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Strategieansätze und Ergebnisse des Übergangs der mittel-und osteuropäischen Länder zur Marktwirtschaft | APuZ 44-45/1997 | bpb.de

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APuZ 44-45/1997 Strategieansätze und Ergebnisse des Übergangs der mittel-und osteuropäischen Länder zur Marktwirtschaft Entsteht eine neue wirtschaftliche Kluft in Europa? Globalisierung und Osteuropa. Probleme und Perspektiven der Arbeitsteilung in Europa Privatisierungsstrategien und ihre Ergebnisse

Strategieansätze und Ergebnisse des Übergangs der mittel-und osteuropäischen Länder zur Marktwirtschaft

Wolfgang Quaisser

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mehrheitlich können die Transformationsländer entscheidende Fortschritte beim Übergang zur Marktwirtschaft verzeichnen. So sind Preise und Außenhandel weitgehend liberalisiert, die Privatisierung ist in einigen Ländern fast abgeschlossen und die Inflation mit einigen Ausnahmen unter Kontrolle. In den fortgeschrittenen Reformländern hat eine Wirtschaftsbelebung eingesetzt. Die ökonomischen und sozialen Kosten fielen jedoch deutlich höher aus, als die meisten Experten und insbesondere die Bevölkerung erwartet hatten. Dies trifft vor allem für den Rückgang der Wirtschaftsleistung („Übergangsrezession“) und der Einkommen sowie für die wachsende Arbeitslosigkeit zu. Breite Teile der Bevölkerung sehen sich in ihren teilweise unrealistischen Erwartungen enttäuscht, was auch dazu führte, daß viele postkommunistische und sozialistische Regierungen wieder an die Macht kamen. Ein Ländervergleich zeigt deutlich, daß Staaten, die mehr einem radikaleren Transformationsansatz (wie unter anderem Polen und Tschechien) folgten, die Inflation besser unter Kontrolle bringen und als erste einen Wachstumsprozeß einleiten konnten. Bulgarien und Albanien sind Beispiele dafür, wie unterlassene Reformen (Privatisierung, in Albanien insbesondere im Bereich der Finanzmärkte) und eine inkonsistente Stabilitätspolitik zu wirtschaftlichem und politischem Chaos (bis hin zur Auflösung staatlicher Institutionen in Albanien) führen können.

I. Einleitung

Tabelle 1: Wichtige Indikatoren der Transformationsländer

Quellen: World Development Report 1997, Washington D. C, 1997; OECD: Agricultural Policies, Markets and Trade, Paris 1996; European Commission: Agricultural Situation and Prospects in the Central and East European Countries, Brussel 1995.

Der Übergang der mittel-und osteuropäischen (MOE-) Länder zu Demokratie und Marktwirtschaft stellt ein weltgeschichtliches Ereignis dar, an dessen Erfolg die westlichen Demokratien und insbesondere Westeuropa ein fundamentales Interesse haben. Das Ausmaß dieses Prozesses wird daran deutlich, daß unter Berücksichtigung Chinas und Vietnams etwa ein Drittel der Menschheit davon betroffen ist.

Tabelle 5: Wichtige ökonomische Indikatoren der Transformationsländer (Staatshaushalt, Leistungsbi lanz und Direktinvestitionen, Stand Ende 1996)

Quellen: BMWi, Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel-und Osteuropa, Dokumentation Nr. 140, Bonn 1997; World Development Report 1997, Washington D. C. 1997.

Wirtschaftliche Prosperität ist die Basis stabiler Demokratien. Scheitert der wirtschaftliche Aufschwung, dann drohen erhöhte Transferzahlungen, anschwellende Wanderungsbewegungen und politische Krisen, die die bisherige Stabilität in Europa gefährden können. Die Integration zumindest der fortgeschrittenen Reformländer in die Europäische Union (EU) stellt deshalb einen wichtigen Eckpfeiler dar, um den Transformationsprozeß langfristig politisch und wirtschaftlich abzusichern. Die ökonomische Herausforderungen der Osterweiterung ergibt sich für die EU aus der Tatsache, daß die zehn potentiellen Beitrittskandidaten etwa einem Drittel der Bevölkerung und Fläche der jetzigen EU-15 entsprechen, ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) jedoch nur knapp 4 Prozent (pro Kopf etwa 12 Prozent) des BIP der EU beträgt (vgl. Tabelle 1). Über sieben Jahre Transformationserfahrung liegen vor, um eine Bilanz zu ziehen. Vorrangig werden die MOE-Länder behandelt, doch wird an einigen Stellen auf die Erfahrungen der ostasiatischen Transformationsländer China und Vietnam eingegangen.

II. Strategieansätze und Stand der Transformation: Ein Überblick

Tabelle 2: Merkmale und Stand der Transformation

Quellen: World Bank, World Development Report 1996. From Plan to Market, Washington 1996; European Bank for Reconstruction and Development (EBRD), Transition Report 1996, London 1996.

1. Radikale Transformationsansätze Für die Konzipierung einer geeigneten Transformationsstrategie fehlten in der Vergangenheit empirische Erfahrungen und theoretische Erkenntnisse. Dennoch legten Theorie-und Erfahrungsfragmente (u. a. Deutschland nach dem II. Weltkrieg, Stabilisierungsprogramme des IWF) aus entwickelten Marktwirtschaften und Schwellenländern eine radikale Transformationsstrategie nahe. Im Gegensatz zu einer graduellen Strategie sieht das Standardmodell eines radikalen Ansatzes (auch als Schocktherapie bezeichnet) in der ersten Phase vor, Preise und Außenhandel umfassend zu liberalisieren und eine Teilkonvertibilität der Währung (starke Abwertung vorausgesetzt) einzuführen, um die Marktkräfte schon frühzeitig frei wirken zu lassen. Dies wird von einer konsequenten Stabilitätspolitik (möglichst mit festem Wechselkurs) flankiert, um die beim Übergang zur Marktwirtschaft inflationär wirkenden Kräfte unter Kontrolle zu halten. Ein drastischer Subventionsabbau, verbunden mit einer restriktiven Kreditpolitik, soll die staatlichen Unternehmen mit einer „harten Budgetschranke“ konfrontieren und zu ersten marktkonformen Anpassungsprozessen zwingen

Tabelle 6: Soziale Indikatoren in den Transformationsländern

Quellen:Economic Survey of Europe (ECE) in 1996-1997, New-York -Genf 1997, S. 115; World Bank, World Development Report 1996. From Plan to Market, Washington 1996; S. 69; BMWi, Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel-und Osteuropa, Dokumentation Nr. 140, Bonn 1997.

