I. Freihandel und Finanzhilfen
Die Europäische Union (EU) hat ein starkes Interesse an der wirtschaftlichen Entwicklung des südlichen und östlichen Mittelmeerraums, um so wesentliche Ursachen für die politische Radikalisierung und Destabilisierung in der Region sowie den Migrationsdruck in Richtung Europa zu verringern. Sie hat seit 1994 ein Konzept entwickelt, das bei der ersten Mittelmeerkonferenz am 27. /28. November 1995 in Barcelona zu einer gemeinsamen Erklärung der Außenminister der 15 heutigen Mitgliedstaaten der EU sowie von elf Staaten des Mittelmeerraums (Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Libanon, Malta, Marokko, Syrien, Tunesien, Türkei, Zypern) sowie des Vorsitzenden der PLO führte.
In der Erklärung von Barcelona wurde vereinbart, eine Europa-Mittelmeer-Partnerschaft mit drei Bereichen zu entwickeln: eine politische und Sicherheitspartnerschaft, eine Wirtschafts-und Finanzpartnerschaft sowie die Partnerschaft im sozialen, kulturellen und menschlichen Bereich. Die Konferenz einigte sich auf ein Arbeitsprogramm, das in der Folgezeit zu zahlreichen Konferenzen auf Minister-und Expertenebene geführt hat, aber auch zu verschiedensten kulturellen und wirtschaftlichen Veranstaltungen. Am 15. /16. April 1997 fand in Valetta die zweite Europa-Mittelmeer-Außenministerkonferenz statt, die im wesentlichen die Fortschritte des sogenannten Barcelona-Prozesses würdigte und den Kurs bestätigte
Ziel der wirtschaftlichen und finanziellen Partnerschaft ist es, bis zum Jahr 2010 einen Europa-Mittelmeer-Wirtschaftsraum zu schaffen, dessen Kern die Freihandelszone Europa-Mittelmeer (FEM) bildet. Zur Flankierung der FEM, die in den Mittelmeerländern erhebliche Strukturanpassungen erfordern wird, werden aus dem EU-Haushalt für 1995 bis 1999 Finanzhilfen von insgesamt 4, 685 Mrd. ECU bereitgestellt, die durch Kredite der Europäischen Investitionsbank ergänzt werden. Die FEM sieht auch vor, daß sich die Mittelmeerländer z. B. bei technischen Normen und Standards, aber auch im Wettbewerbsrecht an das System der EU anpassen.
Da die FEM auf der Grundlage bilateraler Assoziationsabkommen errichtet wird gilt der Freihandel zunächst nur bilateral zwischen der EU und dem jeweiligen Mittelmeerland, nicht aber zwischen den Mittelmeerländern untereinander. Dazu bedarf es gesonderter Abkommen, die alle Teilnehmer der Barcelona-Konferenz zwar befürworten, über die aber bislang nicht ernsthaft gesprochen worden ist.
Die Erwartungen der EU an die wirtschaftliche und finanzielle Partnerschaft wurden sehr prägnant in der Mitteilung der Kommission vom Oktober 1994 [KOM(94) 427 endg., Ziff. 17] zum Ausdruck gebracht (und in späteren Dokumenten mit anderen Formulierungen wiederholt): „Die schrittweise Verwirklichung der Freihandelszone Europa-Mittelmeer wird in erster Linie und hauptsächlich zu einer kräftigen Intensivierung des Handels führen, und zwar sowohl zwischen Europa und den Mittelmeerländem als auch ... zwischen den Mittelmeer-ländern untereinander ... Die industrielle Zusammenarbeit und die Erhöhung der Zahl der Jointventures ... werden dazu beitragen, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie-und Wirtschaftszweige beider Regionen zu stärken und ihre Stellung am Weltmarkt zu verbessern.“ In einer folgenden Mitteilung vom März 1995 [KOM(95) 72 endg., Abschn. 2. 1. 3. ] fügte die Kommission hinzu: „Die Perspektive einer Freihandelszone Europa-Mittelmeer erhöht natürlich die Anziehungskraft der Mittelmeerregion für private europäische Investitionen: Dadurch wird es interessant, Produktionsbasen im Mittelmeerraum zu errichten, um den entstehenden riesigen Markt Europa-Mittelmeer zu bedienen.“
II. Nachteile verschärften Wettbewerbs
In keinem der öffentlich zugänglichen Konferenz-dokumente und Kommissionsberichte werden schlüssig die Mechanismen erläutert, auf denen solche Erwartungen gründen, d. h. durch die die FEM den Handel ausweiten, Direktinvestitionen in die Mittelmeerländer lenken und zu deren Entwicklung beitragen kann. Die Mechanismen sind keineswegs offenkundig, sondern man kann vielmehr spontan eine Reihe von Gründen anführen, die in entgegengesetzte Richtungen weisen und auf erhebliche Nachteile für die Mittelmeerländer hindeuten.
