I. Einleitung
Mitte der fünfziger Jahre ereignete sich im damaligen Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) folgendes: In einer neugebauten, gerade erst dem Unterrichtsbetrieb übergebenen Schule klingelte vormittags das Telefon. Der Schulleitung wurde mitgeteilt, die Krisenhaftigkeit des außenpolitischen Geschehens habe sich so zugespitzt, daß eine außerordentliche Kreislehrerkonferenz einberufen worden sei. Das Kollegium habe sich um elf Uhr vor dem Kino Luxorpalast einzufinden, der Unterricht sei entsprechend zu beenden. Der Auftrag wurde ausgeführt.
Aufschlußreich war die Reaktion der Schulleitung, als sich bei ihr angesichts der vormittäglichen Menschenleere vor dem Kino die Erkenntnis durchsetzte, getäuscht worden zu sein: Sie war davon überzeugt, daß der Klassenfeind einen Sabotageakt plane. Gewiß solle die neue Schule gesprengt werden; man habe nur die Kinder vorher in Sicherheit wissen wollen. Unter der Lehrerschaft gab es niemanden, der sich dieser Psychose widersetzte. Zusammen mit Angehörigen der Volkspolizei wurde die Schule nach einem Sprengsatz abgesucht.
Die Episode ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Sie zeigt die Autoritätsgläubigkeit ebenso wie die Humorlosigkeit der leitenden Kader der Volksbildung. Sie läßt jedoch ebenfalls erkennen, wie in der Zeit des Kalten Krieges ständig mit seinem Umschlag in eine heiße Phase gerechnet wurde. Und schließlich war die Bedrohung durch die „Allgegenwärtigkeit des Klassenfeindes“ von den Lehrenden bereits weitgehend verinnerlicht worden.
Hier hatten Presse und Funk -das Fernsehen wurde erst später zu einem Massenmedium -ihren Erziehungs-und Bildungsauftrag voll realisiert. Die Journalistinnen und Journalisten der DDR verstanden sich als Propagandisten und Agitatoren der herrschenden Partei. Im ideologischen Klassenkampf standen sie auf Grund der „Feindnähe“ in der „vordersten Front“ Sie hatten zum einen die Aufgabe, durch das fortwährende Verkünden großer politischer und wirtschaftlicher Erfolge die werktätigen Massen für den Aufbau des Sozialismus zu motivieren; zum anderen hatten sie zu zeigen, daß die sozialistischen Errungenschaften durch den Gegner, durch seine fortgesetzten Stör-manöver, durch ökonomische ebenso wie durch ideologische Diversion ständig bedroht seien. Deshalb wurde zu permanenter Wachsamkeit aufgerufen -und wie man sieht: mit Erfolg.
Aus diesem propagandistischen Ansatz ergab sich u. a. auch die Existenzberechtigung der Nationalen Volksarmee (NVA). Sie hatte Staat und Gesellschaft vor den Angriffen des Feindes zu schützen. Das hatte der Soldat bei der Vereidigung auch zu beschwören. Besonders die Staatsgrenze sei militärisch zu sichern. Denn dort vor allem wären gegnerische Provokationen und Anschläge zu erwarten. Und die Armeeangehörigen sollten sich selbst als Wächter des Friedens und des Sozialismus, diejenigen aber, die das Land angeblich von außerhalb bedrohten, als Klassenfeinde sehen.
Daß Uniformierte das Straßenbild der ehemaligen DDR beherrschten, wurde von westdeutschen Besuchern oft als auffälliges Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden deutschen Staaten angesehen. Tatsächlich gab es neben der Armee auch paramilitärische Organisationen wie die Kampfgruppen und die Gesellschaft für Sport und Technik, die spezielle Uniformen trugen. Uniformiert waren auch die Angehörigen der Kinder-und der Jugendorganisationen Weniger auffällig, aber militärisch genauso straff organisiert waren die Angehörigen des Staatssicherheitsdienstes. 1988/89 gehörten ihm mehr als 170 000 Inoffizielle Mitarbeiter an. Dazu kamen noch etwa 90 000 hauptamtlich Angestellte. Eine Viertelmillion Menschen, die im Straßenbild nicht auffielen, die aber das gesellschaftliche Leben weit stärker prägten als die Uniformierten -eben auf Grund ihrer Nicht-Erkennbarkeit und der daraus resultierenden Unheimlichkeit.
