Sieben Jahre deutsche Einheit sind zugleich auch sieben Jahre sozialwissenschaftliche Forschung zur deutschen Einheit. Die Fülle der Bücher, Zeitschriftenartikel und Diskussionsbeiträge zu diesem Thema ist mittlerweile so groß, daß die Debatten in einem babylonischen Stimmengewirr unterzugehen drohen. Angesichts der überwältigenden Vielfalt entsteht bei einigen Beobachtern bereits der Eindruck, die theoretischen Argumente wären austauschbar und die empirischen Belege seien beliebig.
Dieser Artikel soll gleichsam als eine Landkarte die Orientierung in einer immer unübersichtlicher werdenden Forschungslandschaft ermöglichen. Drei Leitfragen bestimmen den Maßstab dieser Karte:
Wie lauten die zentralen Thesen der soziologischen und politologischen Forschung zur deutschen Einheit?
Wie werden der Verlauf, die Folgen und die Perspektiven des Vereinigungsprozesses eingeschätzt? Welches Gesamtbild bietet die sozialwissenschaftliche Diskussion zur deutschen Einheit? Wie bei jeder Übersichtskarte, so muß auch bei dieser auf Details verzichtet werden. Hier sind es die empirischen Einzelergebnisse, auf die nur am Rande eingegangen werden kann.
I. Transformationsforschung zwischen System und Akteur
Der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Einheit brachten für die sozialwissenschaftliche Forschung quasi über Nacht eine vollkommen veränderte Lage. Erklärungen, warum dieses für so stabil gehaltene Herrschaftssystem derartig schnell und geräuschlos zerfallen konnte, mußten gefunden werden. Ideen für die effektive Übertragung von Marktwirtschaft und Demokratie nach Ostdeutschland waren plötzlich gefragt. Vorstellungen über die für das Zusammenwachsen der beiden Landesteile notwendigen Mengen an Zeit, Kapital und Know-how mußten entwickelt werden etc. Sozialforscher aus Ost-und Westdeutschland haben diese Herausforderungen angenommen und die deutsche Vereinigung als „sozialen Großversuch“ wissenschaftlich begleitet 1. Bisher wurden vor allem empirische Studien zur Beschreibung dieses gesellschaftlichen Umbruchs erarbeitet 1. Dabei sind zwar viele wissenschaftlich relevante Entdeckungen gemacht worden, bedeutende theoretische Innovationen sind jedoch ausgeblieben 3. Die Wissenschaftler orientierten sich vorwiegend an den theoretischen Vorlagen aus dem Fundus der Transformationsforschung und belebten diese neu. Die meisten Thesen zur deutschen Vereinigung sind deshalb einem der beiden traditionellen Paradigmen -der Systemtheorie oder der Akteurstheorie -zuzuordnen
Zum Spektrum der Systemtheorien zählen vor allem die modernisierungstheoretischen Studien. Das Erkenntnisinteresse der Autorinnen und Autoren richtet sich auf die strukturellen Bedingungen des Systemzusammenbruchs in Ostdeutschland und auf die Makroperspektiven der danach einsetzenden Transformation und hierbei insbesondere auf den Transfer, die Nacherfindung bzw. die Weiterentwicklung moderner Basisinstitutionen.
Zu den Akteurstheorien gehören dagegen Rational-Choice-Konzepte und Akteurs-bzw. Prozeß-typologien Diese Forschung konzentriert sich auf den Phasenverlauf der Transformation sowie auf die Gestaltbarkeit des sozialen Wandels durch das strategische Handeln individueller bzw. kollektiver Akteure. Entlang der beiden großen Paradigmen -System und Akteur -haben sich zwei separate Debatten der Transformationsforschung entwikkelt: eine modernisierungstheoretische Kontroverse und ein akteurstheoretisch geprägter Diskurs.
