In den fünfziger Jahren fanden seitens des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mehrere Dutzend politisch motivierte Entführungen unliebsamer Personen aus dem Westen in die DDR statt. Öffentliche oder geheime Prozesse endeten für die Betroffenen oft mit langjährigen Haftstrafen, die vielfach lediglich durch Freikäufe seitens der Bundesregierung verkürzt werden konnten. Das Gros dieser Fälle behandelten zeitgenössische Medien als „Eintagsfliegen“; sie gerieten schnell aus dem öffentlichen Bewußtsein. Lediglich einzelne Schicksale blieben durch publizierte Erinnerungen oder durch ihre Aufnahme in Forschungen zur Zeitgeschichte präsent. Letzteres trifft auch auf den Fall Robert Bialek zu. Wohl lassen sich die Planung und Realisierung seiner Entführung vom 4. Februar 1956 in eine Reihe analoger Vorgehensweisen der Stasi einordnen, nicht aber deren Ausgang mit dem bis heute ungeklärten Verbleib des Opfers.
Während vor der Wiedervereinigung insbesondere Hermann Weber, Karl Wilhelm Fricke oder Ilse Spittmann interessierte westdeutsche Zeitgenossen auf Bialeks Schicksal aufmerksam machten, verstärkte sich nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft das wissenschaftliche wie auch das öffentliche Interesse am Fall Bialek. Verschiedene Publikationen zur DDR-Geschichte erwähnten ihn; ein Rundfunkfeature und ein Dokumentarfilm zeichneten Lebenslinien des einstigen hohen DDR-Funktionärs nach, und auch die Presse nahm sich seines Falls wiederholt an. In den letzten Monaten gab es dafür gleich mehrere Anlässe. Ende Juli/Anfang August 1997 fand vor dem Berliner Landgericht ein Prozeß gegen einen an Bialeks Entführung beteiligten MfS-Mitarbeiter statt, der mit einer Verurteilung zu zehn Monaten auf Bewährung endete. Obgleich die Anklage sich auf mehr als dreijährige Untersuchungen der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs-und Vereinigungskriminalität (ZERV) stützte, konnte sie kein Licht in das Dunkel um Bialeks Verbleib nach der Entführung bringen. Sechs Wochen zuvor brachte Wolfgang Leonhard auf einer Gedenkveranstaltung des SPD-Landesverbandes Sachsen zum 50. Todestag des sächsischen Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs in Dresden den Namen Robert Bialek bereits in die öffentliche Debatte. Gestützt auf eine entsprechende Passage in Bialeks in der Bundesrepublik bislang unveröffentlichten Memoiren formulierte Leonhard die Vermutung, der Sozialdemokrat Friedrichs sei durch seinen kommunistischen Kontrahenten Kurt Fischer vergiftet worden
Wer war dieser Robert Bialek? Wie so oft bei der Beurteilung von Menschen würden auch hier ein-seitige Charakterisierungen kaum zutreffen. Das von dieser widersprüchlichen Persönlichkeit zu zeichnende Bild liegt jenseits ideologischer Zuordnungen. Damit ist es zugleich ein Sinnbild für so viele Schicksale in den beiden deutschen Diktaturen in diesem Jahrhundert.
I. Von Breslau nach Dresden
Am 23. Juni 1915 wurde Bialek in Breslau als sechstes Kind einer Arbeiterfamilie geboren. In den kurzen „goldenen zwanziger Jahren“ lernte er vor allem die Armut und Not einer großstädtischen, proletarischen Familie kennen. Der Vater war lange Jahre arbeitslos und Alkoholiker, die Mutter verdingte sich als Haushaltshilfe, so daß die Kinder schon früh einen Beitrag zum Familienbudget leisten mußten.