II. Innerer und äußerer Feind
Die Unterschiede zwischen Armee und Staatssicherheitsdienst beschränkten sich nicht auf das äußere Erscheinungsbild. Divergenzen gab es auch hinsichtlich des vermittelten Feindbildes. Der Angehörige der NVA war im wesentlichen auf einen Feind fixiert, den er -nach der Militärdoktrin der siebziger Jahre -im Falle eines Angriffs auf seinem eigenen Territorium zu vernichten habe. Der Mitarbeiter des Ministeriums für Staats-sicherheit (MfS) führte demgegenüber einen Zweifrontenkrieg: Neben dem äußeren hatte er auch den inneren Feind zu bekämpfen.
Diese Differenzierung leitet sich her aus einer marxistisch fundierten Gesellschaftstheorie. Der Feind wird als Klassenfeind definiert: Feinde sind die „der Arbeiterklasse und dem Sozialismus antagonistisch gegenüberstehenden feindlichen Klassenkräfte“ Das bedeutet, daß sie nicht nur außerhalb des Landes stehen.
Diese Differenzierung zwischen „inneren“ und „äußeren“ Feinden ist aber problematisch. Wenn es im „Wörterbuch der Staatssicherheit“ zu dem Begriff „wirtschaftliche Störtätigkeit“ heißt: „Sie wird von imperialistischen Geheimdiensten, anderen Stellen und Kräften außerhalb der DDR, feindlichen Personenkreisen in kapitalistischen Konzernen, Banken und Wirtschaftsunternehmen inspiriert und organisiert“ dann läßt sich hier der Gegner eindeutig lokalisieren. Doch zum gleichen Stichwort heißt es weiter: „Sie wird realisiert durch feindliche personelle Stützpunkte bzw. andere feindliche Kräfte in Form eines Komplexes von Aktivitäten der ökonomischen Schädigungen und Störungen, der sachlichen und personellen Unterwanderung.“ Diese Formulierung läßt offen, ob sich innere Feinde organisieren oder ob äußere nur einen Ortswechsel vornehmen.
Daß man aber letztlich eine verschwörerische Zusammenarbeit dieser Kräftepotentiale annimmt, verdeutlicht die Eintragung zum Begriff „Untergrundtätigkeit“; diese wird bestimmt als „Gesamtheit der im engen Zusammenwirken von inneren und äußeren feindlichen Kräften gegen die sozialistische Staats-und Gesellschaftsordnung gerichteten untergrundspezifischen Handlungen und Aktivitäten“
Hier zeigt sich die Tendenz, den inneren mit dem äußeren Feind zu identifizieren. Damit verlieren die ursprünglich gezogenen Grenzen die Schärfe ihrer Konturen. Die Begriffe fließen ineinander; zwischen ihnen entsteht eine „Grauzone“. Das geschieht aber nicht zufällig. Denn die Staatssicherheit soll weniger zwischen den im Untergrund wirkenden Gegnern differenzieren. Vielmehr verlangte Mielke -noch auf einer Dienstkonferenz im MfS am 26. Februar 1988 -, „daß subversive Kräfte des Gegners schnell erkannt, ihre Handlungen unterbunden und die Liquidierung in kürzester Zeit realisiert werden kann“
III. Feind und feindliche Gruppe
Der Begriff „Feind“ gehört zu den Termini der Staatssicherheit und wird in dem der „politisch-operativen Arbeit“ zugrundeliegenden Wörterbuch entsprechend definiert: „Personen, die in Gruppen oder individuell dem Sozialismus wesensfremde politisch-ideologische Haltungen und Anschauungen absichtsvoll entwickeln und in ihrem praktischen Verhalten durch gezieltes Hervorrufen von Ereignissen oder Bedingungen, die die sozialistische Staats-und Gesellschaftsordnung generell oder in einzelnen Seiten gefährden oder schädigen, eine Verwirklichung dieser Haltungen und Anschauungen anstreben.“ Die Begriffbestimmung verweist also auf Einzelpersonen und Gruppen.
