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Das fragmentierte Medien-Publikum Folgen für das politische System | APuZ 42/1997 | bpb.de

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APuZ 42/1997 Neue Medien -Chancen und Risiken. Tendenzen der Medienentwicklung und ihre Folgen Das fragmentierte Medien-Publikum Folgen für das politische System Über die Demokratie in der vernetzten Gesellschaft. Das Internet als Medium politischer Kommunikation Globalisierung, elektronische Netze und der Export von Arbeit

Das fragmentierte Medien-Publikum Folgen für das politische System

Christina Holtz-Bacha

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Differenzierung unserer Medienlandschaft, insbesondere die wachsende Zahl der Sender auf dem Fernsehmarkt, führt immer mehr zu einer Fragmentierung des Publikums. Das heißt, es entsteht eine Vielzahl kleiner Teilpublika, die sich ihr spezielles . Medienmenü wählen, während die Gelegenheiten, zu denen das große Publikum zusammenkommt, seltener werden. Der Beitrag stellt die Frage nach den Konsequenzen, die diese Entwicklung für die Gesellschaft hat. Dabei wird deutlich, daß die integrative Funktion des Fernsehens durch diesen Prozeß in Frage gestellt und nur noch durch sogenannte Medienereignisse erfüllt wird. Die Fragmentierung des Publikums bedeutet eine besondere Herausforderung für das politische System, weil sein Bestand auf einen gewissen gesellschaftlichen Grundkonsens angewiesen ist. Um dem Auseinanderdriften der Publikumsfragmente vorzubeugen, muß das politische System daher zu verstärktem Kommunikationsmanagement greifen, das die Vermittlung von Politik und von gesellschaftlich relevanten Themen aktiv zu beeinflussen versucht. Von der Idee her wären die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten am besten geeignet, die Integrationsfunktion für die Gesellschaft wahrzunehmen. Allerdings fällt es ihnen aufgrund des Konkurrenzdrucks im dualen System mit den Privatsendern zunehmend schwer, diese Funktion zu erfüllen.

Die rasante Veränderung unserer Medienlandschaft, insbesondere die wachsende Zahl der Sender auf dem Fernsehmarkt, führt immer mehr zu einer Zersplitterung des Publikums. Diese Entwicklung wird in der Fachliteratur unterschiedlich benannt -mal ist von Differenzierung, mal von Segmentierung oder auch von Fragmentierung die Rede. Dem Begriff „Fragmentierung“ wird im folgenden der Vorzug gegeben, weil er besser als die anderen den eher ungeordneten, unsystematischen Zerfall des Medienpublikums in viele Bruchstücke, also in Teilpublika, zum Ausdruck bringt.

Vervielfältigung des Angebots -Fragmentierung des Publikums

Die Diagnose der Fragmentierung des Publikums steht im Zusammenhang mit der noch längst nicht abgeschlossenen Vermehrung unseres medialen Angebots und der damit einhergehenden weiteren Differenzierung in den verschiedenen Segmenten des Medienmarktes. Dies betrifft vor allem den Zeitschriftensektor mit dem ungeheuren Boom der Special-Interest-BYatter; die Zahl der Zeitschriften in Deutschland liegt derzeit bei über 9 000 Titeln, darunter annähernd 4 000 Fachzeitschriften -also Publikationen, die sehr enge Spezialinteressen bedienen. Die Differenzierung zeigt sich aber auch beim Rundfunk. 1980 boten die öffentlich-rechtlichen Sender zusammen 31 Radio-programme an. Diese Zahl ist bis Mitte der neunziger Jahre auf 48 gestiegen, dazu kamen die kommerziellen Hörfunksender, deren Zahl -alle Bundesländer zusammengenommen -mittlerweile auf 200 zugeht Ebenso beim Fernsehen: Bis zur Zulassung des privaten Rundfunks zu Anfang der achtziger Jahre beschränkte sich das Angebot für den durchschnittlichen Haushalt auf drei oder vier Fernsehprogramme. Mit der Aufhebung des öffentlich-rechtlichen Monopols und erst recht mit der Einführung von Kabel-und Satellitentechnik vergrößerte sich die Zahl der empfangbaren Programme sprunghaft. Zur Zeit können die etwa 8, 7 Mio. Satellitenhaushalte fast 60 Fernsehprogramme empfangen, 18, 6 Mio. Kabelhaushalte empfangen 28 Sender. Lediglich die rund 5, 4 Mio Haushalte, die weder einen Satelliten-noch einen Kabelanschluß haben, bleiben auf acht Kanäle beschränkt Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, daß der Zuwachs fast ausschließlich im Spartensegment stattfindet, also bei spezialisierten statt ein breites Angebot abdeckenden Vollprogrammen. Der Start des digitalen Fernsehens in Deutschland Mitte 1996 hat eine weitere Vermehrung der Sparten kanäle zur Folge.

Diese Vergrößerung des Medienangebots führt unweigerlich zu einer Aufspaltung des Publikums in eine Vielzahl vor. Teilpublika. Die Reichweiten der einzelnen Angebote werden immer kleiner. Dieser Trend zur Zersplitterung des Publikums wird noch unterstützt durch die Individualisierung des Zugangs zu den Medien: Die wachsende Mehrfachausstattung der Haushalte mit Radio-und Fernsehgeräten sowie die Verfügbarkeit des Videorecorders ermöglichen den Medienkonsumenten die individuelle situations-und bedürfnisangepaßte Nutzung zu jeder Zeit, für jedes Interesse, für jede Stimmung.

