Hochtechnologien spielten im globalen ökonomischen Wettstreit der Systeme während der Ost-West-Konfrontation der Nachkriegszeit eine bedeutende Rolle. Ihre Beherrschung wurde zum entscheidenden Gradmesser für die Innovationsfähigkeit und Effizienz einer Volkswirtschaft. Und genau hier gewannen die führenden westlichen Industrienationen bald einen nichtaufholbaren Vorsprung. Auch wenn es für den Begriff „Hochtechnologien“ keine exakte Definition gibt, eine solche vielleicht überhaupt nicht gefunden werden kann soll er hier mangels vernünftiger Alternativen verwendet werden. Im übrigen wurde er auch im Sprachgebrauch des SED-Staates eher gemieden. Die Staatspartei bevorzugte noch 1986 den . Begriff „Schlüsseltechnologie“. Sie verstand darunter Mikroelektronik, moderne Rechentechnik und rechnergestützte Konstruktion, Projektierung und Steuerung der Produktion, flexible automatische Fertigungssysteme, neue Bearbeitungsverfahren und Werkstoffe, Biotechnologie, Kernenergie und Lasertechnik
Aufbau von Industriezweigen der Hochtechnologie
Werden unter dem Begriff Hoch-bzw. Schlüsseltechnologie solche Bereiche einer Volkswirtschaft verstanden, deren Erzeugnisse die Umsetzung des zum betrachteten Zeitpunkt wissenschaftlich und technisch „Machbaren“ darstellen und von denen man einen entscheidenden Beitrag für die Zukunft der Industriegesellschaften erwartet, so sind für die DDR in den fünfziger Jahren die Luftfahrtindustrie und die Kerntechnik zu den Industriezweigen der Hochtechnologie, in den siebziger und achtziger Jahren vor allem Rechentechnik/Datenverarbeitung und Mikroelektronik zu zählen. Es handelt sich durchweg um Bereiche, in denen hohe Ansprüche an die technologische Leistungsfähigkeit wie auch an das Organisationsvermögen von Unternehmen gestellt werden.
In den fünfziger Jahren war nach Auffassung der SED der Flugzeugbau der „Gradmesser für den Stand der Technik“ eines Landes. Dennoch war der in den Jahren zwischen 1954 und 1961 betriebene und zeitweilig von beträchtlichem Propagandaaufwand begleitete Aufbau einer Luftfahrt-industrie in der DDR in erster Linie ein Prestigevorhaben und damit weniger einer volkswirtschaftlichen Notwendigkeit geschuldet. Das Scheitern des ehrgeizigen Unternehmens bedeutete nicht nur die Liquidation eines Industriezweiges mit inzwischen 25 000 Beschäftigten, sondern ließ bereits zu einem frühen Zeitpunkt die Schwierigkeiten des SED-Regimes erkennen, Hochtechnologien wirtschaftlich und ökonomisch zu beherrschen. Als Ursachen sind nicht nur die gelegentlich als bereits hinreichend erforscht bezeichneten strukturellen Hindernisse zentralverwalteter Kommandowirtschaften nach sowjetischem Vorbild zu nennen, sondern auch die Unfähigkeit, eine funktionierende internationale Arbeitsteilung im Rahmen des RGW zu organisieren. Im Falle des Scheiterns der Luftfahrtindustrie spielten zudem die ökonomischen wie politischen Interessen der Sowjetunion eine maßgebliche Rolle
Ebenfalls in den fünfziger Jahren erwartete die SED-Führung vom Auf-und Ausbau der Kernenergie, die Ministerpräsident Otto Grotewohl 1955 als „größte wissenschaftlich-technische Aufgabe“ der DDR bezeichnete, bei der Konsolidierung der Industrie der DDR bereits mittelfristig eine Verbesserung der Energiewirtschaft. Darüber hinaus glaubte sie, ihren zu jener Zeit vertretenen Anspruch der Vorbildwirkung der DDR für ganz Deutschland durch den Einsatz der Kernenergie politisch und wirtschaftlich bekräftigen zu können Die Euphorie dieser Jahre mußte bald den ökonomischen und sicherheitstechnischen Schwierigkeiten beim Bau von Kernkraftwerken weichen. Gegen Ende der achtziger Jahre erreichte die Kernenergie in der DDR lediglich einen Anteil von etwa sechs Prozent am Primärenergieverbrauch Die Bedeutung der Rechentechnik und Datenverarbeitung erkannte die SED in der Mitte der sechziger Jahre. Das Datenverarbeitungs-Programm von 1964 wurde zum Kernstück des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS, die