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Krise der Arbeitsgesellschaft und Privatisierung der Sozialpolitik | APuZ 48-49/1997 | bpb.de

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APuZ 48-49/1997 Krise der Arbeitsgesellschaft und Privatisierung der Sozialpolitik Der Sozialstaat hat eine Zukunft Leitlinien einer sozialpolitischen Reform Zukunft der Arbeit Chancen für eine Tätigkeitsgesellschaft? Weniger Erwerbsarbeit -mehr Eigenarbeit? Chancen und Potentiale Öffentlicher Eigenarbeit

Krise der Arbeitsgesellschaft und Privatisierung der Sozialpolitik

Norbert Berthold/Cornelia Schmid

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Für die anhaltende Misere auf dem Arbeitsmarkt zeichnet sich keine Besserung ab. Gleichzeitig gerät der Sozialstaat immer stärker unter Druck. Das Zusammentreffen dieser beiden Probleme ist kein Zufall, " hängt doch die hohe Arbeitslosigkeit eng mit den Schwierigkeiten des Sozialstaates zusammen. Zum einen wirkt sich die desolate Lage auf dem Arbeitsmarkt negativ auf die Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme aus. Zum anderen tragen die sozialstaatlichen Leistungen und deren Finanzierung selbst zu einer steigenden Arbeitslosigkeit bei. Der Beitrag analysiert zunächst die Ursachen der Krisen auf dem Arbeitsmarkt und des Sozialstaates. Die gemeinsame Ursache ist der fast gänzliche Ausschluß von Wettbewerb. Daher können nur eine grundlegende Reform der Arbeitsmarktordnung und eine weitgehende Privatisierung der sozialen Sicherung aus den Krisen führen. Die Rolle des Staates ist neu zu definieren. Die Sisyphusarbeit bei der staatlichen Kranken-und Rentenversicherung, der Versuch, durch staatliche Interventionen finanzielle Schwierigkeiten zu bewältigen, sollte ein Ende finden. Der Staat muß diese Aufgaben an die Kapital-und Versicherungsmärkte abgeben, da sie die gestellten Aufgaben effizienter erfüllen können. Auch die staatliche Arbeitslosenversicherung ist zu reformieren. Eine begrenzte Dauer des Leistungsbezugs und härtere Zumutbarkeitskriterien verringern nicht nur die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung, sondern auch die Höhe der Arbeitslosigkeit. Ineffiziente Umverteilungsmaßnahmen innerhalb der Mittelklasse sollten abgelöst werden durch steuerfinanzierte Transferzahlungen an die wirklich Bedürftigen.

I. Vorbemerkungen

Die Welt ist in Unordnung geraten, vor allem die europäische und mitten darin die deutsche. Es ist offensichtlich, der schier unaufhaltsam steigende Wohlstand der letzten 50 Jahre stößt an Grenzen. Die Arbeitslosigkeit entwickelt sich immer mehr zur Geißel der meisten europäischen Länder. Die Armut gerät zunehmend in ihren Sog. Die Wiedervereinigung hat diesen Trend, der überall in Europa zu beobachten ist, in Deutschland erheblich verstärkt. Mit den institutioneilen Arrangements, die -wie etwa der europäische Sozialstaat -ursprünglich eingegangen wurden, um den Menschen in diesen Zeiten mehr materielle Sicherheit zu geben und sie finanziell vor dem Schlimmsten zu bewahren, gelingt es offenkundig nicht mehr, diesen Aufgaben gerecht zu werden. Die heile Welt der sechziger Jahre scheint endgültig dahin zu sein.

Die Arbeitsmärkte befinden sich fast überall in Europa in einem desolaten Zustand. Die negative Entwicklung schaukelt sich seit Mitte der siebziger Jahre unaufhaltsam auf. Gegenwärtig sind über 18 Millionen Menschen in Europa offiziell ohne Arbeit. Von dem berühmten Silberstreifen am arbeitsmarktpolitischen Horizont ist weit und breit nichts zu sehen. Der deutsche Arbeitsmarkt, der sich in der Vergangenheit immer positiv vom europäischen Durchschnitt abhob, kann sich dem Sog des steigenden Durchschnitts nicht entziehen. In Deutschland sind gegenwärtig fast 4, 5 Millionen offiziell ohne Arbeit. Bei richtiger Rechnung, die auch die verdeckt Arbeitslosen mit einbezieht, kommt man leicht auf 6 Millionen arbeitslose Arbeitnehmer. Die Rate der Langzeitarbeitslosigkeit nimmt in manchen Ländern beängstigende Ausmaße an. Der Boden für eine wachsende Armut ist bereitet.

Dies sollten eigentlich Zeiten sein, wie geschaffen für den Sozialstaat. Er soll die Arbeitnehmer effizient gegen die Wechselfälle des Lebens absichern und dafür sorgen, daß sie im Falle des wirtschaftlichen Scheiterns nicht ins Bodenlose stürzen. Ihm ist es übertragen, die Güter „Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“ zu produzieren Doch die Systeme der sozialen Sicherung geraten in immer kürzeren zeitlichen Abständen in finanzielle Krisen. Die politischen Entscheidungsträger sind bemüht, die finanziellen Löcher in der Arbeitslosen-, Kranken-und Rentenversicherung zu stopfen. Damit ihnen diese Arbeit auch in Zukunft nicht ausgeht, haben sie noch eine umlagefinanzierte Pflegeversicherung installiert. Gleichzeitig fällt es dem Sozialstaat immer schwerer, den wirklich Bedürftigen zu helfen. Es ist wählerwirksamer, in der Gruppe der mittleren Einkommen von der linken in die rechte Tasche umzuverteilen als nach effizienten Instrumenten zu suchen, um das Problem der wachsenden Armut in den Griff zu bekommen. Es ist kein Zufall, daß sowohl die Lage auf den Arbeitsmärkten beklagenswert ist als auch der Sozialstaat immer stärker in finanzielle Bedrängnis gerät. Der deutsche Sozialstaat ist zu einem erheblichen Teil umlagefinanziert. Seine finanzielle Situation hängt in starkem Maße davon ab, wie sich die Einkommen der Arbeitnehmer entwickeln. Die Basis des Sozialstaates erodiert, wenn sich die Zahl der Beitragszahler relativ zu denen der Leistungsempfänger verringert. Eine desolate Lage auf den Arbeitsmärkten, aber auch demographische Veränderungen beschleunigen diese für ihn bedrohliche Entwicklung. Der Sozialstaat in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung ist selbst eine schwere Hypothek für die Arbeitsmärkte. Er setzt ihnen sowohl von der Leistungs-als auch von der Finanzierungsseite heftig zu und erhöht die Arbeitslosigkeit.

