I. Fahnenaufzug in Bonn
Fünf Tage verbrachte der Partei-und Staatschef der DDR, Erich Honecker, im September 1987 in Bonn und in vier Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Seine Reise von der Spree an den Rhein -und weiter an Mosel, Saar und Isar -galt vielen als die Ratifikation der deutschen Teilung, als Besiegelung deutscher Doppelstaatlichkeit, letzte Konsequenz des weltweiten Machtkonfliktes zweier Staaten-Allianzen und zweier Sozialsysteme. Doch zwei Jahre und zwei Monate später war alles ganz anders.
Am Vormittag des 7. September 1987 stand Erich Honecker neben seinem Gastgeber, Bundeskanzler Helmut Kohl, vor dessen Amtssitz -der Kommandeur des Bonner Wachbataillons wandte sich salutierend an den ersten Mann des anderen deutschen Staates: „Exzellenz, ich melde: Eine Ehrenformation der Bundeswehr zu Ihrer Begrüßung angetreten.“
Die Fahnen beider Staaten waren aufgezogen, und Stabsmusiker der Bundeswehr intonierten die beiden Hymnen. Mit den Texten ihrer Hymnen taten sich die Deutschen schwer: Jene im Westen waren gehalten, lediglich die dritte Strophe ihres Deutschlandliedes bei staatlichen Veranstaltungen zu singen, denn die erste -„Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“ -war Nachbarn schwerlich zuzumuten, zu deren Territorien die besungenen Gewässer zählten; auch hatte kein parlamentarisches Mehrheitsvotum, kein ordentlich beratenes und beschlossenes Gesetz die dritte Strophe -„Einigkeit und Recht und Freiheit“ beschwörend -zur Hymne der Bundesrepublik Deutschland gemacht. Das war 1952 so zwischen Kanzler und Präsident -zwischen Konrad Adenauer und Theodor Heuss -in einem Briefwechsel festgelegt worden, über dessen Relevanz Staats-und Verfassungsrechtler grübeln mochten.
Die Hymne der DDR -von Johannes R. Becher geschrieben, von Hanns Eisler vertont -rühmte ein „Deutschland, einig Vaterland“, von dem die in der DDR Herrschenden seit Anfang der siebziger Jahre nichts mehr wissen wollten. So hatten sie 1972 im August verfügt, daß Eislers Melodie gespielt, aber Bechers Text verschwiegen werde. Und die Fahnen, die sich da am Vormittag des 7. September 1987 vor dem Bundeskanzleramt über den Köpfen einer großen Journalistenschar im Wind bewegten -sie hätten zwei Jahrzehnte zuvor im westlichen Deutschland nicht nebeneinander wehen dürfen: Die Polizei wäre verpflichtet gewesen, unverzüglich zu entfernen, was man in Bonn die „Spalterfahne“ nannte. Als beide Staaten 1949 gegründet wurden, wählten sie beide die Farben des demokratischen Deutschlands, die schon beim Hambacher Fest 1832 und sechzehn Jahre später über den Barrikaden im revolutionären Berlin geweht hatten -Schwarz-Rot-Gold. Im Dezember 1955 gab sich die DDR ein Staatswappen -Hammer und Zirkel, umgeben von einem Ährenkranz und einem Fahnenband; das sollte drei staatstragende Kräfte symbolisieren -die Arbeiter, die Intelligenz, die Bauern. Im Herbst 1959 beschloß die DDR-Volkskammer, daß dieses Wappen in die schwarz-rot-goldene Staatsflagge einzufügen sei, um, wie es hieß, „die Position der DDR als deutscher Friedensstaat auch äußerlich zu kennzeichnen und uns klar von den militaristischen Bestrebungen in Bonn abzugrenzen“
West-Berlin wurde daraufhin zum Schauplatz eines Flaggenstreits, bei dem sich etliche Beteiligte blutige Nasen holten: Am 7. Oktober 1959 feierte die DDR den 10. Jahrestag ihrer Gründung -ihre neue Fahne ließ sie nicht nur auf ihrem eigenen Gebiet, sondern auch auf dem von ihrer „Deutschen Reichsbahn“ verwalteten S-Bahn-Gelände in den Westsektoren Berlins aufziehen. Der Berliner Senat mit dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt an der Spitze gab der Polizei Anweisung, die schwarz-rot-goldenen Tücher mit Hammer und Zirkel überall dort, wo man ihrer habhaft werden konnte, einzuziehen. In den Reichsbahn-Ausbesserungswerken Tempelhof und Schöneberg stellten sich Eisenbahner den Polizisten gewaltsam in den Weg. Steine flogen, fünf West-Berliner Beamte wurden verletzt. Die drei westlichen Stadtkommandanten protestierten bei ihrem sowjetischen Kollegen in Ost-Berlin -mit dem 1 Ergebnis, daß die DDR-Fahnen am Abend des 8. Oktober wieder vom S-Bahn-Gelände verschwanden. Und als der nächste Anlaß, Flagge zu zeigen, näher rückte -der Jahrestag der russischen Revolution -und mancher in West-Berlin neue Zwischenfälle befürchtete, gab sich das SED-Zentral-organ „Neues Deutschland“ gelassen: „Zum Provozieren gehören immer zwei: Einer, der provoziert, und einer, der sich provozieren läßt. Brandts Bürgerkrieg findet nicht statt.“ Der Einspruch der westlichen Mächte zeigte Wirkung.