II. Modernisierungstheoretischer Diskurs
Die Modernisierungsdebatte wird von der These einer gelungenen nachholenden Modernisierung Ostdeutschlands und einer Reihe kritischer Gegenthesen dominiert. Die Vereinigung sei bisher erfolgreich verlaufen, so die Verfechter der ersten Position, weil der Institutionentransfer schnell und effizient vollzogen worden sei, die ostdeutschen Lebensbedingungen mittlerweile fast westdeutsches Niveau erreicht hätten und alles in allem die Gewinne der Einheit die Verluste überwögen. Diese pointierte Position hat eine Vielzahl von kritischen Einwänden und heftigen Widersprüchen auf sich gezogen. Es wird darauf verwiesen, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse noch nicht realisiert sei und auch in absehbarer Zukunft nicht gelingen werde. Zweitens wird kritisch angemerkt, daß eine einfache, nur nachholende Modernisierung Ostdeutschlands langfristig nicht erfolgreich sein werde. Die negativen Modernisierungsfolgen, die in den westlichen Industriegesellschaften zu beobachten seien, erforderten vielmehr eine Veränderung der gesellschaftlichen Spielregeln. Weitere Kritiken betonen die Diskrepanz zwischen modernisiertem System und überkommener ostdeutscher Lebenswelt und verweisen auf neu entstandene Differenzen zwischen Ost-und Westdeutschland. Die zentralen Thesen dieser Auseinandersetzung werden im folgenden vorgestellt. 1. Die These von der erfolgreichen und sich stabilisierenden Transformation Von einigen Autoren wird die These vorgetragen, daß die deutsche Vereinigung erfolgreich verlaufen sei und sich der Transformationsprozeß zu stabilisieren beginne. Der Transfer der westlichen Institutionen sei abgeschlossen, und der soziale Wandel, der diese nachholende Modernisierung Ostdeutschlands begleitete, sei weitgehend beendet. Die ostdeutschen Lebensbedingungen seien bereits weitgehend an das westdeutsche Niveau angeglichen, und die Mehrheit der Ostdeutschen ziehe eine insgesamt positive Bilanz der Vereinigung
Der soziale Wandel in Ostdeutschland wird anhand von vier Kriterien beurteilt: Tempo, Tiefgang, Richtungstreue und Steuerbarkeit Die Beurteilung hinsichtlich der ersten drei Kriterien fällt positiv aus. Dabei wird die große Geschwindigkeit des sozialen Wandels als besonders vorteilhaft bewertet. Dieses Tempo sei möglich gewesen, weil Ostdeutschland ein fertiges Institutionenset, einen „ready-made state“ habe übernehmen können und der Prozeß extern gesteuert worden sei Im Vergleich zu den anderen ost-und mitteleuropäischen Transformationsgesellschaften konnte Ostdeutschland einen privilegierten Sonderweg einschlagen
Die Bewertung der deutschen Einheit hinsichtlich des vierten Kriteriums, der Steuerbarkeit, fällt nicht so positiv aus. Die Autoren verweisen auf die sozialen und ökonomischen Folgen des Institutionentransfers, die teilweise nicht steuerbar gewesen seien. Zudem habe die Bundesrepublik „Richtungsprobleme, und zwar sowohl, was ihre neue internationale Rolle angeht, als auch bezüglich der weiteren Entwicklung ihrer Basisinstitutionen selber“ 2. Die These von einer neuen Kluft zwischen Ost-und Westdeutschland Die Einschätzung, daß sich das Leben der Ostdeutschen nach der deutschen Wiedervereinigung alles in allem verbessert habe, wird zwar von vie-len empirischen -Studien bestätigt Einige Autoren machen dabei jedoch auf neu entstandene Ungleichheiten zwischen Ost-und Westdeutschland aufmerksam, die mit der These von der erfolgreich beendeten Transformation nur schwer zu vereinbaren sind.
Analysen zum sozialstrukturellen Wandel zeigen zwar, so Rainer Geißler, daß die alte Wohlfahrtslücke zwischen Ost-und Westdeutschland verringert werden konnte. In den letzten Jahren sei jedoch ein „neues Gefälle der Unsicherheit“ entstanden Zudem entwickle sich ein „regionaler Verteilungskonflikt“, der auf ostdeutscher Seite von Momenten einer ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Deklassierung begleitet werde
