I. Vorbemerkung
Die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wird seit dem Untergang der SED-Diktatur in erster Linie als Problem der Ostdeutschen wahrgenommen: In Ostdeutschland, so die allgemeine Vorstellung, hatte die DDR-Staatssicherheit die Bevölkerung einer nahezu lückenlosen Kontrolle unterworfen, in Ostdeutschland wurden Kritiker der SED verfolgt, „zersetzt“ oder in Haft genommen, in Ostdeutschland wurde dabei auch eine große Zahl von Menschen zu Mittätern in einem gigantischen Überwachungs-und Repressionsapparat. Die Ostdeutschen sind es somit auch, die nun vor der schwierigen Aufgabe einer „zweiten“ Vergangenheitsbewältigung in Deutschland stehen. Tatsächlich ist die Tätigkeit des MfS aber zu einem erheblichen Maße auch auf den Westen ausgerichtet gewesen. Zwei der insgesamt sechs Millionen erfaßten Menschen in der Zentralkartei des MfS waren Bundesbürger. Auch in Westdeutschland hatte die Staatssicherheit ein engmaschiges Überwachungsnetz ausgelegt, wurden SED-Kritiker aller Art „bearbeitet“, „zersetzt“ oder in den fünfziger Jahren zwecks Inhaftierung in die DDR verschleppt. Auch im Westen rekrutierte die DDR-Staatssicherheit Tausende von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die die Aufgabe hatten, die kommunistische Macht in Ostdeutschland zu sichern und zu festigen. Auch durch die westdeutsche Gesellschaft verläuft somit eine unsichtbare Trennlinie zwischen „Opfern“ und „Tätern“, die bislang freilich kaum ins öffentliche Bewußtsein getreten ist.
Die Gründe für die Reduktion der Stasi-Aufarbeitung auf Ostdeutschland sind vielschichtig: Zum einen ist die Aktenüberlieferung zur West-Arbeit des MfS ungleich lückenhafter als zur Tätigkeit innerhalb der DDR. Durch die vom Runden Tisch legitimierte und von der letzten DDR-Regierung zu Ende geführte Selbstauflösung der Hauptverwaltung A (HV A) ist bis auf einen unbedeutenden Restbestand ein großer Teil der operativen Akten über Opfer und Täter im Westen beseitigt worden. Politiker, Wissenschaftler oder Schriftsteller aus der Bundesrepublik, die ihre persönliche Akteneinsicht als öffentlichen Aufarbeitungsprozeß inszenieren könnten, waren fast immer von der HV A „erfaßt“; aufgrund der Aktenvernichtung können ihnen von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) zumeist nur unbedeutende Schriftstücke vorgelegt werden -oftmals sind nicht einmal mehr ihre Karteikarten vorhanden.
Auch die anderen rund 200 Diensteinheiten des MfS, die im Westen operierten, haben nach der Wende die als politisch heikel eingestuften Akten über den Westen systematisch vernichtet, so daß die West-Aktivitäten in ihrem jeweiligen „Verantwortungsbereich“ -von der „Volkswirtschaft“ über die „Spionageabwehr“ bis zu den Kirchen -nur mit großen Schwierigkeiten zu rekonstruieren sind. Geschlossene „Operative Vorgänge“ (OV) gegen prominente Persönlichkeiten aus der Bundesrepublik sind ebenso selten überliefert wie vollständige Akten über Inoffizielle Mitarbeiter in Westdeutschland, die in zentralen Bereichen der Wirtschaft, der Politik, des Militärs, der Medien oder der Kultur operierten.
Zum zweiten ist das Interesse an einer kritischen Aufarbeitung der westdeutschen Stasi-Vergangenheit nicht eben übermäßig ausgeprägt. Während man in Ostdeutschland verständlicherweise die eigene Unterdrückungsgeschichte in den Mittelpunkt stellt, sind es in Westdeutschland in erster Linie politische Vorbehalte, die einer Auf-deckung der vielschichtigen MfS-Bezüge entgegenwirken. Schon die Öffnung der Stasi-Akten mußte 1990 von Bürgerrechtlern der DDR gegen starke Widerstände aus Bonn durchgesetzt werden, und die HV A konnte ihre systematische Spurenbeseitigung auch dann noch weiterführen, als in der DDR eine CDU-geführte Regierung ins Amt kam. Auch die Bereitschaft, Überprü-fungen auf eine Stasi-Verstrickung durchzuführen, ist im Westen kaum vorhanden, so daß von dieser Seite ebenfalls keine Impulse zur Aufarbeitung ausgehen. Vor allem aber rührt die Thematisierung der West-Arbeit des MfS an politische Tabus, da die Einflußnahme der DDR-Staatssicherheit im Westen ungleich stärker war, als viele heute eingestehen mögen. Von den großen „Skandalen“ der sechziger Jahre um Globke oder Lübke über die positive Rezeption der Studentenbewegung, der Entspannungspolitik oder der Friedensbewegung bis hin zu den zahllosen „stillen“ Verbindungen in die DDR von Politikern, Kirchenführern, Unternehmern oder Journalisten -das Selbstbild bestimmter gesellschaftlicher Eliten des Westens wäre durch eine Dekonspirierung der MfS-Bezüge im Westen oftmals unmittelbar in Frage gestellt.
Zum dritten ist die „Arbeit im und nach dem Operationsgebiet“, wie das MfS den Westen nannte, in besonderer Weise der Legendenbildung ausgesetzt. Während Offiziere der nach innen gerichteten Stasi-Diensteinheiten es kaum wagen würden, ihre frühere Tätigkeit öffentlich als „tugendhaft“ zu bezeichnen oder als Versuch, ein „realistisches Bild vom Gegner“ zu gewinnen, finden sich jedoch ebendiese Verklärungsformeln in den meisten der inzwischen zahlreichen „Erinnerungen“ früherer HV A-Mitarbeiter Insbesondere der langjährige Leiter der HV A, Generalleutnant Markus Wolf, der im Frühjahr 1997 zu zwei Jahren Haft auf Bewährung wegen Freiheitsberaubung in vier Fällen verurteilt wurde, hat es verstanden, der West-Arbeit des MfS in der Öffentlichkeit die Aura eines geradezu sportlichen und vom Humanismus getragenen Anliegens zu verleihen
Zahlreiche andere Beteiligte, von den DDR-Unterhändlern und MfS-Mitarbeitern Vogel und Schalck-Golodkowski bis zu vielen der wegen Spionage für das MfS verurteilten „Quellen“ im Westen, haben -nicht zuletzt um einer Strafverfolgung zu entgehen -in ähnlicher Weise die West-Arbeit der Staatssicherheit verharmlost
II. Zur Bedeutung der „Arbeit im und nach dem Operationsgebiet“
1. West-Arbeit als „Hauptaufgabe“
In der fast vierzigjährigen Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit genoß die Arbeit im Westen Deutschlands zu allen Zeiten höchste Priorität. Schon bei der Gründung des MfS rechnete der damalige Minister des Inneren, Karl Steinhoff, neben dem Schutz der DDR-Wirtschaft vor „Anschlägen verbrecherischer Elemente“ den „entschiedenen Kampf gegen die Tätigkeit feindlicher Agenturen, Diversanten, Saboteure und Spione“ zu den Hauptaufgaben des Ministeriums Im Mittelpunkt des Aufklärungsinteresses standen damals Institutionen wie der „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ (RIAS), der „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“ (UfJ), die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) und die „Vereinigung Opfer des Stalinismus“ (VOS), die vom MfS allesamt als „Agentenzentralen“ betrachtet wurden. Alle Informationen über diese vornehmlich in West-Berlin ansässigen Einrichtungen wurden seit Beginn der fünfziger Jahre zentral gesammelt, und detaillierte Anweisungen regelten ihre Aufklärung und Bekämpfung