Das Zeigen der „Zonenflagge“ sei ein Verstoß gegen Verfassung und öffentliche Ordnung und daher durch polizeiliche Maßnahmen zu verhindern, erklärten die Innenminister von Bund und Ländern Ende Oktober 1959. Von einem gesetzlichen Verbot nahmen sie allerdings Abstand: Sie wollten sich nicht einem selbstgesetzten Zwang unterwerfen, die neue Flagge von See-und Binnenschiffen der DDR zu entfernen, sobald Hammer und Zirkel innerhalb der Hoheitsgewässer der Bundesrepublik auftauchten. Die Schiffsbeflaggung bezeichne nur die Herkunft und sei nicht als politische Demonstration zu werten, befanden die Minister. Der Präsident des Deutschen Sportbundes, Willy Daume, mahnte zudem, mögliche Konsequenzen eines allzu strikten Fahnen-Verbots für internationale Wettkämpfe zu bedenken; zu dieser Zeit hatten die meisten internationalen Sportverbände die DDR bereits als gleichberechtigtes Mitglied anerkannt.
II. Das Ende des Flaggenstreits
Zehn Jahre später entschloß sich die sozialliberale Regierung des Kanzlers Brandt, die Staatlichkeit der DDR nicht länger in Frage zu stellen. Das Kabinett verfügte im Einvernehmen mit den Ländern, daß die Polizei nirgendwo mehr gegen die Verwendung von Flagge und Wappen der DDR einschreiten sollte. Verteidigungsminister Helmut Schmidt wies 1971 die Bundesmarine an, sich bei Begegnungen mit Schiffen der DDR-Volksmarine an das international übliche Flaggen-und Gruß-zeremoniell zu halten.
Und kurz vor Beginn der Olympischen Spiele 1972 fragte das Allensbacher Institut für Demoskopie einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung im westlichen Deutschland: „Stört es Sie, daß in München die DDR-Fahne gezeigt und die DDR-Hymne gespielt werden, oder stört es Sie nicht?“ 66 Prozent der Befragten versicherten, es störe sie nicht. 21 Prozent fühlten sich gestört. 13 Prozent mochten sich nicht entscheiden.
Daß bei einem Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik Fahnen mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz wehen würden, war längst unstrittig. Aber lange Zeit erschien ungewiß, ob der Staatsratsvorsitzende tatsächlich bis nach Bonn -ins Kanzler-und ins Präsidialamt -geleitet werden sollte. Als 1970 zum ersten Mal die Regierungschefs beider deutscher Staaten, Willy Brandt und Willi Stoph, zusammengetroffen waren -zuerst in Erfurt, dann in Kassel -, hatten sie die Orte gemieden, an denen sie gemeinhin Amtsakte vollzogen und Staatsgäste empfingen -der Streit um den Status Ost-Berlins machte Umwege nötig. 1981 besuchte Brandts Nachfolger Helmut Schmidt zum ersten Mal den ersten Mann der DDR -doch wiederum nicht in dessen „Hauptstadt“, sondern am Werbellin-und Döllnsee nahe der brandenburgischen Uckermark -nordöstlich von Berlin. Im Kommunique des dreitägigen Treffens las man, Honecker habe die Einladung zu einem Gegenbesuch in der Bundesrepublik Deutschland dankend angenommen, der Termin werde später vereinbart werden. Daß dieser Termin länger als fünf Jahre auf sich warten lassen sollte, konnten die Beteiligten 1981 noch nicht absehen.
Bei der Eröffnung der Leipziger Frühjahrsmesse 1982 war Honecker zuversichtlich: Er nehme an, sagte er den Journalisten, daß er noch im laufenden Jahr in die Bundesrepublik reisen werden, und dort wolle er selbstverständlich einige Städte besuchen, die ihm lieb und teuer seien -seinen Geburtsort Wiebelskirchen, nun eingemeindeter Teil des saarländischen Neunkirchen, und Trier, die Stadt, in der Karl Marx zur Welt gekommen war. Von Bonn als wichtigster Etappe der Reise-route war weiterhin nicht die Rede. Stattdessen spekulierten Journalisten, Kanzler Schmidt werde den Staatsratsvorsitzenden in Hamburg empfangen -gegen Ende des Jahres, wenn dort eine Schinkel-Ausstellung der DDR ihre Pforten öffne und ohnehin die Fertigstellung der neuen Autobahn von Berlin nach Hamburg gebührend zu feiern sei. Doch bevor dergleichen Pläne reiften, war die sozialliberale Koalition am Ende.
III. Die erneute Einladung
Schmidts Nachfolger Helmut Kohl erneuerte die Einladung an Erich Honecker. Nachdem die Wähler im westlichen Deutschland der neuen Koalition von CDU/CSU und FDP Anfang März 1983 eine starke parlamentarische Mehrheit verschafft hatten, nutzte Honecker erneut das Forum der Leipziger Frühjahrsmesse, um freundliche Signale nach Bonn auszusenden: Über manches könne man sich ja streiten, doch besser sei es, auf den Gebieten zusammenzuarbeiten, die dazu die Möglichkeit böten.
Fünf Wochen später -am 16. April 1983 -überfiel die „Berliner Morgenpost“ ihre Leser mit der Schlagzeile: „Transit-Reisender von DDR’-Posten erschlagen“. Das Blatt, ein Erzeugnis des Springer-Verlages, der nach wie vor bei den drei Buchstaben DDR auf die Anführungszeichen nicht verzichten mochte, wußte zu berichten, daß ein 45jähriger Berufskraftfahrer in einer Verhörbaracke des DDR-Kontrollpunktes Drewitz -an der Grenze zu West-Berlin also -den Tod gefunden habe. Wie sich später herausstellte, hatte der Mann in einer Raststätte auf der Transitstrecke einen Verwandten getroffen und ihm ein Geschenk übergeben. Das hatten Späher des Staatssicherheitsdienstes bemerkt. Der Reisende wurde in Drewitz deswegen verhört, und dabei erlitt er einen schweren Herzinfarkt. Der Sterbende fiel vom Stuhl und schlug -so die Aussage der ihn vernehmenden DDR-Zöllner -auf einen Heizkörper und den Fußboden auf. Die DDR informierte die Bundesregierung und lieferte den Leichnam an die Familie aus. Die Witwe -ungläubig, daß den 45jährigen ein so jäher Herztod ereilt haben sollte, -sah am Kopf des Toten Verfärbungen und Abschürfungen, die sie auf äußere Gewaltanwendung zurückführte, und die „Berliner Morgenpost“ gab ihrer Anklage breiten Raum: Sie klagte die DDR an, ihren Mann, den Vater dreier Kinder, umgebracht zu haben. Es sei skandalös, daß der Westen in das DDR-Regime Unsummen hineinpumpe, ganze Autobahnen finanziere und seine Bürger dann auch noch schikanieren und zu Tode quälen lassen müsse.