Neu entstehende Ost-West-Differenzen werden auch bei der Analyse der politischen und kulturellen Einstellungen beobachtet. Es sei im Verlauf der letzten Jahre zu einer „Wiederentfremdung“ zwischen den Deutschen in Ost und West gekommen Empirische Analysen zu den Mentalitäten legten trotz aller aufgefundenen Gemeinsamkeiten den Schluß nahe, daß die Bundesrepublik von der inneren Einheit noch weit entfernt sei 3. Die These von der Notwendigkeit eines eigenen Weges der Ostdeutschen Die von den Verfechtern der These einer sich stabilisierenden Transformation behauptete Angleichung der Lebensverhältnisse sei nicht einmal annähernd gelungen, so der Einwand anderer Autorinnen und Autoren, und das Glas sei nicht halb voll, sondern halb leer. Ostdeutschland habe „objektiv keine Chance, den Modernisierungsrückstand gegenüber den westlichen Ländern in einer Generation bzw. in kalkulierbarer Zeit aufzuholen“ Eine „Aufholjagd“ sei nicht nur aussichtslos, sondern wegen der gewaltigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kosten auch unzumutbar Man müsse sich fragen, ob eine schnelle Angleichung überhaupt wünschenswert sei. Kurt Biedenkopf plädiert statt dessen für einen „eigenen Weg“ der neuen Bundesländer. Die Beachtung originär ostdeutscher Entwicklungspotentiale ermögliche die Verbesserung der Lebensbedingungen auch bei nur schwachem Wirtschaftswachstum. Das Angleichungsziel müsse relativiert werden, und ein anderer „Mix von ökonomischen und nichtökonomischen Zielvorstellungen“ sollte entwickelt werden 4. Die These von der Notwendigkeit einer doppelten Modernisierung Die Verfechter dieser Position stellen den eingeschlagenen Modernisierungspfad generell in Frage. Ihre Kritik richtet sich gegen die Einbettung der nachholenden Modernisierung Ostdeutschlands in das Konzept einer weitergehenden Modernisierung Gesamtdeutschlands und das damit verbundene Prinzip einer prinzipiellen „Richtungskonstanz“. Dieter Klein vertritt die Überzeugung, daß der Ansatz einer einfachen Modernisierung angesichts der globalen Gefahren im Zeitalter des Postfordismus zu kurz greift Eine bloße Kopie des westdeutschen Institutionensystems sei angesichts eines verschärften internationalen Wettbewerbs sowie in Anbetracht von Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit und der sich daraus ergebenden Krise der Arbeitsgesellschaft und des Sozialstaates nicht ausreichend. Die Transformation Ostdeutschlands könne nur dann erfolgreich sein, wenn sie als Prozeß einer doppelten Modernisierung stattfinde. Doppelte Modernisierung bedeute, so Klein, die „nachholende Instituierung der evolutionsoffenen Basisinstitutionen der kapitalistischen Moderne einerseits, aber ande-rerseits zugleich Suche nach deren eigenem einschneidenden Wandel“ Dafür sei es zuerst einmal notwendig, den ostdeutschen Fall im Kontext der globalen Entwicklungen zu betrachten. 5. Die These von der Diskrepanz zwischen System und Lebenswelt Die Transformation Ostdeutschlands ist für die Verfechter dieser Position mit dem Institutionen-transfer nicht beendet, sondern es beginnt an dieser Stelle ihre zweite Phase. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Diskrepanz zwischen modernisiertem System und etablierter Lebenswelt. Mit dem Begriff „Lebenswelt“ wird das Alltagswissen der Menschen bezeichnet. Es „stellt einen Fundus an Deutungs-und Handlungsmustern bereit, der je nach systembedingten Herausforderungen aktiviert oder stillgelegt, neu formatiert und zu neuen Figuren des Verhaltens/Handelns gebildet werden kann“ Lebenswelten werden sozial-und kulturgeschichtlich geformt und können sich deshalb nur verhältnismäßig langsam ändern. Die in DDR-Zeiten geprägte Lebenswelt erscheint angesichts des radikal veränderten Systems heute als obsolet, und dies um so mehr, als sich ein „lebensweltlicher Eigensinn“ bemerkbar macht. Dieser Eigensinn kommt in Widerständen gegen den Wandel zum Ausdruck
Rainer M. Lepsius machte bereits früh auf die Lücke zwischen den aus dem Westen übertragenen Institutionen und den biographischen Erfahrungen der Ostdeutschen aufmerksam. „Zunächst . .. bestehen diese Institutionen in relativer Abkopplung von der individuellen Lebenserfahrung und biographischen Identitätsformung der Menschen, und dies um so mehr, als diese von dem-so andersartigen Institutionensystem des SED-Staates geprägt wurden.