Die Politisierung, in der Krise der Weimarer Republik vor allem die Radikalisierung der Jugendlichen, folgte einem nicht untypischen Muster: Zunächst in der Sozialistischen Arbeiter-jugend (SAJ), der SPD-Jugendorganisation, organisiert, schloß er sich 1931 der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), einer linkssozialistischen Splitterpartei, und deren Jugendverband an. Als Jungstaffelleiter in der Wehrorganisation der SAP, dem Sozialistischen Kampfbund, erwarb sich Bialek einigen Ruhm als ungestümer Draufgänger, der keiner Prügelei mit der SA auswich. Gerade dieses draufgängerische, aufrührerische, manchmal auch hasardeurhafte Handeln, das der radikalisierte Jugendliche Robert Bialek an den Tag legte, sollte sich als ein Leitfaden seines Lebens erweisen. Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, die die Existenz seiner SAP-Gruppe beendete, fand der 18jährige Robert eher zufällig Kontakt zu einer illegalen Gruppe der Kommunistischen Jugend (Opposition). Schnell avancierte er zu deren politischem Leiter und leistete über ein Jahr an illegaler Arbeit. Im November 1934 verhaftete die Breslauer Gestapo Bialeks Gruppe. Nach langer Untersuchungshaft verurteilte ihn das Breslauer Oberlandesgericht am 29. Mai 1936 zu fünf Jahren Zuchthaus 1940 aus der Haft entlassen, mußte er die veränderten Verhältnisse zur Kenntnis nehmen. Für aktionsorientierte Widerstandsformen blieb kein Raum mehr. Im Gegenteil, seine ungestümen Versuche, sofort neue illegale Gruppen zu bilden, stießen nicht nur auf Ablehnung, sondern bewirkten bei manchen der Angesprochenen ein starkes Mißtrauen. Schnell verbreitete sich der Verdacht, Bialek sei ein Agent der Gestapo geworden. Obwohl es dafür nie auch nur den geringsten Beweis gab, mußte er sich bis zu seiner Flucht in den Westen immer wieder gegen derartige Verdächtigungen wehren Zum Schluß titulierten ihn auch die zentralen Instanzen der SED wider besseres Wissen und in diffamierender Absicht als Gestapospitzel Dabei hatte Robert Bialek 1942 noch einmal eine kleine Widerstandsgruppe geleitet, die jedoch im Januar 1944 aufflog. Seitdem hatte er illegal gelebt und nur mit außergewöhnlichem Glück auch den Terror der letzten Kriegsmonate überlebt
Die Kapitulation der „Festung Breslau“ am 6. Mai 1945 und der Einmarsch der Roten Armee verhieß für Robert Bialek so ohne jeden Zweifel Befreiung. Zwar wurde auch er durch die Plünderungen und Vergewaltigungen der ersten Besatzungstage bitter enttäuscht, aber an seinen kommunistischen Überzeugungen änderten diese traumatischen Erlebnisse nichts. Schnell avancierte er zum Zivil-bevollmächtigten der sowjetischen Kommandantur, organisierte die Lebensmittelverteilung, die Bestattung der Toten und die ersten Aufräumungsarbeiten in der Stadt. Schon nach wenigen Wochen jedoch bedeutete die sowjetische Kommandantur den im „Komitee der Antifa“ organisierten deutschen Aktivisten, daß die Stadt eine „polnische Perspektive“ haben würde. Eilends wurde deshalb ein Treck zusammengestellt, mit welchem die politischen Aktivisten nach Dresden verbracht werden sollten Zu diesem privilegier ten Kreis gehörten auch Bialek und seine Familie. Schnell verbreitete sich das Gerücht, daß auf die Treckteilnehmer politische Funktionen in der SBZ warten würden. Am 7. Juli 1945 verließen zirka 650 Menschen Breslau, an der Spitze des Zuges trug ein Pferdefuhrwerk eine rote Fahne mit Hammer und Sichel. Am 20. Juli erreichte der Treck Dresden. So gezeichnet die Teilnehmer auch von den Strapazen des Marsches waren, so erwartungsvoll und selbstbewußt sahen sie in die Zukunft. Hier, in der sowjetisch besetzten Zone, so die übereinstimmende Meinung der Treckleitung, zu der auch Bialek gehörte, sollte sofort mit dem Aufbau des Kommunismus begonnen werden. Wie groß war aber die Enttäuschung, als es zu einem ersten Treffen mit Hermann Matern kam. Der Moskauer Remigrant erklärte: „Alles Gerede von Sozialismus und Diktatur des Proletariats ist für Deutschland krasser Unsinn, unsere Zielstellung für Deutschland ist gegenwärtig erst, die bürgerliche Revolution von 1848 zu Ende zu führen, und nicht mehr.“ Aber nicht nur diese neue, in Moskau ausgearbeitete politische Linie, die so gar nicht den Wünschen der in Deutschland gebliebenen aktiven Widerständler entsprach, erregte Mißfallen. Denn auch an eine Berufung in politische Funktionen war für die Mehrzahl der Breslauer zunächst nicht zu denken. Hier aber machte Bialek eine Ausnahme. Er fiel Matern auf: durch seinen Elan und Tatendrang, seine Widerstandsgeschichte und seine besonderen Fähigkeiten. Bialek konnte lange und frei reden, sich selbst darstellen und anbieten. In wenigen Tagen entstand so ein Vertrauensverhältnis zwischen dem hohen Funktionär mit Moskau-Erfahrung, dem engen Vertrauten Ulbrichts und späteren Vorsitzenden der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) und dem jungen, ungestümen Kommunisten aus Breslau, an dessen Loyalität zur Partei, der er offiziell erst seit dem Juli 1945 angehörte, keinerlei Zweifel bestanden. Bis 1948 ebnete Matern Bialek manchen Weg; ohne eine solche Unterstützung wäre der nun folgende rasante Aufstieg auch gar nicht zu erklären.
