagsreden“) mußte bei ihnen Illusionen wachhalten, die der Wirklichkeit nicht entsprechen konnten. Es war dies auch die Zeit der entsprechend dem Vorbild derartiger Aktivitäten nach den Gebietsverlusten nach dem Ersten Weltkrieg installierten, bis heute bestehenden und im allgemeinen gut funktionierenden Patenschaften für die ostdeutschen Landsmannschaften, Städte und Kreise. „Dazu gehörten ebenso selbstverständlich die Vertriebenen-Kreuze und -Gedenkstätten wie die Benennung von Siedlungen, Straßen und Autobahn-Raststätten nach Landschaften, Städten oder Repräsentanten der Vertreibungsgebiete.“
Golo Mann hat dieses Spannungsverhältnis von realer Integration und dem Bemühen um Erinnerung in seiner weit verbreiteten „Deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert“ schon 1958 im ganzen zutreffend beschrieben, indem er darauf hinwies, daß -anders als die mit Recht bewunderte wirtschaftliche Eingliederung -die moralische und politische Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen weit weniger gelungen sei, denn: „Schlesien und Preußen, das waren Landschaften von ausgeprägter Kultur und Eigenart gewesen, in ihrem deutschen Charakter um 1 000 Jahre jünger zwar als Rheinland und Schwaben, aber um dessentwillen nicht weniger deutsch. Niemand konnte es den Vertriebenen verdenken, daß sie der formalen Anerkennung oder Billigung des ihnen angetanen Unrechts erbitterten Widerstand entgegensetzten, daß die Vertreibungen fortwirkten, wie eine schwärende Wunde.“ Allerdings war es durchaus auch problematisch, „daß man den deutschen Taten, welche dem Verbrechen vorangegangen waren, ein äußerst geringes Interesse entgegenbrachte“ -eine Argumentation, die die Debatte auch heute noch, beherrscht.
IV. Annäherungen im Zeichen der sozialliberalen Koalition
Angesichts der weltweiten Entspannungspolitik seit Beginn der siebziger Jahre mußte die Regierung in Bonn darauf bedacht sein, nicht durch ein unbewegliches Beharren auf (formal durchaus korrekten) Rechtsansprüchen in die außenpolitische Isolation zu geraten Schon etwas früher hatten in der Bundesrepublik unterhalb der Regierungsebene Gruppen aus Kultur und Kirche Initiativen in Richtung auf einen Ausgleich Deutschlands mit Polen und Tschechen entwickelt, von denen die 1965 publizierte Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ am Beginn einer heftigen innenpolitischen Auseinandersetzung stand, der deutschen Öffentlichkeit aber immerhin die Erkenntnis vermittelte, daß „weder von der öffentlichen Meinung noch von den Regierungen der westlichen Länder ... Unterstützung für eine Revision der im Potsdamer Abkommen gezogenen Grenzen zu erwarten“ war und der ideologische Gegensatz zwischen Ost und West in diesem Fall keine Rolle spielte. Wenige Wochen später folgte der noch weit spektakulärere Briefwechsel der katholischen Bischöfe der vor allem im regierungsamtlichen Polen heftig kritisiert wurde. Andere Aktionen wie beispielsweise diejenige der im „Bensberger Kreis“ vereinigten katholischen Laien schlossen sich an. In ihrem „Memorandum“ wurde das Heimatrecht im übrigen sehr ernst genommen. Dort hieß es u. a.: „Niemand soll gegen seinen Willen aus dem Land, das er bewohnt, aus dem persönlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebenszusammenhang, in dem er aufgewachsen ist und sein Leben entfaltet hat, herausgerissen werden.“
Zwar erhielten gleichwohl auch die „Bensberger“ heftige Kritik der Vertriebenenpresse, doch begann sich von nun an ein „durchgreifender Kurs-wandel der gesellschaftlichen, publizistischen und politischen Eliten der Bundesrepublik Deutschland“ abzuzeichnen. Erst heute wissen wir, daß die genannten Dokumente mit den Weg zur soge-nannten „neuen Ostpolitik“ geebnet haben, der von der seit 1969 amtierenden sozialliberalen Bundesregierung nunmehr entschlossen eingeschlagen wurde Diese Politik wurde von der Gesellschaft der Bundesrepublik und ihrer öffentlichen Meinung, wie sie sich in den Massenmedien artikulierte, mehrheitlich unterstützt. Die einflußreiche überregionale Publizistik wie „Spiegel“, „Zeit“ und „Stern“ sprach sich für eine „Normalisierung“ im Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarn unter „Anerkennung der Realitäten“, d. h. unter Verzicht auf jeden Versuch einer Grenzrevision, aus, der ohnehin nur gewaltsam zu realisieren gewesen wäre.