wirtschaftspolitische Reformkonzeption in den Jahren 1963-1967 zur Modernisierung des Wirtschaftssystems der DDR) war der SED-Führung doch klar, daß die angestrebte neue Wirtschaftsform ohne das Instrument der Rechentechnik und Datenverarbeitung nicht eingeführt werden könnte Dennoch gelang es dem Kombinat Robotron mit seinen etwa 65 000 Mitarbeitern -in der DDR Alleinhersteller von Computern -zu keiner Zeit, dem Stand der Technik entsprechende Rechner in ausreichender Anzahl zu produzieren. Mitte der achtziger Jahre sah sich die SED gezwungen, Betrieben und Forschungseinrichtungen zu erlauben, in den Läden des staatlichen An-und Verkaufs, ursprünglich allein für die Bevölkerung eingerichtet, Personalcomputer westlicher Herkunft für Mark der DDR zu erwerben.
Der Aufbau einer Mikroelektronik-Industrie
Die Einsicht, daß sich mit der Mikroelektronik eine Hochtechnologie entwickelt, die nachhaltige Veränderungen der Industriegesellschaft bewirkt, begann auch in der SED-Führung Raum zu gewinnen. Nach dem IX. Parteitag der SED im Juni 1976 befaßte sich die Wirtschaftskommission des Politbüros intensiv mit der Entwicklung der Mikroelektronik in der DDR. In den achtziger Jahren schließlich sollte sie nach den Vorstellungen der DDR-Führung zu einem Wundermittel im Kampf gegen die drohende Zahlungsunfähigkeit werden. Günter Mittag glaubte an den „technologischen Befreiungsschlag mit Hilfe der Mikrochips“
Der Kraftakt des Aufbaues einer Mikroelektronik-Industrie zeigt besonders deutlich, vor welche Probleme die zentralistische Kommandowirtschaft unter den Bedingungen der Ost-West-Konfrontation gestellt war, und daß die Führungstrias der DDR-Wirtschaft, bestehend aus Staatspartei, staatlicher Administration und Staatssicherheit, sich den Herausforderungen letztlich als nicht gewachsen erwies.
Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß die DDR zweifellos zu der weltweit relativ kleinen Gruppe von Ländern gehörte, die überhaupt in der Lage waren, hochintegrierte Speicherschaltkreise und andere mikroelektronische Bauelemente zu entwickeln und auf der Grundlage einer dieser Entwicklung angepaßten Technologie in Serie zu produzieren. Unstrittig ist andererseits, daß die Erzeugnisse dieses Industrie-zweiges in der DDR einen Stand verkörperten, der demjenigen der führenden Hersteller der Welt um Jahre hinterherhinkte. Das lag nicht etwa daran, daß die DDR den Startpunkt der Entwicklung der modernen Festkörperelektronik verpaßt hätte. Vielmehr war bereits am 1. August 1961 mit der Gründung der „Arbeitsstelle für Molekular-elektronik“ in Dresden eine Einrichtung geschaffen worden, die bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein als Forschungszentrum der DDR auf dem Gebiet der Mikroelektronik fungierte. Allerdings verlief der Aufbau dieser neuen Hochtechnologie keineswegs kontinuierlich. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wies der Industriezweig Elektrotechnik/Elektronik mit einem Produktionszuwachs von fast 60 Prozent das höchste Entwicklungstempo in der DDR-Industrie überhaupt auf Während sich die Mikroelektronik in der ersten Hälfte der siebziger Jahre in den führenden west-liehen Industriestaaten zu einer Schlüsseltechnologie entwickelte, beschloß die SED auf der 14. Tagung des ZK im Dezember 1970 und auf ihrem VIII. Parteitag im Juni 1971 die drastische Senkung der Investitionen im Industriezweig Elektrotechnik/Elektronik. Der von Honecker veranlaßte „politische und ökonomische Gegenentwurf zur Ulbrichtschen Politik“ -die „Einheit von Wirtschafts-und Sozialpolitik“ -erforderte andere Prioritäten. Die Konzentration auf den Ausbau der Rohstoff-und Energiebasis, die Erhöhung der Konsumgüterproduktion und nicht zuletzt die Forcierung des Wohnungsbaus hatten zur Folge, daß die Investitionen im Bereich Elektrotechnik/Elektronik im Jahre 1974 nur noch 68, 4 Prozent des Wertes von 1970 betrugen -eine für die Entwicklung der Mikroelektronik folgenreiche negative Kurskorrektur.