Mit der Privatisierung der Großunternehmen wird in diesem Ansatz erst nach der Etablierung eines rationalen Preissystems in einer zweiten Transformationsphase begonnen, da nur auf dieser Grund- läge eine Bewertung der Unternehmen möglich ist. Bevorzugt wird dann allerdings eine hohe Privatisierungsgeschwindigkeit (u. a. Voucher-Privatisierung, das heißt kostenlose Verteilung von Privatisierungsscheinen). Arbeits-und Finanzmärkte bleiben zunächst teilweise reguliert (u. a. Lohn-kontrollen), da die institutioneilen Voraussetzungen (Privatisierung, funktionsfähige Geschäftsbanken) für ein effizientes Funktionieren dieser Märkte anfangs nicht bestehen. Abhängig von der Geschwindigkeit der Privatisierung und den institutionellen Änderungen werden diese Märkte liberalisiert. Dem Staat bleiben die wesentlichen Transformationsaufgaben vorbehalten. Nur in wenigen Ausnahmen werden Preise reguliert und Subventionen gezahlt. Eine sektorspezifische Industriepolitik wird nicht verfolgt. Eigentumsumwandlung und Aufbau wichtiger marktwirtschaftlicher Institutionen können in der zweiten Transformationsphase allerdings Jahre beanspruchen. Ein radikaler Transformationsansatz zielt daher nicht nur auf die Geschwindigkeit, sondern auch auf Glaubwürdigkeit, Konsistenz und Kontinuität der Reformpolitik.

Die Gegenüberstellung eines radikalen und eines graduellen (siehe unten) Transformationsansatzes stellt zwar eine starke konzeptionelle Vereinfachung dar; sie ermöglicht es jedoch, unterschiedliche „transformationspolitische Philosophien“ zu verstehen. Allerdings ist weder der eine noch der andere Ansatz je in seiner Reinform realisiert worden. Je länger der Transformationsprozeß dauert, desto häufiger lassen sich verschiedene Mischformen erkennen, die auch das Ergebnis wechselnder politischer Konstellationen sind. Auch in dieser Hinsicht ist eine Unterscheidung zwischen einer ersten Einführungs-und einer zweiten Konsolidierungsphase der Transformation hilfreich. Sieht man vom Sonderfall der ehemaligen DDR ab, dann kommen das Wirtschaftsprogramm von Leszek Balcerowicz in Polen sowie die Wirtschaftspolitik unter Vaclav Klaus in der ehemaligen CSFR dem radikalen Transformationsansatz am nächsten. Liberalisierung und Makrostabilisierung wurden in beiden Ländern Anfang der neunziger Jahre ähnlich umfassend und erfolgreich, allerdings unter völlig unterschiedlichen Voraussetzungen (in Polen Hyperinflation und hohe Auslandsverschuldung, in der CSFR geringe binnen-und außenwirtschaftliche Ungleichgewichte), vorgenommen.

Die zweite sogenannte Konsolidierungsphase der Transformation verlief indes unterschiedlich. So nahm die ehemalige CSFR die große Privatisierung über Voucher wesentlich rascher in Angriff. In Polen wurde sie durch politische Auseinandersetzungen verzögert, wobei sich jedoch der Privat-sektor und die Eigentumsumwandlung von kleineren und mittleren Unternehmen dynamisch entwickelten. Allerdings hat auch Polen 1996 die große Privatisierung mittels einer modifizierten Voucher-Methode begonnen. Nach Auflösung der CSFR führte die Tschechische Republik die große Privatisierung konsequent weiter, wogegen die slowakische Führung sie zunächst verlangsamte. Die institutioneilen und rechtlichen Reformen sind in beiden Ländern ähnlich weit fortgeschritten (Problembereich: Finanz-und Sozialreformen), so daß Tschechien, die Slowakei und Polen als fortgeschrittene Transformationsländer bezeichnet werden können.

Estland sowie verzögert auch die anderen baltischen Republiken verfolgten nach Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1992 ebenfalls einen radikalen Transformationsansatz. Während der Über-gangzur Marktwirtschaft dort aufgrund des späteren Beginns sowie wegen der schwierigeren Ausgangs-und Rahmenbedingungen in Litauen und Lettland zunächst langsamer als in Ostmitteleuropa voranschritt, hat Estland in Teilbereichen (insbesondere außenwirtschaftliche Liberalisierung) sogar bessere Ergebnisse vorzuweisen als Polen, Tschechien und die Slowakei. Auch Slowenien und Kroatien haben zumindest in der ersten Phase einen radikalen Transformationsansatz (Stabilisierung und Liberalisierung) verfolgt. Slowenien kann dabei ähnlich wie die Visegräd-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) als fortgeschrittenes Transformationsland bezeichnet werden. Kroatien ist der mittleren Transformationsstufe zuzuordnen (vgl. Tabelle 2).

Eine ähnliche Klassifizierung trifft für Vietnam zu, das 1986 mit der sogenannten Erneuerungspolitik (doi moi) zunächst graduelle Reformen vornahm, sich dann aber 1989 angesichts einer außer Kon5 trolle geratenen Inflation zu einem radikaleren Transformationsansatz entschloß (ohne Privatisierung des großbetrieblichen Staatssektors). Elemente eines radikalen Ansatzes kamen zumindest in der ersten Transformationsphase auch in Albanien, Kirgistan und verspätet auch Rußland und der Ukraine (siehe unten) zur Anwendung. Gemeinsames Merkmal dieser Staaten ist jedoch, daß sie aufgrund des späteren Beginns und des langsameren Verlaufes der institutionellen Reformen als Transformationsländer der mittleren Stufe einzuschätzen sind 2. Graduelle Strategien Die wirtschaftspolitischen Vorschläge gradueller Transformationsstrategien sind verschieden Grundsätzlich wird im graduellen Ansatz dem institutioneilen Wandel erheblich mehr Bedeutung beigemessen als den Liberalisierungsmaßnahmen. Bestehende Institutionen und Koordinationsmechanismen sollten nicht sofort beseitigt und freie Preise im Zuge der Abschwächung binnenwirtschaftlicher Ungleichgewichte (Verminderung des Inflationspotentials) nur langsam zugelassen werden. Andere Liberalisierungsmaßnahmen (Außenhandel, Finanzen, Arbeitsmarkt) sind zu einem noch späteren Zeitpunkt einzuführen. Die Stabilisierungspolitik soll weitaus vorsichtiger betrieben und nicht nur mittels marktkonformer Instrumente durchgesetzt werden. Manche Vertreter dieses Ansatzes wollen die Staatsunternehmen reformieren, nicht jedoch privatisieren. Den Vorrang sollen die Förderung des neu entstehenden Privat-sektors und eine langsame Privatisierung haben. Dies wird teilweise mit der Forderung einer „aktiven Rolle des Staates“ in den Bereichen der Industrie-, Agrar-und Außenwirtschaftspolitik ergänzt. Da man geringere Transformationskosten, eine größere „Sozialverträglichkeit“ und langsamere Lernprozesse erwartet, hofft man durch ein graduelles Vorgehen die soziale Akzeptanz und damit die politische Absicherung der Reformen besser garantieren zu können.

