I. Ende einer Legende
Schon zu Zeiten ihrer Existenz war sie Legende -die offiziell so bezeichnete Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) im Ministerium für Staatssicherheit (MfS), das heißt der für Auslandsaufklärung und Gegenspionage sowie für Aktive Maßnahmen, Desinformation und Zersetzung zuständige Apparat in der Überwachungs-und Unterdrükkungsmaschinerie Erich Mielkes. Sie gehörte zum MfS wie die operative Abwehr und die Untersuchungsorgane sowie die Funkaufklärung und ganz besonders auch das Wachregiment „Feliks Edmundowitsch Dzierzynski“, das zuletzt Divisionsstärke erreicht hatte; ihm waren Aufgaben der inneren Sicherung und des Personenschutzes übertragen. Erst die Bündelung dieser Strukturen und Kompetenzen in einer Hand, und zwar in der Entscheidungsgewalt der Nomenklatura der SED, machte das MfS zu dem, was es sein sollte und auch sein wollte: „Schild und Schwert der Partei -ein konstitutives Herrschaftsinstrument.“
Während den Diensteinheiten der Abwehr von jeher das Odium geheimpolizeilichen Unrechts anhaftete, war die HV A immer Gegenstand von Legendenbildung, die durch ihre Spionageerfolge lange Zeit begünstigt wurde. Diese sind gewiß unumstritten, auch wenn sie gelegentlich überschätzt, ihre Niederlagen häufig ignoriert werden. Mit dem Ende des DDR-Sozialismus zeichnete sich eine insoweit neue Tendenz ab, als die Legende der HV A um eine sonderbare Nuance bereichert wurde: In dem Maße, wie in der DDR Bevölkerung die Empörung über die Repression durch das MfS wuchs, wie seine „falsche Sicherheitsdoktrin“ und die daraus resultierende „totale flächendeckende Überwachung“ von radikaler öffentlicher Kritik überzogen wurde, in demselben Maße nahmen Versuche der einst Verantwortlichen zu, die HV A vom MfS zu abstrahieren. Die HV A sollte als ein Geheimdienst wie andere auch erscheinen, vergleichbar dem Bundesnachrichtendienst zum Beispiel, wenn auch mit entgegengesetzter politischer Stoßrichtung. Auf diese Weise schien die HV A von ihrer Mitverantwortung für die Verbrechen des MfS entlastet. Hier elitäre Aufklärung, da ordinäre Abwehr -das war das Grundmuster dieser Argumentation, deren sich vor allem der langjährige Leiter der HV A, Markus Wolf, und sein Nachfolger seit 1986, Werner Großmann, bedient haben. Indes trifft der Titel eines Insider-Reports über die HV A den Kern der Sache. Er lautet: „Die Legende stirbt.“
Die Legende vom „sauberen“ Auslandsnachrichtendienst, der mit der „schmutzigen“ Arbeit der Abwehr nichts zu tun gehabt haben will, wurde auch durch die Entstehungsgeschichte der HV A genährt. Ihre Anfänge reichen zurück bis zum 16. August 1951, als durch Beschluß der Parteiführung die Gründung eines Außenpolitischen Nachrichtendienstes (APN) der DDR verfügt wurde Vierzehn Tage später nahm er, getarnt als „Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung“, unter unmittelbarer Anleitung und Kontrolle durch sowjetische Geheimdienstoffiziere, seine Arbeit in Bohnsdorf auf, einem Vorort von Berlin. Seine Leitung lag in den Händen von Anton Ackermann, damals Kandidat des Politbüros der SED und Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR. Zu den Aktivisten der ersten Stunde zählten Arthur Illner alias Richard Stahlmann, Gerhard Heidenreich, Robert Korb, Gustav Szinda und Markus Wolf. Geheimdienstliche Angriffsziele waren West-Berlin und die Bundesrepublik.
Das MfS hatte in der Tat folglich (noch) nichts mit dem APN zu tun. Vielmehr entsprach er institutioneil dem Komitee für Information (KI), das in den Jahren 1947 bis 1951 als Auslandsnachrichtendienst der UdSSR in der Verantwortung des sowjetischen Außenministeriums existierte. Erst nachdem das Politbüro der SED am 23. September 1953 im Zuge umfassender Neuregelungen zur Arbeit der Staatssicherheit u. a. auch beschlossen hatte, den APN in den Apparat der Staatssicherheit einzugliedern änderte sich die Zuständigkeit. Mit dieser Verlagerung erfolgte zum einen eine Angleichung an das sowjetische Vorbild, denn in Moskau war das KI zwischenzeitlich dem MGB wieder eingegliedert worden, zu dem es ursprünglich schon gehörte. Zum anderen zog die Führung der SED damit auch eine politische Konsequenz aus der Entmachtung Wilhelm Zaissers, der nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 als Mitglied des Politbüros der SED und erster Minister für Staats-sicherheit gestürzt, später auch aus der SED ausgeschlossen wurde. Der sowjetische Hochkommissar in der DDR. Wladimir S. Semjonow, sein Stellvertreter Pawel N. Jüdin sowie der Chef der sowjetischen Sicherheitsorgane in Ost-Berlin, Jewgenij P. Pitowranow, hatten den Beschluß selbstverständlich gebilligt. „Ihre Vorschläge waren in den Beschluß mit eingearbeitet.“
Strukturell wurde die DDR-Auslandsspionage vorläufig als Hauptabteilung XV mit nachgeordneten Abteilungen XV auf Bezirksebene und Verbindungsoffizieren der „Linie XV“ auf Kreisebene in das Organisationsgefüge der Staatssicherheit eingebaut. Chef der Hauptabteilung XV war von Anfang an Markus Wolf. Als durch Ministerratsbeschluß vom 24. November 1955 der im Zusammenhang mit Zaissers Sturz zeitweilig in ein Staatssekretariat im Ministerium des Innern umgewandelte Apparat der Staatssicherheit unter Leitung von Ernst Wollweber erneut den Status eines eigenständigen Ministeriums erhielt, wurde die Aufklärung zur Hauptverwaltung A aufgewertet. Wolf wurde einer der Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit. In dieser Eigenschaft war er zugleich Mitglied des Kollegiums im MfS, eines mehr oder minder regelmäßig zusammentretenden Beschluß-und Beratungsgremiums, in dem Grundsatzentscheidungen