“ Auf drohende Folgen wies Claus Offe hin, der befürchtete, daß „die in DDR-Gewässer vorgestoßenen institutioneilen Schiffe der BRD dort trockenfallen oder sich festfahren werden“ Für einige Autoren liegt in dieser Diskrepanz zwischen System und Lebenswelt die wesentliche Ursache für die sich verschlechternde Stimmungslage in Ostdeutschland verborgen 6. Die Kompensationsthese Detlef Pollack bezweifelt, daß die wachsende Skepsis der Ostdeutschen gegenüber dem westlichen Institutionensystem und die wieder zunehmende Akzeptanz sozialistischer Ideale nur auf die Sozialisation im SED-Staat zurückzuführen seien. Die veränderten Einstellungen seien vielmehr „eine direkte Folge der erfahrenen Abwertung der DDR-Vergangenheit und der erfahrenen Geringschätzung der ehemaligen DDR-Bürger“ Dies hätte bei der Mehrheit der Ostdeutschen das Gefühl erzeugt, nur „Bürger zweiter Klasse“ zu sein. Mit der schlechteren Beurteilung der westlichen Institutionen solle die eigene Abwertung durch die Westdeutschen kompensiert werden. Der Autor sieht „die Ostdeutschen dabei, eine Sonderkultur aufzubauen mit einem starken Abgrenzungsbedürfnis gegen den Westen, ein ostdeutsches Sonderbewußtsein mit differenten Wertvorstellungen“ Nur die schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse könne diesen Trend umkehren. Die Ostdeutschen seien zu Fremden im eigenen Land geworden, so die Einschätzung von Wolfgang Thierse. In dem Slogan: „Es war doch nicht alles schlecht bei uns in der DDR“ sieht auch er Momente von „trotziger Selbstbehauptung, von unbeholfener Abwehr der Entwertung des Eigenen, der Entwertung der ostdeutschen Lebensleistungen und Biographien“ Helmut Wiesenthal bezieht dieses Argument ebenfalls in die Erklärung des von ihm konstatierten „Unzufriedenheitssyndroms“ in Ostdeutschland ein. „Verletzte Selbstwertgefühle“ seien die Ursache für den „kollektiven Widerspruch“ der Ostdeutschen 1. Modernisierungstheoretischer Diskurs -
eine Zwischenbilanz Charakteristisch für diesen Diskurs ist die Konfrontation zwischen der Auffassung von dem erfolgreich verlaufenen und nahezu beendeten Modernisierungsprozeß Ostdeutschlands und den Thesen über die Risiken und Nebenwirkungen dieser Schocktherapie. Diese Diskrepanz bei der Bewertung der Transformation ist vor allem auf die differierenden theoretischen Basisannahmen und das jeweils verwendete methodische Instrumentarium zurückzuführen.
Die These von der erfolgreichen Transformation basiert auf klassischen modernisierungstheoretischen Annahmen. Der Zusammenbruch der DDR wird auf die Modernisierungsdefizite des real-sozialistischen Regimes zurückgeführt. Die deutsche Einheit fand in der Konsequenz als nachholende Modernisierung Ostdeutschlands statt. Das Forschungsinteresse richtet sich auf den West-Ost-Transfer der westdeutschen, das heißt modernen Basisinstitutionen und dessen in der Regel positive Folgen in Form von gesellschaftlichem Fortschritt und wachsender individueller Wohlfahrt. Die deutsche Einheit wird im wesentlichen als Problem der Systemintegration verstanden -als eine Frage der äußeren Einheit. Die Bewertung des Verlaufs, der Folgen und der Perspektiven des Transformationsprozesses beruht auf mehreren expliziten Kriterien und wird durch internationale Vergleiche gestützt. Insgesamt kommen die Autoren dieser These zu einer positiven Einschätzung, die in dem Fazit vom privilegierten Sonderweg Ostdeutschlands zur Moderne ihren Ausdruck findet.
Die Gegenthesen basieren mehr oder weniger explizit auf den Kritiken an der klassischen Modernisierungstheorie. Hierzu gehören vor allem die Einwände gegen den Universalismus des modernisierungstheoretischen Paradigmas, der zu einer unhistorischen und ethnozentrischen Perspektive verleite. Darüber hinaus wird immer wieder der evolutionäre Determinismus bemängelt. Die Modernisierung, so die Kritiker, sei keine Einbahnstraße zum Fortschritt. Der Ausgang gesellschaftlicher Veränderungen sei vielmehr offen. Ferner wird die Subjektlosigkeit der modernisierungstheoretischen Konzeptionen beklagt.
Die Forschung konzentriert sich vor allem auf die Konsequenzen des Transfers von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaat nach Ostdeutschland. Sie fragt nach den Defiziten sowie nach den politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Folgekosten dieses Prozesses. Die deutsche Einheit wird im wesentlichen als Problem der Sozialintegration verstanden -als eine Frage der inneren Einheit. Die Betrachtung bleibt in den meisten Fällen auf Ostdeutschland beschränkt. Bezüge zur internationalen Transformationsforschung sind nur selten vorhanden. Die Fokussierung auf den ostdeutschen Fall führt mitunter zu einer problematischen Verengung der Perspektive. Die Mehrzahl der Autoren kommt zu vergleichsweise negativen Urteilen des bisherigen Verlaufs und der weiteren Perspektiven der deutschen Einheit.