Analytisch betrachtet besteht das Problem, zwischen partiellen Reformen bzw. Modifikationen der Zentralverwaltungswirtschaft und einer graduellen, die Planwirtschaft überwindenden Transformationspolitik -Beispiele dafür sind Ungarn und China -zu unterscheiden. Beide Länder haben mit partiellen Reformen innerhalb des zentralistischen Wirtschaftssystems begonnen und diese konsequent fortgeführt (Ungarn allerdings erst nach der politischen Wende). Charakteristisch für beide Länder ist, daß sie die binnenwirtschaftlichen Ungleichgewichte unter Kontrolle hielten und nach erfolgreichen Reformmaßnahmen in Teilbereichen (u. a.der Landwirtschaft) die Reformen nicht abgebrochen haben. Dabei kann man in der Anfangsphase nicht von einer bewußt konzipierten Transformationsstrategie sprechen, sondern der Gradualismus war Ausdruck der durch das politische System bzw. durch den innerparteilichen Machtkampf gesetzten Grenzen.

Im Gegensatz zu vielen mittel-und osteuropäischen Staaten (Ausnahme Ungarn) zeichneten sich die ostasiatischen Reformen noch während des Kommunismus durch hohen Pragmatismus aus, der einem „Versuchs-und Irrtumsprozeß“ ähnelte. Hatten sich reformpolitische Experimente als erfolgreich erwiesen, wurden auch über ideologische Grenzen hinweg solche Reformkonzepte weiterverfolgt (so die Auflösung der Volkskommunen) China und Vietnam müssen jedoch vor allem aufgrund der fehlenden Privatisierung von Großunternehmen und wegen unklar definierten Eigentumsrechten als Transformationsländer der mittleren Stufe bezeichnet werden. Hinzu kommt, daß aufgrund der fehlenden demokratischen Reformen die ökonomische Umgestaltung noch immer politisch gefährdet ist. Angesichts des fortgeschrittenen Stadiums der Transformation ist insbesondere in China ein Rückfall in die traditionelle Planwirtschaft oder in linksradikale Experimente jedoch höchst unwahrscheinlich.

Ungarn konnte erst nach der politischen Wende (1990) den Durchbruch zu umfassenden marktwirtschaftlichen Reformen vollziehen, verfolgte jedoch einen graduellen Transformationsansatz, da in den ersten drei Jahren die Preisliberalisierung und Privatisierung schrittweise vollzogen wurden. Ungarn hat angesichts der weitentwickelten institutionellen Umgestaltung als fortgeschrittenes Transformationsland zu gelten. Bezüglich der Reformen im Finanzsektor und der Umstrukturierung der Unternehmen ist Ungarn sogar hoch zu bewerten. Den fortgeschrittenen Transformationsländern (Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland, mit Einschränkungen auch Slowakei) sind verstärkte Anstrengungen im rechtlich-institutionellen Bereich (Anpassung an den „Acquis communautaire“ der EU) und Defizite im Bereich der Sozial-und Rentenreformen gemeinsam. Der recht weitgehende Stand der Reformen dokumentiert sich auch darin, daß diese Länder (mit Ausnahme der Slowakei) von der EU zu Beitrittsverhandlungen eingeladen wurden.

Transformationsstrategie und Stand der Reformen in Rumänien und Bulgarien sowie in Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu charakterisieren fällt schwer. Gemeinsam ist ihnen allen ein langsameres und graduelleres Vorgehen. Vielfach handelt es sich jedoch nicht um eine bewußt implementierte Strategie, sondern um eine inkonsistente „Stopand-go“ -Politik. Sie ist oftmals das Resultat politischer Machtkämpfe, eines weitverbreiteten Populismus und mangelnder Entschlossenheit der herrschenden Eliten. Ökonomische Unkenntnis wirtschaftspolitischer Verantwortlicher paart sich vielfach mit schwachen, teilweise reformunwilligen Institutionen, die zudem von machtvollen Lobbyinteressen zur Reformverhinderung beeinflußt werden. Besonders gravierend sind die institutioneilen Defizite dann, wenn im Rahmen der Bildung neuer Nationalstaaten, wie im Falle der Länder der ehemaligen Sowjetunion, staatliche Verwaltungen neu aufgebaut werden müssen.

Dennoch haben viele Länder der ehemaligen Sowjetunion die Preise und den Außenhandel schrittweise liberalisiert sowie die Privatisierung eingeleitet, doch ist die Makrostabilisierung meist inkonsequent. Der russischen Transformation fehlte jede erkennbare Strategie. Die Reformen Gorbatschows ähnelten in einigen Bereichen der chinesischen Politik (gespaltenes Preissystem seit 1987, partielle Liberalisierung des Außenhandels), gingen allerdings bei den Eigentumsreformen und der Neugründung von Unternehmen nicht so weit wie diese. Elemente eines radikalen Ansatzes enthielt das russische Programm Jegor Gaidars von 1992. Während die Liberalisierung und Privatisierung in Rußland vergleichsweise weit vorangekommen sind, wich die Makrostabilisierung zunächst vom radikalen Ansatz ab, doch lassen sich in den letzten zwei Jahren deutliche Fortschritte feststellen.

Als entwickelte Transformationswirtschaften der mittleren Stufe sind viele Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu klassifizieren, nämlich Rußland, Kasachstan, Kirgistan und die beiden baltischen Staaten Lettland und Litauen. Ebenfalls in diese Kategorie fallen die südosteuropäischen Länder Rumänien, Bulgarien und Kroatien. Gemeinsam ist ihnen, daß die Binnen-und Außenwirtschaft weitgehend liberalisiert ist, die Privatisierung voranschreitet, die strukturellen und institutionell-rechtlichen Reformen jedoch erst begonnen haben. Auch im Stabilitätsbereich stehen diese Länder noch vor erheblichen Herausforderungen. Seit zwei Jahren zählen auch die Ukraine und Uzbekistan zu dieser Kategorie, da sie in ihren Liberalisierungs-und Privatisierungsmaßnahmen voranschreiten und Anstrengungen bei der Makro-stabilisierung unternehmen. In Ländern mit kriegerischen Auseinandersetzungen sind die Liberalisierungsmaßnahmen und institutionellen Reformen entweder noch nicht durchgeführt worden, oder sie stehen am Anfang. Auch Weißrußland, Turkmenistan und Tadschikistan verharren weitgehend in den Strukturen des alten Systems und sind als Transformationsländer der ersten Stufe zu bezeichnen.