Die Sprecher der deutschen Vertriebenen gerieten mehr und mehr in die Isolation. Es sollte sich dennoch verbieten, von „Tabuisierung“ oder gar „Diffamierung“ der Vertriebenen und ihres Schicksals zu sprechen, auch wenn einige Kommentare in den Massenmedien diesen Eindruck vermittelt haben mochten. Worüber sich die Flüchtlinge und Vertriebenen allerdings mit Recht beklagten, war, daß man in der Öffentlichkeit immer weniger von dem von ihnen erlittenen Schicksal Kenntnis zu nehmen bereit war, das sie stellvertretend für das ganze Volk hatten erleiden müssen, und daß die öffentliche Meinung sie vielmehr im Laufe der Jahre immer mehr als „Störenfriede“ und „Ewig-Gestrige“ wahrzunehmen begann. Angesichts der inzwischen vorliegenden umfangreichen Literatur dürfte es sich erübrigen, die einzelnen Schritte, die zum „Normalisierungsvertrag“ mit Polen vom 7. Dezember 1970 und zum „Prager Vertrag“ vom 11. Dezember 1973 geführt haben, nochmals nachzuzeichnen Es spricht aber alles dafür, daß sich Regierung und Opposition ihre Entscheidung zum Verzicht nicht leichtgemacht und die begreiflichen bitteren Empfindungen der Heimatvertriebenen -die sehr wohl wußten, daß trotz aller Rechtsvorbehalte an der Endgültigkeit der polnischen Westgrenze nicht länger gezweifelt werden konnte -durchaus gewürdigt haben. Man hat jüngst nicht mit Unrecht sogar von einer „Sternstunde der deutschen Parlamentsgeschichte“ gesprochen Allerdings bedeutete es für die Betroffenen eine herbe Enttäuschung, daß sich auch die oppositionellen Christdemokraten und Christsozialen, bei denen sie ihre Interessen am ehesten aufgehoben glaubten, ihren Vorbehalten entzogen und sich der Stimme enthielten, um nicht das ganze Vertragswerk zu Fall zu bringen, wenn sie auch in einem Entschließungsantrag immerhin feststellten: „Durch die Verträge dürften Vertreibungen weder legitimiert noch legalisiert werden.“ Noch im Jahre 1987 erkärte einer ihrer Sprecher voller Erbitterung: „Das , Jein‘, die Stimmenthaltung am denkwürdigen 17. 5. 1972 der CDU/CSU-Fraktion unter Führung des Oppositionsführers Rainer Barzel, des aus Ostpreußen stammenden politischen Enkels Adenauers, hat unsere ostdeutsche Arbeit erschwert und um Jahrzehnte zurückgeworfen.“
V. Die Krise der Vertriebenenorganisationen
Als diese zornerfüllten Zeilen geschrieben wurden, hatte sich die innenpolitische Landschaft in der Bundesrepublik längst ein weiteres Mal geän-dert, da die sozialliberale Koalition, der man gelegentlich wegen ihrer angeblichen Politik des Verdrängens und Verdeckens besonders schwere Vorwürfe meinte machen zu müssen, schon fünf Jahre zuvor auseinandergebrochen war und einer Neuauflage des christlich-liberalen Bündnisses Platz gemacht hatte. Noch einmal mochten einige Vertreter der Vertriebenenverbände geglaubt haben, der Regierungswechsel werde ihnen eine stärkere Berücksichtigung ihrer Interessen eintragen, und in der Tat deuteten einige Schritte der neuen Regierung in diese Richtung: So erschien zwei Jahre nach dem Antritt der Regierung unter Helmut Kohl ein unveränderter Nachdruck der umfassenden „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, der jüngst ein weiterer folgte 1989 konnte auch die Dokumentation des Bundesarchivs über „Vertreibung und Vertreibungsverbrechen“ aus dem Jahre 1974 erscheinen, die seinerzeit aus politischen Rücksichten zurückgehalten worden war Bei den Vertreibungsverbrechen handelt es sich in der Tat noch am ehesten um ein bis heute in der Öffentlichkeit tabuisiertes Thema, das vermutlich gerade deswegen in der den Vertriebenenorganisationen nahestehenden Publizistik pointierte Darstellungen hervorgebracht hat
Wahrscheinlich hat die trügerische Hoffnung, nach „ 20jähriger planmäßiger Diffamierung vor allem durch die Massenmedien und allgemeiner Verdrängung“ endlich wieder Gehör zu finden, führende Vertriebenenpolitiker dazu veranlaßt, für das Bundestreffen der Schlesischen Landsmannschaft zu Pfingsten 1985 in Hannover das Motto: „Vierzig Jahre Vertreibung -Schlesien bleibt unser!“ zu wählen und den Bundeskanzler, der eine Einladung zur Festansprache erhalten und bereits angenommen hatte, damit in erhebliche innenpolitische Schwierigkeiten zu bringen. Diese ließen sich erst nach langen Querelen und nur durch eine Modifizierung der Tagungslosung, die schließlich lautete: „ 40 Jahre Vertreibung -Schlesien bleibt unsere Zukunft im Europa freier Völker“, aus der Welt schaffen.