Nach den Ereignissen des 17. Juni 1953 forcierte die Staatssicherheit ihre West-Arbeit, da aus Sicht der SED die eigentlichen „Drahtzieher“ des Aufstands im Westen saßen. Ihr neuer Chef, Ernst Wollweber, erklärte, daß man über die Absichten des Gegners erst dann genaue Informationen haben werde, wenn die Informatoren der Staatssicherheit in den „feindlichen Zentren“ selbst seien. Überall, in jeder Kreisdienststelle, müsse deshalb die Möglichkeit überprüft werden, „wie wir unsere Arbeit nach dem Westen verstärken können, d. h. in diese Zentralen hineinkommen ... Die Schaffung der Möglichkeiten hierfür ist Aufgabe jedes Mitarbeiters.“ Kurz darauf wurde der bis dahin separate „Außenpolitische Nachrichtendienst“ (APN) unter Markus Wolf in das MfS integriert und im Statut der DDR-Staatssicherheit das Recht verankert, gleichermaßen „in Westdeutschland, Westberlin und in der DDR effektiv arbeitende Agenturen zu errichten und zu unterhalten“
Tatsächlich gelang es der Staatssicherheit nun vermehrt, durch Agenten in den „Feindorganisationen“ und andere „operative Maßnahmen“ herauszufinden, welche DDR-Bürger Kontakt zu diesen aufgenommen hatten oder gar aktiv deren Arbeit unterstützten. So verschaffte beispielsweise der persönliche Sekretär des früheren DGB-Vorsitzenden Willi Richter, Wilhelm Gronau, dem MfS Zugang zum Panzerschrank in der Bonner SPD-Zentrale, in dem die Personalkartei des Ostbüros aufbewahrt wurde -zahlreiche Verhaftungen und die Zerschlagung des Unterstützernetzes in der DDR waren die Folge Gleichzeitig verschleppte die Staatssicherheit exponierte Gegner des SED-Regimes wie den Journalisten Karl Wilhelm Fricke in den Osten, um sie dort zu hohen Haftstrafen zu verurteilen Zur Bestätigung der Propaganda-behauptung, daß der „faschistische Putsch“ am 17. Juni von den westlichen „Kriegstreibern“ organisiert worden sei, fand zum ersten Jahrestag des Juni-Aufstandes ein Schauprozeß statt, dessen Angeklagte ausnahmslos vom Staatssicherheitsdienst nach Ost-Berlin verschleppt oder dorthin gelockt worden waren
Während der innere Widerstand mittels dieser Strategie der „konzentrierten Schläge“ zunehmend gebrochen werden konnte, richtete sich die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes ab Mitte der fünfziger Jahre verstärkt gegen Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Die Ausforschung, Infiltrierung und Bekämpfung von Politik, Wirtschaft und Militär im Westen gewann, ausgelöst von entsprechenden sowjetischen Direktiven, zunehmend an Bedeutung. 1955 beschloß die SED, auch in den Bezirksverwaltungen (BV) für Staats-Sicherheit eigene Abteilungen XV für die „Aufklärung“ des Westens einzurichten Der Aufklärungsapparat wurde um 100 zusätzliche Mitarbeiter aufgestockt und ein Jahr später zur Hauptverwaltung A ausgebaut. „Ich stelle“, so Wollweber auf einer Dienstbesprechung im August 1955, „die Verstärkung der Aufklärungsarbeit, nicht nur die Verstärkung durch die Abteilung XV, sondern insgesamt die Aufklärungsarbeit mit voller Absicht in den Mittelpunkt unserer Aufgaben in der nächsten Zeit ... Die Chefs der Bezirksverwaltungen müssen sich in Zukunft mindestens die Hälfte der Zeit mit der Verstärkung der Arbeit zum Eindringen in die feindlichen Agentenzentralen im Westen beschäftigen.“ Und auf das damals noch offene West-Berlin bezogen: „ 1. In Westberlin darf nichts passieren, was wir nicht wissen. 2. Wir müssen einen Zustand erreichen, wo in Westberlin jeder Agent damit rechnen muß, daß er in kurzer Zeit bei uns ist, ein Gefühl der Unsicherheit und 3. wir müssen bei den Agenten in Westberlin eine solche Psychose erzeugen, daß sie auf verlorenem Posten stehen, und auch bei Angehörigen des Staatsapparates in Westberlin, der Senatsverwaltung usw. ..., das heißt, wir müssen darauf hinarbeiten, daß sich eine Reihe Leute auf Rückversicherung einstellen.“
Obwohl die starke West-Orientierung Wollwebers nach seinem Sturz vom Zentralkomitee der SED kritisiert wurde maß ihr auch sein Nachfolger, Erich Mielke, zentrale Bedeutung zu. So verlangte er auf einer Kollegiumssitzung im Februar 1958 vom MfS eine „Verstärkung und Unterstützung der Arbeit der Partei nach Westdeutschland“ und erklärte: „Es ist an der Zeit, geeignete leitende Kader auszuwählen, die nach Westdeutschland gehen und gute Agenturen aufbauen ... Diese Leute sind nur mit dieser Aufgabe zu beschäftigen, um in die wichtigsten Stellen einzudringen. Die Beschaffung operativer Informationen durch die Aufklärung muß verstärkt werden ... Wir müssen den Feind so schlagen, daß er mit sich selbst zu tun hat und gezwungen wird, die Hetze und Verleumdung gegen unsere Partei und die DDR einzustellen.“ Die hermetische Abriegelung der DDR durch den Mauerbau im August 1961 führte nicht dazu, daß das MfS seine Arbeit im Westen reduzierte oder gar einstellte -nur die technischen und „operativen“ Bedingungen hatten sich aus der Sicht des MfS geändert. Grenzübertritte waren nun schwieriger zu organisieren, doch durch die totale Kontrolle des Reiseverkehrs hatte man jetzt ein außerordentlich wirksames Instrument zur „Filtrierung des .. . passierenden Personenkreises“ in die Hand bekommen -auf „Feinde“ wie auf für das MfS „interessante“ Personen und Personengruppen Auch in den sechziger Jahren beharrte Mielke darauf, „daß die Aufklärung in der Arbeit des MfS einen größeren Platz als bisher einnehmen muß ..., weil die Basis für die Feindtätigkeit im wesentlichen außerhalb des Territoriums unserer Republik liegt“
In eine neue Phase trat die West-Arbeit, als sich im Zuge der Entspannungspolitik die Beziehungen zwischen Ost und West nach und nach normalisierten. Aus Sicht des MfS waren damit vor allem „Gefahren“ für die DDR verbunden, bald erkannte man aber auch die zusätzlichen Chancen für die Tätigkeit im „Operationsgebiet“. 1967 warnte Mielke vor „den verstärkten Versuchen des Gegners zur Intensivierung der politisch-ideologischen Diversions-und Aufweichungspolitik, der sogen. Kontaktpolitik und auf dem gesamten Gebiet der sogen. Ostpolitik“ (Hervorhebungen im Original). Er forderte deshalb, „stärker in solche Gremien in Westdeutschland einzudringen, in denen die Politik Bonns gegen die DDR beschlossen bzw. beraten wird“ Auf der anderen Seite stellte er einige Jahre später fest: „Die Erfahrung zeigt z. B. bei vielen Besuchern aus dem Operationsgebiet eine wachsende Bereitschaft zum politischen Gespräch, gerade auch bei den Menschen, für die wir uns am meisten interessieren. Wie bereits in der zentralen Planvorgabe für 1975 hervorgehoben, ist und bleibt es eine der vorrangigen Aufgaben, die sich in allen operativen Diensteinheiten bietenden bzw. bereits vorhandenen Möglichkeiten zur Schaffung neuer, operativ interes-sanier Verbindungen in das Operationsgebiet planmäßig zu erschließen.“
Die zentrale Bedeutung der West-Arbeit wurde auch im neuen MfS-Statut von 1969 bekräftigt: Zu den „Hauptaufgaben“ zählte danach an erster Stelle, „feindliche Agenturen zu zerschlagen, Geheimdienstzentralen zu zersetzen und andere politisch-operative Maßnahmen gegen die Zentren des Feindes durchzuführen“ Seit den frühen siebziger Jahren wurde die Basis der West-Arbeit dann sukzessive verbreitert, indem Aufgaben der „Abwehr“ und der „Aufklärung“ immer stärker miteinander verwoben wurden. Geradezu sprunghaft an Bedeutung gewann auch die elektronische Aufklärung der Bundesrepublik durch die 1971 geschaffene Abteilung III, deren Mitarbeiterzahl sich innerhalb weniger Jahre verdoppelte. Systematisch belauschte sie in der Bundesrepublik Telefongespräche und Funksprüche, deren Inhalt ständig analysiert und an alle betroffenen Dienst-einheiten weitergegeben wurde.