II. Die Krise der Arbeitsgesellschaft: Geht den Europäern die Arbeit aus?

Die Meinungen der Ökonomen darüber, was die Gründe für die Misere auf den Arbeitsmärkten sind, gehen auseinander. Eine Tendenz zu einem gewissen Konsens läßt sich allerdings seit einiger Zeit beobachten. Die Erklärung ist eigentlich auch nicht besonders schwierig. Mit Arbeitslosigkeit ist immer dann zu rechnen, wenn die Anpassungskapazität eines Landes nicht ausreicht, adäquat mit Belastungen fertig zu werden. Die in die internationale Arbeitsteilung eingebundenen Länder werden ständig von vielfältigen exogenen Schocks (Anpassungslasten) getroffen. Nur wenn die privaten wirtschaftlichen Akteure bereit sind, diese Anpassungslasten auch zu tragen, und nicht versuchen, sie auf Dritte abzuwälzen, kann es gelingen, die Arbeitslosigkeit dauerhaft niedrig zu halten. Dies ist dann der Fall, wenn die Reallöhne flexibel, die sektoralen, regionalen und qualifikatorischen Lohnstrukturen beweglich sind und wenn der Produktionsfaktor Arbeit mobil ist. Sind diese Kanäle blockiert, bleibt nur die Anpassung über die Arbeitsmengen. Die Folge ist ein Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Die Arbeitslosigkeit ist in den letzten 25 Jahren in den meisten europäischen Ländern stetig angestiegen, weil die Anpassungslasten Zunahmen und die Anpassungskapazitäten nicht ausreichend erhöht wurden. Die Gründe für steigende Anpassungslasten sind schnell aufgezählt Die Güter-und Faktormärkte wurden weltweit offener. Neue leistungsfähige Anbieter traten auf die Weltmärkte und haben die Anpassungslasten dramatisch und dauerhaft erhöht. Dies zeigt sich in einer instabile-ren Nachfrage nach Arbeit und einer veränderten Struktur dieser Nachfrage. Das wirtschaftliche Umfeld ist volatiler geworden, weil internationaler Handel, Kapitalbewegungen und ein schnellerer technischer Fortschritt den strukturellen Wandel beschleunigen. Die Produktlebenszyklen werden immer kürzer, komparative Vorteile verändern sich schneller, die Wechselkurse sind seit dem Zusammenbruch des Festkurssystems von Bretton-Woods instabiler. Dies alles erhöht die Unsicherheit der Unternehmungen und macht die Nachfrage nach Arbeit volatiler.

Dies ist nicht alles. Auch die Struktur der Arbeitsnachfrage hat sich in sektoraler, regionaler und qualifikatorischer Hinsicht entscheidend verändert. In den reichen Ländern geht weltweit die Nachfrage nach einfacher Arbeit teilweise drastisch zurück. Der intensivere internationale Handel mit Gütern, zunehmend aber auch mit Dienstleistungen, und der arbeitssparende technische Fortschritt sind die Kräfte, die diese Entwicklung beschleunigen Damit gewinnt auch der sektorale

Strukturwandel an Fahrt. Die Globalisierung verstärkt diese Entwicklung noch, weil sie den Niedergang des industriellen Sektors beschleunigt und den Aufstieg des Dienstleistungssektors fördert. Dieser strukturelle Wandel verringert nicht nur die Nachfrage nach Arbeit im industriellen Sektor. Er läßt zunehmend auch industriespezifische Fähigkeiten obsolet werden. Wegen der oft regionalen Konzentration von Sektoren nehmen auch die Ungleichgewichte auf regionalen Arbeitsmärkten zu.

Die größer werdenden Anpassungslasten treffen allerdings nicht einzelne Länder besonders hart und sparen andere weitgehend aus. Es ist vielmehr so, daß alle reicheren Länder weltweit mit ganz ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Wenn sich aber offensichtlich einige dieser Länder auf den Arbeitsmärkten besser als andere aus der Affäre ziehen, muß dies damit zu tun haben, daß sie über höhere Anpassungskapazitäten verfügen. Damit kommen die teilweise erheblichen Unterschiede in den institutioneilen Arrangements der Länder ins Spiel Die meisten europäischen Länder, auch Deutschland, haben zwei institutioneile Eigenheiten: Sie verfügen alle über einen ausgebauten Sozialstaat, und die Tarifpartner verhandeln in den Tarifauseinandersetzungen relativ zentral. Beides trägt dazu bei, die Anpassungskapazitäten zu schwächen. Die beschäftigungspolitisch erfolgreicheren Länder verhandeln demgegenüber viel betriebsnäher und setzen stärker auf soziale Eigenverantwortlichkeit.

Der Sozialstaat ist eine schwere Hypothek für die Arbeitsmärkte. Die Anpassungskapazität wird durch die Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung (hohe Lohnersatzrate, lange Bezugsdauer sowie laxe berufliche und regionale Zumutbarkeitskriterien) und die Höhe des vom Staat garantierten und wenig effizient bereitgestellten Existenzminimums beeinträchtigt. Beide institutionellen Arrangements installieren in ihrer gegenwärtigen Form einen Mindestlohn, der verhindert, daß sich die wenig qualifizierten Arbeitnehmer mit produktivitätsorientierten Löhnen Zeit kaufen können, um sich an die neuen Verhältnisse anzupassen. Die gegenwärtige Arbeitslosenversicherung behindert auch den sektoralen Strukturwandel. Die an die Verdienste im industriellen Sektor gekoppelten Transfers legen die Latte der Einkommensansprüche im Dienstleistungssektor relativ hoch Damit sinken vor allem für die wenig qualifizierten Arbeitnehmer die Anreize, in dan Dienstleistungssektor zu wandern. Schließlich verschärft die Art, wie die Leistungen des Sozialstaates finanziert werden, die Probleme auf den Arbeitsmärkten. Die Finanzierung ist wesentlich an den Faktor Arbeit gebunden. Der Anteil der Arbeitgeber erhöht die Lohnnebenkosten und wirkt wie eine Steuer auf Arbeit. Der Anteil der Arbeitnehmer verringert die Nettoarbeitseinkommen und führt zu höheren Lohnforderungen der Gewerkschaften. Beides verringert die Nachfrage nach Arbeit.

Die Anpassungskapazität wird nicht nur durch einen ausgebauten Sozialstaat verringert. Die Tarifauseinandersetzungen, die fast überall in Europa auf relativ zentraler Ebene stattfinden, tun ein übriges Man darf sich durch die formalen Verhandlungen auf Branchenebene nicht täuschen lassen. Es existieren vielfältige formelle und informelle Regelungen zur intersektoralen Koordination und Kooperation. Das Instrument der Pilotabschlüsse ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Es verwundert deshalb auch nicht, daß überall in Europa gesamtwirtschaftliche Größen die sektoralen Lohnabschlüsse beherrschen. Sektorale Besonderheiten spielen eine untergeordnete Rolle. Die relativ zentralen Tarifauseinandersetzungen verbannen wettbewerbliche Elemente weitgehend von den Arbeitsmärkten. Es dominieren überall kartellartige Strukturen. Die Arbeitsmärkte werden zu wettbewerblichen Ausnahmebereichen erklärt. In Deutschland steht dieses Ordnungsmodell der Tarifautonomie sogar unter dem Schutz der Verfassung, zumindest was seinen Kernbereich angeht.