Als auf der 6. Tagung des ZK der SED im Juni 1977 endlich der „Beschluß zur Beschleunigung der Entwicklung, Produktion und Anwendung der Mikroelektronik in der DDR“ gefaßt wurde, betrug der Rückstand der DDR zur internationalen Spitze, wie eine als „Weltstandsvergleich“ im Auftrag des ZK der SED durchgeführte Analyse ergab, bei analogen Schaltkreisen bereits vier bis acht, bei digitalen Halbleiterspeichern und Mikroprozessoren sechs bis sieben Jahre und bei Technologischen Spezialausrüstungen bis zu neun Jahre. Die Produktivität der Ausrüstungen betrug ein Zehntel, in günstigen Fällen ein Drittel, die Kosten jedoch das 5-bis lOfache des internationalen Niveaus
Bezogen auf die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft der DDR waren die auf der Grundlage dieses Beschlusses erfolgten Investitionen im Bereich der Mikroelektronik enorm. Im Zeitraum von 1977 bis 1988 investierte die DDR etwa 14 Milliarden Mark, ohne dadurch jedoch den Rückstand zum internationalen Niveau wesentlich verringern zu können. Dieser betrug nach Einschätzung von Fachleuten noch immer ca. fünf bis sieben Jahre
Es waren aber nun nicht allein die wachsenden Schwierigkeiten bei der legalen Beschaffung „ausgewählter sensibler technologischer Spezial-ausrüstungen“ auf Grund chronischer Devisen-knappheit und auch nicht die Engpässe bei der illegalen Umgehung der Embargobestimmungen durch die eigens dafür geschaffenen Strukturen des Ministeriums für Staatssicherheit, die den SED-Staat zur Chancenlosigkeit im internationalen Wettbewerb verurteilten. Es war das grundlegende Konzept einer auf internationale Arbeitsteilung verzichtenden Mikroelektronik-Produktion mit ihrem Anspruch, Entwurf und Technologie der Schaltkreisfertigung aus eigener Kraft zu realisieren, das zunehmend seine Schwächen offenbarte.