Neben der Aufklärung und Beeinflussung der westdeutschen Verhandlungspositionen gegenüber der SED ging es dem MfS vor allem darum, ein politisches, ideologisches und ökonomisches „Eindringen“ des Westens in die DDR im Zuge der zunehmenden Ost-West-Verbindungen zu verhindern. Darüber hinaus bekam der Apparat die Aufgabe, systematisch die DDR-freundlichen Kräfte im Westen durch „aktive Maßnahmen“ zu stärken und die Bekämpfung DDR-kritischer Bestrebungen in der Bundesrepublik -die soge-nannte „äußere Abwehr“ -zu intensivieren. Auf Aktivtagungen und Dienstkonferenzen, in Plan-vorgaben, Weisungen und Befehlen verlangte Erich Mielke immer wieder, „konkreter zu wissen, welche imperialistischen Geheimdienste, andere Zentren, Organisationen und Kräfte des Klassen-gegners bestrebt sind, feindliche Stützpunkte in der DDR zu schaffen“ Entsprechend umfangreich waren die Aktivitäten des MfS im Westen, um dem Minister „beweiskräftiges“ Material aus Geheimdiensten, Verbänden, Ministerien, Instituten und Konzernen zu liefern. Über seine Agenten sollte es „in die Zentren und Spitzen des Gegners (eindringen), um die Pläne und Maßnahmen dort zu erkunden, wo sie festgelegt werden ... Es kommt darauf an, alles zu erkunden und zu nutzen, was der Politik der Partei gegenüber der BRD und Westberlin nützt, und alles aufzuklären, was dieser Politik entgegenwirkt und was sich gegen unsere Republik richtet.“ Ab Ende der siebziger Jahre wurden die gesammelten „Daten über den Gegner“ auch in ein in Moskau befindliches gemeinsames Speichersystem eingegeben -bis Ende 1987 immerhin von über mehr als 170 000 Personen
Die Anstrengungen, den Westen nachrichtendienstlich zu durchdringen, nahmen in den achtziger Jahren weiter zu, je deutlicher die Anzeichen für den politischen und ökonomischen Niedergang der DDR wurden. Zur frühzeitigen Erkennung von „Aggressionsabsichten“ des Westens verpflichtete Mielke 1985 das gesamte MfS zur systematischen Aufklärung entsprechender Indikatoren im Westen Zugleich unterwanderte man systematisch Parteien, Organisationen und Bewegungen, um dort im Sinne der SED Einfluß zu nehmen. Allein die BV Berlin betrieb 1984 die „namentliche Aufklärung von ca. 800 Westberliner Politprominenten“, obgleich die eigentliche Zuständigkeit dafür bei der HV A lag Darüber hinaus wurden die Wirtschaftsspionage, die Beschaffung von Embargo-Gütern und die nachrichtendienstliche Suche nach Ansatzpunkten „für die Erweiterung des Exports der DDR“ verstärkt Vor allem aber ging es Mielke um die „Bekämpfung feindlicher Stellen und Kräfte im Operationsgebiet, die subversiv gegen die DDR und andere sozialistische Staaten tätig sind“ -von der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) bis zum Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung an der Freien Universität Berlin (ZI 6)
2. West-Arbeit als „Gesamtaufgabe“ des MfS
Zu den Legenden über die Geheimpolizei der SED gehört es, daß die West-Arbeit der DDR-Staatssicherheit von der inneren Repression losgelöst gewesen sei oder -mit den Worten von Markus Wolf -daß die „Aufklärer ... nicht verantwortlich für die Unterdrückung im Innern des Landes“ gewesen wären Tatsächlich waren innere und äußere Aufgaben von Anbeginn untrennbar miteinander verwoben Angesichts der ungewissen Zukunft des ostdeutschen Halb-staates, der bis 1961 offenen Grenze und der auch danach fortbestehenden vielfältigen Beziehungen zwischen Ost-und Westdeutschen war es nur naheliegend, innere und äußere Arbeit als „Gesamtaufgabe“ zu begreifen und aus einem einheitlichen Apparat zu betreiben.
An der Tätigkeit des MfS im „Operationsgebiet“ war -quer zu den sonstigen Strukturen -das gesamte Ministerium beteiligt: Auf horizontaler Ebene waren neben dem 1953 ins MfS integrierten Apparat der HV A auch Diensteinheiten wie die Hauptabteilung (HA) XVIII (Volkswirtschaft) oder die HA I (bewaffnete Organe) mit „Aufklärungsaufgaben“ betraut; darüber hinaus verfügte die Nationale Volksarmee (NVA) über einen eigenen Aufklärungsdienst, der eng mit dem MfS verwoben war. Die HA III (Funkaufklärung) spielte ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Informationsbeschaffung aus dem Westen, wo sie mit unglaublichem Aufwand den Äther ausspionierte. In starkem Maße operierte auch die für die innere Repression vorrangig zuständige HA XX in der Bundesrepublik. Sie bekämpfte nicht nur ausgebürgerte Dissidenten und andere SED-Kritiker im Westen, sondern infiltrierte auch zahlreiche als „feindlich“ eingestufte Stellen -von der „Aktion Sühnezeichen“ in West-Berlin bis zu den „Zeugen Jehovas“ in Wiesbaden. Ähnliches gilt für die HA II („Spionageabwehr“), die nicht nur gegen tatsächliche und vermeintliche westliche Geheimdienstmitarbeiter vorging, sondern auch alle in der DDR tätigen Journalisten, Diplomaten, Handelsvertreter und sonstigen Ausländer überwachte. In der Bundesrepublik war sie für die Aufklärung und Bekämpfung von insgesamt 18 „feindlichen Stellen“ zuständig, darunter das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf und die Otto-Benecke-Stiftung in Bonn. Überwiegend im Westen verankert war auch die für „Terrorabwehr“ zuständige HA XXII, die neben deutschen und ausländischen Terrorgruppen auch radikale linke und rechte Gruppierungen wie die „Revolutionären Zellen“ oder die „NSDAP/AO“, aber auch die in Berlin ansässige „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ überwachte. Für die „Aufklärung“ der Umweltschutzorganisation „Greenpeace“ war die HA XVIII zuständig während die „Internationale Gesellschaft für Menschenrechte“ (IGFM) von der Zentralen Koordi-nierungsgruppe bekämpft wurde West-Arbeit betrieben aber auch die „auftragnehmenden“ Abteilungen der Staatssicherheit, die die Post kontrollierten, die Telefone abhörten oder im Westen Observationen und Ermittlungen durchführten.