In der Rückschau wird man sagen müssen, daß diese Aktion der „Landsmannschaft Schlesien“ eher kontraproduktiv gewirkt hat. Paradoxerweise nämlich gerieten die Vertriebenenorganisationen in einem Augenblick in ihre bisher tiefste -nicht eben unverschuldete -Krise, als das Thema: „Flucht -Vertreibung -Integration“ in Publizistik und Forschung seine unvermutete Wiederbelebung erfuhr, die bis heute im Grunde unvermindert andauert. Der erwähnten Neuauflage der für alle späteren Darstellungen grundlegenden „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ war schon seit etwa 1980 in rascher Folge eine Reihe eher populär gehaltener Sammelbände vorausgegangen bzw. gefolgt, die ein breites Publikum zu erreichen suchten und teilweise den schriftlichen Niederschlag von Fernsehsendungen darstellten Ihr Umfang und ihre reiche dokumentarische Ausstattung sowie ihre offensichtlich weite Verbreitung dürften wesentlich dazu beigetragen haben, den Vorwurf, eine von „linken Kräften“ dominierte deutsche Öffentlichkeit habe sich dieses emotionsgeladenen Themas absichtlich nicht angenommen, einigermaßen zu entkräften.
VI. Der Neubeginn der Vertriebenenforschung
Diesen Publikationen, die bewußt auf Breitenwirkung angelegt waren, folgten auf dem Gebiet der Wissenschaft die ersten Ansätze einer Neubewertung der Vertriebenenproblematik im Zeichen einer interdisziplinären Kooperation von Forschern aus den Bereichen Zeitgeschichte, Ethnologie, Statistik, Volkskunde, Soziologie und Kultur-geschichte, deren fruchtbares Zusammenwirken seinen überzeugenden Ausdruck in einem 1986 in Göttingen veranstalteten Kolloquium fand In ihrer Einführung zu dieser Tagung, die bestrebt war, die Ergebnisse der bisherigen Flüchtlingsforschung zu mustern und ihre Defizite zu benennen, hat eine der Herausgeberinnen mit großer Einfühlsamkeit -ganz im Sinne der Rede Richard von Weizsäckers zum 8. Mai 1945 -ihre Kollegen aufgefordert, „zu akzeptieren, daß Flucht und Vertreibung durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft über große Teile Europas verursacht worden sind“, um dann fortzufahren: „Dazu gehört aber auch, begreifen zu lernen, daß wir es u. U. nur auf Teilbereiche bezogen mit einer , Erfolgsgeschichte der Integration der Flüchtlinge in die angebliche Normalität der neuen Heimat zu tun haben, darüber hinaus aber auch mit einer andauernden Leidensgeschichte. Die Nichtakzeptanz dieser Leidensgeschichte wäre dann ein weiteres Kapitel der Unfähigkeit der Deutschen, Trauerarbeit zu leisten: wie gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus nun auch gegenüber den Opfern seiner Folgen.“
Der die Ergebnisse des genannten Kolloquiums dokumentierende Sammelband steht gewissermaßen am Neuanfang der wissenschaftlichen Vertriebenenforschung, die sich inzwischen nach einer nicht zu leugnenden Phase der Stagnation wenigstens partiell von der für das bundesrepublikanische Selbstverständnis bis in die sechziger Jahre hinein möglicherweise sogar überlebensnotwendigen „Erfolgsgeschichte“ entfernt hat. Jedenfalls könne sich seriöse Forschung -so ist damals mit Recht gesagt worden -nicht länger auf der „breiten Prozessionsstraße freudiger Selbstbestätigung“ bewegen und müsse sich fragen lassen, ob denn der Weg der Vertriebenen und Flüchtlinge in ihre neue Heimat, d. h. die Integration wirklich so zielsicher und geradlinig verlaufen sei, wie dies aus der Rückschau oftmals tatsächlich den Anschein gehabt habe Vielleicht -so hat man wohl nicht zu Unrecht vermutet -habe man es bei diesem Vorgang nicht selten eher mit Unterschichtungsprozessen zu tun, die erst an ihr Ende gelangten, als sich Einheimische und Fremde in einem neuen „Wir-Gefühl“ gegen die neuen Zuwanderer in Gestalt der ausländischen Gastarbeiter zusammen-fanden. Auch eine der jüngsten Analysen kommt zu dem Ergebnis, daß der Anfang der sechziger Jahre einsetzende ökonomische Aufschwung „zu einer raschen und dauerhaften wirtschaftlichen Eingliederung am Vorabend einer massenhaften Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte in die Bundesrepublik“ geführt habe, „die den häufig deklassierten Flüchtlingen Aufstiegschancen mittels einer neuen Unterschichtung boten“