Da der Wettbewerb auf den meisten europäischen Arbeitsmärkten zur Restgröße degradiert wird, verwundert es nicht, wenn die Anpassungskapazitäten nicht sehr hoch sind. Dies zeigt sich daran, daß sektorale und regionale Lohnstrukturen -gemessen an den Anpassungslasten -weder sehr differenziert noch ausreichend flexibel ausfallen. Die Anpassung an den strukturellen Wandel erfolgt weniger über eine Wanderung der Arbeit als vielmehr über ein verändertes Erwerbsverhalten (vor allem der Frauen), einen vorzeitigen Ruhestand und steigende Arbeitslosigkeit. Die qualifikatorische Lohnstruktur ist wenig differenziert und relativ inflexibel. Da relativ zentral verhandelt wird, fällt es den Tarifvertragsparteien auch leichter, die Anpassungslasten auf Dritte abzuwälzen. Mächtige Tarifparteien können den Staat leichter beschäftigungspolitisch in Geiselhaft nehmen. Aktive Arbeitsmarktprogramme, Subventionen, Frühverrentungen und staatliche Beschäftigung sind nur einige Kanäle, über die Anpassungslasten externalisiert werden.

Das eigentliche Problem auf den meisten Arbeitsmärkten besteht darin, daß die Anpassungslasten nicht direkt individuell getragen werden. Man versucht vielmehr, diese Lasten über vielfältige und verschlungene Kanäle zu sozialisieren. Ein ausgebauter Sozialstaat und relativ zentrale Tarifverhandlungen sind notwendige institutioneile Voraussetzungen, um diesen Weg überhaupt gehen zu können. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit zeigt allerdings, daß dieser Weg effizienzverschlingend ist. Was not tut, ist offenkundig: Die Beschäftigungsrisiken müssen stärker privatisiert werden. Das würde die Anpassungskapazitäten stärken und der Beschäftigung gut tun. Es ist kein Zufall, daß alle beschäftigungspolitisch erfolgreichen Länder diesen Weg gehen. Damit stehen die Reformen von Sozialstaat und Tarifverhandlungen im Mittelpunkt.

III. Die Krise des Sozialstaates: Ergebnis eines selbstzerstörerischen Prozesses oder mehr?

Der europäische Sozialstaat kämpft gegenwärtig an mehreren Fronten. Ein nur wenig funktionsfähiger Arbeitsmarkt entzieht ihm immer mehr die wirtschaftliche Basis. Es rächt sich jetzt auch für den Sozialstaat, daß man die Arbeitsmärkte zu wettbewerblichen Ausnahmebereichen gemacht hat. Ein umlagefinanzierter Sozialstaat kann nur funktionieren, wenn auch die Arbeitsmärkte funktionsfähig sind. Den härteren Kampf muß der Sozialstaat mit sich selbst führen. Er hat eine selbstzerstörerische Entwicklung in Gang gesetzt. Aus eigener Kraft wird er die Geister, die er gerufen hat, nicht mehr los. Auch der institutioneile Wettbewerb setzt ihm mächtig zu, er deckt seine Schwächen schonungslos auf und zwingt ihn, sich zu ändern.

Die spannende Frage ist, weshalb der europäische Sozialstaat auf einem selbstzerstörerischen Trip ist. Es gibt dafür mehrere Gründe Die eigentlichen Probleme des Sozialstaates, die er ohne marktliche Hilfe nicht in den Griff bekommt, sind das „moral hazard“ -und „Trittbrettfahrer“ -Verhalten seiner Mitglieder. Dabei ist mit „moral hazard“ das Risiko gemeint, daß die Menschen genau das tun, was man von ihnen befürchtet. Die bloße Existenz von Versicherungsverträgen verändert das Verhalten der Versicherungsnehmer. In der Arbeitslosenversicherung äußert es sich darin, daß die Lasten der Anpassung nicht von den Akteuren auf den Arbeitsmärkten direkt getragen, sondern auf die Arbeitslosenversicherung abgewälzt werden. Das individuelle Arbeitsangebot wird verringert, Unternehmungen greifen schneller zum Instrument der Entlassung, die Tarifvertragsparteien orientieren sich bei der Lohnfindung nur bedingt an den tatsächlichen Gegebenheiten auf den Arbeitsmärkten. Die Arbeitslosigkeit steigt, das wirtschaftliche Wachstum wird beeinträchtigt.

Die „moralische“ Achillesferse des Sozialstaates ist auch in der Krankenversicherung nicht zu übersehen. Der Wettbewerb ist im stark regulierten Gesundheitswesen mehr oder weniger ausgeschaltet, die Eigenverantwortlichkeit der Individuen wird damit weitgehend verschüttet. Es entsteht ein Verantwortungsvakuum, das die latent vorhandene „Trittbrettfahrermentalität“ aller Beteiligten verstärkt und die versicherungstypischen „moral hazard“ -Probleme vergrößert. Die Anreize der Leistungsanbieter (Ärzte, Gesundheitsindustrie), mehr Gesundheitsgüter anzubieten, werden erhöht, das Anspruchsdenken der Versicherungsnehmer (Patienten) wird verstärkt. Dabei geraten alle Beteiligten in ein Gefangenendilemma, in dem sie nach dem Motto handeln: „Verhalte Dich so, wie Du es von den anderen befürchtest“. Es kommt zu einer Ausbeutung aller durch alle. Die verstärkte Nachfrage nach Leistungen erhöht die finanziellen Ungleichgewichte, die Lohnnebenkosten steigen, die Arbeitslosigkeit nimmt zu.

In den umlagefinanzierten Systemen der Alterssicherung zeigt sich das Problem des „moral hazard“ und des Trittbrettfahrerverhaltens in mehreren -Facetten. Die traditionelle Form offenbart sich in der großen Zahl von Berufs-und Erwerbsunfähigkeitsrenten. Die Alterssicherungssysteme werden nicht nur individuell von den Arbeitnehmern, sondern auch kollektiv durch die Tarifvertragsparteien zweckentfremdet. Die Tarifpartner nutzen mit staatlicher Hilfe die Alterssicherung, um Anpassungslasten auf Dritte abzuwälzen. Eine besondere Spielart von „moral hazard“ tritt auf, weil die erwerbstätige Generation zu wenig Kinder in die Welt setzt. Wenn die Renten im Alter über eine Umlage unter den Erwerbstätigen finanziert werden, sind die finanziellen Anreize relativ gering, Kinder aufzuziehen, um für das Alter vorzusorgen. Da aber die Sicherheit der Renten auch von der Zahl der Erwerbstätigen in der Zukunft abhängt, verhalten sich zumindest jene, die keine Kinder haben, wie Trittbrettfahrer. Die Folge sind steigende finanzielle Ungleichgewichte, höhere Beiträge und eine steigende Arbeitslosigkeit.