Das Handeln individueller bzw. kollektiver Akteure und der konkrete Vorgang des Institutionentransfers werden im Rahmen dieser modernisierungstheoretischen Debatte nur am Rande behandelt. In der zweiten großen Diskussionsrunde zur deutschen Einheit, dem akteurstheoretischen Diskurs, wird diesen Problemen mehr Aufmerksamkeit gewidmet.
III. Akteurstheoretischer Diskurs
Das zentrale Thema dieser Debatte ist die Gestaltbarkeit der deutsch-deutschen Transformation. Den Akteuren, ihren Interessen und Strategien, der Rationalität und den Folgen ihres Handelns sowie der Akteursstruktur wird eine überragende Bedeutung beigemessen. Die gemeinsame Annahme der hier versammelten Thesen lautet, daß die Richtung des sozialen Wandels von den Entscheidungen der dominanten Akteure bestimmt wird. Einige Autorinnen und Autoren konstatieren dabei jedoch erhebliche Restriktionen der Steuerbarkeit und verweisen auf die hohe Komplexität, das Informationsdefizit und den Zeitdruck zu Beginn der deutschen Einheit. Diese ungünstige Entscheidungssituation habe die Akteure zu Fehlentscheidungen gezwungen, die ihren eigenen Gestaltungsspielraum immer weiter einschränkten. Andere Autoren sehen nicht in der ungünstigen Entscheidungssituation die Ursache für den aus ihrer Sicht gescheiterten Prozeß der deutschen Einheit, sondern -ganz im Gegenteil -in der umfassenden Realisierung der Interessen der westdeutschen Akteure. Deren Streben nach Besitzstandswahrung bzw.deren Kolonialisierungsabsichten seien die Crux der deutschen Vereinigung. Im folgenden werden die wesentlichen Thesen dieser Debatte skizziert. 1. Die These vom eigendynamischen Verlauf des Transformationsprozesses Gerhard Lehmbruch unterscheidet zwei Phasen der Transformation: einen kurzen Zeitabschnitt der Steuerung und eine darauf folgende Periode der Eigendynamik. In der ersten Phase mußten die wesentlichen Entscheidungen getroffen werden. Die Akteure konnten ihre Handlungsfähigkeit nur durch extreme Vereinfachungen, speziell durch den Rückgriff auf traditionale ordnungspolitische Vorstellungen, gewinnen. Das von der Politik ausgearbeitete Transformationsszenario sei „institutionell unterspezifiziert“ gewesen. Es habe an konkreten Plänen für den weiteren Verlauf der deutschen Einheit gefehlt
Infolgedessen ging die Möglichkeit, den Wandel strategisch zu steuern, weitgehend verloren. Die starke Segmentierung der Politikfelder und die Vielfalt der Partikularinteressen der westdeutschen Akteure verstärkten die Tendenz zur Eigendynamik des Transformationsprozesses.
Vor allem in marktfernen Sektoren konnten sich dabei die Eigeninteressen der westdeutschen Akteure voll entfalten. Lehmbruch verweist hier auf die Entwicklungen in den Bereichen Gesundheits-, Bildungs-und Medienpolitik. Dagegen konnten sich in Sektoren, die stärker den Markt-kräften ausgesetzt waren, neue institutionelle Lösungen entwickeln, die teilweise auf die westdeutschen Gegebenheiten zurückwirken. Die Resultate der deutschen Einheit seien aufgrund der in der zweiten Phase des Wandels verloren-gegangenen Steuerbarkeit alles in allem nur suboptimal ausgefallen 2. Die These von der „Architektur der Unter-komplexität" In ihrer Kritik des Transformationsprozesses radikalisiert Christine Landfried die Einschätzung eines institutionell unterspezifizierten Transformationsszenarios. Sie spricht von einer „Architektur der Unterkomplexität“. Die politische Klasse der Bundesrepublik habe den Prozeß der deutschen Vereinigung mit zu einfachen Konzepten zu lenken versucht. Die Unterkomplexität zeige sich in dem „eindimensionalen Konzept des Institutionen-transfers“ sowie dem „eindimensionalen Zeitverständnis einer kurzfristigen Politik“
Beide Konzepte hätten der tatsächlichen Komplexität, Dynamik und Langfristigkeit des sozialen Wandels in Ostdeutschland nicht gerecht werden können. Die wesentliche Ursache für das Festhalten der politischen Klasse an diesen Leitbildern sieht die Autorin in deren Interesse an Besitzstandswahrung. Es sei ihnen weitgehend gelungen, die Institutionen und Spielregeln der alten Bundesrepublik unangetastet zu lassen. Dies könne jedoch nicht als Erfolg verbucht werden. Es zeuge vielmehr von der mangelnden Lernfähigkeit des Systems, die langfristig zu einer schweren Krise führen könnte. Kurzfristig habe sich diese Transformationspolitik bereits als desintegrierend • erwiesen . 3. Die These von den nichtintendierten Folgen politischen Handelns In seinen Beiträgen entwirft Wolfgang Seibel ein Modell der Pfadabhängigkeit. Für den Beginn der Transformation in Ostdeutschland, so seine These, waren „radikale Problemvereinfachung und politische Komplexitätsreduktion“ charakteristisch Die daraus resultierenden politischen Entscheidungen hätten zu nichtintendierten wirtschaftlichen und sozialen Folgen geführt, die den Entscheidungsspielraum der Akteure zunehmend einschränkten.