II. Jugendfunktionär in Sachsen
Schon die erste Funktion war keine geringe. Robert Bialek wurde der Jugendsekretär der sächsischen KPD-Organisation und Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend (FDJ). In diesen Zeiten waren in einer solchen Stellung Leute mit Improvisationstalent und Überzeugungskraft statt bürokratisch denkender Apparatschiks gefragt. In dieser Hinsicht war Robert Bialek ein idealer Jugendfunktionär. Er überzeugte immer wieder durch seine Fähigkeit, mit „einfachen“ Jugendlichen zu kommunizieren. Ob er das jugendpolitische Programm der KPD erläuterte oder mit dem Thema „Bub und Mädel“ durch die Jugendheime zog, seine Sprache wurde verstanden. Alle Zeit-zeugen schildern ihn als sehr guten Redner. Dabei bevorzugte er weniger den intellektuell-„geschliffenen“ Vortrag als vielmehr den engagierten und mitreißenden Auftritt. Probleme und Konflikte pflegte er zu vereinfachen, an die Stelle von feinen Nuancierungen traten oft Schwarzweißbilder. Mit der historischen Wahrheit und Sachbezügen nahm es Bialek nicht sehr genau. Die Geschichte der Sozialdemokratie pflegte er sehr oberflächlich und aus einem orthodox-kommunistischen Blickwinkel zu erörtern, was ihm neben der Kritik von alten Sozialdemokraten auch den Ruf eines „Ultrarevolutionärs“ eintrug
Besonders das Wort von den „Verrätern“ ging ihm leicht über die Lippen. Wer hätte schon geahnt, daß sich eben dieser Robert Bialek neun Jahre später um die Mitgliedschaft in der SPD bewerben sollte. Dabei teilte er die Parteilinie durchaus nicht vollständig. Während die offizielle KPD-Jugendpolitik auf ein überparteiliches Bündnis mit einer eher verdeckt realisierten kommunistischen Hegemonie zielte sah Bialek überhaupt nicht ein, weshalb man Machtpositionen an andere Parteien vergeben sollte. Die bürgerlichen und Kirchenvertreter waren für ihn Gegner, die sich entweder zu unterwerfen hatten oder zu bekämpfen waren
Schnell wurde man auch in zentralen politischen Instanzen Ostberlins auf den agilen und erfolgreichen Jugendsekretär aufmerksam. Im Oktober 1945 traf Erich Honecker, damals Jugendsekretär der KPD, seit Februar 1946 designierter Vorsitzender der FDJ, zum ersten Mal mit Bialek zusam-men. Es waren gänzlich unterschiedliche Charaktere, die sich da begegneten. Honecker war verschlossen, agierte vorsichtig, manchmal auch unbeholfen, und sicherte sich bei seinen Entscheidungen nach allen Seiten ab. Der souveräne, rhetorisch überzeugende Auftritt vor großen Versammlungen dürfte schon damals seine Sache nicht gewesen sein. Demgegenüber erwies sich der Schlesier Bialek als temperamentvoll, impulsiv und gern ein Bad in der Menge nehmend. Honekker aber konnte im persönlichen Umgang mit den bürgerlichen Vertretern Vertrauen schaffen, Sitzungen im kleinen Kreis moderieren und Interessen durchsetzen, ohne andere vor den Kopf zu stoßen -Eigenschaften, bei denen Bialek deutliche Defizite besaß. Wenn es auch einige Monate dauerte, die Antipathie und Feindschaft zwischen diesen beiden überzeugten Kommunisten war vorhersehbar.