Zu den organisatorischen Maßnahmen, die der „beschleunigten Entwicklung“ der Mikroelektronik dienen sollten, gehörte unter anderem die Zusammenfassung der Produktionsstätten in einem am 1. Januar 1978 gebildeten speziellen „Kombinat Mikroelektronik“ mit Sitz in Erfurt. Die Bildung dieses Kombinats war Teil einer Zentralisierungsaktion großen Ausmaßes, in deren Folge nun Kombinate „als die Grundform der gesellschaftlichen Organisation der sozialistischen Großproduktion“ dominierten. Zu den wichtigsten Fertigungsstätten des Kombinats Mikroelektronik gehörten der VEB Funkwerk Erfurt und der VEB Halbleiterwerk Frankfurt/O. In der Arbeitsstelle für Molekularelektronik, die zum „Zentrum für Forschung und Technologie Mikroelektronik“ (ZFTM) heranwuchs, wurden in den achtziger Jahren neue Basistechnologien und Schaltkreisgenerationen sowie die dazu notwendigen Spezialausrüstungen entwickelt. Eine wichtige Rolle spielte auch das Kombinat Carl Zeiss Jena, das als traditionsreicher Hersteller optischer Präzisionsgeräte technologische Spezialausrüstungen für die Halbleiterindustrie produzierte. Diesem Kombinat wurde am 1. Juli 1986 das Dresdner Forschungszentrum zugeordnet, was zunächst einmal zu erheblichen Schwierigkeiten und Tempoverlusten bei wichtigen Entwicklungsvorhaben führte. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre sollte nach dem Willen der Parteiführung der Bezirk Erfurt durch den Bau neuer und moderner Chipfabriken zum Zentrum der Hochtechnologie der DDR entwickelt werden In offiziellen Verlautbarungen war stets von „beschleunigter Elektronisierung“ die Rede. Im folgenden soll gezeigt werden, daß bereits für die Mitte der achtziger Jahre von einer aussichtslosen Lage gesprochen werden muß. Die Grenzen des „Nacherfindens“ sind erreicht
Obwohl in den Forschungs-und Entwicklungseinrichtungen des Kombinates Mikroelektronik Erfurt hochqualifiziertes wissenschaftliches Personal und auch eine Grundausstattung an den entsprechenden Geräten als Voraussetzungen für eine eigenständige Schaltkreisentwicklung vorhanden waren, vollzog sich die Entwicklung von Speicher-schaltkreisen in der Praxis als „Nacherfinden“ eines westlichen Fremdmusters. Zu diesem Zweck mußte zumindest ein Exemplar des in Frage kommenden Schaltkreises „beschafft“ und sein logischer Aufbau analysiert werden. Das war die Grundbedingung für jeden weiteren „Fortschritt“. Die sich anschließende Technologieentwicklung bestand dann im wesentlichen darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, diesen nacherfundenen Chip mit den in der DDR zur Verfügung stehenden technologischen Spezialausrüstungen in Serie hersteilen zu können. Aber auch ein erheblicher Teil dieser Ausrüstungen gelangte unter Umgehung der westlichen Embargobestimmungen in die DDR. Durch die sogenannte „Neutralisierung“, das Entfernen von Typenschildern und Gerätebeschreibungen, sollte verhindert werden, daß die mit diesen Geräten arbeitenden Ingenieure Kenntnisse über Hersteller und Lieferanten erhielten. Trotz aller Geheimniskrämerei war diese Praxis nicht nur den unmittelbar Beteiligten bekannt, sondern zählte zum gesicherten Wissen aller Interessierten.