der Staatssicherheit, aber auch operative Großaktionen erörtert wurden. Seine Mitglieder berief der Minister aus dem Kreis sei ner Stellvertreter und der wichtigsten Hauptabteilungsleiter. Auch der Chef der Parteiorganisation in der Staatssicherheit war Mitglied des Kollegiums. Die HV A, die zunächst in Berlin-Johannisthal, später in Berlin-Lichtenberg domizilierte, verfügte im MfS zwar über eine gewisse Eigenständigkeit, insofern ihr Stab, ihre Abteilungen und Arbeitsgruppen sowie ihre Schule in Belzig, später in Gosen konspirativ besonders abgeschirmt waren, aber davon wurde ihre Zugehörigkeit zum MfS nicht berührt. Auch die verschiedenen Hauptabteilungen und selbständigen Abteilungen der Abwehr waren aus Gründen der Geheimhaltung gegeneinander abgeschirmt. Alle Strukturen liefen indes in der Spitze des Ministeriums zusammen. Seit seiner Berufung zum Minister für Staatssicherheit hatte Mielke sie fest im Griff. Auch Wolf und Großmann waren seiner Befehlsgewalt unterworfen. Wo das sachlich geboten war, hatten Aufklärung und Abwehr selbstverständlich zusammenzuarbeiten und sich gegenseitig zu ergänzen. Alle Richtlinien, Ordnungen, Dienstanweisungen, Befehle und sonstige Führungsdokumente des Ministers für Staatssicherheit waren für die HV A grundsätzlich genauso verbindlich wie für die Diensteinheiten der Abwehr.
Die „operative Arbeit der Diensteinheiten der Aufklärung des MfS“ war in ihrer Zielsetzung keineswegs darauf beschränkt, „die Sicherheit und die Interessen der DDR, der sozialistischen Staatengemeinschaft, der kommunistischen Weltbewegung und anderer revolutionärer Kräfte gefährdende und beeinträchtigende Pläne, Absichten, Agenturen, Mittel und Methoden des Feindes rechtzeitig und zuverlässig aufzuklären“, wie in der einschlägigen Richtlinie Nr. 2/79 ihre Hauptaufgabe umschrieben worden war, sondern sie erstreckte sich auch darauf, „zur Aufdeckung und Zerschlagung feindlicher Stützpunkte und Agenturen in der DDR ... beizutragen“ Die HV A war folglich in aller Form in die innere Repressionsfunktion des MfS eingebunden. Ihr Metier war nicht allein die Auslandsspionage und es kann auch keine Rede davon sein, daß die diesbezügli-eben Bestimmungen in MfS-Führungsdokumenten nur auf geduldigem Papier standen. Sie waren im Gegenteil Anleitung für die operative Arbeit der HVA.
Unbestreitbar haben es Wolf und Großmann, der lange Jahre zu seinen Stellvertretern zählte, ehe er zum Nachfolger aufrückte, verstanden, die HV A zu einem effizienten Geheimdienst auf-und auszubauen. Der Bestand an hauptamtlichen Mitarbeitern belief sich in der Endzeit der DDR in der Zentrale sowie in den Strukturen auf Bezirks-und Kreisebene nach Angaben Großmanns auf insgesamt 4 126, „darunter rund 30 Prozent operative“ die die inoffiziellen Mitarbeiter steuerten, die mehrere tausend zählenden Spione und Agenten der HV A im „Operationsgebiet“, die Mielke so gern als „Kundschafter an der unsichtbaren Front“ verklärt hat.
Freilich dürfen Quantität und Qualität nicht verwechselt werden. Wolf selbst hat die Zahl der „Quellen“, aus denen wirklich Geheimnisse sprudelten, auf „immer unter fünfhundert oder um die fünfhundert“ beziffert. „Aber von diesen fünfhundert sind nun wiederum wirklich nur der zehnte Teil also die, über die sich tatsächlich zu reden lohnt.“ Dies ist eine realistische Größenordnung. Sie relativiert zugleich die Erfolgsbilanz der HV A, die ihr Image bei Freund und Feind geprägt haben.
II. Leitung, Struktur, Organisation der HV A
In der Endzeit der DDR standen dem Leiter der HV A -er war mit dem Rang eines Generaloberst ausgestattet -fünf Stellvertreter zur Seite: vier Generalmajore und ein Oberst, die jeweils für bestimmte Arbeitsbereiche verantwortlich waren. Funktional unterschieden sich die Abteilungen der HV A, die ihrerseits in Referate untergliedert waren, nach Beschaffung, Auswertung, Logistik und Verwaltung. Der Stab der HV A war für den Entwurf von Grundsatzdokumenten sowie für die interne Koordinierung und die Nutzung der Zentralen Personendatenbank zuständig. Stichwortartig läßt sich die Struktur der HV A, die zugleich eine ungefähre Vorstellung von Umfang und Zielsetzung ihrer Aktivitäten vermittelt, wie folgt darstellen:
Abteilung I war für die Ausforschung des Bundeskanzleramtes, der Bundesministerien und oberen Bundesbehörden zuständig. Die Abteilung II konzentrierte ihre Tätigkeit auf die Führungsgremien von Parteien, Organisationen und Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen im Westen. In die Verantwortung der Abteilung III fielen legal abgedeckte Residenturen in den DDR-Auslandsvertretungen im westeuropäischen Ausland sowie spezifische Entwicklungshilfe in der Dritten Welt. Metier der Abteilung TV war die Militärspionage. Dem Sektor Wissenschaft und Technik mit den Abteilungen V (Wissenschaftlich-technische Auswertung) und XIII (Aufklärung Grundlagenforschung) sowie XTV (Aufklärung Elektronik, Optik, EDV) und XV (Aufklärung Wehrtechnik und Maschinenbau) oblag die Beschaffung von wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen aus hochentwickelten Industriestaaten, die, wo immer möglich, für die Industrie der DDR nutzbar gemacht wurden. Funktionen unterstützender und logistischer Art waren nicht weniger wichtig für die Effizienz der HV A. So war die Abteilung VI für die illegale Einschleusung und „legale Über-siedlung“ von Agenten in die Bundesrepublik und in Drittländer zuständig. Der Abteilung VII waren Auswertung und Information sowie die Erarbeitung politischer und ökonomischer Lageanalysen zugeordnet. Die Abteilung VIII entwickelte operative Technik.