Zur Verdeutlichung der Probleme einer FEM und der keineswegs leicht zu erfüllenden Erfolgsbedingungen hilft ein einfaches Beispiel: Es sei angenommen, daß die Gruppe der Mittelmeerländer aus nur zwei Ländern bzw. Ländertypen besteht, nämlich -einem Land G, das über einen (nach Bevölkerungszahl und Kaufkraft) vergleichsweise großen Binnenmarkt verfügt, und in dem der Staatseinfluß auf die Wirtschaft sehr ausgeprägt ist (durch verstaatlichte „Schlüsselindustrien“, umfassende Regulierungen der Privatwirtschaft, Lizenzen, öffentliche Monopole usw.) und -einem Land K, das nur über einen kleinen Binnenmarkt, aber einen dynamischeren Privatsektor verfügt
Beide Länder haben ihren Binnenmarkt gegen Lieferungen aus dem Ausland durch hohe Zölle abgeschottet. Die EU hat ihnen schon vor mehreren Jahren einen weitgehend ungehinderten Zugang zum Industriegütermarkt der Gemeinschaft erlaubt, während für EU-Exporte in diese Länder keine Vergünstigungen gewährt werden. Wenn diese Länder nun mit der EU jeweils bilateral ein Freihandelsabkommen für Industriegüter abschließen, ändert sich für sie am Zugang zum EU-Markt nichts, denn der war ja schon vorher frei. Dagegen können jetzt europäische Güter ohne Zölle auf die Märkte von G und K gelangen. Da es sich um bilaterale Abkommen mit der EU handelt, gibt es zwischen G und K keinen Freihandel.
Wenn man Industrien betrachtet, die für die geschützten Märkte in G und K produzieren, läßt dieses Szenario für die Mittelmeerländer keine Vor-, sondern Nachteile erwarten: -Die binnenorientierte Industrie der Mittelmeerländer gerät durch europäische Anbieter unter Druck. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist davon auszugehen, daß die bisher geschützten Industrien in G und K ineffizienter arbeiten als europäische Konkurrenten, und zwar um so ineffizienter, je höher die Protektion wär. Es ist zu erwarten, daß in vielen Bereichen Importe billiger sein werden als inländische Produkte, und es bestehen große Zweifel, ob sich die Produzenten in den Mittelmeerländern in kurzer Zeit durch Rationalisierung und Modernisierung dem Effizienzniveau der Europäer nennenswert annähern können. Die Folge wird sein, daß inländische Produzenten aus dem Markt ausscheiden müssen, so daß es in den Mittelmeerländern zum Verlust von Beschäftigung und Einkommen kommt. -Wenn inländische Produktion durch zollfreie Importe aus der EU ersetzt wird, fallen Zolleinnahmen weg. Diese sind in Entwicklungsländern oft eine wichtige Quelle zur Finanzierung des Staatshaushalts. In einigen Mittelmeerländern machen Zölle bis zu einem Drittel der Staatseinnahmen aus Da nur Importe aus der EU zollfrei sind, werden die Zolleinnahmen nicht gänzlich versiegen. Es ist aber zu berücksichtigen, daß durch die Zollbefreiung Anbieter aus der EU besonders in Ländern mit hohen Einfuhrzöllen einen spürbaren Preisvorteil gegenüber Weltmarktkonkurrenten gewinnen können. Daher ist mit einer Handelsumlenkung z. B. von amerikanischen oder asiatischen Lieferanten auf Lieferanten aus der EU zu rechnen, was zu steigenden Markt-anteilen der EU und sinkenden Zolleinnahmen für die Mittelmeerländer führt -Die Bedingungen für Direktinvestitionen, mit denen Güter für einen großen und durch Zollmauern geschützten nationalen Markt produziert werden, werden sich durch die FEM nicht verbessern, sondern verschlechtern: Eine Direktinvestition bzw. Produktion in G war z. B. für europäische Unternehmen trotz ungünstiger Standortbedingungen so lange attraktiv, wie überhöhte Kosten durch entsprechend hohe Preise gedeckt wurden. Mit der Errichtung der Freihandelszone sind diese Preise aber nicht mehr zu halten, so daß ein bisher vorhandener Investitionsanreiz wegfällt. Nimmt man diese Effekte zusammen, so ist nicht zu sehen, wo die FEM den Mittelmeerländern Entwicklungsimpulse gibt: Ihre industrielle Basis wird nicht wachsen, sondern schrumpfen, und die Palette der im Lande produzierten Güter wird nicht breiter, sondern schmaler. Investiertes Produktivkapital, spezialisierte Infrastruktureinrichtungen und besondere Qualifikationen von Arbeitnehmern werden entwertet