III. Wirtschaftliche Ergebnisse und soziale Probleme des Übergangs

Tabelle 3: Inflation (Konsumgüterpreise) in ausgewählten Transformationsländern, Veränderung gegenüber dem jeweiligen Vorjahr (in Prozent)

Quellen: Economic Survey of Europe (ECE) in 1996-1997, New York -Genf 1997; IWF: International Financial Statistics; Nachrichten für Außenhandel (1997).

1. Stabilitätserfolge Die unterschiedlichen Ergebnisse der stabilitätspolitischen Bemühungen werden in einem Vergleich deutlich: In Mittel-und Osteuropa zeichnet sich eine klare Trennlinie des Erfolges zwischen jenen Ländern ab, die eine konsequente Makrostabilisierung im Rahmen von radikalen Transformationsansätzen (z. B. Polen, Baltikum) durchgesetzt haben, und jenen Staaten, die einen mehr graduellen bzw. inkonsistenten Reformansatz (Rußland, Ukraine etc.) wählten. Die Beispiele Ungarns und Chinas zeigen allerdings, daß unter bestimmten Voraussetzungen auch im Rahmen eines graduellen Reformansatzes mit Hilfe einer konsistenten Makropolitik die Inflationsraten unter Kontrolle gehalten werden können.

Hierfür ist u. a. die Ausgangslage, das heißt das Ausmaß der aufgestauten und offenen Inflation zu Beginn der Transformation, entscheidend. Während Ungarn und China weitaus geringere binnenwirtschaftliche Ungleichgewichte verzeichnen konnten, stand Polen -ähnlich wie viele Nachfolgestaaten der Sowjetunion -vor einer galoppierenden, teilweise sogar vor einer Hyperinflation. Dies gilt auch für Vietnam Ende der achtziger Jahre. Eine schockartige Stabilisierungs-und Libe7 ralisierungspolitik, wie sie auch hier vollzogen wurde, ist in solchen Fällen die letzte und einzig erfolgversprechende Konsequenz, die aus dem Scheitern gradueller bzw. partieller Reformen zu ziehen ist, um die außer Kontrolle geratene Inflation einzudämmen Diese Lehren haben auch die russische Regierung und die ukrainische Führung gezogen, als sie 1994 bzw. 1995 angesichts der ungebremsten Inflationsentwicklung zu einer restriktiveren Stabilitätspolitik übergingen. Die Erfolge blieben nicht aus, da beide Länder die Inflationsrate reduzieren konnten (vgl. Tabelle 3).

Die Inflationsbekämpfung bleibt in den Transformationsländern ein schwieriges Problem. Sinkende Steuereinnahmen zwingen die Wirtschaftspolitik zu einer restriktiven Fiskalpolitik, da eine solide, inflationsneutrale Finanzierung der Staatsdefizite außerhalb des Staatsbudgets aufgrund der nur schwach entwickelten Finanzmärkte nur schwer möglich ist. Das „Rent-Seeking-Verhalten“ (Streben nach Subventionen und Protektion) von Großunternehmen, die im Zuge der Reformen vor strukturellen Anpassungsprozessen stehen, stellt eine Gefahr für die Makrostabilisierung dar, weil Privatisierung, Konkursverfahren sowie Finanz-und Fiskalreformen noch nicht greifen. Implizite Lohnindexierungen (Anpassung der Löhne an die Inflation), inflexible Angebotsstrukturen, stetige Anhebungen von administrierten Preisen (Energie, Mieten) sowie die inländische Geldmenge aufblähende Kapitalzuflüsse erklären, warum es selbst den fortgeschrittenen Transformationsländern schwer fällt, ihre Inflationsraten auf ein mit Westeuropa vergleichbares Niveau zu drücken. 2. „Übergangsrezession“ versus Wachstum Der Übergang zur Marktwirtschaft war in Osteuropa mit einem fast beispiellosen Rückgang des Nationaleinkommens und vor allem der Industrieproduktion, in Ostasien dagegen mit raschem Wachstum verbunden. Auffallend ist, daß der Produktionseinbruch bzw. das Wachstum einheitlich die jeweilige Ländergruppe betraf. Starke Produktionsrückgänge traten in Osteuropa sowohl in Ländern mit radikalen Transformationsansätzen (Polen, CSFR, Baltikum) als auch in jenen mit gemischten bzw. graduellen Strategieansätzen (Ungarn, Rußland, Ukraine etc.) auf. Umgekehrt können China und Vietnam trotz unterschiedlicher Wirtschaftspolitik ein kräftiges Wirtschaftswachstum aufweisen. Dies legt die Vermutung nahe, daß nicht unterschiedliche Transformationsstrategien, sondern verschiedenartige Ausgangsbedingungen, vor allem im Entwicklungsniveau und in der Wirtschaftsstruktur, für die differierenden Transformationsergebnisse in Osteuropa und Ost-asien verantwortlich sind

Chinas und Vietnams ökonomische Rückständigkeit (vgl. auch Tabelle 1) erwies sich insofern als „vorteilhaft“, als der Wachstumsprozeß durch Abwanderung der Agrarbevölkerung in produk-tivere Wirtschaftszweige induziert werden kann. Dabei haben die eingeleiteten Wirtschaftsreformen und insbesondere die weitgehenden Liberalisierungsmaßnahmen im ländlichen Raum beachtliche Entwicklungspotentiale freigesetzt. Dagegen besteht das Kernproblem der teilweise „überindustrialisierten“ osteuropäischen Transformationsländer darin, strukturelle Anpassungsprozesse einzuleiten, die zwangsläufig mit einem Abbau von Überkapazitäten verknüpft sind. Unterschiedlich wirkte sich die Außenwirtschaft auf die Wirtschaftsentwicklung in Osteuropa und Ostasien aus. In China gingen nicht nur von dem wachsenden Binnenmarkt, sondern auch von dem Außenhandel zusätzliche Wachstumsimpulse aus. Dagegen hat der Wirtschaftseinbruch in den MOE-Ländern und die Auflösung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) im Jahre 1991 zu einem drastischen Rückgang der Außenhandelsumsätze der osteuropäischen Transformationsländer geführt, der nur teilweise durch eine Reorientierung des Handels nach Westeuropa aufgefangen werden konnte.