Der Sozialstaat bringt sich noch aus einem anderen Grund in Schwierigkeiten. Er versucht nicht nur, den Individuen einen Schutz gegen die Wechselfälle des Lebens zu bieten, er verteilt auch in erheblichem Maße interpersonell um: Die politischen Entscheidungsträger können der Versuchung nicht widerstehen, die umverteilungspolitischen Instrumente als Parameter im Wettbewerb auf den Wählerstimmenmärkten einzusetzen. Diese Instrumente sind so beliebt, weil die Leistungen spürbar spezifischen Gruppen'gewährt, die finanziellen Lasten aber eher unfühlbar auf die große Masse der gegenwärtigen und zukünftigen Steuer-und Beitragszahler abgewälzt werden. Es wird nicht nur „zuviel“, sondern auch wenig effizient umverteilt. Nach der Logik der politischen Ökonomie ist es nur folgerichtig, wenn der Löwenanteil dieser Aktivitäten in der politisch ertragreichen Mittelklasse entfaltet wird. Dabei wird oft nur von der linken in die rechte Tasche umverteilt. Dies kann man daran erkennen, daß die Gruppe der Bezieher mittlerer Einkommen per Saldo wohl kaum begünstigt wird, weil sie auch wieder die Gruppe ist, die vorwiegend zur Kasse gebeten wird, wenn es darum geht, die umverteilungspolitischen Wohltaten zu finanzieren. Der Sozialstaat gefährdet mit diesem verteilungspolitischen Unfug seine eigene ökonomische Basis, weil er Steuern und Abgaben erhöhen muß.

Die selbstzerstörerischen Züge des Sozialstaates treten immer deutlicher zutage. Die zeitlichen Abstände, in denen sich die finanziellen Probleme krisenhaft zuspitzen, werden kürzer. Diese Entwicklung ist nicht neu, der intensivere institutioneile Wettbewerb beschleunigt sie allerdings seit Anfang der achtziger Jahre. Die Güter-und Faktormärkte werden europa-und weltweit immer offener. Die Möglichkeiten der Unternehmungen, sich dort niederzulassen, wo sie weltweit die günstigsten Produktionsbedingungen finden, nehmen zu. Der Boom bei den Direktinvestitionen deutet darauf hin, daß sie gelernt haben, die weltweit kostengünstigsten Standorte zu nutzen. Die internationalen Standorte stehen in einem immer stärkeren Wettbewerb. Der verstärkte internationale Handel und mobilere Produktionsfaktoren, allen voran Kapital, verschärfen die Probleme des Sozialstaates und stellen die institutioneilen Arrangements, auch die sozialpolitischen, auf den Prüfstand. Der institutioneile Wettbewerb offenbart, wo der gegenwärtige Sozialstaat nach wie vor in der Lage ist, sozialpolitische Aufgaben besser als der Markt zu erfüllen. Er deckt aber auch auf, wo er keine komparativen Vorteile mehr hat. Der Sozialstaat hat die komparativen Vorteile, die er bei wenig entwickelten Kapital-und Versicherungsmärkten lange Zeit hatte, um die Individuen gegen die Wechselfälle des Lebens abzusichern, inzwischen weitgehend verloren. Es ist effizienter, sich im Falle von Krankheit, Alter und Pflegebedürftigkeit auf privaten Versicherungsmärkten abzusichern. Allein die Absicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit scheint beim Sozialstaat gegenwärtig noch besser aufgehoben als auf privaten Versicherungsmärkten. Der Grund dafür ist einfach: Die Arbeitslosigkeit ist ein nur schwer versicherbares Risiko. Das Risiko eines Versicherten, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, ist nicht unabhängig von den Risiken der anderen Arbeitnehmer. Der institutioneile Wettbewerb führt in der Tat zum „Tod des Versicherungsstaates“ wenn auch auf Raten. Das ist allerdings nicht negativ zu beurteilen. Es kommt vielmehr zu einer neuen Aufgabenteilung zwischen Sozialstaat und Markt, wobei jeder das macht, was er am besten kann.

Der institutioneile Wettbewerb zeigt deutlich, was der (Sozial-) Staat nach wie vor besser kann als der Markt: Er hat komparative Vorteile, wenn es darum geht zu verhindern, daß Menschen materiell ins Bodenlose fallen. Die Erfahrung zeigt, daß er diese Aufgabe gegenwärtig vernachlässigt und sich lieber auf dem wählerwirksameren Felde der Umverteilung bei den mittleren Einkommen tummelt. Der institutioneile Wettbewerb wird den Sozialstaat zwingen, auch auf dem Felde der umverteilungspolitischen Aktivitäten bei seinen Leisten zu bleiben. Dem Unfug, von den „nicht ganz Reichen zu den nicht ganz Armen“ umzuverteilen, wird eher früher als später ein Ende bereitet. Da diese Aktivitäten nicht durch entsprechende Produktivitäten gedeckt sind, machen sie ein Land im internationalen Standortwettbewerb weniger attraktiv. Der institutionelle Wettbewerb wird den Sozialstaat auf das Terrain verweisen, auf dem er nach wie vor komparative Vorteile hat, wenn er es nur richtig anpackt: bei der Bekämpfung von Armut.

IV. Privatisierung der Sozialpolitik: Ein Weg aus dem Dschungel des Sozialstaates?

Die Schwierigkeiten, mit denen die Arbeitsgesellschaft fast überall in Europa zu kämpfen hat, und die Krise, in der sich der europäische Sozialstaat befindet, haben eine gemeinsame Ursache: Der Wettbewerb wird weitgehend ausgeschlossen. Die Arbeitslosigkeit erweist sich als dauerhaft hoch, weil man die europäischen Arbeitsmärkte zu wettbewerblichen Ausnahmebereichen erklärt hat und die Anpassungslasten sozialisiert. Der europäische Sozialstaat befindet sich am Rande des finanziellen Abgrundes, weil man ihm Aufgaben aufbürdet, die Kapital-und Versicherungsmärkte effizienter erledigen können. Was not tut ist offenkundig: Die Aufgaben des Sozialstaates müssen ebenso stärker privatisiert werden wie das Beschäftigungsrisiko. Nur mehr Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten und bei der Produktion von „Sicherheit“ können Europa aus der Krise helfen.