Diesem Neubeginn der Vertriebenenforschung mit seinen immer differenzierteren Ansätzen folgte eine beeindruckende Fülle von Untersuchungen zur Integrationsproblematik, die im einzelnen aufzulisten an dieser Stelle unmöglich ist; doch dürfte es an Selbstbetrug grenzen, wollte man weiterhin an eine Marginalisierung oder gar Verdrängung der Flüchtlingsthematik glauben Zu welchen Resultaten die auf diesem Gebiet seither unternommenen Anstrengungen geführt haben, läßt auch eine Tagung deutlich erkennen, die neun Jahre später in Bad Homburg -nun schon unter gänzlich veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen -eine neue Forschergeneration zusammenführte
VII. Die Vertriebenenproblematik nach der „Wende“ 1989/90
In gewissem Sinne stellt das Jahr 1985 -das vierzigste Jahr des Kriegsendes -auch in Hinsicht auf die Vertriebenenproblematik und ihre Erforschung eine „Epochenwende“ dar. Noch einmal wurden in diesem Jahr führende Vertriebenen-funktionäre mit umfangreichen Festschriften geehrt aber in der Weltpolitik zeigten sich bereits die ersten Ansätze von Vorgängen, die fünf Jahre später zum Ende des Ost-West-Konflikts und zum Zusammenbruch des sozialistischen Lagers führen sollten. So zutreffend es sein mag, daß die eingangs erwähnte Rede Richard von Weizsäckers sowie der seit den späten achtziger Jahren anschwellende Zustrom von Spätaussiedlern vor allem aus Polen und der Sowjetunion bei vielen Deutschen die Erinnerung an die unmittelbare Nachkriegszeit wieder wachrief, so wurde doch wieder einmal die weltpolitische Entwicklung ausschlaggebend, für die der Name des ebenfalls 1985 an die Macht gelangten Michail Gorbatschow steht.
Es war nun nicht mehr die deutsche Nachkriegsgesellschaft in beiden deutschen Staaten allein, die sich ihrer jüngsten Vergangenheit stellen mußte. Hatte man schon den Deutschen eine Unfähigkeit zur „Trauerarbeit“ nachgesagt, so war das Thema „Flucht und Vertreibung der Deutschen“ bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems an der „Wende“ der Jahre 1989/90 bei Polen und Tschechen erst recht mit einem absoluten Tabu belegt worden. Wie bekannt, waren es die Polen, die durch die „Erfindung“ des „Runden Tisches“ und die Wahl des ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten der Nachkriegszeit, Tadeusz Mazowiecki, den ersten Stein aus dem anscheinend so festgefügten Gebäude des Sowjetblocks herausbrachen, was wenig später das ganze Gebäude zum Einsturz brachte. Sie waren es auch, die schon geraume Zeit vor dem Untergang des in den späten achtziger Jahren in bleierne Agonie verfallenden Kommunismus die „Öffnung nach Westen“ unterhalb der offiziellen Beziehungen vollzogen hatten und auf zahlreichen Ebenen mit ihren deutschen Gesprächspartnern in Kontakt getreten waren