III. Ergänzung durch regionalen Freihandel
Die Produktionsstrukturen werden einseitiger, und in der Folge dürfte es noch schwieriger werden, Industriegüter zu finden, die in den Mittelmeerländem produziert und zwischen ihnen gehandelt werden können. Letzteres müßte zumindest von denjenigen als unerwünschte Konsequenz der FEM angesehen werden, die aus politischen Gründen für eine Ausweitung des regionalen Handels (z. B. im Rahmen der Maghreb-Union oder des Arabischen Gemeinsamen Marktes) plädieren Abhilfe könnte die Ausweitung der Zollfreiheit auf den Handel zwischen den Mittelmeerländern bieten, so daß in der FEM allseitiger Freihandel herrscht. Unter der Annahme des Freihandels zwischen G und K wäre folgendes denkbar: Wegen der ungünstigen Standortbedingungen in G wird dort die binnenorientierte Produktion durch Importe zurückgedrängt. Diese können aus der EU stammen, aber bei regionalem Freihandel auch aus K. Dazu müßte es in K bereits entsprechende Industrien geben, die nun expandieren, oder es entstehen -evtl, mit ausländischer Beteiligung -neue Industrien, die für den regionalen Markt von K und G produzieren, was früher nicht möglich war. Um erfolgreich zu sein, müßten solche Neugründungen allerdings auf einem dem europäischen vergleichbaren Effizienzniveau arbeiten, denn wenn man von möglichen Nachfragepräferenzen für Güter aus regionaler Produktion absieht, bestimmen die um die Transportkosten zu erhöhenden EU-Preise die Preisobergrenze für lokale Anbieter.
Durch die Zulassung regionalen Freihandels gewinnen die Mittelmeerländer zumindest die Chance, daß in der Region Industrien entstehen, die auch gegenüber europäischen Anbietern konkurrenzfähig sind. Solche Industrien tragen dazu bei, daß die Palette der in der Region produzierten Industriegüter nicht schrumpft, und wenn man optimistisch ist, kann man in ihnen den Kern für eine sich langfristig entwickelnde intra-industrielle Arbeitsteilung zwischen der EU und den Mittelmeerländern sehen. Diese könnte das wenig entwicklungsfördernde Muster der inter-industriellen Arbeitsteilung -bei der die Mittelmeerländer Rohstoffe und Halbfabrikate nach Europa exportieren und die EU Fertigerzeugnisse in die Mittelmeerländer liefert -zumindest in einigen Bereichen ablösen. Die Fertigerzeugnisse weisen höhere Wertschöpfungs-und Wachstumspotentiale auf, so daß sich die dynamischen Vorteile der bisherigen Arbeitsteilung auf Europa konzentrieren. Eine ausgewogenere Verteilung der Einkommens-und Beschäftigungschancen bietet ein intra-industrieller Handel, bei dem sich die beteiligten Länder gegenseitig mit Gütern der gleichen Branche beliefern, die sich allerdings in der Produktgestaltung oder in der Preis/Qualitäts-Relation unterscheiden. Im intra-industriellen Handel der EU spezialisieren sich zum gegenseitigen Vorteil z. B. einige Länder (wie Frankreich und Deutschland) auf Güter mit hoher Qualität und hohen Preisen (z. B. Sportwagen oder Anzüge), während andere (wie Griechenland und Portugal) Güter geringerer Qualität zu niedrigeren Preisen (z. B. Kleinwagen oder T-Shirts) produzieren und exportieren So sinnvoll ein Freihandel zwischen den Mittelmeerländern sein mag, so schwierig dürfte er politisch durchzusetzen sein. Das Grundproblem ist im obigen Beispiel zu erkennen: Im Land G gehen industrielle Kapazitäten verloren, die im Land K neu entstehen. Dies kann von Politikern in G leicht so (fehl-) gedeutet werden, daß K auf Kosten von G gewinnt weil G seine Zölle gegenüber