Individuen heißen bei der Staatssicherheit „Feind“ oder „Gegner“. Die beiden Begriffe sind bedeutungsgleich. Außerdem ist die Rede von „feindlichen Personen“, „feindlichen bzw. gegnerischen Kräften“ oder „feindlichen Elementen“. Einige Textausschnitte aus dem „Wörterbuch der Staats-sicherheit“ sowie aus Befehlen und Lageberichten sollen das verdeutlichen: -So stehen im Blickpunkt des MfS Lesungen, in denen „negative Literatur“ verbreitet wird, besonders dann, wenn dazu „feindlich eingestellte Personen bevorzugt hinzugezogen werden“ -Der Prozeß „der Bildung von , Arche'fand im engen Informationsaustausch mit gegnerischen Kräften u. a. in Westberlin“ statt. -„Die über feindliche Elemente und Organisationen der politischen Untergrundtätigkeit bekanntgewordenen Sachverhalte werden von der AKG der Hauptabteilung XX gespeichert.“
Die hier verwendeten Begriffe sind relativ leer. Sie verweisen nur auf die Gegnerschaft und auf die ihr zugrunde liegende Haltung. Das erklärt auch die Häufigkeit ihres Gebrauchs. Das „Feindbild“ gewinnt erst dann deutlichere Züge, wenn bestimmte Handlungen hervorgehoben werden -wie „Spionagetätigkeit“: -„Einen wesentlichen Platz im Instrumentarium der Subversion nimmt der geheimdienstlich gesteuerte Einsatz von Spitzeln und Agenten ein.“
Oder „Sabotage“: -„Das Aufspüren und die Liquidierung von eingeschleusten Diversanten und Saboteuren“ bezeichnete Mielke als eine der wichtigsten Aufgaben der Staatssicherheit, wobei zu bedenken ist, daß das MfS „Diversion“ und „Sabotage“ nicht gleichsetzte; doch galten beide Handlungen als „Staatsverbrechen“ und wurden der „wirtschaftlichen Störtätigkeit“ untergeordnet Überblickt man das zusammengestellte begriffliche Instrumentarium, so fällt das Fehlen des Wortes „Mensch“ auf. Wer mit dem Sprachduktus des Ministeriums für Staatssicherheit vertraut ist, wundert sich darüber nicht. Der Bürokratismus dieser Institution setzte sehr häufig Menschen mit Sachen gleich und bewirkte ihre Verdinglichung Es war von vornherein nicht zu erwarten, daß man gerade bei der Behandlung von „Gegnern“ dieses Prinzip aufgeben würde. So dokumentiert auch das „Feindbild“ des MfS seine Mißachtung des Menschen.
Diese Feststellung wird erhärtet, wenn man mündliche Äußerungen zum Vergleich heranzieht. Im Zustand der Erregung legte Mielke oft das ausgearbeitete Redemanuskript beiseite, verlor dann die Selbstkontrolle und gab seiner Feindseligkeit ungezügelten Ausdruck. So bezeichnete er auf einer Dienstbesprechung am 26. Februar 1988 -die Formulierung findet sich nicht im gedruckten Redeprotokoll -die Bürger seines Landes, die einen Antrag auf Ausreise gestellt hatten, als „Banditen“
Denselben Ausdruck verwendete der Leiter der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, Generalleutnant Gehlert, auf der Dienstbesprechung beim Minister für Staatssicherheit in Berlin am 31. August 1989. Er berichtete dort, daß zum Weltfriedenstag „im Schwerpunkt-Kreis Zwickau organisiert durch die evangelische Kirche in Verbindung mit der Leitung der sogenannten Friedensbibliothek eine Buchlesung des berüchtigten ehemaligen Rechtsanwaltes Henrich“ stattfinde. Aber man habe „eine ganze Reihe Rechtsanwälte unseres Rechtsanwaltskollegiums aus dem Raum Zwickau hindelegiert und gesellschaftliche Kräfte, die dort gewissermaßen diese Banditen, wie man so schön sagt, in die Furche ducken werden“