Mit der Entwicklung von Speicherschaltkreisen einer Kapazität von mehr als einem Megabit erreichte die Miniaturisierung Mitte der achtziger Jahre aber einen solchen Grad, daß das „Nacherfinden“ einen höheren Aufwand erforderte als die Eigenentwicklung. Es genügte nun nicht mehr, die geometrische Struktur eines Chips unter dem Mikroskop zu entschlüsseln. Rückschlüsse auf die Funktionsweise, die Herstellungstechnologie und die zur Produktion verwendeten Anlagen waren nur noch unter Zuhilfenahme aufwendiger elektrischer Meßmethoden zu ziehen. Diese Erkenntnis von Spitzenfachleuten erreichte natürlich zunächst einmal das MfS. Das ist dem Bericht eines inoffiziellen Mitarbeiters zu entnehmen, der feststellte, daß „in der DDR nicht das Know how vorhanden ist, um solche komplizierten Mikroprozessoren vom Systementwurf her zu beherrschen“
Natürlich kannten die Hersteller der Original-schaltkreise nicht nur die Praktiken der Konkurrenz aus dem „sozialistischen Lager“. Sie machten sich darüber auch noch lustig. Bei der Analyse eines Mikroprozessors der amerikanischen Firma „Digital Corporation“ entdeckten die „Nacherfinder“ nämlich folgenden Text in kyrillischer Schrift: „CVAX... Wann hört ihr endlich auf zu klauen, eigene (wahrhafte) Entwürfe sind besser“. Dieser Chip konnte noch einmal „geknackt“ werden. Das Kombinat Robotron in Dresden favorisierte ihn zur Weiterführung der 32-Bit-Rechner-linie. Wie unökonomisch mitunter allein die Beschaffung solcher Fremdmuster war, geht ebenfalls aus dem Bericht des MfS hervor, in dem darauf hingewiesen wurde, daß „das Chip nicht käuflich ist“ und deshalb müsse eine „wertvolle Maschine zerstört worden sein“, um in den „Besitz des Chips zu gelangen“
Lizenzverhandlungen scheitern
Der im vorangegangenen Abschnitt beschriebene und als Eigenentwicklung deklarierte Nachbau von Speicherschaltkreisen erfolgte in der Regel zu langsam, um den rasch wachsenden Bedarf der Industrie zu befriedigen. Die geltenden Embargo-bestimmungen verboten offizielle Lizenzverhandlungen. Dennoch fand die DDR „heimliche“ Lizenzgeber, wie z. B. die japanische Firma Toshiba. Diese sah sich jedoch gezwungen, ihr Produkt so zu modifizieren, daß keine eindeutigen Rückschlüsse auf den ursprünglichen Entwickler möglich waren; etwa beim 64 kDRAM-Speicherschaltkreis. Das wiederum führte zu Komplikationen bei der Produktionseinführung in Erfurt. Obwohl Toshiba die komplette Dokumentation des modifizierten Schaltkreises bereitgestellt hatte, reichte das nicht aus. Die Ausschußquote lag 1987 so hoch, daß „erhebliche Gefährdungen für den Volkswirtschaftsplan 1988“ bestanden, da viele Betriebe fest mit dem Einsatz dieses Schaltkreises in ihren Enderzeugnissen rechneten. Als Toshiba die Beziehungen zum Kombinat Mikroelektronik „aus Sicherheitsgründen, die aus dem gespannten Verhältnis USA -Japan resultieren“ (wie die Verhandlungsführer des Erfurter Kombinats in ihrem Bericht vermuteten), vollständig abbrach, verschärften sich die Schwierigkeiten noch mehr.
Das Kombinat Mikroelektronik wurde „Opfer“ der Beilegung des Handelskonfliktes zwischen Japan und den USA auf dem Gebiet der Halbleiterchips durch den Abschluß des sogenannten Halbleiterabkommens im Juli 1986. Dieses Ab-kommen enthielt auch Festlegungen zur Überwachung des Exports japanischer Hersteller in Drittländer Die für Wirtschaftsfragen zuständige Abteilung XVIII der MfS-Bezirksverwaltung Erfurt wurde daraufhin aktiv. Den Begriff „Wirtschaftsspionage“ vermeidend, veranlaßte es die „Prüfung vorhandener Möglichkeiten zur Beschaffung von 64 k/256 k Datensätzen aus der japanischen Produktion der Fa. Toshiba im Rahmen der wissenschaftlich-technischen Aufklärung“ Die Unterlagen des MfS zeigen auch, daß sich der VEB Mikroelektronik „Karl Marx“ Erfurt bereits 1987 um eine Lizenz für den 256 k Speicherschaltkreis bei der Firma Toshiba bemüht hatte -vergeblich!