K abgebaut hat. Solche vermeintlichen „Bereicherungen“ der Nachbarn auf Kosten des eigenen Landes werden vor allem dann zum Politikum, wenn der Nachbar bereits über eine besser entwikkelte Industrie und ein höheres Einkommensniveau verfügt. Nicht zuletzt Befürchtungen dieser Art haben bisher eine wirksame Liberalisierung des Handels z. B. zwischen den Staaten des Arabischen Gemeinsamen Marktes verhindert. Eine ungleiche Verteilung von Vorteilen aus einer Handelsliberalisierung ist zwar nicht zu vermeiden; was man aber durch ein System des „bedingten Freihandels“ sicherstellen kann, ist, daß die beteiligten Länder nur dann ihre Zölle effektiv abbauen, wenn sich der Handel zwischen ihnen ausgeglichen entwickelt und im Falle von Un-gleichgewichten automatisch Anreize wirksam werden, die tendenziell auf einen Ausgleich der Handelsbilanzen hinwirken.
Eine Konstruktion, die im Falle der Mittelmeerländer politische Blockaden gegen regionale Importliberalisierungen abbauen könnte, ist die eines sogenannten Zollverrechnungsabkommens. Der Grundgedanke ist, daß Importeure des Landes A bei Einfuhren aus B eine Zollveranlagung von den Zollbehörden ihres Landes (A) erhalten, die sie innerhalb einer bestimmten Frist begleichen müssen. Dies können sie entweder durch Bezahlung des veranlagten Zolls oder aber durch Präsentation von Zollzertifikaten mit einem entsprechenden Nennwert tun. Derartige verrechenbare Zertifikate erhalten Exporteure in A für ihre Lieferungen nach B (mit einem Nennwert, der dem Betrag des in B veranlagten Importzolls entspricht). Für Exporteure sind die Zertifikate zunächst wertlos, während sie für Importeure einen Wert besitzen, weil sie zur Begleichung von Zollveranlagungen verwendet werden können. Deshalb werden die Importeure bereit sein, einen Preis an die Exporteure zu zahlen. Wenn A mehr aus B importiert, als es dorthin exportiert, übersteigt der Betrag der Zollveranlagungen den Nennwert der Zollzertifikate, und die Nachfrage der Importeure übersteigt das Angebot der Exporteure. Daraus folgt, daß der Preis für die begehrten aber knappen Zertifikate relativ hoch sein und in der Nähe ihres Nennwertes liegen wird. Daher können die Exporteure die effektive Belastung der Importe nicht wesentlich verringern, was bedeutet, daß Importe in das Land mit dem Importüberhang faktisch dem vollen Zollsatz unterliegen. • Umgekehrt ist die Situation bei einem Exportüberschuß: Die Exporteure verfügen über mehr Zertifikate, als von den Importeuren nachgefragt werden, so daß sich ein sehr niedriger Zertifikats-preis herausbilden wird. Die Importeure können daher mit geringem Aufwand Zertifikate aufkaufen, die zum vollen Nennwert angerechnet werden, so daß die effektive Zollbelastung für Importe in ein Land mit einem Exportüberschuß fast auf Null sinkt. Spiegelbildliche Arrangements gelten für die Importeure und Exporteure in B. Das System kann so eingestellt werden, daß sich auch bei einem ausgeglichenen Handel zwischen A und B eine faktische Zollfreiheit für Importe von A und von B ergibt, und daß eine effektive Zollbelastung erst eintritt, wenn ein bestimmter Schwellenwert für Ungleichgewichte im Handel überschritten wird. Man kann die Verrechenbarkeit für mehr oder weniger große Gütergruppen spezifizieren, so daß nur bei einem ausgeglichenen intra-industriellen Handel Zollfreiheit besteht. Wenn es zu Handelsungleichgewichten kommt, gewinnt zwar das Land mit dem Exportüberschuß Marktanteile im anderen Land, aber es gewinnt nicht „auf Kosten“ des Importlandes, das ja seinen Zollschutz faktisch beibehält Mit Modellen wie diesem sollte es möglich sein, einen wichtigen Schritt in Richtung auf ein Freihandelssystem zwischen den Mittelmeerländern zu tun, damit der Region nicht wichtige Entwicklungsimpulse der FEM entgehen.