Tatsächlich dokumentiert die Publikumsforschung seit geraumer Zeit einen Wandel in der Medien-nutzung aufgrund der Ausdifferenzierung des Angebots. „Das Publikum verstreut sich“ -so bilanzierte Uwe Hasebrink 1994 den veränderten Umgang des Publikums mit dem Fernsehen: Der Fernsehkonsum verteilt sich gleichmäßiger über den Tag; kurze Phasen der Zuwendung zum Fernsehen nehmen im Vergleich zur dauerhaften Nutzung zu; die Reichweite einzelner Kanäle und Sendungen geht zurück. Außerdem teilt sich das Fernsehen die Aufmerksamkeit der Zuschauer noch mit anderen Beschäftigungen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Zuschauergruppen verstärken sich, und zwar bezüglich der Dauer und Art des Fernsehkonsums wie auch bezüglich der Inhalte

Was die immer deutlichere Unterscheidung verschiedener Nutzergruppen aufgrund der jeweils bevorzugten Medieninhalte angeht, so wurde dafür in den USA der Begriff „audience polarization“ eingeführt Definiert wird diese Polarisierung des Publikums als die Tendenz von Zuschauerinnen und Zuschauern, sich bei ihrem Fernsehkonsum auf die eine oder andere „Klasse“ von Angeboten zu beschränken. Eine solche „Angebotsklasse“ bestimmt sich durch inhaltliche Ähnlichkeit -also etwa Unterhaltung bzw. einen bestimmten Typ von Unterhaltungssendungen -oder sie bestimmt sich durch den Sender, der das Angebot liefert.

Diese Entwicklung ist mittlerweile auch für das deutsche Fernsehpublikum belegt worden. Ein Vergleich der Fernsehkonsumgewohnheiten in den Jahren 1985 und 1995 hat gezeigt, daß es solche Spezialisierungstendenzen gibt. Zum einen lassen sich informations-und unterhaltungsorientierte Gruppen im Fernsehpublikum unterscheiden, wobei in den letzten Jahren die Zahl der Unterhaltungsorientierten deutlich gewachsen ist. Dies ist ein Trend, der durch die Angebotsvermehrung sicher gefördert, wenn nicht erst ermöglicht wurde. Zum anderen gibt es eine Spezialisierung auf Programmtypen, das heißt auf öffentlich-rechtliche oder privat-kommerzielle Fernsehprogramme

Daß die Gemeinsamkeiten im Medienkonsum deutlich geringer geworden sind, läßt sich für das Fernsehen an mehreren Beispielen zeigen. Zwar gibt es immer noch „Quotenrenner“; der Vergleich zu früheren Jahren macht aber deutlich, daß die quantitativen Ansprüche bescheiden geworden sind. Was heute erfolgreich genannt wird, erreicht eine Einschaltquote, die unter den Bedingungen des öffentlich-rechtlichen Monopols nicht zum Quotenrenner qualifiziert hätte. Als Spitzenwerte galten früher Quoten von 40 bis 50 Prozent; heute sind zumindest die -öffentlich-rechtlichen Anstalten mit einem Zuschaueranteil von 15 Prozent schon mehr als zufrieden.

Erstes Beispiel: die Nachrichtensendungen. Die Tagesschau, seit 1956 über Jahre der allabendliche Anlaß für das rituelle Beisammensein der Nation, ab Mitte der sechziger Jahre ergänzt durch die ZDF-Sendung heute. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, also bevor die kommerzielle Konkurrenz Einzug hielt, hatte die ARD--Tagesschau noch eine Haushaltsreichweite von etwa 30 Prozent, die heute-Sendung des ZDF 24 Prozent Bis 1995 hat die Tagesschau etwa ein Drittel ihrer Reichweite eingebüßt, die Haushaltsreichweite der heute-Sendung hat sich sogar halbiert Auch wenn die Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens noch immer an der Spitze stehen, sind ihre Reichweiten mit der Etablierung des privat-kommerziellen Rundfunks doch deutlich geschrumpft. Das Publikum, das sich aktuell informieren will, verteilt sich nun im wesentlichen auf fünf Programme. Der Anteil von ARD und ZDF macht dabei etwa zwei Drittel aus, rund ein Drittel entfällt auf RTL, SAT 1 und Pro 7

Zweites Beispiel: Es sind vor allem Unterhaltungsshows und fiktionale Fernsehsendungen, die das große Publikum anziehen. An erster Stelle der Hitliste standen 1995 die Samstagabendshows vom Typ Wetten, daß.. .? Diese Sendung hatte im Jahresdurchschnitt 1995 eine Haushaltsreichweite von 27 Prozent. Anfang der achtziger Jahre aber erreichten solche Shows noch Einschaltquoten von 45 Prozent und mehr An die zweite Stelle gelangten 1995 Karnevalssendungen wie Mainz wie es singt und lacht, danach einzelne Folgen von Serien und Krimis. Bis auf geringfügige Abweichungen verlieren alle diese Sendetypen jedoch weiter an Publikum

Dieser Trend hin zu einer Vielzahl von immer noch kleiner werdenden Publikumsfragmenten, die sich ihrem je speziellen Medienmenü zuwenden und nur noch selten zum großen Publikum zusammenkommen, lenkt den Blick auf die Konsequenzen, die sich daraus für die Gesellschaft insgesamt ergeben. In diesem Zusammenhang ist auch zu untersuchen, ob es trotz Fragmentierung noch Medienangebote gibt, die alle oder doch viele dieser Teilpublika anzuziehen vermögen.

Die Integrationsfunktion der Massenmedien

Sinkende Reichweiten, weil sich nun das Fernsehpublikum auf eine Vielzahl von Sendern verteilt, sind zunächst ein ökonomisches Problem für die Fernsehanstalten -und das noch nicht einmal für alle, sind doch gerade solche Programme für die Werbetreibenden attraktiv, die zwar eine kleine, dafür aber spezifische Zielgruppe erreichen. Dieses Auseinanderfallen des Publikums, die immer seltener werdenden Gelegenheiten, zu denen eine große „Fernsehgemeinde“ vor dem Bildschirm zusammenkommt, hat jedoch Konsequenzen, die längst nicht nur ökonomischer Natur und nicht auf das Fernsehen begrenzt sind. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Stellenwert, den Fernsehsender und -Sendungen, die große Publika versammeln, für die Gesellschaft haben. Dieser Frage soll hier nachgegangen werden unter Berücksichtigung der politischen Funktionen, die die Massenmedien besitzen.

Die Massenmedien spielen eine vermittelnde Rolle zwischen politischem System und Bürgerinnen und Bürgern bzw.dem Publikum. Da der einzelne in nur sehr begrenztem Umfang direkt am politischen Geschehen teilnehmen kann, stellen die Massenmedien die Verbindung zwischen dem politischen System und den Mitgliedern der Gesellschaft her; auf diese Vermittlungsleistung sind beide Seiten angewiesen.