Auch auf vertikaler Ebene beteiligte sich das gesamte MfS an der „Arbeit im und nach dem Operationsgebiet“: In allen Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit war der Leiter der Aufklärungsabteilung (XV) zugleich Stellvertreter des BV-Chefs und für die Ausforschung eines westdeutschen Bundeslandes einschließlich seiner wichtigsten Institutionen verantwortlich. So spionierte beispielsweise die Abt. XV der BV Leipzig systematisch in Bayern und war u. a. für die Aus-forschung der Bayerischen Staatskanzlei zuständig, während die BV Schwerin das Bundesland Bremen bearbeitete und dort u. a. die „Forschungsstelle Osteuropa“ an der Universität überwachte. Die Bezirksverwaltungen von Potsdam und Berlin operierten hingegen intensiv in West-Berlin, das ohnehin wie eine Art Teil der DDR behandelt wurde -erst 1976 änderte die „Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin“ ihren Namen in „Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin“. So wie in der Zentrale beteiligten sich auch in den Bezirksverwaltungen alle Diensteinheiten der „Abwehr“ an der Tätigkeit im Westen durch eigene „operative Arbeit“, durch Weitergabe von „Hinweisen“ an die Aufklärung oder durch Rekrutierung neuer „operativer Verbindungen“. Selbst in den Kreisdienststellen des MfS war die West-Arbeit über spezielle Aufklärungsoffiziere verankert. Fast alle operativen Struktureinheiten verfügten dabei über eigene IM-Netze im „Operationsgebiet“, deren koordiniertes Vorgehen von der Führungsspitze jederzeit angeordnet werden konnte.
III. Schwerpunkte der West-Arbeit
Aus dem Blickwinkel der SED bildete die West-Arbeit des MfS nur die andere Seite derselben Aufgabe -die Sicherung und Festigung der kommunistischen Macht in Ostdeutschland. Dem „Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit“ zufolge diente sie -„der Sicherheit und den Interessen der DDR, der sozialistischen Staatengemeinschaft, der kommunistischen Weltbewegung und der anderen revolutionären Kräfte;
-der Erarbeitung exakter Kenntnisse über die wichtigsten Feindobjekte und -Organisationen . . . und der Durchführung offensiver Maßnahmen gegen feindliche Zentren, Objekte und gegen im Operationsgebiet tätige feindliche Kräfte;
-der rechtzeitigen und zuverlässigen Aufdekkung der Pläne, Absichten, Maßnahmen, Mittel und Methoden des Feindes zur Verhinderung von Überraschungen ... und der Einschränkung, Zurückdrängung und Paralysierung der subversiven Tätigkeit feindlicher Stellen und Kräfte an ihren Ausgangspunkten; -der weiteren ökonomischen und militärischen Stärkung der DDR .. .; -der Festigung der internationalen Positionen des Sozialismus und seiner Verbündeten .. , “. Zur Erfüllung dieser Aufgaben stand dem MfS ein Apparat von zuletzt rund 91 000 hauptamtlichen und mehr als doppelt so vielen Inoffiziellen Mitar-beitem zur Verfügung. Die Schwerpunkte der Tätigkeit im „Operationsgebiet“ -von der Informationsbeschaffung über die politische Einflußnahme und die Bekämpfung „feindlicher“ Personen und Stellen bis zu den Vorbereitungen auf Krisen-oder Kriegssituationen -lagen dabei wie Schichten übereinander, die jeweils eine Steigerungsstufe des politischen Kampfes gegen den „Klassenfeind“ bedeuteten.
1. Informationsbeschaffung
Zu den vorrangigen Aufgaben des MfS gehörte es, in der Bundesrepublik durch ein Netz von Quellen, Residenten, Werbern, Instrukteuren, Kurieren, Funkern, Kontaktpersonen etc. einen kontinuierlichen Informationsfluß aus Regierung und Staatsapparat, Parteien und Verbänden, Wirtschaft und Wissenschaft, Militär und Sicherheitsbehörden zu gewährleisten. Zuständig war dafür in erster Linie die HV A, aber auch die Diensteinheiten der sogenannten „Abwehr“ verfügten im Westen über ein stabiles Netz inoffizieller Verbindungen, das von einem breiten Informationsstrom aus der elektronischen Aufklärung komplettiert wurde. Allein die Zahl der von der „Linie“ III per „Zielkontrolle“ ständig überwachten Telefonanschlüsse in der Bundesrepublik betrug den Aussagen ihres ehemaligen Leiters, Horst Männchen, zufolge etwa 30 000 bis 40 000 Dem ständigen Ausbau und Schutz des IM-Netzes widmete das MfS ungeheure Mühen. Die Nutzung der DDR-Botschaften als „legal abgedeckte Residenturen“ (LAR) diente ebenso diesem Zweck wie die zielstrebige Instrumentalisierung von familiären, freundschaftlichen oder beruflichen Verbindungen, die Anschleusung von sogenannten „Romeos“ an potentielle weibliche „Quellen“ oder die systematische Einschleusung von soge-nannten „Übersiedlungs-IM“ in die Bundesrepublik. Als Rekrutierungsbasis betrachtete man namentlich die Hochschulen der Bundesrepublik, die seit 1971 systematisch ausgeforscht und mit sogenannten „Stützpunkt-IM“ bestückt wurden -zur „laufenden Gewinnung von Perspektiv-IM und geeigneten Einschleusungskandidaten für das Eindringen in die Hauptobjekte des Feindes“ Zahl-reiche Spitzenquellen wie der Vortragende Legationsrat im Auswärtigen Amt, Hagen Blau, waren so bereits während ihres Studiums geworben und danach vom MfS in ihrer Karriere zielstrebig befördert worden. Seit Mitte der siebziger Jahre wurden auch sämtliche West-Verbindungen von und zu Inoffiziellen Mitarbeiter in der DDR „allseitig genutzt“, nach dem Mielke den Auftrag erteilt hatte zur „lückenlose(n) Erfassung jeder geeigneten operativen Verbindung von IM/GMS zu Personen in die BRD und in Westberlin, jeder Verbindung zu Bürgern der USA und anderer NATO-Staaten, jeder Reise eines IM, GMS oder Archiv-IM ins Operationsgebiet, jedes Einreise-Antrages, der zu einem IM, GMS oder Archiv-IM in der DDR führt“
Die eingehenden Informationen aus dem Westen wurden von speziellen „Auswertern“ benotet und in besonderen Fällen vom MfS prämiert, um die Mitarbeiter zu größtmöglichen Leistungen anzuspornen. Zugleich wurden die Informationen im Rahmen einer systematischen Auswertungs-und Informationstätigkeit analysiert, verdichtet und auf ihre Verwendbarkeit geprüft. Auf diese Weise hatte das MfS einen exzellenten Überblick über nahezu alle bedeutenden gesellschaftlichen Vorgänge, Einrichtungen und Personen in der Bundesrepublik. Ein Großteil dieser Informationen, insbesondere aus dem militärisch-technischen Bereich, floß umgehend weiter an die „Freunde“, wie der KGB im MfS-Jargon bezeichnet wurde.