So war der Ton angeschlagen, der tagelang den Blätterwald rauschen ließ. Berlins Innensenator Heinrich Lummer (CDU) war sogleich zur Stelle -mit dem Satz, es sei nicht nur ein Fall für die Transitkommission, wenn sich denn bestätige, daß Foltermethoden angewandt worden seien. Auch Bayerns Ministerpräsident Franz Josef Strauß machte sich die Mord-These zunächst zu eigen, während Bundeskanzler Kohl in einem Telefongespräch mit Honecker die rasche und vollständige Klärung des Sachverhaltes anmahnte. Es sei durch die Vorgänge in Drewitz eine sehr ungute Lage entstanden, sagte der Kanzler: „Aber ich will nicht, daß aus dieser Lage insgesamt negative Perspektiven entstehen.“
Die DDR lud einen Hamburger Gerichtsmediziner zum Lokaltermin in jene Drewitzer Verhörbaracke; der Wissenschaftler kam zu dem Ergebnis, es liege ein Fall von Herztod vor, bei dem kein Verdacht einer Fremdeinwirkung bestünde. Das Gutachten des Hamburger Universitätsinstituts für Gerichtsmedizin bewog die zuständige Staatsanwaltschaft, die inzwischen eingeleiteten Ermittlungen einzustellen: kein Mord, kein Totschlag, keine Körperverletzung mit Todesfolge Die DDR ließ wissen, daß allein im Vorjahr -1982 -auf ihrem Territorium bei Besuchs-und Transitreisen 241 Bundesbürger gestorben seien -158 davon an Herzversagen, die anderen bei Verkehrsunfällen oder wegen altersbedingter Erkrankungen. In Bonner Ministerien war seit dem Inkrafttreten des Transitvertrages 1972 kein Fall einer „Verdachtskontrolle“ bekannt geworden, bei dem DDR-Organe folterähnliche Verhörmethoden angewandt hatten. Einige Zeit später erwähnte Honekker bei einer Begegnung mit dem SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel, jährlich stürben etwa 250 DDR-Bürger bei Reisen ins westliche Deutschland, und das sei nur natürlich bei einer Gesamtzahl von 1, bis 2 Millionen Reisenden aus der DDR; was das „bedauerliche Ereignis in Drewitz“ angehe, so treffe „keine Seite eine Schuld“ 5.
Ende April 1983 teilte ADN, die Nachrichtenagentur der DDR, mit, Honecker sehe sich „auf Grund der durch die BRD entstandenen Lage in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, wie sie auch in verschiedenen Pressekommentaren zum Ausdruck kommt, nicht in der Lage“, die Bundesrepublik zu besuchen Im „Neuen Deutschland“ lautete eine Überschrift am 29. April: „Scharfmacher der CSU und Springer-Presse sind verantwortlich!“
Der Mann, den die DDR viele Jahre lang als den schlimmsten Scharfmacher unter den Deutschen, als „Kalten Krieger“, als Erzreaktionär angeprangert hatte, Franz Josef Strauß, traf im Juli 1983 mit Erich Honecker im Jagdschloß Hubertusstock am Werbellinsee zusammen: „Freimütig“ sei der Meinungsaustausch zwischen beiden gewesen, berichtete ADN: „Trotz unterschiedlicher Auffassungen zu bestimmten Problemen wurde die Nützlichkeit des politischen Ost-West-Dialogs gerade in einer komplizierten Weltlage unterstrichen.“
IV. Juristische Bedenken
Diesen Dialog aus juristischen Fesseln zu lösen, die in einer Zeit massiver Konfrontation geflochten worden waren, hielten Kanzleramt und Parlamentsausschüsse für geboten. Seit dem Herbst 1961 sammelte die Zentrale Erfassungsstelle der Länderjustizministerien im niedersächsischen Salzgitter Informationen über die Verletzung von Menschenrechten in der DDR. 1966 hatte der Bundestag ein Gesetz über die zeitweilige Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit beschlossen -die Sozialdemokraten mühten sich zu dieser Zeit um einen Redneraustausch mit der SED. Deren Abgesandte sollten nicht Gefahr laufen, im westlichen Deutschland festgenommen und vor Gericht gestellt zu werden -wegen ihres Verhaltens in der DDR. Die DDR wertete den Vorgang -und die ihm zugrundeliegende westliche Rechts-auffassung -als einen Akt „juristischer Aggression“ und nannte die vom Bundestag beschlossenen Ausnahmeregeln ein „Handschellengesetz“. Es bot ihr einen Anlaß, sich dem geplanten Redneraustausch zu entziehen.