Wer es sehen wollte, konnte es schon lange erkennen: Der Sozialstaat hat seine komparativen Vorteile bei der Produktion des Gutes „Sicherheit“ weitgehend verloren. Der schärfere Standortwettbewerb öffnet auch denen die Augen, die sich bisher standhaft weigerten, sie aufzumachen. Er deckt die strukturellen Schwächen des gegenwärtigen Sozialstaates auf. Wenn man nicht auf die protektionistische Karte setzt, nimmt der Zwang zu, die soziale Sicherung effizienter zu gestalten. Der Standortwettbewerb rückt die Stellung des Sozialstaates in einer marktwirtschaftlichen Ordnung wieder zurecht. Er war und ist gedacht als ein Sicherungsnetz gegen Risiken, für die auf privaten Märkten eine effiziente Vorsorge nicht möglich ist. Dies gilt beim heutigen Zustand der Kapital-und Versicherungsmärkte allenfalls noch für die Arbeitslosenversicherung, nicht aber für die Kranken-und Rentenversicherung.

Das Gesicht der Gesetzlichen Krankenversicherung wird sich grundlegend ändern. Es sind nur einige wenige Elemente, die eingeführt werden müssen, um eine marktliche Reform im Gesundheitswesen auf den Weg zu bringen. Dennoch führen sie zu effizienteren Lösungen als die vielfältigen interventionistischen Reformmaßnahmen, die in den letzten beiden Jahrzehnten seit Ausbruch der Dauerkrisen in der Krankenversicherung ergriffen wurden und allenfalls das Prädikat „Flickschusterei“ verdienen. Die grundlegende Voraussetzung ist, daß die Individuen frei entscheiden können, bei welcher privaten oder staat­ liehen Versicherung sie sich versichern. Die regulierenden Eingriffe des Staates beschränken sich auf drei: Notwendig ist zweifellos eine allgemeine Versicherungspflicht in Höhe einer gewissen Mindestsicherung. Damit wird verhindert, daß sich Individuen überhaupt nicht absichern und später dem Staat zur Last fallen. Daneben ist auch ein Kontrahierungszwang der Versicherungsanbieter geboten. Dies ist notwendig, damit auch schlechte Risiken einen adäquaten Versicherungsschutz erhalten können Schließlich müssen auch risiko-bezogene Kompensationszahlungen der Versicherer untereinander bei einem Wechsel der Versicherten möglich werden. Nur so wird garantiert, daß sich auch ein effizienzsteigernder Wettbewerb auf den Versicherungsmärkten entwickeln kann.

Es führt kein Weg daran vorbei, auch bei der Alterssicherung sind private Kapital-und Versicherungslösungen längerfristig sinnvoll und unausweichlich. Die Vorteile gegenüber umlagefinanzierten Systemen lassen sich vor allem für die junge Generation in Mark und Pfennig ausdrükken Das konstituierende Prinzip ist auch in diesem Falle, daß die Individuen ihre Versicherung frei wählen können. Damit scheidet die Lösung aus, die staatlich umlagefinanzierte Alterssicherung mit Kapital zu fundieren. Um einige regulierende Eingriffe kommt man aber auch bei privaten Versicherungslösungen nicht herum: Notwendig ist zweifellos eine allgemeine Versicherungspflicht in Höhe einer bestimmten Mindestsicherung. Die Schwierigkeiten des Transfers der angesparten finanziellen Mittel beim Wechsel der Versicherung treten bei der privaten Alterssicherung nicht auf. Weitere regulierende Eingriffe sind deshalb auch nicht notwendig.

Schwierig kann der Übergang von der staatlichen zu einer privaten Lösung werden. Die erwerbstätige Generation muß nicht nur die Ansprüche an das alte, umlagefinanzierte Alterssicherungssystem bedienen, sondern auch eigene Vorsorge für das Alter betreiben. Die Mehrbelastung der heute jungen Generation wird allerdings geringer ausfallen, als diese einfache Überlegung glauben machen will Der Übergang zu einem privat organisierten, kapitalfundierten Alterssicherungssystem beschert nicht nur zukünftigen Generatio­ neu, sondern auch der heute jungen Generation direkt beträchtliche Effizienzgewinne. Die negativen Auswirkungen der Leistungs-und Finanzierungsseite der umlagefinanzierten Alterssicherung auf die Arbeitsmärkte entfallen. Die Lasten der Arbeitslosigkeit verringern sich. Die stärkere Kapitalfundierung der Alterssicherung erhöht den inländischen Kapitalstock. Wenn es gelingt, schädliche Regulierungen auf den Kapitalmärkten abzubauen, wird die Lage auf den Arbeitsmärkten und das wirtschaftliche Wachstum auch von dieser Seite positiv beeinflußt. Wird dagegen das staatlich umlagefinanzierte Alterssicherungssystem beibehalten, dann wird die demographische Entwicklung für eine steigende Belastung der jungen erwerbstätigen Generation sorgen.

Die Versicherungsmärkte sind gegenwärtig noch nicht in der Lage, die Individuen effizient gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit abzusichern. Dies wird wohl auch in absehbarer Zeit eine sozialstaatliche Aufgabe bleiben müssen. Die finanziellen Probleme der Arbeitslosenversicherung lassen sich nur bedingt lösen, wenn man allein darauf setzt, den Versicherungsgedanken zu stärken. Notwendig ist eine ursachenadäquate Therapie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dabei kann nur mehr Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt helfen. Die verschiedenen Formen des „moral hazard“ -Verhaltens in der Arbeitslosenversicherung lassen sich verringern, wenn einerseits die Beiträge stärker nach individuellen und strukturellen Merkmalen differenziert und verschiedene Leistungspakete zu unterschiedlichen Beiträgen angeboten andererseits die Lohnersatzleistungen verringert oder degressiv gestaltet, die Bezugsdauer verkürzt und an Auflagen zur Weiterqualifizierung gekoppelt und auch die Zumutbarkeitskriterien verschärft werden.