Eine besonders wichtige Aufgabe, die Gegenspionage, war der Abteilung IX zugewiesen. Ihre Mitarbeiter waren für geheimdienstliche Operationen gegen den BND und den Verfassungsschutz, den MAD sowie das BKA und die Landeskriminalämter zuständig. Sie entstand 1973, als die ursprünglich bei der Hauptabteilung II des MfS (Spionageabwehr in der DDR) ressortierenden Aufgaben der „äußeren Spionageabwehr“ der HV A überantwortet wurden. Die Abteilung X zeichnete für Aktive Maßnahmen, Desinformation und Zersetzung verantwortlich, sie ließ Fernseh-und Hörfunksender sowie die Redaktionen wichtiger Zeitungen und führende Journalisten in Westdeutschland „bearbeiten“, lancierte aber auch „Enthüllungen“, finanzierte Tarnschriften und steuerte Einflußagenten. Oder in Wolfs Version: „Die Hauptaufgaben unserer Abteilung für Aktive Maßnahmen bestanden darin, die subversiven Aktivitäten der gegnerischen Seite publik zu machen und gleichzeitig durch den gezielten Einsatz von Fakten und Dokumenten, angereichert mit selbstfabriziertem Material, Personen und Institutionen der Bundesrepublik in Mißkredit zu bringen, die der DDR feindlich gesonnen waren.“ Von gezielten Desinformationsmanövern spannte sich der Bogen bis hin zu Maßnahmen zur Kompromittierung und Zersetzung durch verdeckte Operationen
Auf welche Formen der Zersetzung die Aufklärung wie die Abwehr zurückgreifen konnten, war in der Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge geregelt. Von der „systematischen Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben“ reichten die sinistren Weisungen bis zur „systematischen Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen“ und dem „Erzeugen von Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen, Gruppierungen und Organisationen“, zum Beispiel „durch zielgerichtete Ausnutzung persönlicher Schwächen einzelner Mitglieder“ Auch und gerade die HV A hat, wie sich konkret belegen läßt, solche Zersetzungsmaßnahmen angewandt. Keine Schmutzarbeit?
Spionage in Nordamerika und in US-Einrichtungen in der Bundesrepublik war Sache der Abteilung XI. Sie wurde flankiert durch die Abteilung XII, bei der die Spionage gegen NATO und Europäische Gemeinschaft ressortierte. Die Abteilung XVI war auf die Nutzung legaler Beziehungen und Kontakte in DDR-Auslandsvertretungen zu Spionagezwecken spezialisiert. Abteilung XVII hatte Grenzschleusungen wahrzunehmen. Die Planung und Vorbereitung von Sabotageaktionen im Operationsgebiet lag in den Händen der Abteilung XVIII. Die Aufgaben der Abteilung XIX lassen sich mit den Stichworten Schulung und Betreuung zusammenfassen. Mit dem operativen Einsatz von Kommunikationstechnik und Computer-Spionage durch Eindringen in fremde Datennetze war die Abteilung XX befaßt. Die Abteilung XXI (Rückwärtige Dienste) hatte die Aktivitäten der HV A materiell-technisch und finanziell sicherzustellen. Zudem existierten Arbeitsgruppen für spezielle Aufgaben, zum Beispiel die Arbeitsgruppe des Leiters, betraut mit Planungen zur Mobilmachung, die Arbeitsgruppe Operative Betreuung, die sich in Zusammenarbeit mit der Abteilung XIX um Ex-Agenten kümmerte, die aus dem Operationsgebiet zurückgezogen worden waren, oder die Arbeitsgruppe Sicherheit mit Aufgaben im Bereich der inneren Abwehr der HV A und der Sicherung des Agentennetzes im Operationsgebiet. Die Aufzählung ist nicht vollständig.
Vertikal stützte sich die Aufklärung auf die Abteilungen XV in jeder Bezirksverwaltung des MfS, die ihrerseits nach Bedarf eingesetzte Offiziere in den Kreisdienststellen besaßen. Für ihre Anleitung durch Instrukteure war die Arbeitsgruppe XV/BV zuständig.