Aus zahlreichen Spionageprozessen ist inzwischen hervorgegangen, wie umfassend der Informationsfluß von West nach Ost gewesen ist Allein die HV A kam 1988 auf knapp 10 000 konspirativ beschaffte Informationen (ohne Wirtschaftsspionage), von denen rund ein Viertel als „wertvoll“ oder sogar „sehr wertvoll“ eingestuft wurde. Und in einem „Kurzbericht“ des Sektors Wissenschaft und Technik (SWT) lautete der erste Punkt einer langen Liste „über wichtige Arbeitsergebnisse der wissenschaftlich-technischen Aufklärung im 1. Halbjahr 1971“ beispielsweise: „Die wesentlichen Nachfolgetypen des Starfighters (geplante und in der Planungsdiskussion befindliche) konnten vollständig oder in wichtigen Teilen dokumentiert werden.“
Zwei Jahre zuvor hatte HVA-Chef Wolf seinem Minister gemeldet, daß allein in der II. Wettbewerbsetappe zur Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR rund 55 000 Mikrate -d. h. Kleinstbildnegative von Dokumenten -bearbeitet werden „mußten“. Auf insgesamt 13 Seiten würdigt Wolf in dem Bericht die „Leistungen“ der HV A -z. B so: „Die Abteilung I konnte in zwei Hauptobjekten (BMZ, BMWi) erstmalig Quellen schaffen,.. . Zwei Vorgänge, Sekretärinnen in CDU-Spitze, befinden sich vor Abschluß der Werbung. Zwei Vorgänge, MdB der SPD, konnten von der politischen Kontaktierung in die Phase der Abschöpfung politischer Informationen übergeleitet werden. Ein IM wurde in die Friedrich-Ebert-Stiftung eingeschleust ... Die Abteilung IV konnte einen IM in ein Hauptobjekt (BMVtg. Fü 1) einschleusen. Eine weitere erfolgreiche Schleusung in dieses Spitzenobjekt gelang mit einem Perspektiv-IM (BMVtg -Ministerialbüro).. ,“
Besonders dicht war das Spitzelnetz in West-Berlin, das von den unterschiedlichsten Diensteinheiten infiltriert wurde. Allein die Abteilung XV der BV Berlin führte dort 1989 65 IM und 32 „registrierte KP“ (Kontaktpersonen) -von einem Elektriker der Bundesdruckerei (IM „Bank“) über einen leitenden Angestellten der Schering AG (IM „Harry“) bis zu einem Professor der Freien Universität und Funktionär der Alternativen Liste (IM „Zeitz“). Im Arbeitsplan der Abteilung wurden deren Aufgaben beispielsweise so beschrieben: Quelle „Bank“: „Weitere Aufklärung der Produktionsvorgänge des neuen BRD-Personalausweises und des Reisepasses.“ Quelle „Zeitz“: „Ausbau seiner Position in den Berlin-Gremien . . . und des Kontakts zum Deutschlandpolitischen Sprecher der Fraktion und zur Evangelischen Kirche (Evtl. Akademie W[est-]B[erlin] und Vorbereitungsgremien des Kirchentages 1989 in WB).“ Quelle „Harry“: „Weitere Orientierung auf die Beschaffung interessanter Dokumente zur Konzernstrategie, zu gesetzgeberischen Aktivitäten auf dem Gebiet der Gen-Forschung und Technologie sowie zur Außenhandelskonzeption.“
Die umfassende Informationsbeschaffung aus dem Westen hatte weitreichende Konsequenzen: Während die Ergebnisse der Wirtschaftsspionage der DDR-Wirtschaft „Einsparungen“ in Milliardenhöhe brachte und den Kollaps der achtziger Jahre um Jahre hinauszögerte, machte die Militärspionage den Westen im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung extrem verletzlich. Die Informationen aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben boten die Grundlage für eine systematische Einflußnahme auf Personen, Vorgänge und Institutionen. Namentlich in West-Berlin bildete das Spitzelnetz eine zentrale Voraussetzung für die „politisch-operative Vorbereitung auf besondere Lagebedingungen“ -d. h. für die „Festnahme, Isolation bzw. Internierung der feindlichen Kräfte“ im Fall einer Okkupation
2. Einflußnahme auf das politische Leben
Ziel der Tätigkeit im „Operationsgebiet“ war, getreu dem Selbstverständnis des MfS als „Schild und Schwert der Partei“, die Fortsetzung des „Klassenkampfes“ mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Während der gesamten Geschichte der alten Bundesrepublik war die Stasi -in Parteien, Verbänden, Medien, Bewegungen und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen -als zusätzliche konspirative Kraft faktisch immer mit dabei und suchte über ihre Inoffiziellen Mitarbeiter, über zentral gesteuerte „Aktionen“ und über andere „aktive Maßnahmen“ im Sinne der SED Einfluß zu nehmen. Ihre wichtigsten Mittel waren dabei die gezielte Kompromittierung und Verunsicherung politischer „Gegner“, die Schürung von Differenzen und Konflikten sowie die systematische Förderung der jeweils vom MfS vorgegebenen politischen und taktischen „Linie“ durch das Netz Inoffizieller Mitarbeiter. Um die Regierung des damals noch nicht zur Bundesrepublik gehörenden Saarlandes zu verunsichern, organisierte das MfS beispielsweise im Vorfeld der im Herbst 1955 abgehaltenen Volksabstimmung ein „Scheinattentat“ gegen den damaligen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann. Mit dem Ziel, Hoffmann und seine unmittelbare Umgebung „in politische Nervosität zu versetzen“, wurde ein Agent der „Aufklärung“ beauftragt, eine Briefbombe an den Regierungschef zu senden, die beim Öffnen explodieren sollte
Zur Herabwürdigung des SPD-Politikers Willy Brandt veranlaßte HVA-Chef Wolf im März 1959 die Verhaftung eines in Leipzig wohnenden Bekannten Brandts, der im Gefängnis Erklärungen über angebliche frühere Gestapo-Verbindungen Brandts abgeben sollte. Der Betroffene wurde erst wieder freigelassen, nachdem es gelungen war, „durch die Untersuchungen ... eine Reihe kompromittierender Tatsachen über den Regierenden Bürgermeister von West-Berlin“ in Erfahrung zu bringen, „die zur publizistisch-agitatorischen Auswertung geeignet“ erschienen
Eine Reihe von überlieferten „Maßnahmeplänen“ macht deutlich, daß Vorgehensweisen wie diese häufig Bestandteil größerer „Aktionen“ waren. Im Rahmen der „Aktion , Klarheit 1 “ sollte z. B.der Wahlkampf der SED bei den Wahlen zum WestBerliner Abgeordnetenhaus im Jahr 1958 unterstützt werden Dem 13seitigen Plan zufolge sollten u. a. über die wichtigsten Kandidaten -darunter Willy Brandt -„zusätzliche kompromittierende Materialien“ beschafft und unter dem Namen der CDU 5 000 Flugblätter verteilt werden („Inhalt: Verleumdung und Beschimpfung der anderen am Wahlkampf beteiligten Parteien, besonders der SPD“) -um nur zwei der insgesamt 39 Maßnahmen zu nennen Ein ähnlicher Plan ist zur Popularisierung des sogenannten „Deutschlandplanes“ der SED aus dem Jahr 1960 überliefert, der u. a. die „Unterstützung des Auftretens von G(eheimen) M(itarbeitern) in SPD und DGB“ und die Lancierung von zustimmenden Stellungnahmen bekannter Persönlichkeiten „durch Ausnutzung von Kontakten des MfS“ zu Presseorganen wie dem „Freiheitsboten“ der „Gruppe Niemöller“ vorsah