IV. Vorteile sinkender Importpreise
Bei der bisher skeptischen Einschätzung der Effekte einer FEM ist ein Aspekt noch nicht gewürdigt worden, der für Befürworter des Frei-handels einen zentralen Stellenwert hat, nämlich die Senkung der Preise für Importgüter. Diese führt nicht nur zu einer einmaligen Erhöhung der realen Kaufkraft der Nachfrager im Importland, sondern kann auch dynamische Struktureffekte auslösen: Es verbilligen sich nicht nur Güter, die an Endnachfrager geliefert werden, sondern auch importierte Kapitalgüter (Maschinen, Anlagen), Betriebsmittel und Zwischenprodukte (z. B. chemische Grundstoffe, weiterzuverarbeitende Stahl-bleche oder elektronische Bauteile). Industrien, die mit solchen importierten Inputs arbeiten, gewinnen an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, und zwar um so mehr, je höher die Zollsätze vorher waren. Davon können sowohl binnenorientierte Industrien profitieren, die unter europäischen Konkurrenzdruck geraten (sofern sie in nennenswertem Umfang importierte Inputs einsetzen), als auch weltmarktorientierte Exportindustrien. Die Erfahrung zeigt, daß importierte Inputs gerade in der Aufbau-und Anlaufphase von Exportindustrien in Entwicklungsländern eine große Rolle spielen. In der durch den Zollabbau bewirkten Reduzierung der Belastung der Exportfähigkeit durch zu hohe Inputpreise ist daher die Chance und Hoffnung begründet, daß die Schaffung einer Freihandelszone die industrielle Entwicklung der Mittelmeerländer fördern kann.
Eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß es zu einem Aufschwung der Exportindustrie in einem importliberalisierenden Land kommt, ist allerdings, daß eine solche Industrie bereits in Ansätzen existiert oder zumindest neu entsteht. In einer Reihe von Mittelmeerländern gibt es zwar Exportindustrien; diese bauen aber im wesentlichen auf lokalen Inputs (mineralische, agrarische und Energierohstoffe) auf und profitieren daher nur wenig von der Importliberalisierung. Unter Entwicklungsgesichtspunkten wären Industrien wichtiger, die die Teilnahme an einem inter-industriellen Handel mit Produkten höherer Verarbeitungsstufe erlauben, weil in diesem Bereich die Güter zu finden sind, deren Nachfrage sich parallel oder sogar überproportional zum Weltsozialprodukt entwikkelt, während bei rohstoffbasierten Exporten niedriger Verarbeitungsstufe mit einer unterproportionalen Nachfrageentwicklung zu rechnen ist.
Industrien dieser Art sind nur vereinzelt in wenigen Mittelmeerländern zu finden. Das bedeutet, daß die FEM ihre entwicklungsfördernden Wirkungen nur dann in größerem Umfang entfalten kann, wenn solche Industrien neu entstehen. Angesichts der Kapitalmarktprobleme der Mittelmeerländer und der relativ hohen technologischen Anforderungen müßten europäische Direktinvestitionen, durch die Kapital und Technologien in die Mittelmeerländer fließen, eine entscheidende Rolle beim Aufbau der Exportindustrien spielen. Gegenüber dem Status quo hat die Schaffung der FEM in der Tat die Bedingungen für solche Investitionen erheblich verbessert. Dies ist allerdings nur eine notwendige und noch keine hinreichende Bedingung für tatsächliche Investitionen: Etwas zugespitzt formuliert können Industrien, die mit importierten Inputs arbeiten, überall auf der Welt errichtet werden. Ob sie an einer bestimmten Stelle entstehen, hängt davon ab, ob dort die zu den importierten Inputs komplementären immobilen Faktoren in ausreichender Quantität und Qualität zu günstigen Preisen zur Verfügung stehen. Dabei ist der Begriff der immobilen Faktoren weit zu fassen; er schließt neben qualifizierten Arbeitskräften auch andere Standortfaktoren wie die geographische Nähe zu Absatzmärkten, die Verfügbarkeit komplementärer Dienstleistungen, günstige Ver-und Entsorgungsbedingungen und ausreichende Umweltressourcen, einen förderlichen rechtlichen und institutionellen Rahmen für industrielle Forschung und Entwicklung sowie eine niedrige Belastung mit Steuern und Abgaben ein.