Achtzehn Jahre danach -im März 1984 -las man in der Tageszeitung „Die Welt“: „Sollten SED-Chef Erich Honecker und Mitglieder der SED-Führung im Herbst dieses Jahres auf Einladung von Bundeskanzler Helmut Kohl die Bundesrepublik besuchen, so könnte es passieren, daß . irgendein wildgewordener Staatsanwalt 1 -so ein Bonner Regierungsmitglied -gegen den Repräsentanten der DDR’ wegen des Schießbefehls an der Mauer und der Demarkationslinie Mordanklage erhebt und Honecker verhaften lassen will.“ Nach dem Willen der Regierung sollte das Parlament das Gerichtsverfassungsgesetz nun möglichst geräuschlos ändern, um die erwartete DDR-Delegation gegen übereifrige Staatsanwälte abzuschirmen. „Die Welt“ zitierte Anmerkungen eines Kabinettsmitgliedes, das ungenannt bleiben wollte: „Kanzler Kohl kann nicht auf Versöhnung machen und Strauß kann sich nicht als Oberzampano der deutsch-deutschen Verhältnisse präsentieren, wenn man Herrn Honecker mit der Unsicherheit einreisen läßt, daß er aufgrund des Schießbefehls an der Mauer oder auf Grund der Verhältnisse in den DDR-Zuchthäusern des Mordes angeklagt wird.“ Wäre Honecker im Verständnis seiner Gastgeber ein Ausländer gewesen, dann hätte man die Regeln diplomatischer Immunität und Exterritorialität auf ihn anwenden können, aber nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum deutsch-deutschen Grundlagenvertrag aus dem Jahre 1973 war der Staatsratsvorsitzende der DDR deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Bonner Grundgesetzes, und so ließen sich die Bonner Gesetzgeber im Einvernehmen mit den Ländern eine Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes einfallen, wonach sich die deutsche'Gerichtsbarkeit nicht auf jene Repräsentanten anderer Staaten und deren Regierung erstreckte, die auf Einladung der Bundesregierung im Lande weilten.
Damit war aber der Vorbehalt noch nicht ausgeräumt, der die Frage nach der Funktion Ost-Berlins als DDR-Hauptstadt berührte: Um dem Kanzler einen späteren Besuch Ost-Berlins zu ersparen, müsse, so hieß es 1984 immer wieder in Bonner Regierungskanzleien, Honeckers Einzug in die rheinische Bundeshauptstadt vermieden werden. Da traf es sich vortrefflich, daß in der Villa Hammerschmidt, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, größere Umbauten und Renovierungen fällig waren. Richard von Weizsäcker hätte Erich Honecker in einem gerade verfügbaren Ausweichquartier willkommen heißen können -im Brühler Jagdschloß Falkenlust, nicht im benachbarten Schloß Augustusburg, das sonst für Bonner Staats-empfänge taugte. Der DDR schien’s recht zu sein.
V. Entwürfe eines Besuchsprogramms
Im Juli 1984 nahm das Besuchsprogramm dann jedoch konkrete Gestalt an: Erich Honecker sollte danach am 26. September von Schönefeld nach Frankfurt am Main fliegen, dort vom Bundeskanzler mit dem international üblichen Protokoll und einem -dem geplanten „Arbeitsbesuch“ angemessenen -kleinen militärischen Zeremoniell begrüßt werden, um anschließend mit Helmut Kohl in dessen rheinland-pfälzische Heimat -nach Bad Kreuznach -zu fahren. Dort, wo 1958 schon einmal Konrad Adenauer mit Charles de Gaulle konferiert hatte, sollte der DDR-Delegation das Kurhaus-Hotel bis zum Morgen des 28. September als Residenz dienen für die Dauer der politischen Gespräche mit dem Kanzler und dessen Begleitern. Für den 28. September war Honeckers Besuch im saarländischen Neunkirchen und im Trierer Karl-Marx-Haus vorgesehen. Die Nacht zum 29. September sollte er in Schloß Gymnich, vor den Toren Bonns, verbringen, dann dem Bundespräsidenten und anderen Politikern -auch denen der Opposition -in Brühl begegnen, auf Einladung der Krupp-Stiftung nach Essen reisen und schließlich am 30. September dem bayeri-sehen Ministerpräsidenten Strauß seine Aufwartung machen -mit anschließendem Abstecher ins ehemalige Konzentrationslager Dachau. Bei Philipp Jenninger, dem Staatsminister im Bundeskanzleramt, lag die Federführung für die Vorbereitung des Besuchs, doch dem rechten Flügel der Union war das alles nicht geheuer.
Und auch aus Moskau waren zunehmend kritische Töne zu vernehmen. Im Zeichen eines eisigen Klimas zwischen den Supermächten entdeckten sowjetische Zeitungen in der Bereitschaft Bonns zur Stationierung neuer amerikanischer Raketen den „deutschen Revanchismus“ wieder, von dem sie in den siebziger Jahren kaum noch geredet hatten.