Solange die HV A existierte, mußte sie sich engen Bindungen an den Auslandsnachrichtendienst des KGB fügen, wenn diese Bindungen auch im Laufe der Zeit dem Wandel von der Subordination zur Kooperation unterlagen. Während früher die sowjetischen Genossen unmittelbar Anleitung und Kontrolle schon im APN und hernach in der Aufklärung des MfS ausübten, zeigte das KGB seit den sechziger Jahren eher Zurückhaltung und nahm seine operativen Interessen offiziell durch Verbindungsoffiziere in der Leitung und in einzelnen Abteilungen wahr. Natürlich hatte das KGB Zugriff auf alle wesentlichen Informationen, die in der HV A „erarbeitet“ wurden. Dennoch konnte ein eingefleischtes Mißtrauen der Russen gegenüber den „deutschen Freunden“ nie gänzlich abgebaut werden. Insider wissen davon, daß das KGB auch im MfS inoffizielle Quellen besaß und „sich für Informationen, die es über die regulären Kanäle nicht mit Sicherheit zu erhalten hoffte, auf , vertrauenswürdige Kontakte'im MfS verließ“
III. Auftrag, Aktionsfelder, Erfolge der HV A
Dem generellen Auftrag der Aufklärung, wie er in der Richtlinie Nr. 2/79 definiert worden war, entsprachen die zweifellos mit dem KGB abgestimmten Aktionsfelder, wie sie in demselben Dokument abgegrenzt waren: „Das Operationsgebiet der Diensteinheiten der Aufklärung erstreckt sich insbesondere auf die USA, die BRD, die anderen NATO-Staaten und West-Berlin. Zunehmende Bedeutung gewinnt die operative Arbeit in Richtung VR China, in internationalen Krisenzonen und in ausgewählten Entwicklungsländern.“ Schwerpunkte bildeten allerdings immer die Aktivitäten der HV A in West-Berlin und der Bundesrepublik. Seit den achtziger Jahren wurde die HV A zudem in Polen offiziell und inoffiziell tätig, um die DDR gegen politisch-ideologische Einflüsse der polnischen Oppositionsbewegung abzuschirmen.
Die Leistungsbilanz der HV A war gewiß beachtlich. Es wäre unsinnig, sie im nachhinein bagatellisieren zu wollen. Allein die Lancierung eines Spions an die Seite eines Bundeskanzlers -das war schon ein Coup sondergleichen, auch wenn die Konsequenzen, die der Fall Günter Guillaume im Hinblick auf den Sturz Willy Brandts gezeitigt hat, letztlich den politischen Interessen der DDR-Regierung eher geschadet als genutzt haben dürften. Es hat lange gedauert, bis jenes Minimum an Vertrauen in den Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin wiederhergestellt war, das Wolfs Operation im Kanzleramt beschädigt hatte.
Neben dem Fall Guillaume zählte zu dieser Bilanz der Fall Gabriele Gast, zuletzt Regierungsdirektorin beim BND in Pullach. Sie wurde als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Aufklärung erst nach dem Ende der DDR enttarnt. Durch Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 19. Dezember 1991 erhielt sie eine Strafe von sechs Jahren und neun Monaten Freiheitsentzug. Ähnlich verhielt sich die Sache im Fall der Gebrüder Alfred und Ludwig Spuhler: „Maulwurf“ der eine in der Zentrale des BND, sein Kurier der andere. Beide wurden wegen Landes-verrats am 15. November 1991 vom Bayerischen Obersten Landesgericht in München zu zehn bzw. fünfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ein weiteres As in Wolfs Agentenpoker war Klaus Kuron, Oberamtsrat in der Spionageabwehr des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln, der rund acht Jahre lang für die HV A tätig war. Er hatte sich selbst angeboten -und 1990 stellte er sich auch selbst den Strafverfolgungsbehörden. Vom Oberlandesgericht Düsseldorf wurde er am 7. Februar 1992 zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch der Fall Rainer Rupp (Deckname „Topas“) und seiner Ehefrau Christine Ann („Türkis“). Beide haben lange Jahre im Internationalen Stab der NATO in Brüssel Spionage getrieben. Auch Rupp, der nach der Anklage die Hauptschuld auf sich nahm, erhielt am 17. November 1994 vom Oberlandesgericht Düsseldorf zwölf Jahre Freiheitsstrafe. Seine Frau kam mit einer Bewährungsstrafe davon.
Die Beispiele von „Spitzenquellen“ ließen sich um Dutzende weitere Fälle fortführen. Nicht zuletzt ist an die Sekretärinnen in Bonner Ministerien und Parteizentralen zu erinnern, die von sogenannten „Romeos“, Offizieren der HV A, unter Vortäuschung von Zuneigung und Liebe zur Spionage geworben oder mißbraucht wurden. Im Regelfall mußten die Opfer nicht nur mit Freiheitsstrafen, sondern mit tiefer Enttäuschung und menschlicher Verletzung dafür zahlen.
Bei der Einschätzung dieser Erfolge ist zu bedenken, daß die HV A in West-Berlin und der Bundesrepublik denkbar günstige Voraussetzungen für Spionage vorgefunden und sie fraglos auch geschickt und skrupellos zu nutzen gewußt hat. Im Unterschied zu ausländischen Geheimdiensten operierte sie in ein-und demselben Land, ihre Residenten, Instrukteure, Kuriere, Agenten und Spione sprachen dieselbe Muttersprache, sie standen also nicht vor Sprachbarrieren, sie bewegten sich daher ungezwungen, ihre Ein-und Ausreise konnte unauffällig erfolgen, auch hatten sie zur Mentalität und zur Moral der Menschen in West-Berlin und Westdeutschland eine ungebrochene Beziehung, was die Kontaktaufnahme wesentlich erleichterte.
Andererseits sollten die Erfolge der HV A nicht zu ihrer Überschätzung verleiten. Von strategischem Wert dürften ihre Erkenntnisse allenfalls in militärischer Hinsicht gewesen sein, zumal für den War-schauer Pakt, aber politisch und ökonomisch haben sie für die DDR Entscheidendes nicht bewirkt. Mielke selbst hat in seiner vielbelachten ersten und letzten Rede in der Volkskammer am 13. November 1989 („Ich liebe euch doch alle“) völlig zu Recht beklagt, daß die Informationen des MfS „nicht immer berücksichtigt“ worden wären. „Sogar auf Konferenzen“ hätten er und seine Genossen die Bitte vorgebracht, „daß man unsere Informationen ernst nimmt und sie auswertet“ Auch die Informationen der HV A dürften von der politischen Führung nur zur Kenntnis genommen worden sein, wenn sie mit ihrer vorgefaßten Meinung übereinstimmten.