Der institutionelle Wettbewerb beschleunigt den Prozeß der Privatisierung im Bereich des Sozialen. Er hilft, das Gut „Sicherheit“ zumeist privat, auf jeden Fall aber effizienter herzustellen. Das wird für das Gut „Gerechtigkeit“ bestritten. Es wird befürchtet, daß bei offenen Güter-und Faktor-märkten der Kampf gegen die Armut mangels Masse früher oder später eingestellt werden müsse. Das ist nicht der Fall. Wird der Kampf gegen Armut effizient geführt, gewinnt der Standort. Können die Individuen sicher sein, im Falle des wirtschaftlichen Scheiterns nicht ins Bodenlose zu fallen, wird eine Gesellschaft produktiver Die wirtschaftlichen Aktivitäten werden riskanter, innovative Durchbrüche wahrscheinlicher, Investitionen in Real-und Humankapital damit ertragreicher. Die Rate der Kriminalität sinkt, der soziale Friede wird stabiler, die Streikhäufigkeit geht zurück. Ein weiteres kommt hinzu: Die Bereitschaft der Individuen, die zwar effizienzsteigernden, aber oft auch ungemütlichen Regeln des marktwirtschaftlichen Systems zu akzeptieren, nimmt zu. Die marktwirtschaftliche Ordnung wird gefestigt. Die Erträge aus Investitionen werden ebenso sicherer wie der Nutzen aus dem Konsum. Es steht nicht zu befürchten, daß das Kapital einen weiten Bogen um ein Land macht, wenn Armut effizient bekämpft wird.

Diese produktiven Effekte treten allerdings nur ein, wenn die Instrumente im Kampf gegen Armut so gewählt werden, daß die Vorteile in Form von mehr sozialer Sicherheit und einer stärkeren Risikobereitschaft nicht durch die Nachteile einer verminderten Leistungsbereitschaft kompensiert werden. Die Vorschläge, die gemacht wurden, um zu verhindern, daß Individuen in der Arbeitslosigkeits-und Armutsfalle enden, sind Legion. Sie reichen von einem Bürgergeld über unterschiedliche Varianten einer zielgruppenorientierten negativen Einkommensteuer bis zu verschiedenen Formen von Gutscheinlösungen für Langzeitarbeitslose Die Wahl der richtigen Instrumente ist allerdings nicht ganz einfach. Die Balance zwischen der Solidarität der Gesellschaft und der Eigenverantwortlichkeit der Individuen ist nicht leicht zu finden. Aber auch in diesem Falle erweist sich der institutioneile Wettbewerb als eine wichtige Hilfe. Er zwingt die politischen Entscheidungsträger nicht nur, sich nach Instrumenten umzuschauen, die einerseits helfen, die materielle Not wirksam zu lindern, und andererseits vermeiden, daß die Leistungsanreize der Individuen über Gebühr leiden. Der institutionelle Wettbewerb erleichtert es ihnen auch, solche institutionellen Arrangements zu entdecken.

Es ist auch bei schärferem institutionellen Wettbewerb möglich, das Problem der Armut in den Griff zu bekommen. Eines sollte man allerdings bedenken. Der institutioneile Wettbewerb zwingt die politischen Entscheidungsträger, den Kampf gegen die Armut anders als bisher zu finanzieren. Es wird immer schwerer, den Faktor Finanz-und Realkapital zur Finanzierung heranzuziehen. Da er international immer mobiler wird, gelingt es auf nationaler Ebene immer weniger, seine Erträge zu besteuern. Wenn man also Armut bekämpfen will, müssen vor allem die international weniger mobilen Faktoren, allen voran der Faktor Arbeit, zur Kasse gebeten werden. Bei offenen Güter-und Faktormärkten muß die Umverteilung zugunsten der armen Arbeitnehmer immer stärker von den reicheren Arbeitnehmern finanziert werden. Es wäre fatal, wenn die Politik versuchte, Realkapital verstärkt zur Kasse zu bitten. Die gegenteilige Strategie ist sinnvoll. Wenn es durch attraktive Rahmenbedingungen gelingt, das international mobile Realkapital ins Land zu locken, steigt die Produktivität der immobilen Faktoren und damit deren Einkommen. Damit stellen sich nicht nur arme und reiche Arbeitnehmer besser, auch der finanzielle Spielraum für die unbedingt notwendigen umverteilungspolitischen Aktivitäten zur Existenzsicherung nimmt zu.

V. Privatisierung des Beschäftigungsrisikos: Ein Weg aus der Krise am Arbeitsmarkt?

Die stärkere Privatisierung des Sozialstaates trägt dazu bei, das Gut „Sicherheit“ kostengünstiger zu produzieren, der institutioneile Wettbewerb hilft, den Kampf gegen Armut effizienter zu führen.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit: Eine solche Reform des Sozialstaates entschärft auch die Situation auf den Arbeitsmärkten, und zwar dadurch, daß sie hinsichtlich Leistung und Finanzierung der Güter „Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“ entlastet werden. Die weitgehend marktliche Produktion von „Sicherheit“ stärkt das Versicherungsprinzip. Damit werden den individuellen und kollektiven Fehlanreizen die schärfsten Zähne gezogen. Auch von der Finanzierungsseite werden die Arbeitsmärkte entlastet. Die individuellen Versicherungsprämien sind keine Steuer auf Arbeit. Die Aufwendungen zur Finanzierung von „Gerechtigkeit“ bleiben es aber. Die Steuer-und Abgabenschere schließt sich erheblich, der negative Einfluß auf die Arbeitsnachfrage wird geringer. Der Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, steigenden Sozialversicherungsbeiträgen und steigender Arbeitslosigkeit wird durchbrochen. Er wird durch einen Tugendkreis abgelöst. Geringere Steuern und Abgaben ermuntern die Unternehmungen zu mehr Investitionen und einer verstärkten Nachfrage nach Arbeitskräften. Die Arbeitslosigkeit wird abgebaut, das Einkommen der Arbeitnehmer höher und stetiger. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, eines hilft vor allem den arbeitslosen Arbeitnehmern: die Reform der Arbeitslosenversicherung. Die Erfahrungen in den skandinavischen Ländern zeigen, daß es sehr sinnvoll sein kann, die Arbeitslosenversicherung versicherungsadäquater umzugestalten. Eine begenzte Dauer des Bezugs von Leistungen und härtere berufliche und regionale Zumutbarkeitskriterien verringern die Arbeitslosigkeit, die aus dem sektoralen Strukturwandel vom industriellen Bereich hin zum Dienstleistungssektor entsteht. Es lohnt sich für die arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer wieder eher, sich nach einem Arbeitsplatz im Dienstleistungssektor umzuschauen, selbst wenn er schlechter bezahlt ist als der bisherige im industriellen Bereich. Die Aufnahme einer Arbeit ist der erste Schritt zu einer besser bezahlten Arbeit. Wunderdinge sollte man allerdings von einer solchen Reform nicht erwarten. Unabdingbar sind stärker differenzierte und wesentlich flexiblere regionale, sektorale und qualifikatorische Lohn-strukturen

Eine solche Reform des Sozialstaates ist allerdings nur ein erster Schritt. Er reicht nicht aus, die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Das eigentliche Problem auf den Arbeitsmärkten ist die Machtposition der Arbeitsplatzbesitzer. Macht und Machtmißbrauch entstehen, weil der Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten weitgehend ausgeschaltet ist und auch auf den Gütermärkten ausgehebelt wird. Hier gilt es anzusetzen. Ein schärferer Wettbewerb auf Güter-und Faktormärkten stärkt die Anpassungskapazitäten. Die Akteure auf den Arbeitsmärkten würden ihren beschäftigungspolitischen Unfug stark einschränken, wenn der Wettbewerb auf den Gütermärkten schärfer ausfiele. Die Löhne und Tarife, die sich nicht an der tatsächlichen Lage an den Arbeitsmärkten orientierten, ließen sich für die Arbeitsplatzbesitzer nicht mehr kostenlos durchsetzen. Bei scharfem Wettbewerb auf den Gütermärkten ist es nur noch bedingt möglich, überhöhte Löhne auf die Güter-preise zu überwälzen. Der Anreiz zu solchen Abschlüssen für die Arbeitsplatzbesitzer ist nicht sehr hoch, da die eigenen Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen.