Die politischen Funktionen der Medien werden unterschiedlich systematisiert und benannt, lassen sich aber in der Regel auf eine klassische Dreiteilung zurückführen: Generalfunktion der Medien ist die Informationsfunktion, daraus ergeben sich gewissermaßen die Funktionen der Meinungsbildung sowie der Kontrolle und Kritik Im Rahmen ihrer Informationsfunktion stellen die Medien Öffentlichkeit über das politische Geschehen her; sie informieren über politische Akteure und politisches Handeln, machen Politik verständlich. Diese Informationen sollen so beschaffen sein, daß sie den einzelnen in die Lage versetzen, sich seine Meinung zu bilden, die wiederum eine vernünftige Teilnahme am politischen Prozeß ermöglicht. Längst ist anerkannt, daß die Medien ihre Informationsfunktion nicht nur auf dem Weg der vordergründig politischen, sondern auch durch die unterhaltenden Angebote erfüllen.

In der repräsentativen Demokratie liegt diese Informationsleistung der Medien durchaus auch im Interesse der politischen Akteure. Sie suchen Legitimation für ihr Handeln über das Herstellen von Öffentlichkeit, wofür sie wiederum auf die Medien angewiesen sind. Die Informationsfunktion der Medien ist aber keineswegs als Einbahnstraße konzipiert. Vielmehr gehört dazu in umgekehrter Richtung auch das Öffentlichmachen von Erwartungen der Gesellschaftsmitglieder an das politische System.

Die Informationsfunktion der Medien für das Publikum ist verbunden mit einer Sozialisationsfunktion, die auch als Integrationsfunktion bezeichnet wird. Als Mittler der politischen Sozialisation wirken die Massenmedien integrierend: Sie stellen Verhaltensnormen und gemeinsame Ziele vor; sie helfen, zur Entlastung des politischen Systems Erwartungen zu reduzieren, Vertrauen und Unterstützung herzustellen und Akzeptanz von politischen Entscheidungen zu sichern. Diese Sozialisations-bzw. Integrationsfunktion ist in dem hier diskutierten Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

Komplexe Gesellschaften bedürfen der Mechanismen, die den Zusammenhalt gewährleisten und das Auseinanderdriften ihrer aufeinander ange-wiesenen Teilsysteme verhindern Vor allem die Massenmedien sind in der Lage, diese Integrationsaufgabe zu übernehmen, zumal dort, wo die Möglichkeiten zur unmittelbaren Erfahrung für das einzelne Gesellschaftsmitglied begrenzt sind, etwa in der Politik. Durch die öffentliche Herstellung und die Bereitstellung von Themen bietet das Massenkommunikationssystem für das Publikum das -wie Manfred Rühl es ausdrückt -„Potential gemeinsamen Erlebens“

Mit der Darstellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten innerhalb einer Gesellschaft bieten die Massenmedien dem einzelnen die Möglichkeit der Orientierung über die allgemein anerkannten Werte, Normen und Verhaltensweisen. Zugleich wird damit demonstriert, was als abweichendes Verhalten gilt. Indem die Medien so die Voraussetzung für die individuelle bewußtseinsund verhaltensmäßige Anpassung an die dominanten Wertestrukturen und Verhaltensmuster schaffen, fördern sie das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Gesellschaftsmitglieder, fördern die Identifikation des einzelnen mit dieser Gesellschaft und tragen zur gesellschaftlichen Identitätsbildung bei Mit spezifischem Blick auf die Politik bedeutet diese Integrationsfunktion der Medien das Beschaffen von Unterstützung für die politische Gemeinschaft insgesamt, für das politische System mit seinen Normen, Regeln, Zielen und Strukturen sowie für die politischen Akteure.

Die besondere Rolle, die die Rundfunkmedien für die politische Integration spielen, hat auch das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben. In seinem Fernsehurteil aus dem Jahr 1971 heißt es: „Die Rundfunkanstalten stehen in öffentlicher Verantwortung, nehmen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahr und erfüllen eine integrierende Funktion für das Staatsganze.“ Hier wird der Rundfunk also in den Dienst eines gemeinsamen Interesses gestellt, was dennoch und selbstverständlich nicht als Rechtfertigung staatlichen Einflusses auf die Medien zu interpretieren ist. Vielmehr vollbringen die Medien diese Aufgabe weitgehend autonom; es versteht sich allerdings von selbst, daß die Medien ihrer Integrationsfunktion nur nachkommen können, wenn sie bei ihrer Arbeit bestimmten Standards, vorrangig den Geboten der Vielfalt und der Ausgewogenheit, folgen.

Konkret ist in der Bundesrepublik die Integrationsfunktion der Medien und insbesondere des Fernsehens auch bezogen worden auf deren Leistung für die politische Kultur im föderativen politischen System. Eine neue Perspektive gewann die Aufgabe der Integration in Deutschland in den letzten Jahren mit der Vereinigung, im Hinblick auf das Zusammenwachsen der Bevölkerung in den alten und den neuen Bundesländern. Die Herausbildung einer gemeinsamen Identität von Ost-und Westdeutschen zu fördern wird vorrangig als ein Auftrag an die Medien gesehen. Allerdings zeigt zahlreiche Kritik, daß sie dabei ihrer integrierenden Funktion noch längst nicht gerecht geworden sind. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Forderung, vor allem an das Fernsehen, bei der Schaffung einer europäischen Identität mitzuhelfen -ein schwieriges Unterfangen, denn mehr noch als die nationale ist die europäische Politik abstrakt und sensationsarm und kann daher selten die Aufmerksamkeitsschwelle der Medien überwinden.

Herausforderung an das politische System

Die Massenmedien bieten ihrem Publikum durch die Herstellung und Bereitstellung von Themen also ein „Potential gemeinsamen Erlebens“. Fragmentierung des Publikums bedeutet aber, daß dieses Potential aufgrund der Vielzahl der Medienangebote immer weniger genutzt wird. Das heißt: Die Wahrscheinlichkeit gemeinsamen Erlebens nimmt ab. Immer weniger Leute kommen allabendlich zur Tagesschau zusammen. Die Fan-gemeinde der Spielshows am Sonnabend verteilt sich auf mehrere Programme. Und selbst den großen Medienereignissen, deren Erfolg früher zum Teil dadurch nachgeholfen wurde, daß ARD und ZDF zeitgleich dasselbe übertrugen, ist heute leichter aus dem Wege zu gehen. Wer nicht ganz abschalten wollte, wurde zu Zeiten des öffentlich-rechtlichen Monopols gewissermaßen zum gemeinsamen Erleben gezwungen.Im übrigen hatte das stark eingeschränkte Programmangebot damals noch einen anderen Effekt, der integrierend wirken kann: Die kaum vorhandene Selektionsmöglichkeit verführte dazu, sich gelegentlich auch mit solchen Inhalten und Argumenten auseinanderzusetzen, die vielleicht nicht so sehr den persönlichen Interessen oder der eigenen Meinung entsprachen; das ist heute nicht mehr notwendig.