IV. Niederlagen der HV A
Weniger als die Erfolge haben sich dem öffentlichen Bewußtsein die Niederlagen eingeprägt, die die Aufklärung ebenfalls hinzunehmen hatte. Wolfs erste Schlappe als Chef der HV A war der Übertritt von Hauptmann Max Heim, der am 16. April 1959 nach West-Berlin floh. Als Referatsleiter hatte er fünf Jahre lang in der Aufklärung Dienst getan. Seine Aussagen ermöglichten nicht nur die Festnahme von rund zwei Dutzend Agenten -genauso wichtig waren seine Informationen über die Struktur der HV A, die gerade eine umfangreiche Reorganisation erfahren hatte.
Es hat zu verschiedenen Zeiten immer wieder „Verratsfälle“ in der HV A gegeben, wenn auch nicht immer so spektakuläre wie bei der Flucht des ehemaligen Oberleutnants Werner Stiller, eines Führungsoffiziers im Sektor Wissenschaft und Technik, der sich am 19. Januar 1979 in West-Berlin meldete, nachdem er zuvor Kontakte zum BND unterhalten hatte. Dank sorgfältiger Vorbereitung konnte er bei seinem Absprung auf Mikrofilm übertragene Materialien in beträchtlicher Zahl mitbringen. Sie führten zur Dekonspirierung mehrerer Dutzend IM der DDR-Industrie-und Wissenschaftsspionage mit der Folge, daß ein Teil von ihnen zur Flucht in die DDR genötigt wurde, der andere Teil in der Bundesrepublik vor Gericht gestellt werden konnte. Stillers Enthüllungsbuch „Im Zentrum der Spionage“ löste erhebliche Irritationen in der HV A aus. Tragischer verliefen andere Versuche zur Flucht in den Westen. So wurde am 11. September 1980
Werner Teske in Ost-Berlin festgenommen, bis zu diesem Tage Hauptmann in der HV A, der, frustriert von seinen Erfahrungen im Dienst, einen Frontwechsel in den Westen vorbereitet hatte. Zu diesem Zweck hatte er interne Unterlagen zu sich in die Wohnung mitgenommen, Dienstdokumente, Adressenverzeichnisse, war aber zuletzt vor dem „Verrat“ zurückgeschreckt. Es half ihm nichts. Obwohl er zu keiner Zeit Kontakt zu einem westlichen Nachrichtendienst gesucht, sein Vorhaben also tatsächlich aufgegeben hatte, wurde Teske nach zweitägiger Geheimverhandlung vor dem 1. Militärstrafsenat des Obersten Gerichts der DDR am 11. Juni 1981 wegen Spionage im schweren Fall und Vorbereitung zur Fahnenflucht zum Tode verurteilt und fünfzehn Tage später in Leipzig erschossen.
Für die Staatssicherheit stand dieses Urteil von vornherein fest. Wie aus einem Schreiben von Oberst Armin Walß, Abteilungsleiter in der Hauptabteilung IX des MfS, hervorgeht, war die Todesstrafe schon sieben Wochen vor der Hauptverhandlung offenkundig in Übereinstimmung mit der Hauptverwaltung A und der für Spionageabwehr zuständigen Hauptabteilung II im MfS präjudiziert worden.
Mittelbar oder unmittelbar war die Aufklärung auch an der Vorbereitung und Durchführung politischer Menschenraubaktionen beteiligt, die im allgemeinen von der Abwehr inszeniert wurden. Dies festzustellen ist um so notwendiger, als ihre führenden und dafür verantwortlichen Männer eben-dies zu leugnen versuchen. „Also Entführung, da muß ich widersprechen . . erwiderte Wolf auf eine entsprechende Interview-Frage, er könne „mit gutem Gewissen sagen“, daß er „weder direkt noch indirekt mit irgendwelchen Tötungsdelikten, Verschleppungen, Freiheitsberaubungen und auch nicht mit der Unterstützung der RAF-Leute zu tun hatte“ Und Großmann, sein Nachfolger, behauptete in einem Offenen Brief an Wolfgang Schäuble ebenso dreist wie wahrheitswidrig: „Es ist einfach unwahr, daß es in unserer Tätigkeit , Entführungen, Anschläge und Morde'gegeben“ habe; er könne versichern, daß ihm in seiner Tätigkeit „solch schwerwiegende strafbaren Handlungen nicht bekanntgeworden“ seien. Tatsächlich ist Wolf durch das Urteil des 7. Strafsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. Mai 1997 wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei Fällen und wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Nötigung in zwei Fällen zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt worden Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig.
Gegenstand des Verfahrens war erstens der Entführungsfall Christa Trapp, einst Sekretärin in einer Dienststelle der US-Hochkommission in West-Berlin, die gemeinsam mit ihrer Mutter nach einem von Wolf handschriftlich genehmigten und sogar verbesserten Maßnahmenplan der HVA-Abteilung II am 16. Juni 1955 von West-nach OstBerlin verschleppt und zur Spionage genötigt worden war. Unmittelbar nach ihrer und ihrer Mutter Rückkehr nach West-Berlin hatte sie sich ihrem Vorgesetzten offenbart, so daß sich die Operation für Wolf als Flop erwies. Am Straftatbestand änderte das natürlich nichts.
Der zweite Entführungsfall betraf Walter Paul Thräne, ehemals Hauptmann in der HV A, der gemeinsam mit seiner Freundin am 11. August 1962 nach West-Berlin geflüchtet, aber knapp vier Wochen später auf abenteuerliche Weise via Österreich und die Tschechoslowakei in die DDR „zurückgeführt“ worden war. Der Ex-Offizier wurde später, am 24. September 1963, vom Bezirksgericht Neubrandenburg zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt und verblieb zehneinhalb Jahre in Isolationshaft. Gegen seine Freundin wurde das wegen Republikflucht eingeleitete Strafverfahren nach mehrjähriger Untersuchungshaft eingestellt.