Export kompletter Chipfabriken
Die maßgeblichen wirtschaftsleitenden Funktionäre der DDR kannten selbstverständlich den enormen Rückstand der mikroelektronischen Erzeugnisse zum internationalen Niveau. Viele von ihnen ahnten zumindest die wachsenden Schwierigkeiten bei der Sicherung der Zahlungsfähigkeit in der Mitte der achtziger Jahre. Eine Verbesserung dieser Situation erhofften sie sich durch die Lieferung kompletter Fabrikationsanlagen für mikroelektronische Bauelemente an noch weiter zurückgebliebene Länder. Im Dezember 1988 wurden in einer Vertraulichen Verschlußsache des Kombinats Carl Zeiss Jena folgende Vorhaben genannt: 1. Projektstudie einer kompletten 256 KdRAM-Fertigungsstätte als Gemeinschaftsprojekt des Kombinats Carl Zeiss Jena und der österreichischen Firma VOEST-Alpine für Polen mit einem Umfang von „ca. 100 Mio. Rubel und 250 Mio. DM“; 2. Anfrage der Universität Säo Paulo, Brasilien, zur Projektierung, Realisierung und Ausrüstung eines Mikroelektronik-Technikums im Wert von ca. 40 Mio. US-Dollar; 3. Aufbau einer Halbleiterfertigung im Bereich der Autoindustrie in Kaluga, UdSSR, im Wert von ca. 33, 5 Mio. US-Dollar; 4. Aufbau einer kompletten Fertigungs-
Stätte „auf Basis CMOS-Technologie und Niveau 256 KdRAM in Piestany“, CSSR, mit noch nicht beziffertem Volumen; 5. „Proforma-Angebot“ über eine Halbleiterfabrik für die Volksrepublik China. Darüber hinaus enthielt das Dokument Informationen über weitere Projektanfragen aus Polen, Indien, dem Iran und Skandinavien. Das Finanzvolumen dieser Vorhaben war durchaus beachtlich. Zudem versprach man sich interessante Nebeneffekte. Karl Nendel, Staatssekretär im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik und mit dem offenbar beliebten Decknamen „Sekretär“ als GMS („Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit“) für das MfS tätig, meinte, „daß es schon sehr interessant wäre“, auf diese Weise „in einen iranischen militärischen Sektor hinein-dringen zu können“, was im Falle des Irak „wohl nicht gelungen wäre“
Die Tatsache, daß die DDR nicht alle für die Produktion von Schaltkreisen benötigten technologischen Spezialausrüstungen selbst hersteilen konnte, sondern diese unter Umgehung der Embargobestimmungen (vor allem durch den Bereich „Kommerzielle Koordinierung“ Alexander Schalck-Golodkowskis) beschaffte, führte zu schwerwiegenden Komplikationen. Bei einem Export kompletter Fabriken in noch rückständigere Länder -wie es der Plan der DDR vorsah -mußten diese sensiblen Ausrüstungen entweder mitgeliefert oder der Käufer mußte informiert werden, auf welche Geräte und Ausrüstungen welcher westlicher Hersteller die gelieferte Technologie zugeschnitten war. Damit erhielten potentielle Kunden auch Kenntnis vom Ausmaß der Umgehung des Embargos durch die DDR und deren technologischer Defizite.
In dem genannten Vorhaben „Mikroelektronik-Technikum Universität Säo Paulo, Brasilien“ kulminierten die Probleme, denen sich das Kombinat Carl Zeiss Jena durch die notwendige Offenlegung illegal beschaffter Spezialausrüstungen aussetzte. Zur „Erarbeitung der Eckpunkte des Grobprojektes“ gehörte auch eine Liste der benötigten Ausrüstungen mit Angaben zu den entsprechenden Geräten, den Lieferanten, eventuellen Konkurrenzgeräten sowie ein Preisvergleich Diese „Brasilien-Liste“ wurde im Zentrum für Mikroelektronik Dresden von einem stellvertretenden Fachdirektor zusammengestellt und nach Jena gesandt -zur auftragsgemäßen „persönlichen Mitnahme“ des Verhandlungsführers nach Brasilien. Durch den IM „Günter“, als ökonomischer Leiter im Kombinat Carl Zeiss Jena tätig, erhielt das MfS Kenntnis von dieser Liste und deren geplanter Verwendung Der Staatssicherheitsdienst schaltete sich ein und strebte eine „zwingende Einflußnahme auf die Verhinderung der Offenbarung von Lieferlinien aus dem NSW (Nichtsozialistisches Währungsgebiet, d. Verf.) durch die Weitergabe der Anlagenspezifikation an den brasilianischen Partner“ an. Daraufhin ergriff das Kombinat Carl Zeiss Maßnahmen, um angesichts der „Gefährlichkeit dieser offenen Unterlagen“ ähnliche Pannen in Zukunft zu vermeiden. In einer Beratung mit dem Generaldirektor des Kombinates Carl Zeiss, Wolfgang Biermann, am 6. Juni 1989 legte Staatssekretär Karl Nendel -jener IM in Schlüsselposition -fest, daß Chipfabriken nur dann exportiert werden könnten, wenn damit keine Offenlegung von Beschaffungsquellen verbunden sei Das erwies sich allerdings als überflüssig. Bevor eines dieser Vorhaben realisiert werden konnte, hörte die DDR auf zu existieren. Der IM „Günter“ erhielt übrigens für seine „Verhinderung des Verrates wichtiger Informationen im Rahmen eines geplanten Geschäftes mit Brasilien“ vom MfS eine Prämie in Höhe von 1 000 Mark.