Alfred Dregger, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, antwortete der Tageszeitung „Die Welt“ auf die Frage, wie er östliche Breitseiten gegen Bonn bewerte: „Mit Gelassenheit. Unsere Zukunft hängt nicht davon ab, daß Herr Honecker uns die Ehre seines Besuches erweist.“ Im übrigen seien die Verhältnisse in Deutschland noch nicht so, daß sie auf höchster protokollarischer Ebene gefeiert werden könnten. Als die Bundesregierung von Dreggers Äußerung abzurücken suchte, schob der Fraktionsvorsitzende der Union ein zweites Interview nach, in dem er davor warnte, Honecker zu einem Besuch zu drängen, der auf eine große Aufwertung des Generalsekretärs und seiner DDR hinauslaufe. „Herr Dregger wußte, was er tat“ -so überschrieb das SED-Zentralorgan am 25. August 1984 seinen Kommentar, in dem es zu den Äußerungen des als strikt konservativ geltenden CDU-Politikers hieß: „Seine skandalösen und provozierenden Ausfälle gegen einen etwaigen Besuch des Staatsoberhauptes der DDR in der BRD sind unerhört.“ „Über geschwätzigen Dilettantismus und den dahinter verborgenen Widerstand eines Teils der Unionsparteien“ beklagte sich der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, derweil in München Franz Josef Strauß erklärte: „Es war nicht ohne Grund, daß ich vor Wochen schon mehrmals vor schädlichem und überflüssigem Gerede über den Honecker-Besuch gewarnt habe.“
Am 4. September suchte der Ständige Vertreter der DDR in Bonn, Ewald Moldt, den Staatsminister Jenninger auf, um die vorläufige Absage aller Besuchspläne zu begründen: „Es erweist sich, daß Stil und öffentliche Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit diesem Besuch äußerst unwürdig und ihm abträglich sowie im Verkehr zwischen souveränen Staaten absolut unüblich sind.“ Zwar deutete vieles darauf hin, daß nicht vorrangig Alfred Dreggers öffentliches Räsonnieren, sondern vor allem Einwände aus Moskau die Ost-Berliner Partei-und Staatsführung dazu bewogen hatten, erst einmal auf ein Unternehmen zu verzichten, an dem Honecker selbst sehr gelegen war -auch aus innenpolitischen Gründen. So versicherte er japanischen Parlamentariern, die sich gerade in Ost-Berlin aufhielten, er bleibe bei seinen Reiseplänen, indessen gäbe es noch offene Fragen: „Mein Besuch muß fruchtbare Ergebnisse erbringen.“ Des Streites um protokollarische Details überdrüssig, gab die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion noch im September 1984 zu verstehen, daß die Bundeshauptstadt dem DDR-Staatsratsvorsitzenden künftig nicht verschlossen sein werde. Ohnehin war das Ende des Heizungsbaus in der Villa Hammerschmidt abzusehen, und es hätte allzuviel Peinlichkeit heraufbeschworen, wenn nun eine neue Ausrede erdacht worden wäre, um einen Emfang Honeckers durch Richard von Weizsäcker in dessen Amtssitz zu vermeiden.
Der CDU-Abgeordnete Gerhard Reddemann, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für innerdeutsche Fragen, lieferte die staatsrechtliche Begründung: „Der deutsche Staatsbürger Honekker kann die deutsche Stadt Bonn ohne weiteres besuchen“, denn „als Deutscher genießt er hier völlige Freizügigkeit“
Spekulationen, ob, wann und wie der erste Mann der DDR seinen Auftritt auf der Bonner Bühne haben werde, füllten noch drei Jahre lang die Gazetten. Politiker des westlichen Deutschlands, linke wie rechte, suchten den persönlichen Disput mit Honecker -mal in Ost-Berlin und mal in Leipzig und keinem blieben die Journalisten-Fragen erspart, ob der Staatsratsvorsitzende etwas von seinen Reiseplänen verraten habe.
VI. Die Ankündigung der Reise
Am 15. Juli 1987 machten das Bundeskanzleramt und die Nachrichtenagentur ADN in einer koordinierten Aktion dem Ratespiel ein Ende -zu gleicher Stunde teilten sie mit, Erich Honecker werde am 7. und 8. September in der Bundeshauptstadt Bonn weilen und anschließend die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Saarland, Rheinland-Pfalz und Bayern besuchen. Zu großer Behutsamkeit im Vorfeld der Visite, die nicht zerredet werden dürfe, mahnte der Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble, der inzwischen Jenningers Funktionen im Kabinett Helmut Kohls übernommen hatte. „Nach sechs Jahren Quälerei darf Erich Honecker endlich die Reise antreten, die er schon früher unternommen hätte, wäre es nur nach ihm gegangen“ -so kommentierte ein linksliberales Blatt, die „Frankfurter Rundschau“, das angekündigte Ereignis: „Die sechs Jahre der Verzögerung haben den juristischen Kunststücken in Deutschland den Schwung genommen.“ Und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, wichtigstes Sprachrohr deutscher Konservativer, meinte, nun stünde dem 75 Jahre alt werdenden Honecker der „krönende Höhepunkt seines politischen Lebens“ bevor; sein Besuch in Bonn werde der DDR „den noch fehlenden Schlußstein im Gebäude der weltweiten Anerkennung“ bringen: „Für Honecker hat sich das ihm von Moskau aufgezwungene Warten gelohnt.“
Zu Beginn des Jahres 1950 war er zum letzten Mal in Westdeutschland gewesen -als Gast der Landesdelegiertenkonferenz der FDJ von Nordrhein-Westfalen. Der damals 37jährige Erich Honecker, Vorsitzender der einzigen in der DDR zugelassenen Jugendorganisation, der Freien Deutschen Jugend (FDJ), Mitglied des SED-Parteivorstandes seit 1946 und Volkskammer-Abgeordneter seit 1949, war in die Bundesrepublik gekommen, um auf einer Kundgebung in Duisburg für das Deutschlandtreffen der FDJ zu werben, das zu Pfingsten 1950 in Ost-Berlin mehrere Hunderttausende Jugendliche aus Ost und West vereinen sollte; zu jener Zeit konnte man ihn mit fast schwärmerischen Worten über Rundfunksender der DDR so vernehmen: „Deutsche Jungen und Mädchen in Nord und Süd, in Ost und West! Zonenschranken mögen uns trennen. Politische, weltanschauliche und religiöse Ideale mögen unter uns verschieden oder sogar gegensätzlich sein. Ein Band umschließt uns alle, ein Ideal haben wir gemeinsam, ein Wille beseelt jeden von uns: Uns umschließt die ehrliche Liebe zu Deutschland. Unser gemeinsames Ziel ist der gesicherte Bestand der deutschen Nation. Uns beseelt der Wille zur Erhaltung der nationalen Existenz unseres Volkes.“
Jetzt, 37 Jahre später und ein halbes Leben älter, pflegte er zu betonen, daß man Feuer und Wasser nicht vereinen könne, daß man zwischen zwei grundverschiedenen Typen von Nationen unterscheiden müsse -der fortbestehenden bürgerlichen Nation im Westen und der werdenden sozialistischen Nation im Osten -und daß so etwas wie Wiedervereinigung zwischen der kapitalistischen Bundesrepublik und der sozialistischen DDR gar nicht mehr vorstellbar sei.