Eine ungemein folgenreiche Intensivierung erfuhren diese Beziehungen, als sich der Börsenverein des deutschen Buchhandels dazu entschloß, seinen Friedenspreis des Jahres 1986 an den seit der Unterdrückung der Freiheitsbewegung „Solidarität“ 1980/81 in der Bundesrepublik Deutschland lebenden polnischen Historiker und Publizisten Wladyslaw Bartoszewski zu vergeben und damit eine Persönlichkeit zu ehren, die in den Folgejahren zu einem Protagonisten der deutsch-polnischen Annäherung und Aussöhnung werden sollte. In seiner Heimat erfuhr man allerdings nichts von dieser Auszeichnung, und so war es notgedrungen Bartoszewskis ganz persönliche Meinung, die er in seiner Dankesrede zum Ausdruck brachte, als er auf das für Deutsche wie für Polen gleichermaßen brisante Thema „Flucht und Vertreibung“ zu sprechen kam. Seine am 5. Oktober 1986 in der Frankfurter Paulskirche gesprochenen Worte bedeuteten in vieler Hinsicht einen psychologischen Durchbruch im Verhältnis der beiden Völker zueinander und verdienen, wörtlich wiedergegeben zu werden: „Flüchtlinge, Heimatvertriebene, Umsiedler, Spät-aussiedler -sie alle gehören zu den Opfern des Krieges ebenso wie jene Polen, die infolge des Zweiten Weltkrieges ihre eigentliche Heimat in Lemberg, Wilna und anderswo im europäischen Osten verloren haben. Die tragisch verwickelten historischen und politischen Umstände führten dazu, daß die Polen vielleicht besser als viele andere Völker in Europa in der Lage sind, die Leiden und Schwierigkeiten der Menschen zu verstehen, die gezwungen waren, ihre Heimatorte zu verlassen. Sie verstehen auch das Problem der Spaltung eines Volkes, weil sie sie selbst erlebt haben. Den Menschen ihre unmittelbare Heimat zu entziehen ist nie eine gute Tat, sondern immer eine böse Tat, selbst wenn man keinen Ausweg aus einer bestimmten historischen und politischen Lage sieht.“
Die „linker“ Neigungen gewiß unverdächtige „Welt“ nannte diese Passagen der Rede „eine sehr weise Antwort, Bestätigung und Ergänzung zu den bemerkenswerten Formulierungen, die schon der Bundespräsident in seiner Gedenkrede zu diesem Thema gefunden hatte“
VIII. Die deutsche Minderheit in Polen
Aber auch Bartoszewski wußte, daß die Aussöhnung von Völkern ein schwieriger und langwieriger Prozeß ist. Das Hauptproblem war vor allem die Existenz einer starken deutschen Restbevölkerung in Oberschlesien, deren Vorhandensein Regierung und kirchliche Hierarchie in Warschau beharrlich bestritten Als sich am 8. Mai 1985 der Jahrestag der deutschen Kapitulation zum 40. Mal jährte, hielt der damalige polnische Staatschef Wojciech Jaruzelski anläßlich des zentralen Festaktes zum Gedenken an die „Wiedergewinnung“ der früheren deutschen Ostgebiete durch Polen eine sehr andere Rede als sein deutsches Gegenüber in Bonn, indem er erklärte, das Problem einer deutschen nationalen Minderheit habe endgültig zu bestehen aufgehört. „Dieses Kapitel ist für immer abgeschlossen.“ Und bereits im Vorjahr hatte das geistliche Oberhaupt der polnischen Katholiken „mit der ihm eigenen Sensibilität für die Gefühle anderer Nationen“ behauptet, „daß keine Deutschen mehr in Polen übrig wären und wenn, sollten sie froh sein, Polen zu sein“ -eine Äußerung, die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit begreiflicherweise heftige Reaktionen auslöste Freilich vermochten weder der Bischof noch der General, noch die Massenaussiedlung deutsch-stämmiger Oberschlesier oder die gesellschaftliche Organisation dieser Personengruppen in Form von „Deutschen Freundeskreisen“ auf die Dauer zu verhindern.
Hier nun schaltete sich der Bund der Vertriebenen nochmals ein, indem er nach der „Wende“ durch ostensible Förderung und Beeinflussung der deutschen Minderheit in seinem Sinne -u. a. mit der Aktion „Frieden durch freie Abstimmung“ -auf die außenpolitischen Entscheidungen der Bundesregierung Einfluß zu nehmen versuchte. Diese Aktivitäten beendete jedoch Bundeskanzler Kohl, als er am 5. August 1990 anläßlich der 40-Jahres-feier der „Charta der Heimatvertriebenen“ erklärte, die polnische Westgrenze stünde nicht mehr zur Disposition, sie sei der Preis für die deutsche Einheit.