Als größte Fehlleistung der westdeutschen Transformationspolitik betrachtet Seibel die Währungsunion. Der im Vergleich zur tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unangemessene Umtauschkurs habe in Ostdeutschland zu einem wirtschaftlichen Kollaps geführt. Drei wesentliche Entscheidungen seien in der Folgezeit hiervon beeinflußt worden: die Zustimmung der Regierungskoalition zu der von den Gewerkschaften präferierten Hochlohnpolitik, die Entscheidung für die sofortige Übertragung des westdeutschen Systems der sozialen Sicherung und die Entscheidung für eine schnellstmögliche Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft. Jede dieser Entscheidungen hatte ihrerseits weitreichende Implikationen. Die Transformationspolitik habe wirtschaftliche und soziale Folgen hervorgebracht, mit denen man nicht nur nicht gerechnet habe, so Seibel, sondern die dem anvisierten Ziel politischen Handelns diametral entgegengesetzt seien. Die politischen Akteure hätten sich an den Leitmustern des Nationalstaates sowie des Wohlfahrts-und Sozialstaates deutscher Prägung orientiert. „Es waren die nicht-intendierten Folgen dieser Leitorientierung, die ihre Wohlfahrts-und sozialstaatliche Komponente in ihr Gegenteil umschlagen ließen.“ 4. Die These von der „Externalisierung der Politik“
Für bemerkenswert an der deutschen Transformationspolitik halten Autoren wie Seibel die „Elastizität sowohl der Konsensbildungsprozesse als auch der institutioneilen Differenzierung, die zur Bewältigung der nicht-intendierten wirtschaftlichen und sozialen Folgen ...den entscheidenden Beitrag geleistet haben“
Diese Einschätzung wird von Klaus Müller nicht geteilt. Er kritisiert in seinen Beiträgen vor allem die Inflexibilität der politischen Akteure. Ihr starres Festhalten an der Vision einer durch die Marktwirtschaft forcierten Modernisierung habe eine Reihe unbeabsichtigter wirtschaftlicher Folgen verursacht. Da die Politik ihre Entscheidungen als ökonomische Sachzwänge ausgegeben habe, konnte sie „die Folgeprobleme ihrer eigenen Entscheidungen nicht mehr politisch verarbeiten, sondern nur noch auf dafür im Grunde nicht zuständige Institutionen und Verbände externalisieren“ Die Externalisierung -Verlagerung -von Politik brachte eine „rückwirkende Dynamik“ hervor, „welche die für den relativen Erfolg des westdeutschen Modells angeführten Kompromißstrukturen durch Überbeanspruchung erodiert“ 5. Die These von den verpaßten Reformen Gegen die Thesen von der Eigendynamik bzw.der Pfadabhängigkeit behauptet Klaus von Beyme, daß der Staat in einer Reihe von Politikfeldern, beispielsweise der Arbeitsmarktpolitik, der Schulpolitik, der Finanzpolitik und Rechtspolitik sowie der Verfassungspolitik, relativ wirksam steuern konnte Überlagert werde diese Tatsache jedoch von den überaus erfolgreichen Steuerungsbemühungen parastaatlicher bzw. verbandlicher Akteure. In diesem „Steuerungschaos“ seien „Innovationen nicht zu erwarten“ gewesen. Notwendige Reformen seien nicht durchgeführt, die Chancen für neue Lösungen verpaßt worden. Bei allem Bedauern über die verpaßten Reformen kommt von Beyme dennoch zu dem optimistischen Schluß, daß die deutsche Einheit wie die Geschichte der Alt-Bundesrepublik zu einer „Erfolgsstory“ werden könne