Die Liberalisierung in der UdSSR
Die von der Führung der Staatspartei mit Argwohn und Mißtrauen beobachteten politischen Veränderungen in der Sowjetunion nach der Machtübernahme durch Gorbatschow hatten nicht nur eine bis dahin undenkbare Kritikfreudigkeit an Maßnahmen des „großen Bruders“ zur Folge, sondern weckten durch Entwicklungen, die bislang gültigen Dogmen der zentralistischen Kommandowirtschaft zuwiderliefen, auch Befürchtungen. So sah sich das Politbüro der SED plötzlich mit einer Lockerung des Außenhandelsmonopols des sowjetischen Staates konfrontiert. Der Zentralismus der DDR-Wirtschaft wie auch das erstarrte Denken der Funktionäre prallten auf einen sich als überraschend dynamisch erweisenden Lehrmeister.
Allerdings gab es für die SED-Führung zur Zusammenarbeit mit der UdSSR nicht nur keine Alternative, sondern deren weiterer Ausbau wurde auch immer notwendiger. In einer als „streng geheim“ eingestuften „Information über den Stand der Zusammenarbeit der DDR mit der UdSSR auf dem Gebiet der Mikroelektronik“ vom 30. Mai 1988 wurde die in Jahrzehnten ein-geübte Floskel von einer „zunehmend engeren kameradschaftlichen Zusammenarbeit mit der UdSSR“ immer noch strapaziert, mit der den „Bemühungen der imperialistischen Machtzentren gerade auf dem Gebiet der Mikroelektronik“ um eine „uneinholbare technologische Überlegenheit“ wirksam zu begegnen sei. Der technologische Rückstand sowohl in der DDR als auch in der UdSSR, so wurde in bewährter Weise diagnostiziert, sei die Folge von „momentanen Engpässen“, zu denen vor allem „die rechtzeitige Verfügbarkeit von Elektronikmaschinen in bedarfsdeckender Stückzahl“ gehöre.
Die Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung, die streng genommen nicht existierte, da es „keine direkte Zusammenarbeit von Forscherkollektiven“ gab, wurde vor allem auch deshalb von der DDR besonders aufmerksam beobachtet, weil „es offensichtlich ernste Probleme bei der Leitung und Planung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der UdSSR“ gab, die auch „gewisse Auswirkungen auf die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit den Bruderländern“ haben mußten. Genau um diese „gewissen Auswirkungen“ sorgten sich die Wirtschaftsfunktionäre der DDR, wenn sie feststellten, daß „an der Entwicklung eines neuen Leitungsstils im Staatlichen Komitee für Wissenschaft und Technik“ der UdSSR gearbeitet wurde.