Der eingangs erwähnte Vertrag vom 14. November 1990 hat inzwischen jede Diskussion auf völkerrechtlicher Ebene beendet; auf der anderen Seite hat die Bundesregierung beträchtliche Mittel aufgewendet, um die deutsche Minderheit in Polen gemäß den Bestimmungen des Freundschaftsvertrags vom 17. Juni 1991 zu unterstützen Dabei wurde dieser Minderheit auch die Rolle zugedacht, gewissermaßen eine Brückenfunktion zwischen Deutschen und Polen zu übernehmen, was aber bei den Oberschlesiern im Gefühl des ihnen über vierzig Jahre lang angetanen Unrechts noch nicht recht gelingen will. Das sollte nicht verwundern. Sehr mit Recht ist gesagt worden: „Die Deutschen, die in den Grenzen Polens nach 1945 lebten, sind in einer Dauerhaftigkeit und Intensität zu Opfern der deutschen Gewaltpolitik und der Sühne für das anderen Völkern angetane Unrecht geworden, vor der die Deutschen in den heutigen Grenzen Deutschlands bewahrt wurden. Die Deutschen in Polen wurden zu Fremden im zuvor eigenen Land. Zu der politischen Instrumentalisierung der Geschichtsschreibung und zur unduldsamen katholischen , Wiedergewinnungs‘-Formel mit Blick auf die ehemals vorwiegend protestantischen deutschen Provinzen kam die Entwurzelung deutscher Kulturgüter in Pommern, Schlesien, in der Neumark und in Ostpreußen von ihrer Geschichte.“
Es ist demnach immer noch das Trauma von „Flucht und Vertreibung“, das die deutsch-polnischen Beziehungen vor allem im psychologischen Bereich auch über fünfzig Jahre nach Kriegsende hinaus nach wie vor belastet. Dabei scheint die Hauptschwierigkeit des Einander-nicht-verstehen-Könnens oder -Wollens darin zu bestehen, daß große Teile der deutschen Vertriebenen in der Vergangenheit die von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im östlichen Europa verübten Untaten verdrängt oder mit dem ihnen selbst zugefügten Unrecht verrechnet haben. Die polnische öffentliche Meinung neigt demgegenüber ihrerseits auch heute noch mehrheitlich dazu, die den Ostdeutschen im Zuge ihrer Vertreibung bzw. Zwangsaussiedlung zugefügten Leiden als die verdiente Strafe für ihre dem eigenen Volk während des Zweiten Weltkriegs angetanen Demütigungen, Übergriffe und Morde anzusehen
Daß sich deswegen zwischen dem Empfinden der jeweiligen Bevölkerung und den -nach und nach schon gemeinsam erarbeiteten -Erkenntnissen der zeitgeschichtlichen Forschung in Hinsicht auf den Themenkomplex „Flucht und Vertreibung“ noch immer eine tiefe Kluft auftut, kann vor dem Hintergrund traumatischer Erfahrungen, seelischer Verhärtungen und aus dem Erlebnis einander gegenseitig zugefügter Verletzungen resultierender Abneigung nicht überraschen. Noch schwerwiegender aber dürfte sich auswirken, daß angesichts der vier Jahrzehnte lang praktizierten Tabuisierung des Vertreibungsgeschehens bei unseren östlichen Nachbarn ein radikaler Verdrängungsprozeß stattgefunden hat, der in dieser Form in der Bundesrepublik kein Gegenstück findet. So wurde im Dezember 1996 aus Polen berichtet, daß Meinungsumfragen zufolge die Hälfte der Bevölkerung -bei den unter 24jährigen sogar 59 Prozent -von einer Vertreibung der Deutschen überhaupt nichts wisse. Genau die Hälfte sehe in ihr eine „gerechte Strafe“; immerhin 47 Prozent hielten sie jedoch für ein „Unrecht an der deutschen Zivilbevölkerung, die dieses Land seit Jahrhunderten bewohnte“. Dies sei -so meinte die Korre-spondentin kommentierend -„angesichts der jahrzehntelangen kommunistischen Indoktrination, die die Grausamkeit der Vertreibung totschwieg und die ostdeutschen Gebiete als , wiedergewonnenes Gebiet unserer Väter‘ bezeichnete, ein überraschend hoher Prozentsatz“