Deutlich schärfer beklagt Wolf Lepenies die Folgenlosigkeit der deutschen Einheit für Westdeutschland. Die politische Klasse der alten Bundesrepublik habe aus der Vereinigung ein „Festival der Selbstbestätigung“ gemacht. Verantwortlich hierfür seien jedoch auch die Ostdeutschen, die mit ihrem Politikverzicht die westliche Dominanz zugelassen hätten. Die Ursache für diesen Verzicht sieht Lepenies in der Überpolitisierung und Übermoralisierung des DDR-Regimes 6. Die Kolonialisierungsthese Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar vertreten die These von der Kolonialisierung Ostdeutschlands. Es sei das Kalkül der westdeutschen Akteure gewesen, Ostdeutschland zu kolonialisieren. Die Autoren stützen ihre These auf die Beobachtung von vier „kolonialistischen Strukturelementen“: 1. Die Versuche einer Reform Ostdeutschlands wurden von westlicher Seite ignoriert. 2. Die DDR-Wirtschaft wurde durch die zu schnelle Währungsunion ruiniert. 3. Alle Entscheidungszentren wurden unter westliche Kontrolle gebracht. 4. Die Menschen seien von dem Umbruch, insbesondere von der Geschwindigkeit und der westlichen Dominanz, überwältigt worden. Ostdeutschland sei von westdeutschen Akteuren politisch unterworfen, ökonomisch kolonialisiert und soziokulturell liquidiert worden
Die These von der Kolonialisierung Ostdeutschlands wird äußerst kontrovers diskutiert. Der Begriff der Kolonialisierung, so führt beispielsweise Bernhard Schäfers aus, treffe „weder die Einstellung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern, noch berücksichtige er die von den Bürgern Westdeutschlands aufgebrachten Transferzahlungen“ 7. Akteurstheoretischer Diskurs -eine Zwischenbilanz Diese Debatte ist geprägt vom Nebeneinander akteurstheoretischer Konzeptionen und (neo-) institutionalistischer Ansätze. Das allen Thesen gemeinsame Leitmotiv ist die Gestaltbarkeit des Vereinigungsprozesses.
Die Beiträge sind zumeist auf einzelne Aspekte der Vereinigung beschränkt: auf die Nutzung von Reformchancen oder die Interessenpolitik der Akteure. Die außenpolitische Dimension der Wiedervereinigung wird zumeist ausgeblendet. Trotz deutlicher Warnungen ist diese „zweite Arena der deutschen Einheit“ offenbar in Vergessenheit geraten Das Handeln nichtpolitischer Akteure wird nur vereinzelt konzeptionell berücksichtigt. In den meisten Beiträgen ist die Perspektive zudem auf westdeutsche Eliten verengt. Ostdeutsche Akteure, beispielsweise die ostdeutschen Bürgerbewegungen, kommen kaum vor. Die Ursache hierfür mag in der faktischen Dominanz der westdeutschen Eliten liegen, die jedoch ohne die Berücksichtigung der ostdeutschen Akteure nur unzureichend erklärt werden kann.
Einige Beiträge beruhen auf recht fragwürdigen Annahmen. So wird bei der These von der „Architektur der Unterkomplexität“ die deutsche Einheit als komplexer, dynamischer und langfristiger Prozeß beschrieben. Andererseits wird angenommen, daß man diesen Vorgang, die „richtigen“ Politikkonzepte vorausgesetzt, umfassend hätte steuern können. Die realen Steuerungsleistungen werden angesichts dieser Steuerungsillusion unterschätzt. Die kolonialisierungstheoretische These behauptet dagegen, daß die westdeutschen Akteure ihre „Kolonialisierungsabsichten“ in die Praxis umsetzen konnten. Hierbei werden die tatsächlichen Steuerungsleistungen offensichtlich überschätzt.
Die Bewertung der Vereinigung fällt überwiegend negativ aus: Die Politik habe in der Anfangsphase der Wiedervereinigung versagt. Durch Fehlentscheidungen. beispielsweise bei der Festlegung des Umtauschkurses, habe sie ihren bereits schmalen Handlungsspielraum noch weiter eingeengt. Eigendynamiken und Pfadabhängigkeiten seien für den weiteren Verlauf der deutschen Einheit charakteristisch gewesen, strategische Glanzleistungen habe es keine gegeben. Die veralteten und ungeeigneten Politikentwürfe hätten zu nicht-intendierten ökonomischen und sozialen Folgen geführt. Wenn erfolgreich gesteuert worden wäre, dann hätten diese Bemühungen ausschließlich der Realisierung des jeweiligen Eigeninteresses etc. gedient. Doch nicht alle Beiträge ergehen sich in dieser massiven Kritik. Vereinzelt finden sich auch verhaltene Hoffnungen auf eine Neuauflage der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte.