In einem Aufsatz unter der Überschrift „And deliver us from Segmentation“ -zu deutsch: „Und erlöse uns von der Segmentierung“ -beschreibt Elihu Katz diese Entwicklung am Beispiel Israels, wo das Monopol eines öffentlichen Fernsehsenders erst zu Beginn der neunziger Jahre durch private Konkurrenz abgelöst wurde Der Massendemokratie wird ihr „last common meeting ground“, also ihre letzte gemeinsame Begegnungsstätte, genommen, so bilanziert Katz diesen Umbruch. Gemeinsame Begegnungsstätte -damit beschreibt er die Idee eines gesellschaftlichen Zentrums, zu dem potentiell alle Zugang haben. Hier werden die Themenagenden ausgehandelt, das heißt, es wird der gemeinschaftliche Konsens darüber hergestellt, welche Probleme wichtig und zu behandeln sind. Hier werden Meinungen ausgetauscht und müssen sich bewähren, hier legitimiert sich der politische Entscheidungsfindungsprozeß, und die Teilnahme vermittelt dem einzelnen ein Gefühl der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft. Diese Stätte des gemeinschaftlichen Austausches droht also verlorenzugehen.

Welche Chancen bestehen angesichts solcher Entwicklungen noch für die Integrationsfunktion der Medien? Die Massenmedien gelten als die wichtigsten Kanäle, über die sich in der komplexen Gesellschaft Öffentlichkeit konstituiert. Wenn Öffentlichkeit als der Raum verstanden wird, der allgemeingültige Definitionen des Politischen hervorbringt -das ist es, was Elihu Katz als „common meeting ground“ beschreibt -, und wenn das Publikum der Massenmedien in Teilöffentlichkeiten zerfällt, dann ist zu fragen, welche Folgen diese Entwicklung für das politische System hat. Diese Frage stellt sich sowohl für den Input aus dem politischen System in die Öffentlichkeit wie auch umgekehrt für den Output aus der Öffentlichkeit an das politische System. Das heißt: Wie gelingt es dem politischen System unter den Bedingungen eines fragmentierten Publikums, seine Themen in die Öffentlichkeit zu bringen und diesen womöglieh auch den eigenen Interpretationsrahmen gleich mitzugeben? Und umgekehrt: Können die Massenmedien die Synthetisierungsleistung noch erbringen, die darin besteht, die Ansprüche und Erwartungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an das politische System zu sammeln, zu bündeln und damit zugleich auf ein Maß zu reduzieren, das das politische System nicht überfordert? Wer oder was repräsentiert die Öffentlichkeit gegenüber dem politischen System, greift die Probleme des Alltags auf und zeigt so, wo politisches Handeln gefordert ist?

Es ist zu erwarten, daß mit den unterschiedlichen und spezialisierten Medienerfahrungen, die diese Teilöffentlichkeiten begründen, jeweils unterschiedliche politische Prioritäten einhergehen und sich entsprechend eigene Werte-und Normen-systeme und eigene Wissensbestände entwickeln Der Raum, in dem eine gemeinsame Agenda politischer Prioritäten ausgehandelt wird, der damit zugleich auch Identifikationsmöglichkeiten bietet und so das Zusammengehörigkeitsgefühl fördert und identitätsstiftend wirkt, droht daneben an Bedeutung zu verlieren und seine Funktion einzubüßen. Das heißt aber auch, daß diese Herausbildung von Teilöffentlichkeiten bei gleichzeitigem Verlust des Zentrums, der Stätte des gemeinschaftlichen Austausches, das Potential zu Normenkonflikten in sich trägt und das politische System sowie die politische Kommunikation vor Probleme stellt.

Diese Herausforderung an die politische Kommunikation wird noch verschärft durch eine andere Entwicklung: Der technische Fortschritt, aber auch die grenzüberschreitende Tätigkeit von Medienunternehmen haben dazu geführt, daß sich Kommunikationssysteme immer weniger entsprechend den staatlichen Territorien abgrenzen lassen. Daher werden sie auch immer weniger von nationaler Politik bestimmt. In seinem Bestreben, das größtmögliche Publikum über die staatlichen Grenzen hinweg anzusprechen, muß das globalisierte Medienangebot universell sein und sich daher zwangsläufig von nationalen kulturellen und politischen Bezügen lösen. Was international also Homogenisierung bedeutet, wird in nationaler Perspektive als Verlust der spezifischen kulturellen Charakteristika des Medienangebots empfunden Es wird befürchtet, daß auch diese Entwicklung langfristig zur Schwächung der auf den Nationalstaat bezogenen gemeinschafts-und identitätsstiftenden Kraft der Massenmedien beiträgt. Neben dem Versuch, die europäische Film-und Fernsehproduktion zu stärken, ist dies auch ein Grund dafür, daß die Europäische Union mit ihrer Fernsehrichtlinie 1989 Quoten für „europäische Werke“ eingeführt hat Diese Maßnahme richtet sich insbesondere gegen die Dominanz der konfektionierten Hollywood-Importe bei den unterhaltenden Angeboten des Fernsehens.

Vor diesem Hintergrund muß dem politischen System daran gelegen sein, dem Auseinander-driften der Publikumsfragmente zu begegnen bzw. ihm vorzubeugen und die Verständigung der Teilöffentlichkeiten aufrechtzuerhalten und damit das gewisse Maß an Konsens und Identität zu sichern, das das System benötigt. Dazu bedarf es verstärkter Anstrengungen des politischen Systems.