Transformationspolitisch besonders interessant sind die Unterschiede zwischen den MOE-Ländern, die sowohl auf strukturelle als auch auf wirtschaftspolitische Einflüsse zurückzuführen sind. Tabelle 4 zeigt, daß die Produktionsrückgänge in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion am stärksten ausfielen. Diese Gemeinsamkeit trotz verschiedener wirtschaftspolitischer Strategien läßt wiederum strukturelle Ursachen vermuten, die in der fast 70jährigen sozialistischen Industrialisierungsgeschichte wurzeln. Die Auflösung der zu großen Teilen künstlichen innersowjetischen Arbeitsteilung und das besondere Gewicht des schwerindustriellen Rüstungssektors sind die Gründe für dieses einheitliche Erscheinungsbild. Ähnliche, wenn auch nicht ganz so starke Produktionsrückgänge weist die Gruppe der mittleren Transformationsländer außerhalb der ehemaligen Sowjetunion (einschließlich des Baltikums) auf, während in den fortgeschrittenen Reformländern der Produktionsrückgang deutlich geringer ausfiel. 3. Probleme der Konsolidierung und der Makropolitik Die bisherige Erfahrung zeigt, daß Länder mit einem radikalen Transformationsansatz (insbesondere Polen und die ehemalige CSFR) ein rascheres Wirtschaftswachstum verzeichnen konnten als jene, die eine graduelle Reformpolitik verfolgten. Dieser Eindruck wird durch ökonometrische Untersuchungen (Regressionsanalysen) bestätigt, die einen statistischen Zusammenhang zwischen der Intensität der Liberalisierung und einsetzendem Wirtschaftswachstum im Vergleich von 26 Transformationsländer nachwiesen Zudem ist ein Zusammenhang zwischen niedriger Inflation und Wachstum feststellbar, obwohl in westlichen Marktwirtschaften Stabilisierung normalerweise mit Wachstumseinbußen verbunden ist.

Warum schafft ein radikaler Transformationsansatz die besten Voraussetzungen für die Über-windung der „Übergangsrezession“? Ohne eine konsequente Makrostabilisierung sind hohe Inflationsraten (d. h. wirtschaftliche Unsicherheit) unausweichlich, so daß Investitionen unterbleiben und Märkte nicht normal funktionieren können. Eine restriktive Fiskal-und Geldpolitik (harte Budgetschranke) zwingt zudem Staatsunternehmen, erste Anpassungsprozesse einzuleiten (neue Management-und Organisationsmethoden, Produktinnovationen, Entlassungen, Verkauf von Teilen des Unternehmens). Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für steigende Arbeitsproduktivität, die vor allem im bestehenden Industriesektor (staatlich oder privatisiert) zu einer tragenden Säule des Wirtschaftswachstums der fortgeschrittenen Transformationsländer wurde. Umfassende Liberalisierung und stabile Rahmenbedingungen ermöglichen es den neuen Privatunternehmen, verstärkt in den Markt einzutreten und die Chancen der internationalen Arbeitsteilung wahrzunehmen. Osteuropa und Ostasien zeigen, daß Privatunternehmen im unterentwickelten Dienstleistungs-und Produktionsbereich der entscheidende Wachstumsfaktor auf der Angebotsseite sind

In der Konsolidierungsphase steht die Wirtschaftspolitik vor der Herausforderung, die klassischen Ziele Wachstum, Beschäftigung, Inflation und außenwirtschaftliches Gleichgewicht unter schwierigen institutionellen und strukturellen Bedingungen auszubalancieren. Dies gelingt den einzelnen Ländern unterschiedlich. Beispielsweise konnte Polen trotz wechselnder Regierungen den seit 1992 einsetzenden beachtlichen Wachstumsprozeß mit einer vorsichtigen Fiskal-und Geldpolitik flankieren. Dagegen stieg in Ungarn 1993 und 1994 das Haushalts-und Leistungsbilanzdefizit bedenklich an. Die neue sozialliberale Regierung unter Gyula Horn sah sich gezwungen, eine restriktive Stabilitätspolitik (Abwertung, Kürzung der Staatsausgaben, Lohnkontrollen) einzuleiten. Das gerade 1994 einsetzende Wirtschaftswachstum hat sich daraufhin aufgrund der rückläufigen Binnennachfrage merklich verlangsamt. Die konsequente Wirtschaftspolitik trug jedoch insofern Früchte, als das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht wiederhergestellt wurde und 1997 der Wachstumsprozeß auf solider Grundlage beginnen konnte.

In der ersten Erholungsphase nach der tiefen „Übergangsrezession“ waren es vor allem die ausländische und die private Nachfrage, die das Wirtschaftswachstum ankurbelten. Offensichtlich gelang es zunächst, einen Teil des bestehenden Kapitalstocks umzugruppieren und vorhandene Kapazitäten zu nutzen. Dies zeigt sich auch daran, daß die Kapazitätsauslastung der Industrien zunimmt. Im weiteren Verlauf erweisen sich vor allem die Investitionen und der Konsum und immer weniger die Exportnachfrage als Motor des Wirtschaftswachstums. Steigender Konsum-und Investitionsgüterbedarf, die reale Aufwertung der Währungen (gespeist auch durch Kapitalzuflüsse) und eine Konjunkturabschwächung im Westen führten jedoch in vielen MOE-Ländern zu hohen Leistungsbilanzdefiziten (vgl. Tabelle 5). In einigen Ländern (zuletzt in Tschechien) steigt der Abwertungsdruck. Für die schwächere Export-entwicklung sind auch strukturelle Gründe verantwortlich. Vieles deutet darauf hin, daß das Potential zur Exportsteigerung über höhere Kapazitätsauslastungen erschöpft ist. Hohe Investitionen in neue Technologien und Produktlinien sind notwendig, um auch künftig wettbewerbsfähig zu sein und ein exportorientiertes Wachstum zu sichern. 1997 zeichnet sich mit Verzögerung in Rußland und der Ukraine ein Ende des nunmehr fast zehnjährigen Rückgangs des Nationaleinkommens ab. Auch hier ging die wirtschaftliche Konsolidierung mit deutlichen Erfolgen in der Stabilisierung einher. Die Kosten der Stabilisierungspolitik erwiesen sich jedoch aufgrund der jahrelang inkonsequenten Makropolitik und wegen struktureller Faktoren als ökonomisch und sozial sehr hoch. Beide Staaten verzeichnen -ähnlich wie andere Länder der ehemaligen Sowjetunion -ernsthafte Haushaltsprobleme, eine verzögerte Restrukturierung der Unternehmen, ein hohes Ausmaß an Korruption und ein insgesamt instabiles wirtschaftliches Umfeld. Zunehmende Schattenwirtschaft und niedrige Investitionen sind die Folge. 4. Institutionelle Reformen und Wachstum Langfristig ist der Wachstumsprozeß von verstärkten Anstrengungen im Bereich der institutioneilen Reformen abhängig. Eine umfassende Privatisierungspolitik, verknüpft mit effektiver Unternehmenskontrolle, sowie Banken-und Finanzreformen schaffen die entscheidenden Voraussetzungen, um Investitionen effizient einzusetzen und strukturelle Anpassungsprozesse zu verstärken. Neben dem formalrechtlichen Umfeld sind die tatsächliche Durchsetzung und Einklagbarkeit von Recht und Gesetz -ein Bereich mit großen Defiziten in den GUS-Staaten -für stabile Rahmenbedingungen entscheidend. Transformationsländer, deren institutionelle, mikroökonomische und strukturelle Anpassungsprozesse am weitesten fortgeschritten sind, weisen die besten Wachstumsergebnisse aus (auf die Ausnahme Ungarn wurde bereits hingewiesen).