Die DDR hatte es mit großer Anstrengung vermocht, ihre Lieferverpflichtungen im Elektronik-maschinenbau gegenüber der Sowjetunion quantitativ zu erfüllen. Allerdings verkörperten die gelieferten Maschinen keinesfalls internationales Spitzenniveau -weder hinsichtlich der Qualitätsparameter noch der Produktivität, wie die sowjetischen Kollegen kritisch anmerkten. Ein Spitzenerzeugnis des VEB Carl Zeiss Jena erreichte zum Beispiel nur etwa ein Zwanzigstel der im Prospekt ausgewiesenen Leistung. Andererseits war es der Sowjetunion selbst nicht gelungen, ihre vertraglichen Verpflichtungen termingerecht zu erfüllen. Dadurch war die Inbetriebnahme einer neuen Halbleiterfabrik am Standort Erfurt Süd-Ost III gefährdet. Trotz solcher Schwierigkeiten blieb die SED-Führung unbeirrbar ihrer weltfremden Annahme treu, daß die Zusammenarbeit mit der UdSSR so entwickelt werden könne, daß bei Elektronikmaschinen zur Herstellung höchstintegrier-ter Schaltkreise „in den nächsten Jahren eine völlige Unabhängigkeit von NSW-Importen“ zu erreichen sei.
Auch die gegenseitige Lieferung von Schaltkreisen gab Anlaß zur Sorge, mußten doch „Nichtlieferung bzw. Vertragsrückstände“ der UdSSR durch „zusätzliche NSW-Importe kompensiert werden“. Wenn sich die „sowjetische Seite“ auch auf Ministeriumsebene für die „durch verspätete Lieferung in der DDR entstandene Lage“ entschuldigte, so schien doch der einzige Ausweg aus den Schwierigkeiten mit einem Partner, den als unzuverlässig zu benennen nun möglich war, darin zu bestehen, die Inbetriebnahme weiterer Schaltkreisfabriken in der DDR zu forcieren. Dem Minister für Elektrotechnik/Elektronik wurde von der Bezirksverwaltung Erfurt des MfS empfohlen, bei künftigen Verhandlungen mit der UdSSR von „einer realen Einschätzung des in der DDR erreichten Niveaus auszugehen“. Das waren offenbar erste Anzeichen einer Abkehr vom sowjetfrommen Wunschdenken der Vergangenheit.
Daß dem Ziel, im Handel mit der Sowjetunion einen Exportüberschuß zu erreichen, unüberwindliche Barrieren im Wege standen, zeigte eine detaillierte Analyse des „Regierungsabkommens , Mikroelektronik’ DDR -UdSSR“. Sie kam zu dem Ergebnis, daß bei den „strategisch relevanten Themen Mikroprozessorschaltkreise und Meßtechnik“ keine Fortschritte erzielt werden konnten, da die UdSSR auf keinen DDR-Vorschlag auf dem Sektor „Schaltkreise“ eingegangen sei bzw. die Bemühungen der DDR auf dem Gebiet „Meßtechnik“ am Verhalten der UdSSR gescheitert seien.
Aber nicht allein die spezifischen Schwierigkeiten des Industriezweiges Mikroelektronik mit der Sowjetunion beunruhigten die Wirtschaftsfunktionäre in der DDR. Als „grundsätzliches Problem“ der Zusammenarbeit der „sozialistischen Länder“ bezeichnete das Kombinat Mikroelektronik Erfurt im Februar 1989 die Tatsache, daß „die zentrale Planung und Leitung der Volkswirtschaft der DDR mit einer sich immer mehr dezentralisierenden Planung und Leitung der Volkswirtschaften einiger RGW-Länder (UdSSR, VR Polen) konfrontiert“ sei Ferner diagnostizierte das MfS eine vom bislang Üblichen abweichende außenwirtschaftliche Aktivität der Sowjetunion: „eine Offensive (teilweise sogar mit aggressivem Charakter)“ zur Entwicklung von Direktbeziehungen der Betriebe, um „sich selbst naheliegende Vorteile zu verschaffen“. Bemühungen, aus diesen Einsichten Prognosen zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der RGW-Staaten abzuleiten, die es ermöglicht hätten, eigene Strategien zu formulieren, sind bis zuletzt jedoch nicht erkennbar.