Die Einflußnahme des MfS auf die westdeutsche Politik erfolgte in den sechziger Jahren in enger Kooperation mit dem ZK der SED und dem für Agitation zuständigen Mitglied des Politbüros Albert Norden. Um Politiker der Bundesrepublik zu kompromittieren, suchte man vor allem nach Hinweisen auf persönliche Verstrickungen in das NS-Regime, wofür von MfS-Mitarbeitern „Personalakten aus der NS-Zeit ... aus den Archiven angefordert und nach belastendem Material durchsucht und je nach Maßgabe vervollständigt 1 (wurden) durch Dokumente aus eigener Fertigung“ Diese wurden dann in westliche Presseerzeugnisse lanciert oder auf propagandistischen Pressekonferenzen der Nationalen Front in Ost-Berlin präsentiert -wohingegen den westdeutschen Ermittlungsbehörden der Aktenzugang verwehrt blieb. „Nachdem die Suche nach den Oberländer-Akten so außerordentlich erfolgreich gewesen ist und wir jetzt uns anderen Persönlichkeiten der Bundesregierung zuwenden müssen“, so schrieb Albert Norden an Erich Mielke beispielsweise im Mai 1960, „bitte ich Dich zu veranlassen, daß eine systematische Nachforschung in der Richtung betrieben wird, ob über die Minister Seebohm und Lemmer sowie den Staatssekretär im Lemmer-Ministerium, Thedieck, Aktenmaterial vorhanden ist. Ich bin überzeugt, daß eine systematische Suche in den verschiedenen Ministerien und Archiven uns mindestens Teilerfolge bringen wird.“
Mit dem Vorwurf der NS-Belastung wurden fast alle führenden Politiker der CDU überzogen, nachdem sich das MfS bereits Anfang der fünfziger Jahre den Zugriff auf die Nazi-Akten gesichert hatte Ein Tag vor seiner Wiederwahl zum Bundespräsidenten wurde beispielsweise Heinrich Lübke im Juni 1964 öffentlich als „Baumeister faschistischer Konzentrationslager“ angeprangert -die „Beweise“ für die Kampagne lieferte das MfS Und in einem Bericht aus dem Jahr 1969 rühmte sich Wolf: „Die Abteilung X arbeitete zusätzlich an politisch-operativen Maßnahmen gegen Kiesinger und Gerstenmaier. Der 1. Entwurf der Kiesinger-Dokumentation liegt vor. ... In der schwedischen und holländischen Presse konnten kompromittierende Artikel über Kiesinger veröffentlicht werden. Für eine Publikation gegen die Fortsetzung der Großen Koalition wurde Material gesammelt und zusammengestellt, Sondierungs-und Kontaktgespräche geführt, Abgeordnete und Funktionäre um schriftliche Stellungnahme ersucht.“
Zur Diskreditierung der Bundesrepublik inszenierte das MfS 1961 -zeitgleich zum beginnenden Eichmann-Prozeß in Jerusalem -sogar eine antisemitische Hetzkampagne gegen Überlebende des Holocaust in verschiedenen deutschen Städten (Aktion „J“), denen im Namen bekannter Antisemiten Drohbriefe wie dieser zugeschickt wurden: „Die Hetze von Euch Juden wird unerträglich. Wir haben doch nicht genug vergast. Verschwinde, oder wir holen Dich und machen Dich fertig! Juden raus! (ein deutscher SS-Mann).“
Einen Höhepunkt der politischen Einflußnahme bildete die Bestechung des CDU-Abgeordneten Julius Steiner, der beim konstruktiven Mißtrauensvotum gegen Willy Brandt dem Antrag seiner eigenen Fraktion gegen Zahlung von 50 000 DM seine Stimme versagte Aber auch die FDP-Politiker Hannsheinz Porst und William Borm wurden von HVA-Chef Wolf regelmäßig instruiert
Einfluß übte das MfS auch über seine Präsenz in zahlreichen „progressiven“ Bewegungen und Gruppierungen aus. In einem Bericht aus dem Jahr 1969 spricht Markus Wolf davon, daß durch „das öffentliche Auftreten von mehreren wichtigen IM (Pressekonferenz, Fernsehen usw.)“ zu den „aktiven Maßnahmen“ zum Thema „ABC-Waffen-Produktion in Westdeutschland“ entscheidend beigetragen worden sei. Und einer „Aufstellung über operative Verbindungen zu Organisationen und Gruppen der APO in Westberlin“ zufolge verfügte allein der Aufklärungsapparat des MfS über drei Inoffizielle Mitarbeiter und vier Kontaktpersonen (KP) im Republikanischen Club, über neun IM und vier KP im SDS, über zwei IM und drei KP im ASTA von FU und TU sowie über sechs IM in anderen Organisationen. Wörtlich heißt es in dem der Aufstellung vorangestellten Plan zur „Störung der Vorbereitung und Durchführung der (seinerzeit in Berlin geplanten, d. V.) Bundesversamm-lung vor allem durch Unterstützung der geplanten Aktionen der Außerparlamentarischen Opposition“: „Die geplanten Maßnahmen der Westberliner APO gegen die Bundesversammlung und den Nixon-Besuch am 27. 2. werden mittels aller nutzbaren operativen Verbindungen in APO-Kreisen unterstützt durch: -Orientierung auf einheitliche Aktionen aller Gruppierungen der APO;
-Hilfe bei der Organisierung politischer Demonstrationen (bes. bei der geplanten Veranstaltung des Republikanischen Klubs am 5. 3. in Westberlin), Einflußnahme auf den Charakter und die Losungen der Demonstrationen;
-Hilfe bei der Erarbeitung und Verbreitung von Flugblättern und anderen Agitationsmaterialien (insbesondere einer Agitationsschrift des Westberliner Republikanischen Clubs über den Zusammenhang zwischen den Bonner Berlin-Provokationen und den Nachteilen für die Westberliner Bevölkerung)...;
-Nutzung des Berliner Extradienstes für eine Kampagne von Meldungen und Artikeln gegen die Bundesversammlung und die Politik des Schütz-Senats und die Folgen für Westberlin.“
Anfang der achtziger Jahre war das MfS vor allem darum bemüht, den Anti-Raketen-Protesten im Westen zum Erfolg zu verhelfen. Im August 1981 legte der Leiter der Abteilung II der HV A dazu ein ausführliches „Konzept für aktive Maßnahmen zur Förderung der Friedensbewegung in der BRD“ vor, das u. a. eine „zentrale Steuerung des inoffiziellen Netzes“ im Westen durch eine spezielle „Leitstelle“ im MfS vorsah Allein die Gruppierung „Generäle für den Frieden“ wurde vom MfS mit 100 000 DM unterstützt Und im Telegrammstil gab Erich Mielke im Juni 1983 der MfS-Führungsspitze die folgenden Orientierungen für die Arbeit im Westen: „Notwendig: Stärkere Unterstützung der Bewegung gegen Stationierung in westlichen Ländern, besonders BRD, durch geeignete, wirksame aktive Maßnahmen, unter Nutzung (der) Mittel und Möglichkeiten des MfS. Es ist Aufgabe des MfS beizutragen, jene Kräfte zu unterstützen (in der SPD und FDP, d. V.), die realistisch denken und jetzt für Aufhebung des Raketenbeschlusses eintreten. Zunehmenden Differenzierungsprozeß nutzen, ihn fördern! Kräfte in der SPD unterstützen, die Parteiführung drängen, endlich klar Stellung zu beziehen -möglichst noch vor Herbst (wenn Sonder-parteitag darüber stattfinden soll). Die SPD darf nicht länger lavieren. Bei Kontakten mit Grünen konzentrieren auf Berührungspunkte im Kampf um Friedenssicherung. Voraussetzung für effektive Maßnahmen: Noch bessere Analyse, auf welche Kräfte man sich stützen kann (Funktionäre, Landesverbände, Parteibasis).“