Zwar konnte Bialek oft ihm Untergebene von sich begeistern und mitreißen, aber im Umgang mit Gleichgestellten und Übergeordneten stieß er immer wieder auf ähnliche Probleme. Ihm fehlte nicht nur jede Unterwürfigkeit, sondern auch jedes Fingerspitzengefühl für die Parteihierarchie. Angst vor großen Namen war ihm nicht nur fremd, sondern lange Zeit glaubte er überaus naiv an die Gleichheit aller vor der Partei. So mochte er auch als gewählter FDJ-Vorsitzender in Sachsen die Autorität Honeckers nicht anerkennen und widersprach ihm, wann immer er es für richtig hielt
Als Bialek auf dem I. Parlament der FDJ, Pfingsten 1946, mit kirchenfeindlichen Äußerungen für einen Eklat und damit fast für die Spaltung der FDJ sorgte, war die Beziehung zu Honecker gänzlich gestört Als nur wenige Wochen später Paul Verner im Namen der SED-Jugendabteilung Bialek auch noch vorwarf, „von Politik, von Taktik doch keine Ahnung zu haben“ konnte mancher schon das Ende dieser Karriere sehen. Zu früh, wie die nächsten zwei Jahre zeigen sollten. Noch wurden Leute vom Schlage eines Bialek gebraucht. Ob als Wanderredner in den Wahlkämp fen des Herbstes 1946, die Robert Bialek als Abgeordneten in den Dresdner Landtag führten als Kampagnenführer gegen die Jugendpolitik der sächsischen Liberaldemokratischen Partei (LDP) unter Wolfgang Mischnick oder auch bei der Zurückdrängung der Sozialdemokraten in der sächsischen SED -überall dort, wo agitiert und propagiert werden mußte, stand der seit Oktober 1946 als Jugendsekretär der sächsischen SED fungierende Robert Bialek in der vordersten Linie.
III. Auf der Karriereleiter weiter nach oben
Im Sommer 1947 delegierte die sächsische SED-Leitung Robert Bialek an die Parteihochschule (PHS) „Karl Marx“. Er selbst hatte einen entsprechenden Wunsch geäußert, und eine derartige politische Ausbildung lag durchaus in der Logik von Funktionärskarrieren. Bialek sollte an der Schule einen Halbjahreslehrgang absolvieren, der sich an schon erfahrene Funktionäre richtete. Wenn, was durchaus möglich erscheint, die sächsischen SED-Vorsitzenden Otto Buchwitz und Wilhelm Koenen damit beabsichtigten, dem Heißsporn Bialek etwas mehr Disziplin und Gehorsam beizubringen, wurde dieses Ziel schlicht verfehlt Dennoch zeitigte der Aufenthalt in Liebenwalde und Kleinmachnow, wo sich die Parteihochschule befand, ungeahnte Wirkungen. Robert Bialek kam an der Schule hervorragend zurecht. Er besaß eine rasche Auffassungsgabe und natürliche Intelligenz, die ihn schnell zum „Klassenprimus“ werden ließen. Außerdem besaß Bialek zu dieser Zeit noch keinerlei Selbstzweifel an der Richtigkeit des in der Sowjetzone eingeschlagenen Weges. Seine Partei-loyalität erwuchs aus innerster Überzeugung und mußte nicht gespielt werden. In den Augen der Schulleitung wuchs hier ein Musterfunktionär heran, der sich für höhere Aufgaben qualifizierte. Im späten Frühjahr 1948 endete Bialeks Studium. Er erhielt ein ausgezeichnetes Zeugnis und hatte sämtliche Abschlußprüfungen mit der Note „Sehr gut“ bestanden. In dieser Situation wurde ihm von der Lehrstuhlleiterin Frida Rubiner eine Stelle als Dozent angeboten. Aber Bialek lehnte ab: „Ich (war) kein Mensch der stillen wissenschaftlichen Arbeit. Meine aktive Natur verlangte nach dauerndem Szenenwechsel.“ Den sollte er nun bekommen. Völlig überraschend ernannte ihn das SED-Zentralsekretariat im Juli 1948 zum Politkulturkommissar der Kasernierten Volkspolizei (KVP) im Rang eines Generalinspekteurs Zwar war es nicht überraschend, daß Bialek nach seinem glanzvollen Auftritt an der Parteihochschule nun eine höhere Funktion erhielt, aber daß es gerade ein sehr hoher militärischer Posten sein würde, war nicht absehbar, verstieß sogar gegen alle Regeln kommunistischer Kaderpolitik. Denn mit dem Aufbau eines neuen stehenden Heeres, und um nichts anderes handelte es sich bei den KVP-Einheiten wurden an führender Stelle nur Kommunisten mit Erfahrungen aus dem Moskauer Exil, den Umerziehungslagern des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ oder dem spanischen Bürgerkrieg eingesetzt. Symptomatisch für diese Kaderstruktur waren die unmittelbaren Vorgesetzten Bialeks -Kurt Fischer und Erich Mielke. Wie kam also Bialek in diese