Was die institutioneilen Reformen betrifft, so ist nicht allein die Geschwindigkeit entscheidend, sondern es zählen Qualität, Glaubwürdigkeit und Kontinuität der Reformpolitik. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist die Privatisierungspolitik. Die Privatisierung über Voucher, das heißt die kostenlose Verteilung der Anteilscheine an die Bevölkerung und Versteigerung der Aktien, kann rasch durchgeführt werden. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, aktive Eigentümerkontrolle (corporate Control) einzuführen, da die Aktien breit verteilt sind oder die entstehenden Investmentfonds keine Erfahrung besitzen (siehe Tschechien). Wenn -wie in Rußland -diese Art der Privatisierung oftmals von Insidern vorgenommen wird (Management und Belegschaft) und unsichere makroökonomische und rechtliche Rahmenbedingungen sowie eine schwache Unternehmenskontrolle hinzukommen sowie monopolartige Strukturen weiter bestehen, dann werden Strukturanpassungen verzögert. Die überhastete und schlecht vorbereitete Privatisierung in Rußland ist allerdings auch durch politische Konstellationen erklärbar. Zu befürchten war, daß ohne ein rasches Vorgehen 1992 die Reformgegner die Privatisierung noch stärker behindert hätten.

Unternehmen an strategische Investoren direkt zu verkaufen hat zweifelsfrei Vorteile, zumal die Käufer auch aktiv die Umstrukturierung durch Neuinvestitionen und Managementkenntnisse unterstützen -insbesondere dann, wenn es sich um ausländische Investoren handelt. Der Nachteil dieser Privatisierungsmethode besteht jedoch darin, daß sie umfassendere Vorbereitung und einen längeren Zeitraum erfordert. Die Beispiele China und Vietnam sowie die osteuropäischen Transformationserfahrungen zeigen zudem, daß die Entwicklung des originären Privatsektors und die Privatisierung von kleineren und mittleren Unternehmen auch als Management-und Employee-Buyouts (Verkauf des Unternehmens an das bisherige Management oder an die Belegschaft) wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Privatisierungsstrategie sein müssen. Daher können „gemischte Strategien“, das heißt Voucher-Privatisierung in Verbindung mit kommerziellem Verkauf sowie Management-und Employee-Buyouts, für viele Länder eine praktikable und effiziente Lösung sein.

Ein zentrales Element der Transformation ist die Reform von staatlichen Institutionen und die Klärung der Rolle des Staates in der Transformationsund Wirtschaftspolitik. Der Transformationsprozeß in Osteuropa führte zwangsläufig zur Schwächung staatlicher Institutionen, was einerseits erwünscht ist, wenn es um die Zerschlagung von Befehlssträngen der zentralen Planung geht. Andererseits behindert eine solche Schwächung den Transformationsprozeß; u. a. werden eine konsistente Makrosteuerung sowie die Implementierung institutionell-rechtlicher Reformen erschwert. Reformen im rechtlich-institutionellen Bereich sind nur durch staatlich initiierte Reform-projekte zu erreichen.

Welche Rolle staatliche Vorgaben und teilweise Regulierungen für die Liberalisierung von einzelnen Teilmärkten spielen, wird am Beispiel der Reformen des Banken-und Finanzsystems deutlich. Ohne Regulierung drohen tiefgreifende Krisen im Finanzsystem (siehe Albanien: Zusammenbruch von sogenannten Pyramiden-Investmentfonds). Ursache für die bulgarische Wirtschaftskrise (hoher Produktionsrückgang kombiniert mit Hyperinflation sowie hohen Budget-und Leistungsbilanzdefiziten) waren nicht nur eine lockere Fiskal-und Geldpolitik, sondern auch Versäumnisse bei den institutioneilen Reformen, insbesondere der Privatisierung. Verlustbringende Staatsbetriebe wurden nicht rechtzeitig zur Umstrukturierung gezwungen oder geschlossen, sondern mit weiteren Finanzmitteln alimentiert. Polen zeigt, wie man die Altschuldenproblematik erfolgreich mit der Restrukturierung der Unternehmen verknüpfen kann. Obwohl eine Rückkehr zur zentralen Planwirtschaft nahezu auszuschließen ist, wird an Bulgarien und Albanien deutlich, daß eine fehlerhafte, meist graduell bzw. inkonsistent konzipierte Transformationspolitik politische Krisen nach sich ziehen kann.

Die Schwäche des Staates begründet auch, warum die Forderung nach umfassenden staatlichen Interventionen im Bereich der Industrie-, Struktur-und Agrarpolitik abzulehnen ist. Betrachtet man den Staat -speziell unter diesen Rahmenbedingungen -als „knappe Ressource“, dann sind seine beschränkten Kapazitäten effizient in den für die Transformation wichtigen Bereichen einzusetzen. Zudem ist Industriepolitik auch in westlichen Marktwirtschaften umstritten, und es ist keinesfalls geklärt, ob Länder mit Staatsinterventionen und hohem Wirtschaftswachstum (u. a. in Ost-asien) ihre Erfolge auf die Industriepolitik zurückführen können. Dagegen sind genügend Beispiele für die negative Wirkung des Staatsinterventionismus bekannt 5.

Lebensstandard und soziale Probleme Die Auswirkungen der Transformation auf die Lebensverhältnisse der Menschen in Osteuropa sind aufgrund der tiefen Wirtschaftskrise zunächst ernüchternd. In den östlichen Transformationsländern sanken analog zum Rückgang des National-einkommens die Reallöhne und Realeinkommen um etwa 30 Prozent, teilweise sogar um 50 Prozent. Auch hier überzeichnen die offiziellen Zahlen das Bild (statistische Probleme, zusätzliche Einkommen aus der Schattenwirtschaft) Die These, radikale Transformationsansätze hätten zu übermäßig hohen sozialen Kosten geführt, läßt sich anhand der Daten nicht belegen. Versuche, über höhere Budgetdefizite und Subventionen die „sozialen Kosten“ der Transformation abzufedern bzw. ein bestimmtes Einkommensniveau zu halten, waren weitgehend (wie am Falle Ungarns und Bulgarien aufgezeigt) zum Scheitern verurteilt und haben sogar zeitverzögert zusätzliche soziale Kosten bewirkt.