In den Mittelmeerländern ist das Reservoir ungelernter Arbeitskräfte groß, aber Facharbeiter sind eher knapp: Die geographische Nähe zu europäichen Märkten hat sich mit dem Umbruch in Mittel-und Osteuropa insofern relativiert, als nun auch andere Länder über den gleichen Vorteil verfügen (die zudem noch die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU besitzen); die Dienstleistungsmärkte sind unterentwickelt (und Dienstleistungen sind nicht in das Freihandelssystem einbezogen); die Versorgungs-, Entsorgungs-und Umweltbedingungen sind an vielen Standorten problematisch, und die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen sind in den meisten Mittelmeerländern instabil und reformbedürftig.
Wie hoch die Steuer-und Abgabenbelastung sein wird, ist heute schwer zu sagen, weil die Mittelmeerländer nach dem Wegfall der Zolleinnahmen andere Quellen zur Finanzierung des Staatshaushalts suchen müssen und sich je nach der Ausgestaltung dieser Alternative unterschiedliche Belastungen für Unternehmen ergeben können. Diese Überlegungen zeigen, daß man keineswegs von besonders günstigen Standortbedingungen im Vergleich zu anderen Regionen der Welt ausgehen kann. Hinzu kommen als spezifische negative Standortfaktoren zumindest einiger Mittelmeerländer die Gefahr bewaffneter Konflikte mit Nachbarländern, die zunehmende politische Radikalisierung sowie repressive Tendenzen der Regierungen. Wenn man schließlich berücksichtigt, daß sich in vielen anderen Teilen der Welt die Bedingungen für Direktinvestitionen deutlich verbessert haben und sich die Märkte in Mittel-und Osteuropa, in Südostasien und Lateinamerika im Aufschwung befinden, dann gehört schon einiger Optimismus dazu, zu erwarten, daß die Beseitigung der Zölle für Einfuhren aus der EU einen Investitionsboom in den Mittelmeerländern auslösen wird.
V. Glaubwürdigkeit durch Selbstbindung
Wenn die eigentlichen entwicklungsfördernden Impulse auf die Verbilligung der Importgüter zurückgehen, dann stellt sich die Frage, warum die Mittelmeerländer bei einem Zollabbau gegenüber der EU stehenbleiben und nicht zu einer generellen Zollbefreiung aller Importe unabhängig von ihrem Ursprungsland übergehen. -Ein mögliches Argument besteht darin, daß nur die FEM den Mittelmeerländern den europäischen Markt für Agrargüter öffnen kann. Auch wenn dies im Grundsatz zutrifft, ist die quantitative Bedeutung der Marktöffnung gegenwärtig kaum abzusehen, denn die EU bietet keinen generellen Abbau von Zugangsbeschränkungen an, sondern nur Verhandlungen über gegenseitige Zugeständnisse bei einzelnen Produkten. Welchen Wert diese Zugeständnisse im Jahre 2010 tatsächlich haben werden, ist heute schwer zu sagen, da bis dahin mit einer Reform der EU-Agrarpolitik zu rechnen ist. Deren Elemente sind zwar noch nicht bekannt, aber angesichts der GATT-Verpflichtungen wäre eine generelle Erleichterung des Marktzugangs nicht ausgeschlossen, was den Wert von Präferenzen speziell für die Mittelmeerländer mindern würde. -Ein anderes Argument könnte die finanzielle Flankierung der FEM durch die EU sein. Die gegenüber den früheren Kooperationsabkommen deutlich aufgestockten Finanzmittel werden den Mittelmeerländen zur Vorbereitung der FEM gewährt, aber nicht zur Unterstützung beliebiger