IX. Das Vertreibungsgeschehen in den Augen der Tschechen
Dieses Nichtwissen und Verdrängen scheint einstweilen mehr noch für das Verhältnis von Tschechen und Slowaken zum Komplex der „Vertreibung der Deutschen“ zu gelten, wo die Diskussion um dieses Geschehen trotz der noblen Geste Vaclav Havels vom 28. Dezember 1989, als er sich als designierter Staatspräsident für die Vertreibung der Sudetendeutschen entschuldigte, anscheinend erst in den letzten Jahren begonnen hat Deren Vertreibung, die erwiesenermaßen vor allem in der ersten Phase der sogenannten „wilden Austreibungen“ noch von weit schwereren Ausschreitungen und Gewalttaten als jene an Übergriffen gewiß nicht armen in Polen begleitet wurde, hat bei einem großen Teil der Betroffenen traumatische Erinnerungen hinterlassen und wach-gehalten, so daß es trotz des am 7. Oktober 1991 in Prag im Beisein der Präsidenten von Weizsäcker und Havel paraphierten „Deutsch-tschechischen Nachbarschafts-und Freundschaftsvertrages“ zwischen Tschechen und Sudentendeutschen bisher zu keiner wirklichen Annäherung hat kommen können Auch scheint der überwiegende Teil der tschechischen Bevölkerung noch immer auf den seit Jahrzehnten propagierten Ansichten von der Kollektivschuld der Deutschen zu beharren und die eigene Geschichte seit 1919 auszublenden (die übrigens auch in Polen immer noch weitgehend tabuisiert ist), so daß vorerst auch auf tschechi scher Seite noch nicht von einer „Vergangenheitsbewältigung“ die Rede sein kann.
Gleichwohl scheinen die Dinge auch hier allmählich in Bewegung zu geraten. Im März 1991 fand in Prag ein erstes, international besetztes Symposium über die Vertreibung statt, auf dem diese Vorgänge zum erstenmal offen und kontrovers diskutiert wurden. Ihm folgte im Abstand von mehr als drei Jahren im Juni 1994 in Wien, der „heimlichen Hauptstadt der Sudetendeutschen“, eine „Projektkonferenz“, die erstmals Österreicher, Tschechen, Slowaken und Ungarn zusammenführte und deren Ergebnisse vor kurzem in einem respektablen Sammelband vorgelegt worden sind
Wieder sind es -wie 1965 im Verhältnis zu Polen -konfessionell gebundene Kreise wie die deutsche Ackermann-Gemeinde und die tschechische Bernard-Bolzano-Gesellschaft, die sich um eine Aussöhnung von Tschechen und Deutschen bemühen, deren Breitenwirkung gleichwohl eher begrenzt zu sein scheint. So erklärte einer ihrer Protagonisten kürzlich resignierend: „Die unzähligen Begegnungen zwischen Tschechen und ihren ehemaligen deutschen Landsleuten ... haben zwar viele Barrieren beseitigt, sich aber leider schon erschöpft: Wann und wo auch immer ein Gespräch über die unglückselige gemeinsame Geschichte zustande kommt, sitzen an den Tischen immer wieder dieselben Partner. Man hat sich schon mehrmals versöhnt, verziehen und eine gemeinsame Zukunft beschworen. Aber die Versöhnten bleiben im Ghetto unter sich.“ Ob sich dies schon in naher Zukunft ändern wird, muß abgewartet werden.