Der Übergang zur Marktwirtschaft ist aber zweifellos mit ernsthaften sozialen Problemen wie vor allem der wachsenden Arbeitslosigkeit verbunden. Im Durchschnitt (Ausnahme Tschechien) betrug die Arbeitslosenquote in den Visegräd-Ländern zirka 11 Prozent -eine Rate, die allerdings auch im hochentwickelten Deutschland verzeichnet wird. In den baltischen Staaten und den Staaten der GUS erreichte die Arbeitslosigkeit bisher nur 6, 4 Prozent bzw. 5, 5 Prozent. In vielen GUS-Ländern deutet der im Vergleich zum Produktionseinbruch weitaus geringere Beschäftigungsrückgang aber auf ein hohes Maß an versteckter Arbeitslosigkeit hin. Gängige Praxis ist dort, daß Beschäftigte nicht entlassen, sondern auf unbezahlten Urlaub geschickt werden bzw. ihre Löhne nicht erhalten. Im Zuge weiterer Reformen und Umstrukturierungen wird sich dort die Arbeitslosenquote in den nächsten Jahren daher deutlich erhöhen. Prognosen zufolge wird auch in Ländern mit einsetzendem Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit nur langsam sinken. Notwendig ist ein langfristig überproportional hohes Wachstum, um die Beschäftigungssituation in den Griff zu bekommen (vgl. Tabelle 6).

Wachsende Einkommensdisparitäten und zunehmende Armut sind zusätzliche negative soziale Begleiterscheinungen der Transformation. Insbesondere in einigen südosteuropäischen Ländern (z. B. Bulgarien) und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion sind rasch steigende Einkommensunterschiede (gemessen am Gini-Koeffizienten zu beobachten, wogegen sie in den fortgeschrittenen Transformationsländern mit denjenigen Westeuropas vergleichbar sind. Nach einer einheitlichen, von der Weltbank definierten Armutsgrenze von 120 US-$pro Kopf und Monat hat in den meisten MOE-Ländern die Gruppe der armen Bevölkerung deutlich zugenommen Legt man länderspezifische Definitio-* nen zugrunde, so liegt der Anteil der armen Bevölkerung insbesondere in den Visegräd-Ländern -Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei -deutlich höher (teilweise über 30 Prozent). China und Vietnam konnten aufgrund des hohen Wirtschaftswachstums das Einkommensniveau erhöhen und den Anteil der armen Bevölkerung deutlich reduzieren sowie wichtige soziale Indikatoren verbessern. Seit Mitte der achtziger Jahre nimmt in China die Armut wieder leicht zu

Die subjektive Wahrnehmung von bisher wenig bekannten Phänomenen wie extremer Reichtum und wachsende Armut wird insofern verstärkt, als die MOE-Länder vor der Transformation weitgehend egalitäre Sozialstrukturen aufwiesen und einen umfassenden Wohlfahrtsstaat realisieren wollten. Größere Lohn-und Einkommensdifferenzen sind aber eine notwendige Begleiterscheinung, teilweise sogar Voraussetzung marktwirtschaftlicher Systeme, um leistungsgerechte Entlohnung und entsprechende Gewinnanreize für Unternehmer herzustellen. Sie werden dann zu einem gesellschaftspolitischen Problem, wenn das allgemeine Einkommensniveau sinkt und mit wachsender Verarmung einzelner Bevölkerungsschichten einhergeht. Dies ist zumindest in jenen Transformationsländern der Fall, deren Wirtschaftsleistung weiter zurückgeht. Hinzu kommen andere Faktoren, die zu einer Verschlechterung der Lebensumstände von Teilen der Bevölkerung führen, wie steigende Kriminalität und Korruption sowie in einigen Ländern ein sich verschlechternder Gesundheitszustand der Bevölkerung. Besonders drastisch zeigt sich dies in Rußland, wo die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer allein von 1990 bis 1994 von 64 auf 58 Jahre abnahm.

IV. Chancen wirtschaftlicher Konvergenz

Tabelle 4: Änderungen des Bruttoinlandsprodukts ausgewählter Transformationsländer (Änderungen in Prozent gegenüber dem Vorjahr)

Quellen: Economic Survey of Europe (ECE) in 1995-1996, New York -Genf 1996; World Development Report 1997; BMWi, Wirtschaftslage und Reformprozesse in Mittel-und Osteuropa, Dokumentation Nr. 140, Bonn 1997.

Eine flankierende und zielgerichtete Sozialpolitik, die in den Transformationsländern erst in den Anfängen steckt, kann soziale Härten abschwächen, doch bleiben ohne hohes Wirtschaftswachstum die allgemeinen Lebensverhältnisse und die Armut unverändert. Hohes Wirtschaftswachstum ist auch die Voraussetzung, um den wirtschaftlichen und sozialen Abstand zu den Nachbarregionen in Westeuropa bzw. Ostasien zu verringern. Entscheidend ist dabei die Geschwindigkeit, mit der diese wirtschaftliche Konvergenz vollzogen wird. Bei einem jahresdurchschnittlichen Wachstum von nur zirka drei Prozent pro Kopf würde Polen beispielsweise etwa ein halbes Jahrhundert benötigen, um sich substantiell an das EU-Durchschnittsniveau anzunähern. Bei einem fünfprozentigen Wachstum ließe sich diese Zeitspanne halbieren

Zwar haben die fortgeschrittenen Transformationsländer beachtliche Erfolge auf dem Weg zu funktionsfähigen Marktwirtschaften vorzuweisen, aber der Grad ihrer ökonomischen Liberalisierung und das Niveau ihrer rechtlich-institutionellen Voraussetzungen liegen deutlich hinter dem in den rasch wachsenden Schwellenländern zurück. Trotz steigender Investitionen liegt die Investitionsquote der fortgeschrittenen Transformationsländer mit etwa 20 Prozent bisher unter den Größenordnungen rasch wachsender Volkswirtschaften. Gleiches gilt für die ausländischen Direktinvestitionen, die zwar hohe Zuwachsraten aufweisen, aber absolut und pro Kopf deutlich hinter denen der dynamisch wachsenden Schwellenländerliegen (vgl. Tabelle 5). Dies kann sich ändern, doch müssen die fortgeschrittenen Transformationsländer das rechtlich-institutionelle Umfeld weiter verbessern.