IV. Resümee
Wenn man die vielen Thesen zur deutschen Einheit nur flüchtig überblickt, dann scheint die Diskussion hinreichend innovativ, theoretisch ausgewogen und in ihrem Urteil realistisch zu sein. Dieser Eindruck ist jedoch falsch. Die Schwach-punkte der Diskussion lassen sich mit drei Stichworten benennen: Spaltung, Isolation und Negativ-perspektive.
Bei der Spaltung der Diskussion in zwei separate Debatten handelt es sich nicht nur um eine durch die Medien verzerrte Wahrnehmung von Extrem-positionen Aus der Tradition der Transformationsforschung haben sich tatsächlich zwei separate Diskurse entwickelt. In der einen Debatte zieht eine markante Modernisierungsposition eine Schar kritischer Entgegnungen auf sich; die andere Diskussion verharrt in ihrer Fokussierung auf die westdeutsche Elite und reibt sich gelegentlich an nahestehenden institutionentheoretischen Thesen. Die beiden Diskurse sind weitgehend voneinander abgeschirmt. Theoretische Positionen dazwischen blieben bisher unbesetzt. Strukturalistische Ansätze sind Ausnahmeerscheinungen geblieben und konnten die von ihnen erhoffte Brückenfunktion nicht erfüllen
Die Isolation der sozialwissenschaftlichen Diskussion zur deutschen Einheit läßt sich auf zwei Ebenen beobachten: einer methodischen und einer diskursiven Ebene. Es ist offensichtlich, daß die Mehrheit der Thesen auf Ostdeutschland beschränkt sind. Nur ein kleiner Teil nimmt auch die Entwicklungen in Westdeutschland in den Blick. International vergleichende Studien sind kaum vorhanden. Man mag einwenden, daß die Besonderheit des deutschen Falles diese Fokussierung erlaubt oder sogar erfordert. Daß es sich bei der deutschen Wiedervereinigung um einen privilegierten Sonderfall handelt, wird aber erst in komparativen Analysen deutlich. Die methodische Enge geht mit einer diskursiven Isolation einher: hier die Diskussion zur deutschen Einheit -dort die Debatte zur Transformation der anderen ehe-maligen Ostblock-Länder. Ungeachtet der gemeinsamen Wurzeln in der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung nehmen sich die jeweiligen Vertreter beider Diskurse gegenseitig kaum wahr.
Die beiden hier kritisierten Momente, ihre Spaltung und ihre Isolation, führen zu einer Negativ-perspektive der sozialwissenschaftlichen Debatte zur deutsch-deutschen Transformation. Zwar finden sich neben den vielen negativen Bewertungen auch positive Einschätzungen. Alles in allem werden der Verlauf, die Folgen und die Perspektiven der deutschen Einheit jedoch negativ überzeichnet. Besonders deutlich wird dies an der Diskussion um die Gestaltbarkeit des Transformationsprozesses. Hier dominieren klar die kritischen Thesen. Breiter konzipierte Analysen, die beispielsweise neben der Steuerbarkeit auch andere Bewertungskriterien wie die Geschwindigkeit des sozialen Wandels, die Verarbeitung der sozialen Folgen oder die Konsistenz der gefundenen institutioneilen Gesamtlösung beachten, kommen zu günstigeren Urteilen, zumal wenn sie vergleichend angelegt sind.
Die selektive Wahrnehmung der sozialwissenschaftlichen Bilanzen zur deutschen Einheit und ihre „weitgehende öffentliche Wirkungslosigkeit“ mag man bedauern Problematischer sind jedoch die bisher ungenutzten Potentiale theoretischer Innovationen. Doch sind weder diese realen gesellschaftlichen Umbrüche beendet, noch hat die Wissenschaft das Ende ihrer Bemühungen signalisiert.
In welche Richtung wird sich die sozialwissenschaftliche Forschung zur deutschen Vereinigung entwickeln? Hier zeichnen sich zwei Trends ab: Internationalisierung und Regionalisierung. Erstens ist eine Tendenz der Internationalisierung, vor allem jedoch einer Europäisierung festzustellen. International vergleichende Studien werden einige Extrempositionen zur deutschen Wiedervereinigung relativieren. Es bleibt zu hoffen, daß der Anschluß an die Dikussion der internationalen Transformationsforschung gelingt. Die zweite Entwicklung ist zweifellos in einer zunehmenden Regionalisierung zu sehen In dem Maße, wie die Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland überwunden werden, geraten neue Differenzen auf der Ebene der Bundesländer in den Blick.
Beide Perspektiven -Internationalisierung und Regionalisierung -schließen einander nicht aus. In der Verbindung von international vergleichenden und regional fokussierenden Studien könnte das zukünftige Innovationspotential der Transformationsforschung liegen.