Position, von welcher aus die gesamte ideologische Arbeit in der KVP geleistet und die KVP-Angehörigen auf die Ideologie und Politik der SED eingeschworen werden sollten Für den entsprechenden Kaderbeschluß fehlt in den Akten eine schriftliche Begründung, womit durch uns nur Vermutungen angestellt werden können. Natürlich drängt sich auf, daß der Förderer Hermann Matern ein gutes Wort eingelegt haben könnte. Auch die sächsische Sowjetische Militäradministration (SMA), zu der Bialek hervorragende Kontakte pflegte, dürfte den Aufstieg protegiert haben. Schließlich, und dies darf nicht außer acht gelassen werden, war 1948 manche Kaderentscheidung noch von Zufällen und dem Mangel an geeigneten Funktionären bestimmt. Aber gerade auf dieser herausragenden, unter direkter Kontrolle der SMAD und Walter Ulbrichts stehenden Position? Vielleicht geben in einiger Zeit geöffnete sowjetische Archive endgültigen Aufschluß.
Robert Bialek geriet jetzt in eine Welt von Befehl und Gehorsam, in der er, der Ungestüme und bisweilen Unbekümmerte, keine Chance hatte. Nur vier Monate trug er die Generalsuniform, ehe er sie, enttäuscht und verbittert, Ulbricht vor die Füße warf und seinen Abschied einreichte. Bialek „scheiterte“ vor allem, weil er auch auf dieser Ebene ohne jede Angst vor großen Namen agierte. In dem Glauben, nur dem Parteivorstand der SED zu unterstehen, kritisierte er Mielke, immerhin damals 2. Vizepräsident der Deutschen Verwaltung des Innern, wegen des Umgangs mit seinen Untergebenen, stellte den Präsidenten Kurt Fischer in Parteiversammlungen wegen „theoretischer Schwächen“ bloß und geriet schließlich auch mit dem mächtigen stellvertretenden SED-Vorsitzenden Walter Ulbricht in politischen Konflikt
Hinzu kam das Unbehagen, mit welchem Bialek mit ansehen mußte, wie in der Sowjetunion umgeschulte Offiziere der Wehrmacht nun wieder Offiziersstellungen in der KVP erhielten. Für Mielke und Ulbricht als geschulte und kalte stalinistische Taktiker war es selbstverständlich ein leichtes, sich Bialeks zu entledigen. Sein Nachfolger wurde der spätere Armeegeneral und Verteidigungsminister der DDR, Heinz Hoffmann, ein enger Vertrauter Walter Ulbrichts
IV. Fall und Flucht
Am 9. Oktober 1948 gab Kurt Fischer dem Entlassungsgesuch Bialeks zum 15. Oktober statt Damit war der so rasant die Karriereleiter Hinaufgestiegene genauso schnell wieder hinuntergefallen. Jetzt aber befand sich in seiner Kaderakte der Vermerk, „daß es sich bei Bialek um einen Phantasten aufgrund seines starken Geltungsbedürfnisses handelt. Es ist angebracht, ihn von allen verantwortungsvollen Funktionen fernzuhalten.“ Damit war der weitere Abstieg vorgezeichnet, wenn auch für Bialek im Vergleich zu anderen zunächst noch abgefedert. Er wurde mit Beginn des Februars 1949 Kreisvorsitzender der SED in Großenhain Robert Bialek sah selbst in dieser Zeit die sich etablierende kommunistische Diktatur und die Alleinherrschaft der SED kaum als Problem an -bis zu einer solchen Einsicht sollten noch mehrere Jahre vergehen -, sondern betrachtete nur einzelne Repräsentanten als Intriganten und schlechte Funktionäre. Da er denen in den Auseinandersetzungen auf der höchsten Ebene unterlegen war, glaubte Bialek -voller Illusionen, aber gleichwohl auch sympathisch -durch vorbild-hafte Arbeit an der Basis, quasi als „Graswurzelrevolutionär“, seine politischen Vorstellungen von der wahren Herrschaft der Arbeiterklasse, was immer das auch sein sollte, verwirklichen zu können. Jedoch, der Arm Ulbrichts reichte auch nach Großenhain. So sehr sich Bialek auch mühte, im November 1949 erschien Lotte Kühn (Ulbricht) als Beauftragte des ZK zu einer Delegiertenkonferenz des SED-Kreisverbandes, und mit einer lang vorbereiteten Intrige wurde der fassungslose Bialek genötigt, zurückzutreten Am 10. November befaßte sich die SED-Führung mit dem Fall Bialek. Unter Leitung von Walter Ulbricht wurde festgelegt: „Hinsichtlich der Absetzung des bisherigen 1. Kreissekretärs Genossen Bialek wird die Kaderabteilung beauftragt, alle Dokumente über den Genossen Bialek gründlich zu prüfen.“ Robert Bialek hatte nicht nur erneut seine Arbeit verloren, jetzt geriet er ernsthaft ins Fadenkreuz seiner mächtigen Kontrahenten.