In beiden Entführungsfällen war die Aufklärung unmittelbar tangiert. Informationen der HV A waren es auch, die bei der Entführung Heinz Brandts eine Rolle gespielt haben. Der schon in der nationalsozialistischen Zeit als Kommunist und Jude verfolgte Journalist war am 20. Juni 1961 aus West-nach Ost-Berlin verschleppt worden. Am 10. Mai 1962 wurde er vom 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR zu dreizehn Jahren Zuchthaus verurteilt, aufgrund internationaler Proteste jedoch am 23. Mai 1964 nach „Gnadenerweis“ freigelassen.
Nach solchen Aktionen und Aktivitäten blättert vom Talmiglanz der HV A eine gehörige Menge ab -und Wolf und Großmann müssen sich der Unwahrheit zeihen lassen.
V. Die Kooperation von Aufklärung und Abwehr
Ergänzend zu den Aktionen der Aufklärung im Rahmen der klassischen Spionage hatte sie auch zur Gewährleistung der inneren Sicherheit der DDR beizutragen. Konkret bedeutete dies die Einbeziehung der Aufklärung in die DDR-interne Überwachungs-und Unterdrückungsfunktion des MfS, die hauptsächliche Aufgabe der Abwehr, die ihrerseits, freilich in beschränktem Umfang, auch grenzüberschreitende Operationen durchführen konnte, etwa bei illegalen Ermittlungen in West-Berlin und der Bundesrepublik oder bei Verschleppungen. Generell bildeten Aufklärung und Abwehr in ihrer gegenseitigen Ergänzung eine Einheit. Für die HV A war es ehernes Gesetz, was ihr Chef auf einem Zentralen Führungsseminar des MfS vom 1. bis 3. März 1971 in einem Grundsatzreferat mit der Forderung umschrieb, „daß Aufklärer abwehrmäßig denken und handeln müssen“. Und weiter: „Durch die ständige Erziehungsarbeit auf diesem Gebiet ist die Anzahl der Operativinformationen an die Abwehrabteilungen von Jahr zu Jahr beträchtlich gestiegen, die zum Teil von wesentlicher Bedeutung waren und zu Festnahmen von Agenten in der DDR führten.“ Die politische Verfolgung im Innern der DDR war zu keiner Zeit allein Sache der Abwehr.
Wie sah das konkret aus? Zum Beispiel unterrichtete die HV A die zuständigen Diensteinheiten der Abwehr, wenn ihr über ihr inoffizielles Netz Informationen oder belastende Dokumente zugänglich wurden, die sich im Kampf gegen oppositionelle und widerständige Kräfte in der DDR verwenden ließen. Oder Informationen über bedrängte DDR-Bürger, die sich an bundesdeutsche Ministerien oder Menschenrechtsorganisationen gewandt hatten und deren Briefe „Kundschaftern“ in die Hände gefallen waren, leitete die HV A unverzüglich an die Abwehr weiter.
Die Aufklärung war, wie die Richtlinie Nr. 2/79 und andere Führungsdokumente belegen, dazu verpflichtet. Auch in der Dienstanweisung Nr. 2/85 zur vorbeugenden Verhinderung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit waren der HV A bei der Verfolgung politisch Andersdenkender in der DDR als „spezifische Aufgaben“ u. a. die „rechtzeitige Aufklärung und beweiskräftige Dokumentierung der Pläne, Absichten und Maßnah-men feindlicher Führungszentren und -kräfte zur Inspirierung und Organisierung politischer Untergrundtätigkeit in der DDR“ aufgetragen, „insbesondere hinsichtlich der Strategie und Taktik der angewandten Mittel und Methoden sowie der wirksam werdenden Kräfte, der Steuerung von im Sinne politischer Untergrundtätigkeit in der DDR und anderen sozialistischen Staaten wirkenden Kräften durch Geheimdienste, Zentren der politisch-ideologischen Diversion und andere feindliche Zentren“ Diese gleichsam offensive Zielsetzung ergänzte eine defensive Aufgabenstellung, wonach der HV A auch die „Erarbeitung von Hinweisen auf im Sinne politischer Untergrundtätigkeit in der DDR wirksame personelle Stützpunkte bzw. Führungskräfte, den vorgesehenen Aufbau solcher Kräfte sowie auf deren Verbindungssystem“ aufgegeben war.
Wie das Zusammenwirken von Aufklärung und Abwehr in der alltäglichen Arbeit funktionierte, spiegelt sich in einem von Wolf Unterzeichneten dienstlichen Schreiben vom 4. Mai 1982 wider: Der Leiter der Aufklärung übermittelte dem damaligen Chef der Hauptabteilung XX, Generalmajor Paul Kienberg, Erkenntnisse aus der Spionage „zur Unterstützung der operativen Bearbeitung von Eppelmann“ Die Hauptabteilung XX des MfS war zuständig für die Bekämpfung von „ideologischer Diversion“ und „politischer Untergrundtätigkeit“.