Was hier gefordert ist, wird als Kommunikationsmanagement auf Seiten des politischen Systems bezeichnet. Gemeint ist damit die professionalisierte Darstellung von Politik. Mit der Erkenntnis, daß die Herstellung von Politik, also politisches Entscheidungshandeln, mehr und mehr ihre Darstellung, also ihre -in der Regel massenmediale -Vermittlung gleich mitbedenkt, geht üblicherweise die Feststellung einher, daß es die politischen Akteure immer besser verstehen, sich dabei die Medien zunutze zu machen. Damit verbindet sich aber zumeist auch die Klage, daß diese Politikvermittlung auf rhetorische oder eben symbolische Politik setzt, daß sie Worthülsen und Inszenierung vor Sachinformation und rationale Reflexion stellt

Angesichts der Fragmentierung des Publikums werden -und müssen -die politischen Akteure ihr Kommunikationsmanagement verstärken; zunächst um überhaupt Aufmerksamkeit für sich und ihre Themen zu erlangen, und dann, um Unterstützung für ihr Handeln zu sichern. Die Politik muß sich dabei auf die differenzierte Medienlandschaft und das fragmentierte Publikum einstellen. Der Aufruf „The show must go on“, mit dem CDU-Wahlkampfexperte Peter Radunski 1992 seinen

Politikerkollegen empfahl, sich verstärkt um Auftritte in den populären Unterhaltungssendungen des Fernsehens zu bemühen, weil sie dort noch ein großes Publikum erreichen, ist nur ein Indiz dafür, daß sich die Politik auf diese neuen Gegebenheiten einstellt

Die Politik hat dabei immer weniger mit Medien zu tun, die sich aufgrund ihrer öffentlichen Aufgabe der Gesellschaft verpflichtet fühlen, sondern immer mehr mit solchen, die individuelle Publikumswünsche in den Vordergrund stellen Die Politik ist deshalb gezwungen, aktiv auf ihre Präsentation in der Öffentlichkeit hinzuwirken. In der Wechselbeziehung zwischen politischem System und Mediensystem, aus der heraus politische Medienangebote zustande kommen, wird sich daher die Balance in Richtung Politik verschieben. Damit wird nicht nur die Initiative zu politischer Berichterstattung, sondern auch die Ausgestaltung der politischen Medienangebote immer mehr von der Politik beeinflußt. Es ist davon auszugehen, daß diese Entwicklung zugleich eine wachsende Bedeutung der politischen , Verkaufsberater 1 mit sich bringt. Das führt dazu, daß das Bild von der Politik zunehmend von Fachleuten bestimmt wird, die sich ausschließlich um die Darstellung von Politik kümmern und Politik auch nur unter diesem Blickwinkel sehen, die jedoch mit der Herstellung von Politik nichts zu tun haben.

Das alles heißt also: Weil demokratische Politik für ihre Legitimation von der Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger abhängig und ihnen gegenüber auch zur Begründung ihres Handelns verpflichtet ist, ist sie zu verstärkten Bemühungen aufgefordert, die die gemeinschaftliche Diskussion von Themen, das Aushandeln von Prioritäten und dadurch den Konsens bezüglich der politischen Probleme sicherstellen. Dies wird indessen zur Gratwanderung für die politischen Akteure: Auf der einen Seite scheint ein intensiviertes Kommunikationsmanagement des politischen Systems unumgänglich, auf der anderen Seite nimmt damit zu, was vielfach für die Abkehr der Bürgerinnen und Bürger von der Politik verantwortlich gemacht wird, nämlich die Aufmerksamkeit heischende Verpackung von Politik anstelle von Substanz.

Die integrative Kraft von Medienereignissen

In Anbetracht der Notwendigkeit, Gelegenheiten gemeinsamen Erlebens zu schaffen, müßte es dann auch zu einer Neubewertung sogenannter Medien-ereignisse kommen. Neubewertung deshalb, weil bei der Rede von Medienereignissen oftmals ein negativer Unterton mitschwingt. Was hier mit Medienereignissen gemeint ist, ließe sich als klassische Media Events bezeichnen. Dabei geht es nicht um die sogenannten Pseudo Events die mittlerweile zum Repertoire professionellen Kommunikationsmanagements politischer Akteure gehören. Indem beide Kategorien als Medienereignisse bezeichnet werden, stiftet die Literatur hier allzu häufig Verwirrung. Pseudoereignisse -und bei diesem Begriff wird die negative Bewertung besonders deutlich -werden eigens für die mediale Berichterstattung inszeniert. Sie nutzen die bekannten journalistischen Auswahlroutinen und steuern so Themen und Zeitpunkt medialer Berichterstattung (z. B. Pressekonferenzen). Unter Medienereignissen dagegen werden Ereignisse verstanden, die geplant sind, die das journalistische Alltagsgeschäft wie auch den Alltag des Publikums unterbrechen; über sie wird üblicherweise live im Fernsehen berichtet Die Rede ist daher auch von den „high holidays of mass communication“ Die Medien, insbesondere das Fernsehen, werden von vornherein bei der Inszenierung dieser Ereignisse mitbedacht und einkalkuliert. Diese Ereignisse würden meist auch ohne die Medien stattfinden, sähen dann aber ganz anders aus. Das Gros solcher Medienereignisse geht auf staatliche Anlässe zurück -etwa das Zelebrieren staatlicher Gedenktage, Staatsbesuche, königliche Hochzeiten, Beisetzungsfeierlichkeiten;

daneben treten aber auch Medienereignisse aus Sport und Kultur -von den Olympischen Spielen bis zum European Song Contest.

Solche Medienereignisse sind durch beeindruckende Zuschauerreichweiten gekennzeichnet. Aber nicht nur das Zuschauerinteresse macht Medienereignisse in diesem Zusammenhang interessant.