In derselben Beratung wurde auch wieder über zur Ausreise entschlossene DDR-Bürger gesprochen. Sie wurden von Mielke als „große Drecksäcke“ bezeichnet: „Ein großer Teil derer, die jetzt Weggehen, sind große Drecksäcke. Das ist wirklich so. Ich übertreibe vielleicht etwas damit.“ Trotzdem bedeute ihr Weggang einen Verlust; eigentlich könne man auf niemanden, der arbeiten kann, verzichten: „Auch wenn es so miese Säcke sind, die da Weggehen, bleibt die Tatsache, daß Arbeitskräfte Weggehen.“ Das könne sich der Staat eigentlich nicht leisten, und deshalb müsse man trotz allem das Gespräch mit ihnen suchen und dürfe sich nicht auf den Standpunkt stellen: „dauernd mit diesem Gesockse zu sprechen, das hängt uns bis hierher“ Die aber, die ihren Unmut äußern, sind „Feinde“ und werden „Schweinehunde“ genannt oder „ganz miese Elemente“
Eigentlich entlarven diese Formulierungen ihre Urheber aus sich heraus. Aber es soll hier auf den drastischen Unterschied zwischen schriftlichem und mündlichem Sprachausdruck hingewiesen werden. Der Emotionslosigkeit der geschriebenen Amtssprache steht eine gesprochene Diktion gegenüber, die in sehr tief liegende Sprachschichten hineingreift und Zeichen hervorhebt, die im Grunde begrifflich leer sind, die nur werten und Gefühle ausdrücken. Wenn Mielke in der erwähnten Dienstbesprechung äußert, „die ganze Wut und der Haß des Feindes“ sei auf die DDR gerichtet, dann ist das nichts anderes als eine Selbstaussage.
Große Angst hatte die Staatssicherheit davor, daß als „staatsfeindlich“ eingeschätzte Menschen sich zusammenfanden und womöglich organisierten. Das läßt sich aus einem Lagebericht vom 1. Juni 1989 ablesen: „Es ist einzuschätzen, daß die politischen, ideologischen und subversiven gegnerischen Einwirkungen sowie die von der aktuellen Lage-entwicklung in einigen sozialistischen Ländern ausgehenden Einflüsse unter Teilen der Bevölkerung der DDR gewisse Wirkungen erzielen. Sie zeigen sich insbesondere im Vorhandensein (überschaubarer und unter staatlicher und gesellschaftlicher Kontrolle stehender) personeller Zusammenschlüsse, entsprechender Gruppierungen und Gruppen.“
Außerdem sprach die Staatssicherheit auch von „Konzentrationen“, von „Plattformen“ oder „Stützpunkten“. Diese Wörter, die zum Teil eine militärsprachliche Herkunft haben, bezeichnen eigentlich Sachlich-Gegenständliches und werden auf Menschen übertragen. Nicht nur erfolgte dadurch -wie schon beschrieben -deren Gleich-Setzung mit Objekten. Es wird hier zugleich eine Tarn-und Schutzfunktion erkennbar. Vor anderen wird die Wahrheit hinter diesen Benennungen versteckt, und vor sich selbst braucht sich der Handelnde die Tragweite seines Tuns -etwa bei der „Liquidierung eines Stützpunktes“ -nicht einzugestehen.
Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang auch der Begriff „Opposition“, der eine besondere Betrachtung erfordert. Er wird bestimmt als „Bezeichnung für den vom Gegner angestrebten politisch-organisatorischen Zusammenschluß aller feindlichen, negativen und unzufriedenen Kräfte innerhalb der sozialistischen Staats-und Gesellschaftsordnung“. Der Terminus diene dazu, „das Vorhandensein eines solchen Zusammenschlusses in den sozialistischen Staaten der internationalen Öffentlichkeit vorzutäuschen und die sozialistische Staats-und Gesellschaftsordnung als undemokratisch zu verleumden“ Wo die Staatssicherheit den Begriff verwendet, spricht sie deshalb von der „sogenannten inneren Opposition“ Für sie existiert das nicht, was nicht existieren darf. Dieser Selbstbetrug dauerte bis in die letzten Tage des real existierenden Sozialismus, als sich diese Opposition formierte, um Veränderungen im System herbeizuführen.