Der für Untersuchungen zuständigen Hauptabteilung IX stellte die HV A auch schon mal gerichts-verwertbares Belastungsmaterial zur Verfügung. Ihre Agenten traten, soweit sie dekonspiriert werden konnten, in Strafprozessen vor DDR-Gerichten als Belastungszeugen auf. Gelegentlich wurde das in höchstrichterlichen Urteilen sogar ausdrücklich hervorgehoben. In einem Urteil des 1. Strafsenats des Obersten Gerichts vom 19. Oktober 1967, das gegen zwei Angeklagte wegen vermeintlicher Sabotage erging, wurden die Namen von neun Belastungszeugen genannt und ihre „spezifischen Kenntnisse“ mit dem Hinweis erklärt: „Die meisten dieser Zeugen hatten teilweise mit Wissen der Sicherheitsorgane der DDR mit dem BND und der CIA zusammengearbeitet oder die immer gefährlicher werdenden Praktiken und das Zusam-menspiel der Geheimdienste und ihrer getarnten Filialen untereinander sowie insbesondere mit den Konzernen in Westdeutschland unmittelbar erlebt.“
Die Unterstützung der Abwehr durch die Aufklärung ist vielfach belegbar, weil sie alltäglich war. Umgekehrt haben Diensteinheiten der Abwehr wie die Abteilung M („Postkontrolle“) oder die Hauptabteilung III („Funkelektronischer Kampf“) ihre Erkenntnisse der HV A automatisch zugeleitet, soweit sie operativ relevant sein konnten. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen. „Wir profitierten von dem, was die Bereiche der Abwehr taten“, bestätigen zwei ehemalige Mitarbeiter aus der HV A. „Wir hatten Zugang zu den Erkenntnissen der Abwehrdiensteinheiten und nutzten natürlich diese Möglichkeit für unsere operative Arbeit. Und wir revanchierten uns dafür, indem wir geeignete Informationen der Abwehr übergaben. In der HV A war die von Mielke und der Abwehr praktizierte . flächendekkende Überwachung'nahezu des gesamten Volkes gewiß nicht sonderlich geschätzt und wurde von ihr schon gar nicht forciert. Denn nicht selten hinderte uns dieses Mißtrauen in unserer eigenen Arbeit, die sich ganz anderer Methoden bedienen mußte, wollte sie erfolgreich sein. Aber wir hatten uns der falschen Sicherheitsdoktrin auch nie entgegegengestellt, sondern von ihren Resultaten genommen, was uns nützte.“
Ein besonders fatales Beispiel für das Zusammenwirken von Aufklärung und Abwehr läßt sich an dem Fall Horst Garau festmachen Der in Cottbus ansässige Kreisschulrat war inoffiziell für die HV A als Instrukteur im Westeinsatz tätig gewesen, als er 1976 vom Bundesamt für Verfassungsschutz „überworben“ wurde und fortan als „Counterman“ tätig war. 1982 wurde er durch Kuron dekonspiriert. Um die Quelle nicht zu gefährden, unterblieb seine Verhaftung drei Jahre lang -bis zum Übertritt Hansjoachim Tiedges, jenes Referatsgruppenleiters im Bundesamt für Verfassungsschutz, der am 19. April 1985 zum MfS überlief. Horst Garau und seine Ehefrau Gerlinde wurden festgenommen, was scheinbar auf Tiedges Aussagen zurückzuführen war. In getrennten Verfahren wurde Gerlinde Garau zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt -ihr Mann vom Militärobergericht Berlin wegen Spionage im schweren Fall mit lebenslanger Freiheitsstrafe belegt. Unter mysteriösen, bis heute ungeklärten Umständen ist er am 12. Juli 1988 in der Sonder-haftanstalt Bautzen II zu Tode gekommen -nach offizieller Version durch Selbsttötung durch Erhängen. Seine Witwe ist davon überzeugt, daß Totschlag oder Mord vorliegt.
Auf jeden Fall macht das Schicksal Garaus anschaulich, wie eng Aufklärung und Abwehr im MfS kooperiert haben. Das den Kadern der HV A immer wieder eingehämmerte „abwehrmäßige Denken“ hat Wolf selber übrigens stets beherzigt -bis zuletzt. Noch am 6. Januar 1986 -elf Monate vor seinem Ausscheiden aus dem MfS -legte er dem „Genossen Minister Armeegeneral Mielke“ eine Art Rechenschaftsbericht vor, in dem er den „Beitrag der Hauptverwaltung A zur Gewährleistung der inneren Sicherheit der DDR“ bilanziert hatte. In dem Papier wurden unter anderem solche „abrechenbaren Ergebnisse“ für die HV A reklamiert wie die „Abstimmung und Durchführung von Maßnahmen bei der Bekämpfung der PID und der Untergrundtätigkeit sowie der im Operationsgebiet tätigen Organisationen zur Schaffung des politischen Untergrundes in der DDR“ oder wie die „Erarbeitung einer Vielzahl von Einschätzungen und Informationen für Diensteinheiten der Abwehr zur Frage , Wer ist wer'?“. Im Visier hatte der Chef der HV A konkret „feindliche und negative Personen innerhalb von Kirchenkreisen der DDR und der sogenannten blockübergreifenden Friedensbewegung“, bei denen er Verbindungen zu den Kirchen im Westen witterte. „Kundschafter des Friedens“ im Einsatz gegen die unabhängige Friedensbewegung -auch das war Realität.
Auf derselben Linie lag eine Weisung der AG XV/BV der HV A vom 19. Oktober 1987, in der auf operative Erfordernisse aus dem Entstehen einer inneren Opposition in der DDR für die Abteilungen XV in den Bezirksverwaltungen für Staats-sicherheit aufmerksam gemacht wurde. Unter anderem wurden sie auf eine „stärkere operative Beachtung“ dessen orientiert, was abfällig als „Polittourismus als eine Form und Methode der Einwirkungsmöglichkeit des Gegners auf negative Personen und Gruppierungen in der DDR“ bezeichnet wurde. „Hier gilt es im Zusammenwirken mit den Diensteinheiten der Abwehr die Aktivitäten dieser Kräfte sowie ihre Kontaktarbeit unter Kontrolle zu bringen und die Verbindungslinien im Operationsgebiet aufzuklären.“ Je näher die DDR ihrer Endzeit entgegendriftete, desto enger gestaltete sich das Zusammenwirken von Abwehr und Aufklärung im MfS. Als die Diktatur der SED das Stadium ihrer Agonie erreicht hatte, stellte die Leitung der HV A Mitarbeiter aus ihrem Kaderbestand sogar zur Einschüchterung der demonstrierenden Massen bereit. „Im Geiste übereifriger Subordination schickte sie sogar noch in den Oktobertagen 1989 eigene Offiziere zu Sicherungseinsätzen, von denen sie wußte, daß diese gegen das aufbegehrende Volk gerichtet waren.“