Medienereignissen wird nämlich ein besonderes gesellschaftliches Integrationspotential zugesprochen, weil sie die Nation zu einem gemeinsamen Erlebnis vor dem Fernseher versammeln, bei dem die Traditionen und Werte einer Gesellschaft bestätigt, ihre Siege und Errungenschaften gefeiert, aber auch Niederlagen verarbeitet werden. Media events sind geeignet, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gesellschaftsmitglieder zu erneuern. Medienereignisse -so heißt es bei Dayan/Katz -sind die Antwort auf die integrativen Bedürfnisse von Nationen

Für die Organisatoren oder besser noch: Produzenten von Medienereignissen sind diese deshalb von besonderer Relevanz, weil sie deren Inszenierung weitestgehend selbst in der Hand haben, die Veränderung durch journalistische Bearbeitung aber gering bleibt, wenn live übertragen wird. Das heißt, Themen und Timing werden von denen bestimmt, die das Medienereignis ausrichten. Diese Eigenschaften lassen Medienereignisse als eine der letzten Gelegenheiten erscheinen, die das sich zersplitternde Publikum vereinen und zur Integration der Gesellschaft beizutragen vermögen.

Gerade die internationalen Wettbewerbe des Sports gehören zu den Medienereignissen. Sie erlangen politische Bedeutung durch ihren Beitrag zur kollektiven Identität der Nation. Sie stiften ein Gefühl von Gemeinschaft. Und auch hier werden Werte transportiert, die zum gesellschaftlichen Grundkonsens beitragen. Tatsächlich erweisen sich Sportsendungen heute immer noch als die verläßlichsten Straßenfeger, und zwar vor allem die Großereignisse wie Fußballwelt-und -europameisterschaften, Tennisturniere, Boxkämpfe oder Olympische Spiele. Das bedeutet: Bei der Suche nach der optimalen , Schnittmenge, also Sendungen, die für einen Großteil oder sogar für eine Mehrheit der Bevölkerung attraktiv sind, werden wir am ehesten fündig bei Großereignissen vorrangig des Sports. Fernsehshows, die einmal ähnlich erfolgreich waren, haben indessen viel von ihrer Attraktivität eingebüßt.

Daß die nationalen Großereignisse dann auch einem breiten Publikum zugänglich bleiben, dafür hat gerade die Europäische Union gesorgt. In die novellierte Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ wurde ein Artikel aufgenommen, der es den Mitgliedsländern erlaubt, Listen solcher Großereignisse aufzustellen, für die keine Exklusivrechte für die Fernsehübertragung erworben werden dürfen. So soll sichergestellt werden, daß die Ausstrahlung nicht nur für ein begrenztes Publikum erfolgt, etwa über Pay-TV, für dessen Empfang zusätzlich Gebühren gezahlt werden müssen. Solche Befürchtungen hatte es z. B. gegeben, nachdem die Kirch-Gruppe 1996 die Fernsehrechte für die Übertragung der Fußballweltmeisterschaften in den Jahren 2002 und 2006 gekauft hatte. Spiele der deutschen Nationalmannschaft im Bezahlfernsehen -das wäre nicht nur ein sozialer Affront, sondern eine Gelegenheit weniger gewesen, zu der -sozusagen -die ganze Nation vor dem Fernseher sitzt und gemeinsam zur selben Zeit das gleiche erlebt. Dem Fernsehpublikum wäre ein Medienereignis verloren gegangen, über das am nächsten Tag alle reden, bei dem auch alle mitreden können, weil eben alle dabei waren

Bevor aber politische Akteure Medienereignisse als Patentrezept mißverstehen, muß zu bedenken gegeben werden, daß nicht alle Medienereignisse auch beim Publikum ankommen Ihr Erfolg ist keineswegs garantiert. Außerdem weisen Medien-ereignisse eine nicht ungefährliche Nähe zum Spektakel auf, was unter Umständen unerwünschte Wirkungen etwa im Sinne einer Ablehnung von Politik als Showgeschäft haben könnte.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Integrationsinstanz

Die Diskussion über das zerfallende Publikum, die Zersplitterung der Öffentlichkeit in eine Vielzahl und Vielfalt von Teilöffentlichkeiten, die immer weniger miteinander gemein haben, und die Überlegungen dazu, wie den mit diesem Prozeß verbundenen, womöglich unerwünschten Folgen für das politische System beizukommen ist, werden häufig mit einem Plädoyer für den Erhalt und die Absicherung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verbunden. Mit Blick auf die Tradition der British Broadcasting Corporation (BBC) ist wohl nicht überraschend, daß diese Koppelung insbesondere von britischen Autoren vorgenommen wurde

Wir finden diesen Argumentationsstrang aber auch hierzulande wieder

Dahinter steckt der Gedanke an die unterschiedliche Orientierung des öffentlich-rechtlichen und des privat-kommerziellen Rundfunksektors, die sich in einer vor allem auch vom Bundesverfassungsgericht bekräftigten Aufgabenteilung manifestiert. ARD und ZDF sind mit ihrer öffentlichen Aufgabe der Gesellschaft verpflichtet. Dies spiegelt sich auch in ihrer Organisationsstruktur, wobei der Rundfunkrat, in dem die sogenannten gesellschaftlich relevanten Gruppen vertreten sind, als gesamtgesellschaftliches Kontrollorgan beratend bezüglich des Programminhaltes tätig wird. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat Grundversorgung zu leisten, und zwar keineswegs als Mindest-, sondern im Sinne einer Vollversorgung. Grundversorgung wird dynamisch interpretiert wie sich auch an der Einführung von Kinderkanal und Parlamentskanal ablesen läßt. Für diesen Dienst an der Gesellschaft und weil Grundversorgung nur ein Angebot ist, aber keineswegs Popularität in Form profitabler Reichweiten garantiert, erhalten die öffentlich-rechtlichen Anstalten den Großteil ihrer Einnahmen aus der Rundfunkgebühr. Die privaten Sender dagegen müssen ihr Geld auf dem Werbemarkt verdienen. Weil das nur gelingt, wenn sie entweder ein möglichst großes oder ein ganz spezielles und damit für die Werbewirtschaft interessantes Publikum vorweisen können, wird ihnen zugestanden, sich mit ihrem Programmangebot am Publikumsmarkt zu orientieren

Von der Idee her sind also ARD und ZDF bei der Gestaltung ihres Programms von der Jagd nach Einschaltquoten freigestellt. Diese Vorstellung ist es, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geeignet erscheinen läßt, Tendenzen der Desintegration, wie sie mit der Fragmentierung des Publikums befürchtet werden, entgegenzuwirken. Das heißt, das öffentlich-rechtliche Programm wird als der allen zugängliche Ort angesehen, wo sich die Gesellschaft gerade auch in ihrer Vielfältigkeit spiegelt. Die Integrationsleistung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks liegt also nicht zuletzt in der Vermittlung der Vielfalt -eine wichtige Voraussetzung auch für den politischen Willensbildungsprozeß und für politische Entscheidungen. Allerdings hat sich gezeigt, daß die öffentlich-rechtlichen Anstalten doch nicht unabhängig von den Reichweiten sind. Denn die garantierte Finanzierung durch Gebühren, die ihre Unabhängigkeit sichern soll, wird in Zweifel gezogen angesichts ihres nachlassenden Marktanteils. Insofern ist zu diskutieren, inwieweit die Öffentlich-Rechtlichen die ihnen auferlegte Orientierung an der Gesamt-gesellschaft aufrechterhalten können, die sie als Integrationsinstanz zu empfehlen scheint.