Liberalisierungspolitiken. Da die EU erhebliche Vorteile aus der Handelsumlenkung infolge der selektiven Liberalisierung ziehen wird, kann sie die Unterstützungszahlungen als Investition betrachten, die sich später rentieren wird. Die Handelsvorteile für die EU würden beim Übergang zum allgemeinen Freihandel Wegfällen, und es erscheint sehr fraglich, ob die EU in diesem Fall bereit wäre, ihr finanzielles Engagement aufrechtzuerhalten. -Schließlich findet sich in der Literatur ein weiteres Argument zugunsten der FEM, das theoretisch zwar überzeugt, dessen praktische Relevanz allerdings unklar ist Durch die Beteiligung an der FEM gehen die Regierungen der Mittelmeerländer vertragliche Verpflichtungen ein, die sie nicht mehr so ohne weiteres nach politischer Opportunität ignorieren können. Die Bindung der gegenwär-tigen und künftiger Regierungen verleiht der Ankündigung einer Liberalisierungspolitik eine wesentlich höhere Glaubwürdigkeit, als sie eine einseitige Absichtserklärung über eine allgemeine Zollsenkung haben würde: Zu oft sind in der Vergangenheit angekündigte und begonnene Reform-programme, hinter denen keine vertraglichen Verpflichtungen (gegenüber einem Partner, der über spürbare Sanktionsmittel verfügt) standen, wieder zurückgenommen, eingeschränkt oder abgebrochen worden. Regierungen, die vertragliche Verpflichtungen gegenüber dem Ausland (das zur Erfüllung des Vertrages bereits Vorleistungen erbracht hat) eingehen, entziehen sich dem Druck politischer Kräfte im eigenen Lande, die eine Abkehr der Politik vom eingeschlagenen Kurs verlangen.
VI. Gewinner und Verlierer der Freihandelszone
Das letzte Argument wirft bei genauerer Betrachtung einige politische Fragen auf. Von welchen Gruppen könnte ein Druck gegen eine Liberalisierung ausgehen, und wann ist es für eine Regierung sinnvoll zu versuchen, sich durch eine vertragliche Selbstbindung diesem Druck zu entziehen? Druck ist von jenen Gruppen zu erwarten, deren Besitzstände und Perspektiven durch die Liberalisierung des Außenhandels beeinträchtigt werden.
-Dazu gehören die Arbeitnehmer jener Unternehmen, die unter Rationalisierungsdruck geraten werden und Beschäftigung abbauen müssen. Für die von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmer ist die Aussicht auf einen allgemeinen Wirtschaftsaufschwung nach der Liberalisierung nur ein schwacher Trost: So kann man die optimistischen Aufschwungsprognosen mit guten Gründen in Frage stellen. Aber selbst wenn es einen Aufschwung gibt und dadurch mindestens so viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden wie alte wegfallen (was nicht garantiert ist), ist keineswegs sichergestellt, daß die Arbeitslosen von dem Aufschwung profitieren werden: Es ist nicht auszuschließen, daß in den neuen Industrien Arbeitskräfte mit anderen Qualifikationen gesucht werden, oder daß diese Industrien an anderen Standorten entstehen. Außerdem könnte sich die Arbeitslosigkeit deutlich früher einstellen als der arbeitsplatzschaffende Aufschwung.
-Opposition gegen die Liberalisierung ist auch von Unternehmern (insbes. Kleinindustriellen, Handwerkern) zu erwarten, die für den geschützten Binnenmarkt produziert haben und nicht über ausländische Partner verfügen, mit deren Hilfe sie den einsetzenden Wettbewerb überstehen können.