Tatsächlich ist der Wettbewerb auf Güter-und Dienstleistungsmärkten aber alles andere als sehr intensiv. Es müssen einerseits erhebliche Hemmnisse beseitigt werden, die den Wettbewerb auch auf diesen Märkten behindern Dazu zählen eine Vielzahl staatlicher und tarifvertraglicher Regulierungen. Die typisch deutsche Diskussion um den Ladenschluß im Dienstleistungssektor ist nur die Spitze des ordnungspolitischen Eisberges. Sie zeigt, wie schwer es in diesem Lande ist, Reformen auf den Weg zu bringen. Es ist andererseits unabdingbar, die Wettbewerbsverzerrungen zu unterbinden, die durch staatlich verordnetes finanzielles Doping (Subventionen) entstehen. Schließlich muß dafür Sorge getragen werden, daß in den „sensiblen“ Bereichen die Barrieren gegenüber Handelspartnern außerhalb der Europäischen Union beseitigt werden, die nicht nur durch gemeinsame handelspolitische Maßnahmen, sondern auch durch industriepolitische Aktivitäten errichtet werden.

Der Schwerpunkt der Aktivitäten muß aber auf den Arbeitsmärkten selbst liegen. Es gilt, dem Preis für Arbeit wieder seine eigentliche Funktion zurückzugeben. Er soll, sowohl was die Lohnhöhe als auch die Lohnstrukturen angeht, adäquat auf die Ungleichgewichte auf den Arbeitsmärkten reagieren. Es ist unabdingbar, die Arbeitsmarktordnung so umzugestalten, daß die Arbeitsmärkte funktionsfähiger werden und flexibler auf Herausforderungen reagieren können. Die Tarifvertrags-parteien müssen gezwungen werden, ihre beschäftigungspolitische Verantwortung wieder wahrzunehmen und sie nicht auf Dritte abzuwälzen. Das ist nur möglich, wenn man für mehr Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten sorgt. Die Vorschläge, wie dies geschehen könnte, liegen seit langem auf dem Tisch Tarifkorridore, abgesenkte Einstiegstarife, ertragsabhängige Lohnbestandteile, tarifvertragliche oder gesetzliche Öffnungsklauseln, differenzierte Gestaltung der Arbeitszeit in den Betrieben, mehr Jahresarbeitszeitregelungen, verlängerte Maschinenlaufzeiten durch Reorganisation der Arbeitsschichten, mehr Zeitarbeit, befristete Arbeitsverträge und Leiharbeitsverhältnisse sind nur einige wenige Varianten.

Diese Erkenntnisse sind nicht neu, der intensivere institutioneile Wettbewerb wird die Tarifpartner allerdings zwingen, sie auch in die Tat umzusetzen. Ein Aspekt wird von besonderer Bedeutung sein: die Art, wie Tarifauseinandersetzungen geführt werden. Die eher archaischen Methoden des Arbeitskampfes und das fein versponnene globale wirtschaftliche Netzwerk sind wie Feuer und Was-ser. Das kartellartige Ritual nationaler Lohnrunden um die Einkommensverteilung wird immer mehr vom Wettbewerb der Länder und Regionen um Arbeitsplätze abgelöst Die Löhne und Arbeitsbedingungen müssen in immer stärkerem Maße die unterschiedlichen Bedingungen auf den sektoralen, regionalen und beruflichen Teilarbeitsmärkten berücksichtigen. Der Lohn wird immer wichtiger, um die Effizienz der Arbeitnehmer zu steigern. Dies alles nagt an den Fundamenten zentraler Lohnverhandlungen. Die Tendenz zu betriebsnäheren Formen der tariflichen Auseinandersetzungen wird sich beschleunigen. Die Lohnpolitik wird stärker diszipliniert, weil es immer weniger gelingt, die Kosten einer falschen Lohnpolitik auf Dritte abzuwälzen.

Da der institutionelle Wettbewerb die Kanäle verstopft, über die Anpassungslasten auf Dritte abgewälzt werden, verändert sich auch das Gesicht der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Es ist zwar grundsätzlich denkbar, daß eine solche Politik die Anpassungskapazität erhöht. Vermittelt sie arbeitslos gewordenen Arbeitnehmern marktverwertbares Humankapital, erhöht sie deren Chancen, wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Die Realität sieht oft anders aus. Die aktive Arbeitsmarktpolitik intensiviert den Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten zumeist nicht. Es ist ein Versuch der Arbeitsplatz-besitzer, arbeitslos gewordene Arbeitnehmer ruhig zu stellen. Offene wird in versteckte Arbeitslosigkeit umgewandelt Der schärfere institutioneile Wettbewerb ist auch in diesem Falle ein Segen. Er erhöht nämlich den Preis, den die Arbeitsplatzbesitzer für diese ineffiziente Politik bezahlen müssen. Die aktive Arbeitsmarktpolitik der Zukunft wird deshalb anders aussehen: Sie ist auf be­ stimmte Problemgruppen am Arbeitsmarkt gerichtet und zeitlich strikt begrenzt.