IV. Feindliche und negative Kräfte
Die Bestimmung des Begriffs „Opposition“ verdeutlicht, daß es für die Staatssicherheit zwischen den „Feinden“ und denen, die für loyal gehalten werden, eine Zwischenzone gab. Dieses Mittelfeld wird von den Nonkonformisten besetzt. Ihnen mißtraut die Staatssicherheit gründlich und rechnet sie zum Kräftepotential des Imperialismus. Zwar lassen sie sich nicht in das vorgegebene Feindbild einfügen, doch stellen sie einen „Unsicherheitsfaktor“ dar. So gelten sie als „potentielle Feinde“. Auf Grund ihrer Verdächtigkeit müssen sie fortgesetzt überwacht werden. Diesen Sachverhalt drückt die Staatssicherheit auf ihre Weise aus: In der Kreisdienststelle Angermünde wurde im September 1982 im Rahmen eines „Vorbeuge-komplexes“ der Aufenthalt von 18 „operativ interessanten Personen“ aufgespürt und unter Kontrolle gehalten und der Leiter der Bezirks-Verwaltung Erfurt teilt im Juni 1987 dem Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung mit, um „die Entfaltung feindlicher Kräfte auf dem Territorium des Bezirkes zu verhindern“, habe er sich entschlossen, „strafrechtlich relevante Personen fest-zunehmen“ und „operativ relevante Personen zu überwachen“
Alle die Abweichenden, Andersdenkenden, Unzuverlässigen und Schwankenden subsumiert die Staatssicherheit unter die als Oberbegriff fungierende Bezeichnung „negativ“. Tatsächlich wird theoretisch zwischen „negativen Gruppierungen“ und „feindlichen Gruppen“ unterschieden. Die einen stellen nur „lose Zusammenschlüsse“ dar, die anderen „entwickeln aus sich heraus eine Gruppenstruktur“. Dort treffen sich meist Jugendliche mit „relativ gleichen, von der sozialistischen Lebensweise abweichenden Lebens-und Moralauffassungen sowie unklaren, ungefestigten, teils aber schon negativen politisch-ideologischen Einstellungen“. Hier aber kommen Personen zusammen, „die sich eine verfassungsfeindliche Tätigkeit zum Ziel setzen“ und die „Staatsverbrechen planen, vorbereiten, versuchen oder vollenden“
Diese Trennung hat etwas Künstliches, zumal die Staatssicherheit glaubt, daß es von den „negativen“ einen „relativ schnellen Übergang zu staatsfeindlichen Handlungen“ gibt. Deshalb treten die beiden Bezeichnungen in der Praxis meistens gemeinsam auf, durch einen Bindestrich aneinandergekoppelt. Wenn aber der Leiter der Bezirks-verwaltung Karl-Marx-Stadt am 17. April 1985 seinem Minister meldet: „Im Verantwortungsbereich der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt sind mit Stand vom 15. 4. 1985 8 984 feindlich-negative Personen, davon 5 150 Übersiedlungsersuchende, in den spezifisch-operativen Vorbeugungsmaßnahmen erfaßt“, dann liegt die Vermutung nahe, daß die so Stigmatisierten nicht nur als „negativ“ betrachtet wurden, und es verwischen sich die ursprünglich gezogenen Trennlinien. Ähnliche Abgrenzungsschwierigkeiten gibt es bei den Begriffen „Untergrundtätigkeit“ und „Vorfeld der Untergrundtätigkeit“. Das aber bedeutet: Für die Staatssicherheit ist es letztlich eine Ermessensfrage, ob sie „subversive Elemente“ den „inneren und äußeren feindlichen Kräften“ zuordnet oder ob sie in ihren Handlungen lediglich den Ausdruck „gesellschaftswidriger, oppositioneller sowie feindlich-negativer Verhaltensweisen“ erkennt.