Seine Gastgeber waren da ganz anderer Ansicht, und der zwischen den beiden Staaten seit Anfang der siebziger Jahre bestehende fundamentale Dissens in der Beurteilung der „deutschen Frage“ wurde während des fünftägigen Besuches von Erich Honecker in der Bundesrepublik immer wieder angesprochen -aber doch in behutsam gewählten Worten, um Chancen der Zusammenarbeit nicht durch einen Streit über Prinzipien zu verschütten.
VII. Gespräche in Bonn
Als der Partei-und Staatschef der DDR in der Mittagsstunde des 7. September 1987 -nach einer ersten Gesprächsrunde im Kanzleramt -dem Bundespräsidenten in der Villa Hammerschmidt seine Aufwartung machte, hieß Richard von Weizsäcker ihn „als Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik und als Deutscher unter Deutschen“ willkommen: „Wir treffen uns weder, um gegeneinander aufzutrumpfen, noch, um die Wirklichkeit durch Träume zu verklären.“ Die Nation, zu der die Menschen in beiden deutschen Staaten gehörten, habe nicht erst mit Bismarck begonnen und sei nicht mit Hitler untergegangen, und soweit unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung der Nation bestünden, sollten sie kein Hindernis sein, „im Interesse der Menschen gemeinsam zu arbeiten und Trennendes in Deutschland und Europa zu überwinden“
Honecker vermied es in seiner Antwort, von der Nation zu reden: „Es ist sinnlos und gefährlich, dem schmachvoll untergegangenen , Deutschen Reich 4 nachzutrauern. Beide deutschen Staaten müssen sich auf der Basis gegenseitiger Achtung respektieren und miteinander friedlich leben, so wie es zwischen souveränen Staaten üblich ist. Das schulden wir uns und den anderen europäischen Völkern.“ Nachdem Kohl und Honecker vormittags vor allen Mitgliedern beider Verhandlungsdelegationen in einer nicht öffentlichen Sitzung Grundsatzerklärungen abgegeben hatten, redeten sie am Spät-nachmittag in einem kleineren Kreis über zahlreiche strittige Details der deutsch-deutschen Beziehungen: über Handelshemmnisse und Kontaktsperren, über den grenznahen Verkehr und die Markierung der Elbe-Grenze, über Besuchsregeln für West-Berliner und den weiteren Ausbau der Transitstrecken, über den Luftverkehr und die Städtepartnerschaften. Honecker war darauf vorbereitet, daß der Kanzler ihm dabei das Stichwort „Schießbefehl“ nicht ersparen würde, und so bestritt er zunächst einmal knapp, daß es dergleichen gäbe, um dann fortzufahren, die DDR verhalte sich an ihren Grenzen nicht anders als die Bundesrepublik. Er zog ein Papier aus der Tasche und verlas zwei Bonner Gesetzestexte aus dem Jahre 1974, in denen die „Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes“ geregelt und in bestimmten Fällen auch der Gebrauch von Schußwaffen erlaubt worden waren. Die DDR wünsche derartige Zwischenfälle nicht: Sie wolle nicht, „daß Menschen umkommen. Aber man müsse die Regelungen im militärischen Sperrgebiet beachten.“ Einen genaueren Vergleich der Todesfälle an den Grenzen anzustellen hielt Helmut Kohl nicht für sinnvoll: Was die DDR und ihre Grenzorgane seit mehr als einem Vierteljahr-hundert zu verantworten hatten, war hinreichend bekannt.
Am Abend des ersten Besuchstages gab der Kanzler seinem Gast ein Essen in der Godesberger „Redoute“ -Helmut Kohl verwies in seiner Rede auf die Präambel des Bonner Grundgesetzes, die nicht zur Disposition stünde: „Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden . . . Die deutsche Frage bleibt offen, doch ihre Lösung steht zur Zeit nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte, und wir werden dazu auch das Einverständnis unserer Nachbarn brauchen.“ Man müsse sich auf das „Machbare“ konzentrieren.
In seiner Erwiderung -vor laufenden Fernsehkameras und 150 geladenen Gästen: Politikern, Unternehmern, Künstlern, Wissenschaftlern -sprach Honecker vor allem über den Beitrag, den die beiden deutschen Staaten zur europäischen Sicherheit zu leisten hätten: „Heute gibt es nichts Wichtigeres, als über alle Gegensätze von Weltanschauungen, Ideologien und politischen Zielen hinweg den Frieden zu bewahren.“ Die DDR erstrebe eine „breite Koalition der Vernunft und des Realismus“ und messe dem politischen Dialog großen Wert bei. Was Honecker zuletzt über das Verhältnis zwischen Bonn und Ost-Berlin sagte, verharrte ganz im Üblichen, wie es schon tausendfach von Sprechern der DDR beschworen worden war: Die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen seien eine grundlegende Bedingung für den Frieden, und Ausgangspunkt für eine konstruktive, nützliche Politik könnten „nur die Realitäten sein, die Existenz von zwei voneinander unabhängigen souveränen deutschen Staaten mit unterschiedlicher sozialer Ordnung und Bündnis-zugehörigkeit“. Auf Helmut Kohls Feststellung, zum Frieden in Deutschland gehöre auch, „daß an der Grenze Waffen auf die Dauer zum Schweigen gebracht werden“, ging Erich Honecker in seiner Antwort nicht ein.