Die nächste Station seiner politischen Talfahrt war die Kommunalverwaltung der Stadt Bautzen. Sozial immer noch gut gestellt und mit einem lukrativen Einzelvertrag ausgestattet, arbeitete Bialek als Kulturdirektor des örtlichen Lokomotiv-und Waggonbaubetriebes. 1950 erhielt er sogar einen Aktivisten-Orden und gab sich der Illusion hin, dies sei ein Bewährungsauftrag der Partei. Aber 1952 brach es wieder über Bialek herein: In der „Lausitzer Rundschau“ wurde er öffentlich der Holzhammer-Methoden geziehen am 19. August fristlos entlassen und am 5. Septem ber aus der SED ausgeschlossen Als Arbeitsloser, der sich und seine Familie nur durch die Hilfe von Freunden ernähren konnte und der begann, mit Zierfischen zu handeln, konnte er nur hilflos Zusehen, wie er im Dezember 1952 plötzlich als „Unterstützer des Sozialdemokratismus“ bezeichnet wurde Die Kreisdienststelle des MfS Bautzen wiederum nannte ihn „dringend verdächtig, trotzkistische Zersetzungsarbeit zu leisten“, und verfügte am 21. Februar 1953 einen Haftbefehl vor dessen Vollzug allerdings noch mehr Belastungsmaterial gesammelt werden sollte.
Damit ging die Zeit Robert Bialeks im östlichen Teil Deutschlands zu Ende. Er erhielt noch einmal eine Arbeitsstelle in einem Baubetrieb und agitierte am 17. Juni 1953 auf einer Baustelle ein letztes Mal zugunsten der DDR. Als er von den wenigen verbliebenen Freunden Hinweise bekam, daß seine Verhaftung unmittelbar bevorstünde, fuhr er in der Nacht zum 27. August 1953 nach Berlin und überschritt am Potsdamer Platz die Grenze zur freien Welt -jener Gesellschaftsordnung, die er so oft als imperialistisch und reaktionär gegeißelt hatte.
V. SED-Opposition über den Londoner Rundfunk
Unter den 330 000 „Republikflüchtigen“ des Jahres 1953 zählte Robert Bialek zu den prominentesten. Nachdem er im Durchgangslager Marienfelde seine Identität offenbart hatte, erfuhr Bialek ein großes Interesse ausländischer Dienste an seiner Person. Zunächst waren es amerikanische Stellen, die den Geflohenen „abschöpfen“ wollten. Ihre Versuche allerdings scheiterten ebenso gründlich wie die des nachziehenden französischen Geheimdienstes. Beide Seiten erwarteten einen totalen Bruch des Überläufers mit jeglicher sozialistischer Gesinnung -einen Schritt, zu dem Bialek nicht bereit war. Zwar war er mittlerweile ein entschiedener Gegner des Regimes, nicht aber sozialistischer Grundvorstellungen. Genau daran knüpf-ten, offensichtlich mit größerem Geschick, die Engländer an. Bialeks Kritik am westlichen System schien seine britischen „Vernehmer“ herzlich wenig zu stören. Statt dessen berichteten sie von sozialen Errungenschaften der englischen Arbeiterschaft unter der Labour-Regierung seit dem Kriegsende und debattierten mit ihm über Grundfragen des Marxismus. Bialeks Gesprächspartner erkannten rasch sein rhetorisches Talent und versprachen sich offenbar einiges von einer weiteren Zusammenarbeit.