So erweist sich das Feindbild des Ministeriums für Staatssicherheit als diffus und verschwommen. Diese Unschärfe ist aber bezweckt. Sie ermöglicht es, den Begriff weit auszudehnen und mit ihm breite Personenkreise zu erfassen -sogar Menschen, die sich selbst gar nicht als „Feind“ begreifen. Der Chemnitzer Künstler Thomas Ranft, der der Künstlergruppe „Clara Mosch“ angehörte, die seit ihrem Bestehen von der Staatssicherheit überwacht und schließlich „zersetzt“ wurde, sagte 1997 in einem Interview: „Dabei haben wir uns nie als Staatsfeinde gefühlt, doch man hat planmäßig versucht, Clara Mosch zu zerstören, was letztlich auch gelang.“
Bei dieser Aktion mußte die Staatssicherheit gar nicht bis zum Äußersten gehen. Das aber hielt sie zum Beispiel in Zwickau bei der „Zersetzung“ der Jungen Gemeinde der katholischen Kirche für nötig. Da wurde einer der Angehörigen, ein Student der Zwickauer Pädagogischen Hochschule, wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Diese Maßnahme wirkte auf die jungen Leute wie ein Schock und bewirkte die bezweckte Auflösung der Gruppe. Auch hier hatte sich keiner der ihr Angehörenden -selbst der als Opfer Ausgesuchte nicht -als „Feind seines Staates“ gesehen.
Mit Hilfe der angestrebten terminologischen Undurchsichtigkeit war das MfS ständig in der Lage, selbst zu entscheiden, wer als „Feind“ zu gelten hatte. Wer aber so kategorisiert war, gegen den wurde entsprechend vorgegangen; und das konnte jederzeit geschehen, wenn es die „Staatsräson“ erforderte, d. h., wenn die Partei den Auftrag dazu gab. Die begriffliche Unschärfe gestattete es, jeden, der nicht mit dem System konform ging, zu kriminalisieren.
Dabei sollte man nicht vergessen, daß die Deklarierung zum „Feind“ nur möglich war, weil ein IM das dafür erforderliche belastende Material zusammengetragen hatte. Und auch an der Ermittlung der Verdachtsmomente waren die Inoffiziellen Mitarbeiter meist wesentlich beteiligt.
V. Kategorisierung der feindlich-negativen Kräfte
Als 1981 in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde, ahnte wohl kaum jemand in der damaligen DDR, daß Partei und Staatssicherheit auf einen solchen Fall ebenfalls bestens vorbereitet waren. Dabei hatte Mielke bereits im Juli 1967 eine Direktive zur Mobilmachungsarbeit erlassen, die besondere „Maßnahmen der Vorbereitung des MfS auf den Verteidigungszustand“ enthielt. In der Durchführungsbestimmung Nr. 1 wurden sie als „Vorbeugungsmaßnahmen“ deklariert und mit „Festnahmen“, „Internierung“, „Isolierung“ und „Überwachung“ genau ausgewiesen. Ihnen wurden paßgerecht bestimmte „Personen und Personengruppen“ zugeordnet, wozu ein Kennziffernsystem diente, das von 4. 1. 1. bis 4. 1. 4. reichte Dadurch wurde eine Subklassifizierung der inneren und äußeren Feinde bewirkt sowie eine pedantische Kategorisierung des Feindbegriffs. 1984 verabschiedete das Ministerium für Staatssicherheit „Instruktiv-methodische Hinweise für die Präzisierung und Komplettierung der Dokumentation der spezifisch-operativen Vorbeugungsmaßnahmen“ und ergänzte die bestehende Skala durch die Ziffer 4. 1. 5., die eine weitere Kategorie von Feinden ausfindig machte und deren Erfassung in Karteien verfügte; und im Januar 1986 erschienen die „Anhalte für die Aufnahme von Personen in die Kennziffern 4. 1. 1., 4. 1. 3., 4. 1. 4. und die Kennziffer 4. 1. 5. der Arbeitsgruppe des Ministers“. Für die zu Internierenden gab es hier keine näheren Bestimmungen; bei allen anderen Kennziffern aber wurde akribisch genau beschrieben, wer dort aufzunehmen war; jedes nur denkbare Fehlverhalten wurde aufgeführt, was ein Ausufern der Dienstanweisung zur Folge hatte und zugleich das verzweifelte Bemühen bekundete, ein lückenloses Feindbild zu entwerfen und dieses regelrecht „auf den Mann zu bringen“
Ein Vergleich dieser Dokumente zeigt, daß sich die Staatssicherheit in diesem Zeitraum prinzipiell nicht verändert hat. Wesen und Zielvorstellungen sind gleichgeblieben. Von den festgelegten Maßnahmen wird keine zurückgenommen -im Gegenteil: Beschlossenes wird ausgebaut und gefestigt. Die Ursache dafür ist auch in der Kontinuität ihrer Leitung zu sehen. Aber hinsichtlich des Feindbildes gibt es Veränderungen -sowohl quantitativer wie qualitativer Art.