Die Bürger der DDR konnten diese Reden -und alle anderen, die während der folgenden vier Tage gehalten wurden -in vollem Wortlaut in ihren Zeitungen lesen -so auch das, was mit dem Weltbild deutscher Kommunisten seit langem unvereinbar war. Viele Stunden verwendete das DDR-Fernsehen -teils live, teils in betont sachlicher, zusammenfassender Berichterstattung -auf die Wiedergabe dessen, was der Partei-und Staatschef und seine Begleiter, der Wirtschaftsfachmann des SED-Politbüros Günter Mittag, Außenminister Oskar Fischer, Außenhandelsminister Gerhard Beil und andere im westlichen Deutschland hörten, sahen, sagten und taten. Mit Genugtuung registrierten die Massenmedien der DDR, daß sich für den Honecker-Besuch 2 700 Vertreter von Presse, Rundfunk und Fernsehen akkreditieren ließen.
Mißgelaunt beschrieb dagegen ein Kommentator der Bonner Tageszeitung „Die Welt“, Günter Zehm, den ersten Tag der Visite als „medialpolitisches Fest“, bereitet von den Westdeutschen, die „aus lauter Mediengeilheit einen mausgrauen kommunistischen Machtverwalter zum Paradies-vogel hochjubeln“ Mißmut tönte auch vom rechten Flügel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Der Abgeordnete Manfred Abelein, in den siebziger Jahren einer der entschiedensten Kritiker sozialliberaler Ostpolitik, nach der Bonner „Wende“ von 1982 ins zweite Glied zurückversetzt, nannte den Umgang mit Honecker „Katzbuckeln“; „ein bißchen mehr Würde“ hätte er lie-ber gesehen, sagte Abelein vor seiner Fraktion in einem Disput mit der Ministerin für innerdeutsche Beziehungen, Dorothee Wilms Dergleichen fand in den Medien der DDR jedoch keinen Niederschlag.
Sie zeichneten penibel nach, wie am zweiten Tag der Honecker-Visite, nach dem Ende mehrstündiger Gespräche im Kanzleramt, zu mittäglicher Stunde die zuständigen Minister ihre Unterschriften unter drei neue deutsch-deutsche Abkommen setzten -Verträge über die Zusammenarbeit im Umweltschutz, bei der Abwehr der Gefahren radioaktiver Strahlung und generell in Wissenschaft und Technik.
Anschließend besuchte Erich Honecker einen durch Alter und Krankheit sichtlich gezeichneten Mann, der zu Recht zu den geistigen Vätern des Grundvertrages gezählt werden durfte -Herbert Wehner, Fraktionschef der SPD im Deutschen Bundestag in den Jahren der großen Kontroversen über die sozialliberale Ostpolitik.
Dann brachte ein Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes den Staatsgast zum Schloß Gymnich, wo er nacheinander mit den Fraktionschefs der großen Parteien, mit drei Vertreterinnen der Grünen und mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth zusammentraf, um dann am Abend seinerseits Gastgeber eines Essens im Bonner Hotel „Bristol“ zu sein. Um die Speise-folge hatte sich der Küchenchef des Ost-Berliner „Palast-Hotels“ zu kümmern.
VIII. Der Besuch in Nordrhein-Westfalen
Tags darauf -am 9. September -war der Staats-ratsvorsitzende Gast der nordrhein-westfälischen Landesregierung, bevor er am Abend nach Saarbrücken flog. In Köln waren am frühen Morgen zunächst 350 Vertreter der wichtigsten bundesdeutschen Unternehmen auf Einladung des Deutschen Industrie-und Handelstages zusammengekommen, um die Plädoyers von Erich Honecker und Günter Mittag für eine engere deutsch-deutsche Wirtschaftskooperation zu vernehmen. Zu den westdeutschen Managern gesellten sich die Generaldirektoren von 22 Kombinaten und Außenhandelsgesellschaften der DDR, die eigens zu diesem Anlaß nach Köln gereist waren.
Und während die Chefs der Jenaer Zeiss-Werke, des Mansfeld-Kombinates „Wilhelm Pieck“ und der Petrochemie von Schwedt an der Oder noch mit den Repräsentanten von Siemens und Hoechst, AEG, Quelle und Salamander parlierten, war Honecker schon auf dem Weg nach Düsseldorf, um in der nordrhein-westfälischen Staats-kanzlei Ministerpräsident Johannes Rau seine Aufwartung zu machen.
An diesem dritten Tag der Visite hatte das ausgeklügelte Protokoll auch einige Minuten Zeit für ein Gespräch Honeckers mit dem Manne vorgesehen, der ihn sechs Jahre zuvor zur Reise ins westliche Deutschland eingeladen hatte: Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt saß in Schloß Benrath am festlichen Mittagstisch.
Als Honecker anschließend in Wuppertal den Ort aufsuchte, an dem -bis zu einer Bombennacht 1943 -das Geburtshaus des Unternehmers und Marx-Gefährten Friedrich Engels gestanden hatte, nun eine Gedenkstätte, lieferten sich vor dem Haus widerstreitende Sprechchöre der Jungen Union -„Die Mauer muß weg!“ -und der DKP -„Hoch die internationale Solidarität“ -einen lautstarken Wettbewerb. Auch den Rock-Musiker Udo Lindenberg hatte es an diesen Ort getrieben -er beschenkte den ersten Mann der DDR mit einer elektrischen Gitarre, auf der die Parole stand: „Gitarren statt Knarren -für eine atomwaffenfreie Welt“.