Weitere kritische Bereiche sind die öffentlichen Haushalte und das private Sparen. Die private Sparquote ist im internationalen Vergleich sehr niedrig, was angesichts einer teilweise real negativen Verzinsung der Spareinlagen nicht verwundert. Auf den ersten Blick weisen Staatsverschuldung und öffentliche Haushalte der fortgeschrittenen Transformationsländer günstige Werte auf, da einige von ihnen hier (nicht jedoch bei Zinsen und Inflation) sogar die Maastricht-Kriterien erfüllen (vgl. Tabelle 5). Das Bild ist jedoch insofern trügerisch, als bei gering entwickelten Finanzmärkten selbst ein solches Defizit inflationsfördernd wirkt und den ohnehin dünnen Kapitalmarkt auf Kosten des Unternehmenssektors zu stark belastet. Zudem sind die Staatsausgaben zu sehr konsumptiv und auf Sozialausgaben ausgerichtet. Bisher fehlte der politische Wille, drängende Sozialreformen wie unter anderem bei den Renten durchzusetzen.

Die fortgeschrittenen Transformationsländer haben in den letzten Jahren mit Hilfe der marktorientierten Reformen wirtschaftlich viel erreicht. Sie müssen jedoch die Reformen vertiefen und konsequent vorantreiben, um den Anschluß an Europa wirtschaftlich abzusichern. Die Perspektive der EU-Mitgliedschaft stellt dabei eine wichtige motivierende Orientierungsgröße dar. Sich an EU-Standards anzupassen ist jedoch nicht ausreichend, um einen raschen Aufholprozeß in Gang zu setzen. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die mittel-und osteuropäischen Länder an der Wirtschaftspolitik der ärmeren EU-Mitglieder (insbesondere in der Arbeitsmarkt-, Sozial-und Industriepolitik) orientieren. Dagegen dürfte für die meisten Transformationsländer der mittleren Stufe (insbesondere die der ehemaligen Sowjetunion) ein substantieller wirtschaftlicher Aufholprozeß in absehbarer Zeit nicht gelingen. Die Ursachen dafür liegen im makro-ökonomischen (hohe Inflation), institutioneilen (unzureichende marktwirtschaftliche Institutionen sowie rechtlicheUnsicherheiten) und strukturellen Bereich (hoher Anteil der Schwerindustrie).

Fussnoten

Fußnoten

  1. Unter MOE-Länder werden hier alle ostmittel-, südostund osteuropäischen Transformationsländer einschließlich des europäischen Teils der ehemaligen Sowjetunion verstanden. Der Begriff ist demnach politisch-inhaltlich und nicht geographisch definiert.

  2. Darstellungen des radikalen Ansatzes finden sich vielfach in der Literatur; als Beispiel sei genannt: Leszek Balcerowicz, Economic Transformation in Europe: Comparisons and Lessons, in: IFC Annual Lectures, Washington, (1993) 1; S. 5-9; die Darstellung der Strategieansätze folgt in Teilen der Darstellung des Autors: Vergleich der wirtschaftlichen Transformation in Osteuropa und Ostasien, in: Osteuropa Wirtschaft, 40 (1995) 4, S. 279-283.

  3. Einen Überblick über den Stand der Transformation bieten die Jahresberichte der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung u. a., vgl. insbes. European Bank for Reconstruction and Development (EBRD), Transition Report 1996, London 1996.

  4. Vgl. Peter Murrell, Evolutionary and Radical Approaches to Economic Reform, in: Economics of Planning, 25 (1992), S. 79-95.

  5. Vgl. Peter Gey/Wolfgang Quaisser, Vergleich der Wirtschaftsreformen in Polen, Jugoslawien, China und Kuba, in: Osteuropa Wirtschaft, 34 (1989) 1, S. 33-48.

  6. Vorwiegend aus politischen Gründen wurde die Slowakei von der EU nicht zu den Beitrittsverhandlungen eingeladen.

  7. Vgl. David Dollar, Macroeconomic Management and the Transition to the Market in Vietnam, in: Journal of Comparative Economics, 19 (1994) 1, S. 357-375.

  8. Vgl. W. Quaisser (Anm. 2), S. 283 f.

  9. Vgl. die Untersuchungen von u. a. Martha de Melo/Cevdet Denizer/Alvan Gelb, Patterns of Transition from Plan to Market, in: World Bank Review, 10 (1996) 3, S. 397-424.

  10. Vgl. Economic Survey of Europe (ECE), 1995-1996,

  11. Vgl. Marek Dabrowski, The Role of the Government in Postcommunist Economies, in: Laslo Csaba (Hrsg.), Privatization, Liberalization and Destruction, Recreating the Market in Central and Eastern Europe, Aldershot 1994, S. 21-34.

  12. Die Berechnung von Reallöhnen ist aufgrund der aufgestauten Inflation in einigen Ländern schwierig. Zudem beziehen viele Menschen zusätzliche Einkommen aus der Schattenwirtschaft. Sie wird in einigen Transformationsländern auf ca. 30 bis 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) geschätzt.

  13. Gini-Koeffizient: Siehe Tabelle 6.

  14. Unter Verwendung einer international vergleichbaren Armutsgrenze werden länder-und entwicklungsspezifische Besonderheiten sowie Wechselkursschwankungen nicht berücksichtigt. Länderspezifische Definitionen von Armut erlauben indes keinen internationalen Vergleich.

  15. Vgl. World Bank, World Development Report 1996. From Plan to Market, Washington 1996, S. 67-72.

  16. Vgl. Jeffry Sachs/Andrew Warner, Achieving Rapid Growth in Transition Economies of Central Europe, in: Ostekonomiska Institutet, Stockholm Institut of East European Economies, Working Paper (preliminary Version), No. 116, November 1996.

Weitere Inhalte

Wolfgang Quaisser, Dr. agr., geb. 1955; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut München. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Peter Gey und Jiri Kosta) Sozialismus und Industrialisierung, Frankfurt am Main -New York 1985; (zus. mit Peter Gey und Jiri Kosta) Crisis and Reform in Socialist Economics, Boulder -London 1987; Agrarpreispolitik und bäuerliche Landwirtschaft in Polen, Berlin 1987; (zus. mit Rick Woodward und Barbara Blasczczyk) Privatization in Poland and East Germany: A Comparison, Arbeiten aus dem Osteuropa-Institut München, Working Papers, 1995, Nr. 180-183, München 1995; A Comparison of Economic Transformation in Eastem Europe and East Asia, in: Economics, 53 (1996), S. 7-30.