Nicht nur wird das System erweitert; auch innerhalb der Kennziffern ist ein beträchtliches Anschwellen zu beobachten. Das soll exemplarisch an der für die „Verhaftung“ vorgesehenen Personengruppe dargestellt werden. 1967 genügten zu ihrer Kennzeichnung noch drei Hinweiszeichen; 1986 wird eine Untergliederung nach zwölf Gesichtspunkten vorgenommen.
Wie sich die Zahl der Feinde vergrößert, nimmt auch ihr Bild andere Züge an. Die Durchführungsbestimmung Nr. 1 von 1967 erwähnt u. a. „ehemalige unverbesserliche faschistische und andere feindliche Elemente“ Die „Anhalte“ von 1986 sehen eine Verhaftung derer vor, die „innerhalb einer sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung aktiv in Erscheinung getreten sind“, „unter demagogischer Tarnung wie der Wahrung der Menschenrechte bzw.des Umweltschutzes massive Aktivitäten entwickelt haben“ oder „Forderungen nach einer Veränderung der Staats-und Gesellschaftsordnung in der DDR durch die Verbreitung von Auffassungen über einen .demokratischen Sozialismus und neue Sozialismusmodelle aufgestellt haben“
In dieser Erweiterung und Differenzierung des Feindbildes bilden sich Prozesse ab, die sich seit Beginn der achtziger Jahre im politischen Leben vollzogen haben. Erkennbar werden das Erstarken der Opposition und ebenso die Vielseitigkeit ihrer regimekritischen Ansätze. Die „Radikalisierung der Oppositionsbewegung ab 1988“ sowie das „Anwachsen der Zahl der Ausreisewilligen und die zunehmende Bereitschaft, ihr Anliegen öffentlichkeitswirksam zu vertreten“, waren schließlich die Hauptursachen für die „finale Krise des SED-Regimes, in der auch die Instrumente der Staats-sicherheit versagten“
VI. Anonymer Feind und Feindperson
Das im Wörterbuch, in den ministeriellen Richtlinien, in den Befehlen und Lageberichten entworfene Feindbild ist letztlich aus Worten aufgebaut. Von den Mitarbeitern der Staatssicherheit wird es auch in dieser Weise angeeignet und verinnerlicht. Das heißt, es bleibt abstrakt. Es begegnet in Texten, nicht in der Wirklichkeit. Es gibt keinen persönlichen Feind. Der Feind trägt keinen Namen. Er ist anonym, eine Chimäre, ein Phantom.
Die Richtlinie Nr. 1/79 aber, die die Inoffiziellen Mitarbeiter und die Gesellschaftlichen Mitarbeiter für Sicherheit in ihrer Tätigkeit anleitet, verlangt, daß dem Feind mit „Abscheu und Haß“ begegnet wird; zu den Eigenschaften einer „tschekistischen Persönlichkeit“ gehört „Haß im Kampf gegen den Feind“; seine Entstehung wird, der marxistischen Sozialdoktrin entsprechend, aus dem „gesellschaftlichen Sein“ abgeleitet, denn Haß ist der „emotionale Ausdruck der unversöhnlichen Klassen-und Interessengegensätze zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie“. Er ist „bestimmender Bestandteil der tschekistischen Gefühle, eine der entscheidenden Grundlagen für den leidenschaftlichen und unversöhnlichen Kampf gegen den Feind“. Die „Auseinandersetzung mit dem gehaßten Gegner begnügt sich nicht mit Abscheu und Meldung“, sondern sie ist „mit dem Bedürfnis verbunden, ihn zu vernichten oder zu schädigen“
Sicher ist es relativ leicht, einem „Feind“, den man nicht kennt, eine solche Einstellung entgegenzubringen. Doch besteht die Möglichkeit, daß sie nur in verbaler Form existiert. Das Vokabular kann jederzeit abgerufen werden. Ob es sich und wie tief es sich psychisch eingedrückt hat, kann nicht festgestellt werden. Das Funktionieren der angeeigneten Ideologie zeigt sich erst bei der persönlichen Begegnung. Das MfS sieht diese Problematik durchaus. Es betont, „Aufgabe und Ziel der klassenmäßigen Erziehung“ sei die „Stärkung und Vertiefung“ des Hasses „in der Praxis des Klassenkampfes“ bei der Konfrontation mit „einem konkreten und realen“ Feind.