In Essen hatte Erich Honecker -fast auf den Tag genau 54 Jahre zuvor -als junger kommunistischer Funktionär, von der Führung seines Verbandes ins Ruhrgebiet geschickt, Widerstand gegen das NS-Regime zu organisieren versucht -und er hatte dafür mit zehn langen, erbärmlichen Kerker-Jahren bezahlen müssen. Wer die Biographie des Mannes kannte, begriff den symbolischen Gehalt der Szene, die das Fernsehen am Spätnachmittag des 9. September 1987 aus der großen, mit Gobelins geschmückten Halle der Villa Hügel übertrug: Da stand er nun im Hause der Krupps, jener Industriellen-Familie, die wie keine andere im Weltbild deutscher Leninisten als Verkörperung des historisch unvermeidlichen Umschlags vom Kapitalismus zum Imperialismus gegolten hatte, da stand er nun unter kristallenen Lüstern an der Seite des Krupp-Managers Berthold Beitz, umgeben von einer auserlesenen, gut hundertfünfzig Köpfe zählenden Schar westdeutscher Industriemanager, deren Anblick einen der wenigen anwesenden Gewerkschafter, Franz Steinkühler von der IG Metall, zu dem knappen Kommentar veranlaßte: „Wenn irgendwo Macht ist, dann heute hier.“
IX. Trier -Saarbrücken -München
Am vierten, am vorletzten Tag seines Besuches, war Honecker Gast der Ministerpräsidenten Bernhard Vogel und Oskar Lafontaine. Der rheinland-pfälzische Regierungschef empfing ihn im Trierer Kurfürstlichen Palais und übergab ihm die Bittschriften von hundert Bundesbürgern, in denen auf Schicksale getrennter Familien und politischer Gefangener verwiesen wurde. Eher wortkarg gab sich der Staatsratsvorsitzende, als er das Trierer Geburtshaus von Karl Marx durchschritt -in das Gästebuch schrieb er Namen und Bekenntnis: „Mit Stolz können wir an der Geburtsstätte des großen Deutschen auf das in der Deutschen Demokratischen Republik Geleistete blicken. Geleitet von den Marxschen Ideen gestalten wir erfolgreich die entwickelte sozialistische Gesellschaft . . ." Außerhalb des Hauses und von der Polizei auf gebührende Distanz gehalten, hatten sich Angehörige der FDP-Jugendorganisation „Junge Liberale“ postiert -mit einem Porträt von Marx und der Aufschrift: „Erich, was habt Ihr aus mir gemacht.“
Noch einmal wollte er das saarländische Wiebelskirchen sehen -das Haus, in dem er 1912 als viertes Kind einer Bergarbeiterfamilie zur Welt gekommen, und ein anderes, in dem er aufgewachsen war. Zu den Gräbern seiner Eltern auf dem Friedhof von Wiebelskirchen durften ihn die sonst stets gegenwärtigen Fernsehkameras nicht geleiten. Waren es die an diesem Tag berührten persönlichen Gefühle oder jene häufigen Anspielungen auf das Grenz-Regime seines Staates -er hatte sie immer vernommen -, die ihn am Abend des 10. September bei einem Gespräch mit Einwohnern von Neunkirchen im Bürgerhaus der Gemeinde zu dem Satz bewogen, die Grenzen seien nicht so, wie sie sein sollten, das müsse unter den gegebenen internationalen Bedingungen als „nur allzu verständlich“ erscheinen: „Aber ich glaube, wenn wir gemeinsam entsprechend dem Kommunique handeln, das wir in Bonn vereinbart haben, und in Verbindung damit eine friedliche Zusammenarbeit erreichen, dann wird auch der Tag kommen, an dem Grenzen uns nicht mehr trennen, sondern vereinen, so wie uns die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen vereint.“ Das fiel ein wenig aus dem Rahmen des in vier Tagen immer wieder Gesagten -Journalisten stürzten zu den Telefonen, Agenturen verbreiteten Honeckers in freier Rede gemachte Bemerkung als vermeintlich hoffnungsvolle Sentenz.
Letzte Station der Reise: München und das vor den Toren der bayerischen Metropole gelegene ehemalige NS-Konzentrationslager Dachau. Ministerpräsident Franz Josef Strauß hieß Honecker auf dem Flughafen und in seiner Staatskanzlei willkommen, erinnerte an frühere Begegnungen -zuletzt während der Leipziger Frühjahrsmesse -und zitierte das Wort eines pietistischen Theologen: „Gott gebe mir Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Beim Mittagessen im Antiquarium der Münchner Residenz, einst Sitz der Wittelsbacher, sagte Strauß (und tags darauf stand es getreulich in den DDR-Zeitungen), die Berliner Mauer passe nicht mehr in die neue Phase'weltpolitischer Entwicklung, er wolle aus Honeckers Neunkirchner Rede „keine utopischen und phantastischen Schlußfolgerungen“ ableiten, sehe aber in den Worten des Staatsratsvorsitzenden „hoffnungsvolle Anzeichen für einen besseren Weg in eine gesicherte Zukunft“
Nach Dachau hatte Strauß Honecker nicht geleiten wollen -die Oppositionsparteien, Sozialdemokraten und Grüne, vermerkten es mit Unbehagen. Auf dem Flugplatz stand der bayerische Ministerpräsident wieder neben seinem Gast aus OstBerlin, als -wie sechs Stunden zuvor bei der Ankunft -eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei zum Abschied die Hymnen der DDR, der Bundesrepublik und des Freistaates Bayern intonierte.
Hymnen, Fahnen, Polizeieskorten, Rituale der Macht -fünf Tage lang mit protokollarischer Akribie in Szene gesetzt sie dienten zahllosen Kommentatoren als Beleg für die These, daß die nun endgültig anerkannte Doppelstaatlichkeit der Deutschen fortdauern werde -bestimmt in den neunziger Jahren und vermutlich über den Rest des Jahrhunderts hinaus. Man habe halt, meinte der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt in einer Fernsehrunde, der „inszenierten Beerdigung der deutschen Wiedervereinigung“ beigewohnt.