3. Bekämpfung „feindlicher“ Stellen und Personen
Die Infiltrierung und „Zersetzung“ DDR-kritischer Einrichtungen im Westen war von Anbeginn eine zentrale Aufgabe des MfS. Nur wenigen Westdeutschen ist bewußt, wie sehr der lange Arm der Stasi gerade auf diesem Gebiet bis in den Westen reichte. In einer Zusammenstellung vom Mai 1978 werden insgesamt 113 westdeutsche Institutionen aufgeführt, die vom MfS als „Zentren, Organisationen und Einrichtungen der politisch-ideologischen Diversion“ klassifiziert wurden, darunter „staatliche Einrichtungen“ wie das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, „Verlage und Rundfunkstationen“ wie der Rias und der Deutschlandfunk, „Zentren, Organisationen und Institutionen“ wie Amnesty International sowie „Einrichtungen der DDR-und Ost-forschung“ wie die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn Über viele der aufgeführten Einrichtungen bezeichnete sich die HV A als „umfassend auskunftsfähig“ -im Klartext: durch Zuträger im Innern umfassend informiert. 1985 waren es schon über 150 Gruppen und Institutionen, zu denen Mielke jeweils eine bestimmte Diensteinheit beauftragte, in „ihre Ausgangsbasen und Führungsgremien einzudringen, rechtzeitig und umfassend ihre Pläne, Absichten und Maß-nahmen zu erkennen, wirksam ihre feindlichen Machenschaften zu entlarven sowie nachhaltig ihr Wirksamwerden in der DDR und anderen sozialistischen Staaten zu verhindern“
Diese Einrichtungen wurden in der Regel in „Feindobjektakten“ (FOA), „Operativen Vorgängen“ (OV) oder „Zentralen Operativen Vorgängen“ (ZOV) bekämpft. Wie erfolgreich das MfS dabei war -mit bis in die Gegenwart reichenden Nachwirkungen -, zeigt das Beispiel der „Internationaler! Gesellschaft für Menschenrechte“ (IGFM), die in einem 61 Bände umfassenden ZOV bearbeitet und vom MfS systematisch als rechtsextrem oder faschistisch stigmatisiert wurde Ähnlichen Aufwand entfaltete es gegen die Lippstadter Gruppe „Hilferufe von drüben“ (Hvd), auf die den Akten zufolge über 80 Inoffizielle Mitarbeiter angesetzt waren, die man u. a. durch eine systematische Recherche in den Speichern des MfS und durch die Überwachung praktisch sämtlicher Verbindungen von Lippstadt in die DDR und umgekehrt rekrutiert hatte Im Mittelpunkt stand dabei immer das Ziel, die „Feindorganisation“ umfassend aufzuklären und zu „zersetzen“, wofür grundsätzlich alle „operativen Möglichkeiten“ des MfS genutzt werden sollten.
Die Bekämpfung erfolgte aber auch personenbezogen, wobei ein Überblick über die Zahl der als „feindlich“ eingestuften und „bearbeiteten“ Bundesbürger bislang fehlt. Allein die (keineswegs vollständige) Liste aus der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin über Personen im Westen, die als Unterstützer des „politischen Untergrundes“ (PUT) in der DDR betrachtet wurden, umfaßte Anfang 1989 fast 1400 Namen *Die „operative Bearbeitung“ von Feindpersonen umfaßte in der Regel ein breites Arsenal an Überwachungs-und Verfolgungsmaßnahmen wie Postkontrolle, Telefonkontrolle, Ausforschung durch IM, professionelle Observation, Einreise-und/oder Transitreiseverbot, „Zersetzung“ durch gezielte Diskreditierung, „Organisierung beruflicher Mißerfolge“ und andere „spezielle Maßnahmen“ -nur diesmal im Westen. In einem umfangreichen ZOV wurde beispielsweise der in West-Berlin lebende Bürgerrechtler Roland Jahn systematisch mit Zersetzungsmaßnahmen überzogen. So streute man unter Journalisten, Freunden und politischen Gruppierungen das Gerücht, er betreibe sein DDR-Engagement nur aus Geldgier (Aktion „Keil“). Sein Telefon wurde rund um die Uhr abgehört, und für sein Stammcafe wurde die „Einleitung der B-Maßnahme der HA VIII“ beschlossen -im Klartext: die Installierung einer Wanze. Und als die Bundestagsfraktion der Grünen erwog, ihn als Mitarbeiter'einzustellen, legte man lapidar fest: „In Zusammenarbeit mit der HVA/II ist eine Arbeitsaufnahme bei den , Grünen zu verhindern.“
Gegen den Schriftsteller Jürgen Fuchs ging das MfS mit ähnlichen Methoden vor. Allein im September 1982 organisierte es die folgenden „speziellen Maßnahmen“: „FUCHS wurde kontinuierlich, vor allem in den Nachtstunden, in seiner Wohnung angerufen, ohne daß sich der Anrufer meldete. Gleichzeitig wurde jeweils der Fernsprechanschluß zeitweilig blockiert. Im Namen von FUCHS wurde eine Vielzahl von Bestellungen aufgegeben, darunter auch Bestellungen, die zur Kompromittierung des FUCHS geeignet sind. Mehrfach wurden Taxis und Notdienste (Schlüsselnotdienst, Abflußnotdienst, Abschleppdienst) vorwiegend nachts zur Wohnung des FUCHS bestellt. Mit einer Vielzahl von Dienstleistungsunternehmen und anderen Einrichtungen wurden zu unterschiedlichen Tageszeiten, einschließlich der Wochenenden, Besuche bei FUCHS vereinbart (Beratung von Wohnungs-und Kücheneinrichtung sowie zur Badausstattung; Polstermöbelaufarbeitung, Polstermöbelreinigung, Wohnungsreinigung, Fensterputzer, Abholung von Schmutzwäsche, von Teppichen und Gardinen; Verkauf von Antiquitäten, Antiquariatsartikeln, Musikinstrumenten, Wohnungsauflösung, Abholung von Autowracks; Reparatur von Fernsehgeräten und Waschmaschinen; Möbeltransport, Ungezieferbekämpfung, Bereitstellung von Mietautos mit Fahrer, Massage, Beratung über Versicherungsabschlüsse, Buchung von Reisen, Bestellung von Menüs).“ Überliefert ist schließlich auch eine Anfrage der HV A aus dem Jahr 1982, in der „im direkten Auftrag von Markus Wolf“ die für Kampfeinsätze zuständige AGM/S darum gebeten wird, „die Bereitstellung, Ausbildung und ständige Gewähr-leistung der Einsatzbereitschaft einiger weniger vertrauensvoller Einsatzkader für ganz spezifische Aufgaben im Operationsgebiet“ zu prüfen. Zu den „Hauptrichtungen der vorgesehen Aufgaben“ zählte danach u. a. die „Bekämpfung feindlicher Personen in der vollen Breite der möglichen Maßnahmen zu ihrer Bestrafung, Unschädlichmachung, ihrer Verbringung in sicheren Gewahrsam“ Obwohl der Leiter der Arbeitsgruppe empfahl, dem Anliegen zuzustimmen, liegt aufgrund der Vernichtung des HV A-Archives das weitere Schicksal der „Anfrage“ im dunkeln.