Anfang Februar 1954 unterbreitete Bialek seinen britischen Mentoren James Stewart Thomson und Tim Harrison ein Memorandum mit Verbesserungsvorschlägen hinsichtlich der für die DDR-Bevölkerung bestimmten BBC-Sendungen. Das Papier gewährt Einblicke in seine damalige Motivation, politische Positionen, Absichten wie auch Illusionen: „Dabei hat man eine starke Waffe. Diese Waffe ist der klaffende Riß zwischen der Theorie des Marxismus-Leninismus und seiner Praxis in den kommunistischen Staaten . . . Den Kommunismus mit der Theorie des Marxismus-Leninismus in der Entwicklung zu zwingen, seine Raubtierzähne zu schleifen und sich in einigen grundsätzlichen Fragen zu revidieren, muß dabei das Hauptziel sein. Der Beginn einer solchen Entwicklung zeigt sich durch Tito in Jugoslawien. Ein solcher, reformierter Kommunismus könnte im demokratischen Kräftespiel aller demokratischen Staaten der Welt eine positive Rolle für die weitere Entwicklung der Demokratie in der ganzen Welt spielen. Dieser Weg muß in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus beschritten werden, sonst dürfte auf die Dauer eine gewaltsame Auseinandersetzung mit ihm nicht zu verhindern sein. Es ist unnötig, auf die kaum vorstellbaren Folgen einer solchen Auseinandersetzung im Zeitalter der Atom-und Wasserstoffbombe hinzuweisen.“
Bialek sah für eine derartige „ideologische Großoffensive“ gute Chancen: „Bei einer Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auf der Grundlage seiner Theorie und Praxis wird man in den kommunistischen Parteien aller Länder starke Verbündete gewinnen. Die innere Situation in der SED der Ostzone zeigt klar und deutlich, daß Hunderttausende von ehrlichen SED-Mitgliedern um Klarheit ringen, daß sie mit dem klaffenden Gegensatz von Theorie und Praxis nicht mehr fertig werden. Der Kampf des ZK der SED gegen den Sozialdemokratismus, den Trotzkismus, das Sektierertum, Kapitulantentum, Versöhnlertum usw. zeigt doch ganz deutlich das ideologische Ringen innerhalb der SED. Was aber auf die SED zutrifft, trifft international auf die kommunistische Bewegung der ganzen Welt zu. Warum unterstützt man diese Kräfte in der Theorie und Praxis so wenig, d. h. ideell und materiell?“ Schlußfolgernd für die „Ostzonen-Sendungen“ der BBC forderte Bialek eine objektive Nachrichtenübermittlung mit entsprechender Kommentierung und in einer Differenzierung, die ausschlaggebende Schichten und Gruppierungen der DDR-Bevölkerung ansprechen sollten. Mehr als eineinhalb Jahre übten Thomson und Bialek über den Äther in Form von Interviews sowie in einer „Grundschule des Marxismus“ samstäglich Stalinismuskritik. Die Zusammenarbeit mit den Engländern gestaltete sich überaus vertrauensvoll. Im Januar 1955 luden sie Robert Bialek und dessen Frau zu einer vierwöchigen Informationsreise nach. Großbritannien ein. Im September 1955 veröffentlichte J. S. Thomson in London Bialeks Lebenserinnerungen als Buch.