VI. Schlußbemerkungen

Es ist wohl wahr: Die Welt verändert sich in einem atemberaubenden Tempo. Während wir in Europa noch über die negativen Seiten der veränderten weltwirtschaftlichen Gegebenheiten lamentieren, haben andere in der Welt längst begriffen, daß die Zeiten, den Wohlstand zu steigern, schon lange nicht mehr so günstig waren wie gegenwärtig. Hauptgewinner sind die international mobilen Produktionsfaktoren Real-und Finanzkapital, aber auch qualifizierte Arbeit wird sich einen Teil des größer werdenden Kuchens abschneiden. Die immobilen Faktoren wie einfache Arbeit haben es da schwerer. Aber auch sie können an dem steigenden Wohlstand teilhaben. Es muß ihnen allerdings gelingen, sich für die mobilen Produktionsfaktoren attraktiv zu machen. Damit steht der gesamte Standort auf dem Prüfstand, allen voran die Arbeitsmärkte und der Sozialstaat. Der bisherige europäische Weg, den Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten und im Bereich des Sozialen weitgehend auszuschalten und die Anpassungslasten zu sozialisieren, erweist sich immer mehr als das, was er schon immer war: ein Holzweg. Was not tut ist klar: Die Arbeitsmärkte müssen wettbewerblicher werden, der Sozialstaat muß auf die Felder verwiesen werden, auf denen er tatsächlich komparative Vorteile gegenüber marktlichen Lösungen hat. Das Beschäftigungsrisiko muß ebenso stärker privatisiert werden wie weite Bereiche der Sozialpolitik. Die immobilen Produktionsfaktoren können an den wachsenden Wohlstandsgewinnen nur teilhaben, wenn sie beschäftigt sind, ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, sich kostengünstiger als bisher gegen die Wechselfälle des Lebens abzusichern und der Sozialstaat effizienter als bisher dafür Sorge trägt, daß die Individuen im Falle des wirtschaftlichen Scheiterns nicht ins Bodenlose fallen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Norbert Berthold, Ansätze einer ökonomischen Theorie der Sozialpolitik -Normative und positive Aspekte, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, 42 (1991) 2, S. 145-178.

  2. Vgl.ders. /Rainer Fehn, Skierotisierte europäische Arbeitsmärkte -Durchschlägt die Europäische Währungsunion den gordischen Knoten?, in: Dieter Cassel (Hrsg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft, Stuttgart u. a. 1997 (i. E.).

  3. Vgl. Norbert Berthold, Arbeitslosigkeit oder Einkommensungleichheit -Fluch globaler Märkte?, in: Wolfgang Gitter (Hrsg.), Diesseits und jenseits von Geldangebot und Geldnachfrage, Baden-Baden 1996, S. 56-59.

  4. Vgl. N. Berthold/R. Fehn (Anm. 2).

  5. Vgl. Karl-Heinz Paque, Arbeitslosigkeit und sektoraler Strukturwandel -Eine Interpretation von vier Dekaden westdeutscher Arbeitsmarktgeschichte, in: List Forum für Wirtschafts-und Finanzpolitik, 21 (1995) 2, S. 177.

  6. Vgl. Norbert Berthold/Rainer Fehn, Evolution von Lohnverhandlungssystemen -Macht oder ökonomisches Gesetz?, in: Werner Zohlnhöfer (Hrsg.), Die Tarifautonomie auf dem Prüfstand, Berlin 1996, S. 57-94.

  7. Vgl. Norbert Berthold, Sozialstaat und marktwirtschaftliche Ordnung -Ökonomische Theorie des Sozialstaates, in: Karl-Hans Hartwig (Hrsg.), Alternativen der sozialen Sicherung-Umbau des Sozialstaates, Baden-Baden 1997, S. 27-35.

  8. Vgl. Hans-Werner Sinn, Tax Harmonisation or Tax Competition in Europe, in: European Economic Review, 34 (1990) 2/3, S. 502.

  9. Vgl. Bernhard Külp, Umverteilung zugunsten der nicht ganz Armen und zu Lasten der nicht ganz Reichen?, in: Ernst Dürr u. a. (Hrsg.), Beiträge zur Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, Berlin 1975, S. 227-241.

  10. Vgl. Rüdiger Soltwedel, Dynamik der Märkte -Solidität des Sozialen. Leitlinien für eine Reform der Institutionen, Kieler Diskussionsbeiträge Nr. 297/298, Kiel 1997, S. 74 f..

  11. Vgl. Hans H. Glismann/Ernst-Jürgen Horn, Die Krise des deutschen Systems der staatlichen Alterssicherung, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 46 (1995), S. 309-344.

  12. Vgl. Norbert Berthold/Cornelia Schmid, Der Generationenvertrag -ein Auslaufmodell?, in: List Forum für Wirtschafts-und Finanzpolitik, 23 (1997) 2, S. 152-157.

  13. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Reformen voranbringen. Jahresgutachten 1996/97, Stuttgart 1996, Ziffer 452-457.

  14. Vgl. Karl Homann/Ingo Pies, Sozialpolitik für den Markt. Theoretische Perspektiven konstitutioneller Ökonomik, in: Ingo Pies/Martin Leschke (Hrsg.), James Buchanans Konstitutionelle Ökonomik, Tübingen 1996, S. 219-220.

  15. Vgl. Jürgen Jerger/Alexander Spermann, Wege aus der Arbeitslosenfalle -ein Vergleich alternativer Lösungskonzepte, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 46 (1997) 1, S. 51 -73.

  16. Vgl. Norbert Berthold/Rainer Fehn, Das Beschäftigungspotential einer flexibleren qualifikatorischen Lohn-struktur, in: Dieter Sadowski/Martin Schneider (Hrsg.), Vorschläge zu einer neuen Lohnpolitik: Optionen für mehr Beschäftigung I, Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 71-99.

  17. Vgl. Norbert Berthold, Arbeitslosigkeit, Subsidiarität und institutioneller Wettbewerb, in: Luder Gerken (Hrsg.), Europa zwischen Ordnungswettbewerb und Harmonisierung, Berlin u. a. 1995, S. 260-264.

  18. Vgl. Jürgen B. Dönges, Deregulierung am Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Tübingen 1992, S. 37-41.

  19. Vgl. Olaf Sievert, Geld, das man nicht selbst herstellen kann: Ein ordnungspolitisches Plädoyer für die Europäische Währungsunion, in: Peter Bofinger u. a. (Hrsg.), Währungsunion oder Währungschaos? Was kommt nach der D-Mark, Wiesbaden 1993, S. 17 L

  20. Vgl. Norbert Berthold/Rainer Fehn, Aktive Arbeitsmarktpolitik -wirksames Instrument der Beschäftigungspolitik oder politische Beruhigungspille?, in: ORDO, Jahrbuch für Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 48/49 (1997) (i. E.).

Weitere Inhalte

Norbert Berthold. Dr. rer. pol., geb. 1952; 1987-1990 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg; seit 1990 Professor für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft -Gefahr im Verzug?, Berlin 1992; (zus. mit Bernhard Külp) Grundlagen der Wirtschaftspolitik, München 1992; Allgemeine Wirtschaftstheorie, München 1995; Sozialstaat im Zeitalter der Globalisierung, Tübingen 1997 (i. E.); zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften. Cornelia Schmid, Dipl. -Vw., geb. 1970; seit 1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin am volkswirtschaftlichen Institut der Universität Würzburg. Veröffentlichung: (zus. mit Norbert Berthold) Der Generationenvertrag -ein Auslaufmodell?, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Band 23, (1997) 2.