X. Flüchtlinge und Vertriebene in der SBZ/DDR
Aber nicht nur in Polen und in der Tschechoslowakei war das Thema „Flucht und Vertreibung der Deutschen“ tabu, sondern nicht minder in der DDR, wo vor allem Vertriebene aus den angrenzenden Provinzen Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien über die Oder und Neiße und insbesondere Menschen aus den sudetendeutschen Siedlungsgebieten über die böhmisch-sächsische Grenze in die Sowjetische Besatzungszone transportiert wurden. Sie hatten insofern „alles verloren“ als man ihnen auch noch ihre Identität zu nehmen versuchte, indem man sie mit Rücksicht auf die Besatzungsmacht zu „Umsiedlern“ erklärte -so als ob sie freiwillig und mit ihrem gesamten Eigentum in ihre neue Heimat gekommen wären. Über ihre Integrationsprobleme wußte man in den alten Bundesländern bis vor kurzem kaum etwas; nicht einmal die Tatsache, daß die spätere DDR den höchsten Anteil an Flüchtlingen und Vertriebenen hatte aufnehmen müssen, dürfte hier allgemein bekannt gewesen sein
Erst in der Schlußphase der DDR, als sich die Fesseln der Zensur allmählich zu lockern begannen, erschienen die ersten, in ihrer Terminologie noch von der parteiamtlichen Diktion geprägten Untersuchungen Mittlerweile hat die Forschung zum Vertriebenenproblem auch in den neuen Ländern auf der Grundlage der in den nunmehr geöffneten Landesarchiven aufbewahrten Akten in voller Breite eingesetzt. Da angesichts der Tabuisierung des Vertriebenenproblems bis zur „Wende“ begreiflicherweise so gut wie keine Vorarbeiten Vorlagen, mußte hier wirkliche Pionierarbeit geleistet werden
Wenn deren erste Ergebnisse nicht täuschen, ist es bei der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in Mecklenburg, Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen zu ähnlichen Phänomenen wie in den weiter westlich in den anderen Besatzungszonen gelegenen Ländern gekommen: von einer zunächst weit verbreiteten Ablehnung der Neuankömmlinge durch die einheimische Bevölkerung vor allem in ländlichen Regionen bis zur -ohne einen Lastenausgleich bewerkstelligten! -Verschmelzung beider Bevölkerungsgruppen im Zeichen wirtschaftlicher Erholung und Konsolidierung Die nach der Aus-bzw. Gleich-Schaltung aller anderen politischen Parteien seit 1948/49 allein regierende SED hatte nichts unversucht gelassen, um das Vertriebenenproblem aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden zu lassen. Seit 1949 wurden die Vertriebenen in den Bevölkerungsstatistiken nicht mehr gesondert ausgewiesen Andererseits dienten nicht selten gerade die leistungsorientierten Heimatvertriebenen der sich konsolidierenden DDR als willkommene Stütze: „Es waren konservative Grundmuster individualistischer, aufstiegswilliger, durchsetzungsfähiger, eher unpolitischer und Anpassungsleistungen erbringender Personen, die die Umwälzungen in der DDR für ihren persönlichen Werdegang nutzten.“ Sie wurden „zu Prototypen dieser aufstiegs-willigen, ökonomisch bestimmten Gesellschaft“ Wie diese Vorgänge sich im einzelnen vollzogen haben und wie sie zu bewerten sind, wird sicher noch weiterer, vor allem sozialgeschichtlicher Forschungen bedürfen.
XI. Ausblick
Inzwischen gehört das Thema „Vertriebenen-Integration in der SBZ/DDR“ bei der Berliner Außenstelle des Instituts für Zeitgeschichte zu deren zentralen Forschungsbereichen, denn -und das ist auch die Meinung des Autors -, „fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der damit einhergehenden Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland und Osteuropa ist die Thematik der Vertreibung und die politische und soziale Integration der Vertriebenen im alsbald geteilten Nachkriegsdeutschland erneut und verstärkt ins Blickfeld der Forschung und einer interessierten Öffentlichkeit gerückt“ Dieses aktuelle Forschungsinteresse beweisen auch zahlreiche in den letzten Jahren in der Bundesrepublik erschienene Untersuchungen zur Vertriebenenproblematik auf regionaler und lokaler Ebene
Von besonderer Bedeutung ist aber auch die sich intensivierende internationale Kooperation, die ihren Ausdruck in einer sich verdichtenden Anzahl bi-und multilateraler wissenschaftlicher Tagungen findet, auf denen die unterschiedlichen Standpunkte diskutiert und Forschungsergebnisse referiert werden. Diese werden zunehmend auch in gemeinsamen Publikationen veröffentlicht
Auch finden immer mehr Ausstellungen auf Landes-und Bundesebene statt
Möglicherweise ist erst jetzt die Zeit gekommen, gemeinsam mit allen Betroffenen an die eigentliche Erinnerung und Darstellung dessen zu gehen, „wie es eigentlich gewesen ist“, und dabei daran zu denken, „daß die Nation für diejenigen einzustehen hat, welche der verlorene Krieg die Heimat gekostet hatte“ Wenn nicht alles täuscht, könnte es daher durchaus sein, daß erst in unseren Tagen „Flucht und Vertreibung“ für die Deutschen selbst und für ihre östlichen Nachbarn in ihrer fortwirkenden Bedeutung für die unmittelbar Beteiligten wie auch in ihrer gemeinsamen europäischen Schicksals-Dimension wahrgenommen werden.