Die Einführung des privaten Rundfunks in Deutschland und die daraus erwachsende Vielzahl der Sender war -zumindest bei ihren Befürwortern -begleitet von der Hoffnung auf eine größere Vielfalt des Angebots. Die Tendenz zur Fragmentierung des Publikums und zur Polarisierung des Zuschauerverhaltens läßt aber deutlich werden, daß das erweiterte Angebot keineswegs seinen Niederschlag in individuell diversifizierter Nutzung finden muß. Die Zersplitterung des Publikums und die Spezialisierung auf bestimmte Kanäle oder Angebotsklassen senkt die Wahrscheinlichkeit gemeinsamer Medienerfahrungen sowie der Nutzung eines breiten Programmspektrums, und sie vergrößert die Wahrscheinlichkeit des individualisierten Programmenüs. In der Monopolsituation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bot dieser ein Potential zur Integration des Publikums, wobei Fragmentierung als Spezialisierung der Rezipienten auf bestimmte Programmangebote dennoch nicht ausgeschlossen war. Mit der Einführung des privat-kommerziellen Rundfunks hat sich das Integrationspotential aufgrund der unterschiedlichen Vielfaltsauflagen für die beiden Systeme nicht vergrößert, wohl aber die Möglichkeit der Fragmentierung.

Diese Entwicklung setzt die dem Rundfunk zugewiesene Integrationsfunktion aufs Spiel. Das bedeutet eine Herausforderung -nicht nur, aber ganz besonders -für das politische System, weil es für seine eigene Funktionsfähigkeit der gesamtgesellschaftlichen Integrationsleistung bedarf. In ihrem eigenen Interesse müssen die politischen Akteure der Fragmentierung des Medienpublikums Rechnung tragen, indem sie ihre Kommunikationsstrategien auf die Ansprache verschiedener, mit jeweils eigenen Bildern von der Gesellschaft ausgestatteten Teilöffentlichkeiten einrichten. Nur so können sie der „balkanization of community“ also einer Balkanisierung der Gemeinschaft, vorbeugen, wie sie als Folge der Kanalvielzahl vorausgesagt wird. Die politischen Akteure müssen sich daher überlegen, ob es nicht auch in ihrem Interesse liegt, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als das Forum zu erhalten, das einen gesamtgesellschaftlichen Resonanzboden bietet. In der Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und auch darin, wie das Bundesverfassungsgericht dessen Rolle im dualen Rundfunksystem beschrieben hat, ist diese Verpflichtung auf die Gesellschaft angelegt. Die Entwicklung auf dem deutschen Rundfunkmarkt macht es den öffentlich-rechtlichen Sendern indessen eher schwer, dieser Verpflichtung nachzukommen.

Die offensichtlichen Defizite in der Integrationsleistung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks -deutscher Einigungsprozeß und Schaffung einer europäischen Identität wurden als Beispiele genannt -allein mit Konkurrenzdruck im dualen Rundfunksystem zu rechtfertigen, würde indessen zu kurz greifen. Daß die „großen Themen“ als öffentlich-rechtliche Aufgabe angemahnt werden müssen hat noch weitere Gründe, die bei den journalistischen Selektionsroutinen, aber sicher auch in der Selbstdarstellung der Politik gesucht werden müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Enno Dreppenstedt, Die unbeachteten Riesen. (Fach-) Zeitschriftenunternehmen im Marktwandel, in: Klaus-Dieter Altmeppen (Hrsg.), Ökonomie des Medien-systems. Grundlagen, Ergebnisse und Perspektiven medien-ökonomischer Forschung, Opladen 1996, S. 147-163, hier S. 151.

  2. Vgl. Winfried Schulz, Die Transformation des Medien-systems in den Achtzigern. Epochale Trends und modifizierende Bedingungen, in: Arnulf Kutsch/Christina Holtz-Bacha/Franz R. Stuke (Hrsg.), Rundfunk im Wandel. Beiträge zur Medienforschung, Berlin 1993, S. 155-171, hier S. 161; Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten in der Bundesrepublik Deutschland (ALM) (Hrsg.), Jahrbuch der Landesmedienanstalten 1995/96. Privater Rundfunk in Deutschland, München 1996, S. 385.

  3. Vgl. Satellitenhaushalte mit fast 60 TV-Programmen, in: Funkkorrespondenz vom 24. Januar 1997, S. 16.

  4. Vgl. Winfried Schulz, Medienwirklichkeit und Medien-wirkung. Aktuelle Entwicklungen der Massenkommunikation und ihre Folgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/93, S. 16-26.

  5. Vgl. Uwe Hasebrink, Das Publikum verstreut sich. Zur Entwicklung der Femsehnutzung, in: Otfried Jarren (Hrsg.), Medienwandel -Gesellschaftswandel? 10 Jahre dualer Rundfunk in Deutschland. Eine Bilanz, Berlin 1994, S. 265287, hier S. 282.

  6. Vgl. James G. Webster, Television audience behavior: Patterns of exposure in the new media environment, in: Jerry L. Salvaggio/Jennings Bryant (Hrsg.), Media use in the information age: Emerging patterns of adoption and consumer use, Hillsdale 1989, S. 197-216, hier S. 206.

  7. Vgl. Harald Berens/Marie-Luise Kiefer/Arne Meder, Spezialisierung der Mediennutzung im dualen RundfunkSystem. Sonderauswertungen zur Langzeitstudie Massen-kommunikation, in: Media Perspektiven, (1997) 2, S. 80-91.