Bialek gab seine Hoffnung auf die Entwicklung einer innerparteilichen Opposition in der SED nicht auf. In diesem Sinne arbeitete er an einer seit Ende 1953 vom Ostbüro der SPD in lockerer Folge herausgegebenen umfangreichen Flugschrift unter dem Titel „SED-Opposition“ mit Die Auflage betrug einige zehntausend Exemplare, die von Ostbüro-Mitarbeitern in die DDR gebracht und von dort mit der Post an SED-Mitglieder und Funktionäre versandt wurden. In einer umfassenden Schrift „Die programmatische Plattform der SED-Opposition! “, vom Ostbüro nach dem IV. SED-Parteitag im Juli 1954 publiziert, konterkarierte Bialek in „Auswertung“ dieser Tagung die im Bericht des ZK getroffene Einschätzung der internationalen Lage und erläuterte in einem zweiten Teil Vorschläge der vermeintlich existierenden SED-Opposition zu den einzelnen Politik-und Wirtschaftsfeldern sowie zur Parteiarbeit. Diese zielten im wesentlichen auf eine Schwächung des Parteiapparats und eine Stärkung der Mitglieder-basis. Im Mai 1955 begann Robert Bialek hauptamtlich beim SPD-Ostbüro in West-Berlin zu arbeiten. Unter dem Decknamen „Bruno Wallmann“ befragte er in einem Büro direkt neben dem Bahnhof Zoo vor allem SED-Mitglieder und Mitarbeiter des DDR-Staatsapparats, die sich an das Ost-büro wandten, und versuchte, weitere Informantenzu werben. Es dauerte keine drei Monate, bis man in der MfS-Zentrale wußte, wer sich hinter dem Decknamen „Bruno Wallmann“ verbarg. Das Ost-büro galt in den Augen der SED-Führung, wie auch die deutschsprachige BBC, als eine der „Hauptfeindzentralen“. Daß Bialek nunmehr für beide dieser Zentralen tätig war, brachte das Faß in Ostberlin zum Überlaufen. Zielgerichtet bereitete die Staatssicherheit in den folgenden Monaten unter Einsatz zahlreicher geheimer Mitarbeiter seine Entführung vor. Mit Hilfe eines für das Ost-büro besonders interessanten, vermeintlich kooperierenden Duos zweier Volkspolizisten aus der Haftanstalt Rummelsburg, in der viele verhaftete Sozialdemokraten einsaßen, wurde nach mehrmonatiger Vorbereitung eine Feier inszeniert, von der Robert Bialek nicht mehr nach Hause zurückkehrte.
VI. Spurlos verschwunden?
Am Abend des 4. Februar 1956 wurde Robert Bialek von Freunden letztmalig lebend gesehen. Danach verliert sich von ihm jede gesicherte Spur. Was verwunderlich erscheinen mag, erklärt sich möglicherweise aus dem Kontext der Zeit und der Zusammenhänge: Ein entkommener Parteifeind als Sprachrohr der Engländer gegen die Sowjets und ihre Helfer auf deutschem Boden; ein intimer Feind des SED-Generalsekretärs und des mächtigen Erich Mielke als „Agent des Ostbüros“! Ein entführter Ostbüro-Mitarbeiter und eine Reihe verhafteter Vertrauensleute in der DDR. Wieviel Nebelbomben und Rauchvorhänge sind in einem derartigen Konstrukt vor dem Hintergrund des Kalten Krieges denkbar?
Minutiös lassen sich in den Akten des MfS die Planungen der Entführung Bialeks nachweisen. Mit Beginn der Entführung aber fehlt dort jegliche Spur. Wäre Bialek, wie 1993/94 nicht nur von der Boulevardpresse kolportiert, tatsächlich noch im Sommer 1956 im Zuchthaus Bautzen gesehen worden, so müßte sich ein Urteil oder eine Hafteintragung finden. Dem ist nicht so. Auch eine Beteiligüng sowjetischer Geheimdienste ist aus den Gauck-Unterlagen nicht annähernd abzuleiten; zudem erhielt Inge Bialek 1992 einen amtlichen Bescheid aus Moskau, ihr Mann sei nicht in sowjetischer Haft gewesen bzw. von sowjetischen Gerichten verurteilt worden. So bleibt neben dem Kontext der Zeit und der Zusammenhänge auch die schlichte Möglichkeit des Zufalls. Das Fehlen eines Urteils bzw. eines Haftberichts bestärkt die Autoren in der Annahme, daß Robert Bialek tatsächlich kurze Zeit nach seiner Entführung verstarb -eine „Panne“, die im Plan nicht vorgesehen war.
Noch sind nicht alle Möglichkeiten zur Aufklärung dieses Falles erschöpft. Das Ergebnis eines Rechercheauftrags, die in der Gauck-Behörde gefundenen Rollfilme des MfS mit Justizakten von mehr als 38 000 in der DDR verhafteten Personen nach Bialek durchzusehen, steht ebenso noch aus wie die Realisierung der Bitte, die Ablagen Erich Mielkes und des direkt mit der Entführung beauftragten Bruno Beaters aus den Monaten Februar bis Mai 1956 auf eine mögliche Notiz über die nicht beabsichtigte „Panne“ im Fall Bialek durchzusehen.