4. Vorbereitungen auf Kriegs-und Krisensituationen
Der Kampf gegen den Westen wurde von SED und MfS immer auch als militärische Auseinandersetzung geplant und vorbereitet -unabhängig von den öffentlichen Bekenntnissen zum Frieden. Im MfS lief dazu eine intensive „Mobilmachungsarbeit“, die auch und gerade die West-Arbeit betraf. Für den Einsatz in der Bundesrepublik und West-Berlin bildete das MfS seit den frühen fünfziger Jahren spezielle Kampfkräfte aus, die „auf Befehl gegen politische, wirtschaftliche und militärische Schwerpunktobjekte -insbesondere deren neuralgische Punkte -einschließlich Personen erfolgreiche Aktionen“ führen sollten. Diese Einsatzgruppen hatten „jederzeit bereit zu sein, um unter allen Bedingungen der Lage -unter relativ normalen, friedlichen Bedingungen als auch im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen -aktive Aktionen gegen den Feind und sein Hinterland erfolgreich dürchzuführen“
Die Geschichte und die Arbeitsweise dieser speziell geschulten Kampfkräfte sind bislang nur in Umrissen bekannt. Den aufgefundenen Unterlagen zufolge wurden derartige Kräfte, zeitweise unter der direkten Ägide von Markus Wolf, systematisch für Sabotageaktionen und andere Kampf-einsätze im „Hinterland des Feindes“ vorbereitet. Den „Einsatzgrundsätzen“ dieser Kampfgruppen zufolge hatten sie die Aufgabe, im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen u. a. durch „Ausschal tung von Führungskräften mit Entscheidungsbefugnis oder speziellen Fähigkeiten“ und durch „Zerstörungen bzw. Beschädigungen der Gasversorgung, der Wasserversorgung, des Straßentransportwesens“ etc. gegen Objekte in der Bundesrepublik vorzugehen. In Spannungsperioden war u. a. die „Behinderung und Verunsicherung politisch-administrativer Zentren zur Durchsetzung des Notstandsmechanismus“, die „Verunsicherung von führenden Personen im imperialistischen Machtapparat“ und die „Auslösung von panik-erzeugenden Maßnahmen“ vorgesehen. Unter „relativ friedlichen Verhältnissen“ hatten die Einsatzgruppen dagegen u. a. die „Liquidierung oder Beibringung von Verrätern“ und die „Verunsicherung von führenden Zentren der politisch-ideologischen Diversion durch Störung bzw. Behinderung ihres Arbeitsablaufes sowie Beschädigung oder Lahmlegung von Einrichtungen, Technik und Akten bzw. Unterlagen dieser Zentren“ zur Aufgabe
Darüber hinaus befaßte sich das MfS auch mit der Ausbildung einer geheimen Militärorganisation der DKP, deren mehrere hundert Mitglieder in Krisenfällen als „Partisanenarmee“ tätig werden sollten. Die „patriotischen Kräfte“ waren u. a. für die „Befreiung festgesetzter Genossen“, „für Sabotageakte gegen Züge und Fernmeldeeinrichtungen“ sowie für „Anschläge auf ausgesuchte Personen“ vorgesehen 14 noch feststellbare Mitglieder wurden im Herbst 1995 wegen „Vorbereitung von Sabotagehandlungen“ und „Agententätigkeit zu Sabotagezwecken“ zu Geldbußen verurteilt Für West-Berlin schließlich hatte das MfS eine komplette Übernahme durch den Staatssicherheitsdienst vorbereitet, einschließlich eigener Kreisdienststellen des MfS in den zwölf westlichen Bezirken; sogar das Personal war bereits namentlich festgelegt worden. Zu den „Hauptaufgaben“ der DDR-Staatssicherheit in West-Berlin rechnete das MfS u. a. die „Entfaltung eines wirksamen Fahndungssystems, um untergetauchte Feindkräfte aufzuspüren und unschädlich zu machen“, sowie den „Einsatz vorhandener geeigneter IM aus Westberlin ... zur Aufklärung und zum Eindringen und Unschädlichmachung dieser Feindkräfte, Brechen des gegnerischen Widerstandes“
IV. Fazit
Das Ministerium für Staatssicherheit betrieb seit seiner Gründung eine intensive „Arbeit in und nach dem Operationsgebiet“. Da die Bundesrepublik und darüber hinaus das westliche Lager im dichotomischen Weltbild der SED den „Haupt-feind“ im Klassenkampf bildeten, sollten deren Pläne und Absichten lückenlos aufgeklärt und bekämpft werden. Auch die innere Opposition war in der ideologiegeleiteten Wahrnehmung von SED und MfS durch äußere „feindliche“ Einwirkungen ausgelöst -entsprechend intensiv wurden ihre „Ausgangspunkte“ im Westen überwacht und verfolgt. Natürlich sind die Dimensionen der Stasi-Durchdringung in der DDR und in der alten Bundesrepublik nicht gleichzusetzen. Eine flächendeckende Überwachung war in Westdeutschland weder möglich noch von der SED beabsichtigt. Insbesondere fehlten dem MfS im Westen die Sanktionsmöglichkeiten des Parteistaates und der totale Zugriff auf den einzelnen -was freilich auch die Verpflichtung von Bundesbürgern zu einer IM-Tatigkeit in einem anderen Licht erscheinen läßt. In den Nerven-zentren der westdeutschen Gesellschaft war der Staatssicherheitsdienst jedenfalls fast durchgehend verankert, und seine Maßnahmen zur politischen Einflußnahme und zur Bekämpfung „feindlicher“ Stellen und Personen trugen mit dazu bei, daß die SED-Diktatur im Westen zunehmend Akzeptanz fand.
Die wissenschaftliche und politische Aufarbeitung dieser „zweiten“ Dimension der DDR-Staats-sicherheit steht erst noch bevor. Sie stößt nicht zuletzt deshalb auf Widerstände, weil die westdeutsche Gesellschaft von den revolutionären Umbrüchen in Ostdeutschland kaum berührt wurde. Während die Fehler der Väter und Großväter hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber den Machthabern einer Diktatur die Feuilletons beherrschen, schweigt man sich zu den eigenen lieber aus. Über die Rolle der Inoffiziellen Mitarbeiter im Westen im Getriebe einer totalitären Diktatur, über Schuld und Verantwortung oder über Wege der Wiedergutmachung hat bislang jedenfalls niemand von den Beteiligten gesprochen. Ähnlich wie im Osten rechtfertigen vielmehr viele ihre Tätigkeit für das MfS mit politischen Utopien oder verweisen darauf, in ihren Berichten und Zusam menkünften nur kleine, oftmals unbedeutende Teilaspekte übermittelt zu haben -ohne jemals „jemandem geschadet zu haben“. Sie vergessen dabei, daß sie als Zulieferer und Befehlsempfänger einer großen, militärisch organisierten Maschinerie fungierten, die willens und in der Lage war, ihre „Gegner“ rücksichtslos zu bekämpfen und nach Möglichkeit zu vernichten. Und sie tragen mit dazu bei, daß eine Debatte über die Bedingungen und Motive, die die Verstrickung in die SED-Dikatur erst möglich gemacht haben, im Westen unterbleibt: Die verblendende Kraft politischer Ideologien und dichotomischer Weltbilder, der verführerische Reiz des Verbotenen und der Zusammenarbeit mit einer geheimen Macht, der schlichte Egoismus und die Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen für den einzelnen und das Gemeinwesen -ohne eine Thematisierung dieser Fragen ist, trotz 40 Jahren zusätzlicher Demokratieerfahrung, auch der Westen gegen eine Wiederkehr des Vergangenen unter anderen Konstellationen nicht gefeit.