Besonders in Ländern mit großen Binnenmärkten und hohen Zollmauern sind dies keine kleinen Gruppen. Eine Regierung, die sich echten Wahlen stellen muß, läuft Gefahr, bei massiver Opposition dieser Gruppen ihre Mehrheit zu verlieren. Diese Gefahr könnte sie vielleicht durch den frühzeitigen Abschluß eines bindenden Freihandelsabkommens, wenn über die möglichen Belastungen in relativ ferner Zukunft noch kaum diskutiert wird, verringern. Wenn dann die Umsetzung näherrückt und sich die Opposition formiert, kann man auf die vertraglichen Verpflichtungen und Vorleistungen des Auslands hinweisen und deren Einhaltung zu einer Frage des nationalen Prestiges machen
Angesichts der hier dargestellten zu erwartenden Schwierigkeiten ist allerdings zu fragen, warum eine Regierung überhaupt der FEM zustimmen sollte. -Eine Antwort wäre, daß sie von den entwicklungsfördernden Effekten überzeugt ist, im „Interesse des Landes“ entschieden hat und bereit ist, um der Sache willen die politischen Probleme auf sich zu nehmen. -Eine andere Antwort könnte sein, daß die Regierung vor allem die Interessen derjenigen Gruppen vertritt, die von der FEM profitieren können. Dies ist vor allem dort eine plausible Erklärung, wo die Regierung weniger von Wahlen abhängt, sondern zum Machterhalt vor allem auf die Unterstützung bestimmter Wirtschaftskreise angewiesen ist.
Es lassen sich mindestens zwei Gruppen identifizieren, die von der Freihandelszone profitieren können: -Zum einen begünstigt das steigende Außenhandelsvolumen die im Außenhandel tätigen Unternehmen. Dies werden im Zweifel nicht die lokalen Kleinhändler sein, sondern eher marktstarke Großunternehmen. -Zum anderen können von einer FEM jene Unternehmen profitieren, die in der Lage sind, sich -ggfs. mit staatlicher oder ausländischer Hilfe -den neuen Bedingungen anzupassen, und die sich entweder durch Rationalisierung in den alten Märkten behaupten oder neue Produktionseinrichtungen aufbauen können. Auch hier dürften es vor allem größere und bereits etablierte Unternehmen sein, die z. B. Aufträge zur Verbesserung der Infrastruktur zur Vorbereitung der Freihandelszone erhalten, an die Anpassungsgelder der EU weitergereicht werden, oder die als Partner für ausländische Investoren in Betracht kommen.
Trotz einer Liberalisierung im Außenwirtschaftsbereich würde sich somit an den wirtschaftlichen Machtstrukturen kaum etwas ändern. Auch wenn mögliche Renten aus Lizenzen, Monopolen und Marktabschottungen abgebaut werden, wird es für die etablierten Wirtschaftskreise ausreichende Möglichkeiten geben, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen und die Anpassungskosten teilweise auf andere Gruppen abzuwälzen. Es fände zwar die von der EU propagierte Förderung der Privatwirtschaft statt, aber diese wäre sehr einseitig konzentriert.
Wo es funktionierende Klientel-und Patronagesysteme gibt, wird die von der FEM ausgelöste Öffnungs-und außenwirtschaftliche Liberalisierungspolitik nicht viel an den alten Machtstrukturen ändern. Die Opposition größerer Gruppen der Bevölkerung gegen die mit der EU vereinbarte außenwirtschaftliche Liberalisierung dürfte vor allem dann, wenn sie vehement vorgebracht wird, in Europa eher als Kampfansage radikaler Gruppen an eine befreundete Regierung denn als berechtigte Kritik gewertet werden. Ein „entschlossenes Handeln“ der angegriffenen Regierung könnte vor diesem Hindergrund auch im Ausland Unterstützung finden. Es ist fraglich, welchen Beitrag die FEM unter diesen Bedingungen zur Förderung oder Stärkung der Demokratie im Mittelmeerraum leisten würde.
Angesichts der bisher eher skeptischen Einschätzung der FEM soll abschließend betont werden, daß eine Fortsetzung der bisherigen Abschottungspolitik durch die Mittelmeerländer ihrer eigenen Entwicklung offenkundig nicht förderlich ist. Es geht also darum, einige der Erfolgsbedingungen und wünschenswerten Ergänzungen der Wirtschafts-und Finanzpartnerschaft klarer herauszustellen, damit mögliche Probleme rechtzeitig erkannt und Lösungen gesucht werden können. Die FEM ist sicher kein Allheilmittel für die Entwicklungsprobleme des Mittelmeerraumes, und sie kann unerwünschte und unerwartete Nebenwirkungen haben. Sie bietet aber auch echte Entwicklungschancen, zu denen es derzeit keine ernsthafte Alternative gibt. Genau darum ist es aber wichtig, die FEM realistisch einzuschätzen.