Für diesen schafft sich die Staatssicherheit eine eigene und spezifische Benennung. Am 8. September 1980 teilt die Bezirksverwaltung Leipzig im Zusammenhang mit der Ablehnung eines Ausreiseantrags der Kreisdienststelle Döbeln mit: „Weiterhin informieren wir Sie, daß lt. Urteil des Bezirksgerichtes Cottbus der X. zur Feindperson im Sinne des § 97 StGB erklärt wurde.“
Hier liegt eine Neubildung vor, die speziell für den Kommunikationsbereich des Staatssicherheitsdienstes geschaffen wurde, nur in ihm Gültigkeit hatte und auch nur dort Verwendung fand. Durch dieses neue Wort „Feindperson“ wird die Abstraktion des Feindbildes aus ihrer Anonymität herausgehoben; der „Klassenfeind“ erfährt in ihm seine Konkretisierung und Identifizierung.
Bezeichnenderweise begegnet man solchen Vorgängen in den Akten, deren Diktion sich auch dadurch von der der ministeriellen Anweisungen und Befehle unterscheidet. Dabei stellt die Erklärung eines Menschen zum Feind, eines Bürgers des eigenen Staates, eine sprachliche Handlung dar, der in ihrem fast pathetischen Gestus etwas Mittelalterlich-Makabres anhaftet. Was aber die „Erklärung zur Feindperson“ tatsächlich bedeutete, das haben letztlich nur diejenigen erfahren, die in Verhören oder im „Strafvollzug“ die Staatssicherheit persönlich kennenlernten. Sie konnten feststellen, daß das zum abstrakten „Feindbild“ theoretisch Angeeignete an ihnen, der unmittelbar gegenüberstehenden „Feindperson“, in die Tat umgesetzt wurde.
Der an der Leipziger Universität tätige Physiker Günter Fritzsch wurde, als er sich weigerte, IM zu werden, in Untersuchungshaft genommen. „Vom ersten Tag seiner Haft an beugten und verletzten die Stasi-Offiziere das Recht der DDR.“ So erfuhr er nichts über seine Rechte als Beschuldigter; als er sich darauf berief, doch „in einem Staat mit entwickelter Demokratie zu leben“, wurde er zynisch belehrt: „Sie täuschen sich, hier drinnen herrscht keine Demokratie, bei uns herrscht Diktatur, die Diktatur des Proletariats. Das ist unversöhnlicher Klassenkampf. Sie sind unser Klassengegner.“ Die Feindperson.
Und die Erfurter Schriftstellerin Gabriele Stötzer, die als politisch Inhaftierte ein Jahr im Frauenge-fängnis Hoheneck im ehemaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt zwischen Kriminellen und Mörderinnen abzusitzen hatte, verweist auf „die heimliche unterschwellige Gemeinheit der Stasi“. Sie beschreibt in bewegenden Worten, welche seelischen Verheerungen „ihre unausgesprochenen kleinen Gemeinheiten“ anrichteten, „die darauf aus waren, nicht nur die Deutschen in zwei Bewußtseinsklassen, sondern auch im Einzelnen zu isolieren, zu verunsichern, zu vereinsamen und, falls es mit der Selbstzensur nicht klappt, zum viel königlicheren Selbstmord zu führen“