  8. Vgl. Wolfgang Darschin/Bernward Frank, Tendenzen im Zuschauerverhalten. Teleskopie-Daten zur Nutzung der Fernsehprogramme seit 1976, in: Media Perspektiven, (1980) 7, S. 468-479, hier S. 475.

  9. Vgl. dies., Tendenzen im Zuschauerverhalten. Fernsehgewohnheiten und Programmbewertungen 1994, in: Media Perspektiven, (1995) 4, S. 154-165; dies., Tendenzen im Zuschauerverhalten. Fernsehgewohnheiten und Programmbewertungen 1995, in: Media Perspektiven, (1996) 4, S. 174185.

  10. Vgl. ebd. (1996), S. 181.

  11. Vgl. ebd., S. 178-180.

  12. Vgl. Zweites Deutsches Fernsehen (Hrsg.), ZDF Jahrbuch 1983, Mainz 1984, S. 242; Zweites Deutsches Fernsehen (Hrsg.), ZDF Jahrbuch 1995, Mainz 1996, S. 330.

  13. Vgl. W. Darschin/B. Frank (Anm. 9, 1996), S. 178-180.

  14. Vgl. u. a. Franz Ronneberger, Die politischen Funktionen der Massenkommunikationsmittel, in: Publizistik, 9 (1964) 4, S. 291-304; Wolfgang Bergsdorf, Die 4. Gewalt. Einführung in die politische Massenkommunikation, Mainz 1980.

  15. Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a. M. 1993, S. 416.

  16. Manfred Rühl, Integration durch Massenkommunikation? Kritische Anmerkungen zum klassischen Integrationsbegriff, in: Ulrich Saxer (Hrsg.), Gleichheit oder Ungleichheit durch Massenmedien?, München 1985, S. 23.

  17. Vgl. Günter Hartfiel/Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 19723, S. 344; Franz Ronneberger, Integration durch Massenkommunikation, in: U. Saxer (Anm. 16), S. 3-18; Denis McQuail, Mass communication theory. An introduction, London 19943, insbes. S. 70-93.

  18. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 1971 (Mehrwertsteuerurteil); vgl. Klaus Berg/Helmut Kohl/Friedrich Kübler (Hrsg.), Medienrechtliche Entscheidungen. Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Presse-und Rundfunkrecht, Konstanz 1992, S. 217-224.

  19. Vgl. Elihu Katz, And deliver us from Segmentation, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science, (1996) 546, S. 22-33.

  20. Vgl. W. Schulz (Anm. 4).

  21. Vgl. z. B. David Morley/Kevin Robins, Spaces of identity. Global media, electronic landscapes and cultural boundaries, London 1995, insbes. Kapitel 1: Globalisation as identity crisis.

  22. Vgl. Europäische Gemeinschaften, Richtlinie des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts-und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (89/552/EWG), in: Media Perspektiven, Dokumentation 11/89, S. 107-114.

  23. Vgl. vor allem Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampf-kommunikation der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1987.

  24. Vgl. Peter Radunski, The show must go on. Politiker in der Fernsehunterhaltung, in: Bertelsmann Briefe, (1992) 128, S. 76-78.

  25. Vgl. Marie-Luise Kiefer, Unverzichtbar oder überflüssig? Öffentlich-rechtlicher Rundfunk in der Multimedia-Welt, in: Rundfunk und Fernsehen, 44 (1996) 1, S. 7-26.

  26. So benannt unter Rückgriff auf Daniel J. Boorstin, Das Image. Der Amerikanische Traum (englische Originalausgabe 1961), Reinbek 1987.

  27. Vgl. Daniel Dayan/Elihu Katz, Media events. The live broadcasting of history, Cambridge 1994; Ulrike Klein, Das internationale Medienereignis D-Day. Presse und kollektives Erinnern nach 50 Jahren, Bochum 1996.

  28. D. Dayan/E. Katz, ebd., S. 1.

  29. Vgl. ebd., S. 23.

  30. Vgl. EU-Kommission, Freier TV-Zugang zu den herausragenden Sport-„Events“, in: epd medien vom 8. Februar 1997, S. 25 f.

  31. Vgl. D. Dayan/E. Katz (Anm. 27), S. 68-73.

  32. Vgl. z. B. John Keane, Structural transformations of the public sphere, in: The Communication Review, (1995) 1, S. 122; James Curran, Rethinking the media as a public sphere, in: Peter Dahlgren/Colin Sparks (Hrsg.), Journalism and the public sphere in the new media age, London 1991, S. 27-57.

  33. Vgl. M. -L. Kiefer (Anm. 25); Karl-Heinz Ladeur, Rundfunkverfassung für die „Informationsgesellschaft“? Selbst-organisation von „taste communities“ als Alternative zum Markt und zur öffentlich-rechtlichen Integration, in: Publizistik, 31 (1986) 1-2, S. 147-164.

  34. Vgl. z. B. Herbert Bethge, Der Grundversorgungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung, in: Media Perspektiven, (1996) 2, S. 66-72.

  35. So das Modell des dualen Rundfunksystems, wie es das Bundesverfassungsgericht mit dem vierten Rundfunkurteil vom November 1986, dem sogenannten Niedersachsenurteil, entworfen hat. Vgl. Götz Frank, Aufgabenteilung im dualen Rundfunksystem nach dem vierten Rundfunkurteil, in: Publizistik, 32 (1987) 4, S. 422-430.

  36. Monroe E. Price, Television. The public sphere and national identity, Oxford 1995, S. 240.

  37. Vgl. Uwe Kammann, Das Mündel will Bürger sein. Die Euro-Debatte: Das Fernsehforum ist (fast) leer, in: epd medien vom 19. März 1997, S. 3-5.

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Christina Holtz-Bacha, Dr. phil., geb. 1953; Professorin am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Veröffentlichungen u. a.: Ablenkung oder Abkehr von der Politik? Mediennutzung im Geflecht politischer Orientierungen, Opladen 1990; (zus. mit Romy Fröhlich) Frauenbund Medien. Eine Synopse der deutschen Forschung, Opladen 1995; (Hrsg. zus. mit Lynda L. Kaid) Wahlen und Wahlkampf in den Medien. Untersuchungen aus dem Wahljahr 1994, Opladen 1996.