VI. Kaderpolitische Aspekte
Bezeichnend dafür, daß die Aufklärung ein genuiner Bestandteil des MfS gewesen ist, nicht anders als die Abwehr, war im übrigen die Austauschbarkeit der Kader. Selbst Spitzenfunktionen der Aufklärung wurden mit Männern besetzt, die sich in der Abwehr im Sinne des Regimes bewährt hatten -und umgekehrt: Mitarbeiter der HV A wechselten in Funktionen der Abwehr. Für die Betroffenen waren es verschiedene Aufgaben im Dienst ein-und derselben tschekistischen Sache. Für den Sachverhalt, der eine eigene Analyse verdiente, hier nur einige prominente Beispiele: -Hans Fruck (1911-1990): 1950 Leiter der Verwaltung Groß-Berlin des MfS -in der HochZeit des Kalten Krieges durchaus eine Schlüsselfunktion -, 1956 Wechsel zur HV A bis 1977, zuletzt als stellvertretender Leiter der HV A im Rang eines Generalmajors. Hier war er für die Kontrolle des Bereichs Kommerzielle Koordinierung unter Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski zuständig, ehe dieser Mielke direkt unterstellt wurde. -Otto Knye (1920-1993): 1950 hauptamtlicher Mitarbeiter der Landesverwaltung Schwerin des MfS, 1951 Versetzung nach Ost-Berlin als stellvertretender Abteilungsleiter in der Hauptabteilung V im MfS -in dieser Funktion unter anderem an der Entführung von Rechtsanwalt Walter Linse aus West-Berlin beteiligt 1953 Abteilungsleiter in derselben Hauptabteilung V. 1956 wechselte er als Abteilungsleiter in die Hauptverwaltung A (zuständig für Militärspionage), 1962-1966 Freistellung für „Sonderaufgaben“ in der Aufklärung, 1966 Rückversetzung in die Abwehr zum Operativstab (1971 Arbeitsgruppe) beim 1. Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, Bruno Beater; zuletzt im Rang eines Oberst. -Robert Korb (1900-1972): 1952 Leiter der Hauptabteilung II im Außenpolitischen Nachrichtendienst, 1956 stellvertretender Leiter der Hauptverwaltung A. 1959 Wechsel zur Abwehr und bis 1965 Leiter der Zentralen Informationsgruppe des MfS, zuletzt im Rang eines Oberst.
-Gustav Szinda (1897-1988): 1951 Abteilungsleiter im Außenpolitischen Nachrichtendienst, 1953 Hauptabteilung XV. 1954 Versetzung zur Abwehr und im MfS Leiter der für die Abschirmung und Sicherung des Ministeriums des Innern zuständigen Hauptabteilung VII. Von 1958 bis 1965 Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Neubrandenburg im Rang eines Generalmajors. -Alfred Scholz (1921-1978): 1950 Leiter der für Untersuchungen zuständigen Abteilung/Hauptabteilung IX im MfS, als solcher verantwortlich für zahlreiche Verletzungen der Gesetzlichkeit durch die Untersuchungsorgane des MfS, der Mann übrigens, der Linses erste Vernehmung nach der Verschleppung persönlich durchgeführt hat. 1956 versetzt zur HV A, 1958 Leiter der Arbeitsgruppe des Ministers, 1975 Stellvertreter des Ministers für Staats-sicherheit im Range eines Generalmajors.
Die Beispiele belegen die kaderpolitische Fluktuation zwischen Abwehr und Aufklärung und machen so anschaulich, „daß sich die Aufklärungsorganisation der DDR stets als Teil des Ministeriums für Staatssicherheit verstanden hat. Ihren Personalnachwuchs rekrutierte sie aus dem Gesamtfundus des Ministeriums, auf dessen Doktrinen die Aufklärung verpflichtet war, und sie selbst verstand sich als untrennbarer Teil der deutschen TscheKa“ Die Führungskader im MfS wurden dort eingesetzt, wo es die Politbürokratie der SED für nötig befand, und sie waren deshalb austauschbar. Letztlich verstanden sie sich alle durchweg als „Tschekisten“, die Aufklärer ebenso wie die grauen Genossen der Abwehr, gleichviel, wo im MfS sie Dienst taten. Sie empfanden sich in der Tradition der 1917 geschaffenen TscheKa der Leninschen Geheimpolizei, die unter ihrem Vorsitzenden Feliks Edmundowitsch Dzierzynski ihrer terroristischen Exzesse wegen frühzeitig einen furchtbaren Nimbus erwarb. Auf eigentümliche Weise charakterisiert es das Selbstverständnis der Kader im Ministerium für Staatssicherheit, wenn ausgerechnet die blutige Geschichte der TscheKa die Traditionspflege im MfS inspirieren sollte.
Das gilt selbstredend auch für die Diensteinheiten der HV A. Nicht nur Erich Mielke, auch Markus Wolf gerierte sich als „Tschekist“, so lange er die Uniform mit den golddurchwirkten Schulterstükken des Generalobersten im Staatssicherheitsdienst trug. Tschekistisches Denken und Wollen hat er nicht nur expressis verbis propagiert und praktiziert. Er hat „seine“ Tschekisten, die „Kundschafter an der unsichtbaren Front“, sogar in Versen feiern lassen: „Euer Dienst ist die Aufklärung, /Namen bleiben geheim, /unauffällig die Leistungen. /Stets im Blickfeld der Feind. /Das Gespräch mit Genossen, /viel zu selten daheim. /Für das Tragen der Orden /bleibt oft nicht mehr die Zeit“ -so die erste Strophe eines sentimentalen Kampfliedes, das im Genossenkreis bei geselligem Beisammensein gern gesungen wurde. Und der Refrain: „Wachsam sein, immerzu, /und das Herz ohne Ruh', /Auch in friedlicher Zeit /nie geschont. Tschekisten, /Beschützer des Friedens der Menschen -Soldaten /der unsichtbaren Front.“ Es war ein Lied der sowjetischen Tschekisten -verantwortlich für ungeheuerliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit -, dessen Übersetzung aus dem Russischen der „Spionagechef im geheimen Krieg“ Markus Wolf selbst besorgt hat. In seinen Erinnerungen zitiert er seine „Nach-dichtung“ nicht. Wohlweislich.