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Die politische Krise als Kommunikations-Krise. Eine kommunikationswissenschaftliche Makroanalyse | APuZ 36-37/1997 | bpb.de

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APuZ 36-37/1997 Die politische Krise als Kommunikations-Krise. Eine kommunikationswissenschaftliche Makroanalyse Manager des Parlaments zwischen Effizienz und Offenheit. Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag Bundesgesetzgebung als Prozeß Verbände und Demokratie: Funktionen bundesdeutscher Interessengruppen in Theorie und Praxis

Die politische Krise als Kommunikations-Krise. Eine kommunikationswissenschaftliche Makroanalyse

Peter Glotz

/ 12 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Krise, in der sich das politische System der Bundesrepublik befindet, ist eine Kommunikationskrise mit drei Aspekten. Erstens gibt es eine Erfahrungsverdünnung in den politischen Parteien durch die Benachteiligung der „Zeitarmen“. Das Ergebnis ist eine immer größer werdende Kluft zwischen dem Zeitgespräch in den Parteien und dem Zeitgespräch in der Gesellschaft. Diese Kluft versuchen die Parteien -zweitens -durch eine Art „telepathischer Beziehungen“ zu überbrücken; nämlich durch den Spitzenkandidaten, den Helden, die Verkörperung. Der Typus des Populisten wird als Medium engagiert. Die dritte Kommunikationsstörung liegt in der Kommunikationsverweigerung, die die politischen Parteien in Deutschland mehr und mehr betreiben; die deutsche politische Kultur ist von zahllosen Tabus bestimmt, über die man nicht diskutieren darf. Wenn diese Kommunikationsstörungen nicht behoben werden, erhöht sich die Gefahr rechts-und linkspolitischer Bewegungen.

I.

Das deutsche Parteiensystem befindet sich in einer ernsten Krise. Einerseits ist die Bundesrepublik als Parteiendemokratie konzipiert; die schlechten Erfahrungen der Weimarer Republik mit dem Volk haben dazu geführt, daß das Grundgesetz plebiszitäre Elemente (Volkswahl des Präsidenten, Volksabstimmungen) ausgeschlossen hat. Andererseits bringen die Parteien die notwendigen Innovationen nicht mehr zustande. Es ist mit Händen zu greifen, daß überkommene Systeme neuen sozialen, ökonomischen und demokratischen Bedingungen angepaßt werden müssen. Das gilt z. B. für den nach 1945 geschaffenen Sozialstaat unter den Bedingungen der Globalisierung; der Individualisierungsschub und das Anwachsen der Zahl der Selbständigen haben etwa die Rahmenbedingungen für die Krankenversicherung grundlegend geändert. Selbstvorsorge ist in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts viel zumutbarer und selbstverständlicher als in den fünfziger oder sechziger Jahren. Ähnliches gilt für das Rentensystem. Bleibt man beim heutigen lohn-und beitragsbezogenen Rentensystem, gerät man allein wegen des Absinkens der Bevölkerungszahl schon ab dem Jahre 2020 zu unakzeptabel hohen Beitragssätzen von 25 Prozent. Unser Steuersystem ist formal gerecht, weil es für höhere Einkommen sehr hohe Spitzensteuersätze vorsieht. Kaum einer der Einkommensmillionäre zahlt jedoch diese Spitzensteuersätze, weil es zahllose Schlupflöcher gibt. Und die Ladenschlußgesetzgebung war auf Familienstrukturen abgestellt, bei denen einer hauptamtlich für die Versorgung zuständig ist und die notwendigen Einkäufe zwischen acht und 18 Uhr erledigen kann. Die wachsende Zahl von Singlehaushalten, alleinerziehenden Müttern und allein-erziehenden Vätern war bei diesen Regelungen nicht eingeplant. Man könnte die Liste dieser notwendigen „Systemänderungen“ fast beliebig verlängern. Das deutsche politische System bewältigt diese überfälligen Reformen aber nicht mehr. Das großartigste Ergebnis des politischen Jahres 1996 war eine ziemlich klägliche und halbherzige Veränderung der Ladenschlußzeiten. Über Renten-und Steuerreform werden zwar großangelegte Debatten geführt. Daß sie zum Ergebnis führen, ist unwahrscheinlich. Das liegt einerseits an den prekären Mehrheitsverhältnissen. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP hat ebenso wie ihre mögliche Alternative, eine rot-grüne Koalition, in aller Regel nur eine sehr schmale Mehrheit. Hinzu kommt, daß es in Bundestag und Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten gibt. Strukturreformen sind unter diesen Bedingungen schwer durchsetzbar. Schlimmer noch: Konsistente Vorschläge für derartige Strukturreformen kommen gar nicht auf den Tisch, weil die Parteien zwar die eigentlichen Akteure sind, sich auf weitgehende Änderungskonzepte aber nicht einigen können. Bundespräsident Roman Herzog hat den zirkulären Diskussionsprozeß, in dem neue Vorschläge zuerst begrüßt und dann zerstört werden, in seiner „Berliner Rede“ zutreffend geschildert. Die Konsequenz ist deutlich sichtbar. Das Parteiensystem verliert rapide an Zustimmung in der Bevölkerung. Wenn das so weitergeht, ist das Entstehen bzw. Stärkerwerden rechts-und linkspopulistischer Bewegungen absehbar.

Der Grund für das Abbröckeln des politischen Systems liegt in Kommunikationsstörungen. Es sind drei kommunikative Probleme, die unser politisches System langsam, zäh und schwer beweglich machen.

II.

Das erste Problem ist die Erfahrungsverdünnung in den politischen Parteien. Ich expliziere es am Beispiel der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands; man würde aber nicht zu anderen Ergebnissen kommen, wenn man die CDU, die CSU oder die FDP grundlegend analysierte. Das Problem liegt in der Abschirmung der Binnenkommunikation der Parteien vom Zeitgespräch der gesamten Gesellschaft. Parteien sind heutzutage einseitig zusammengesetzte, relativ geschlossene und ver3 gleichsweise alte, hierarchisch gestufte Kommunikationszirkel, in die die vielfältigen Bedürfnisse der differenzierten Bürgergesellschaft nur mühsam und langsam vordringen.

Die SPD ist nach dem Regionalprinzip organisiert. Die Meinungsbildung vollzieht sich in Ortsvereinen und über Ortsvereine zu Unterbezirken, Bezirken, Landesverbänden und dem Bundesparteitag. Wer sich in der SPD durchsetzen will, muß sich in den unteren Organisationen bekanntmachen. Das ist in der Regel ein Prozeß, der einige Jahre dauert. An sich ist das Prinzip plausibel und demokratisch: Die Mitgliedschaft will wissen, wer sie vertritt. Deswegen dauert es in der Regel sechs oder sieben Jahre, bis eine oder einer sich das Vertrauen erarbeitet hat, um ein größeres Mandat zu ergattern. Dieses System hat nun zwei Konsequenzen. Es zieht erstens nur Leute an, die sich auf lange Fristen einstellen können und viel Lebens-energie in die Politik investieren wollen; das ist einer der Gründe, warum die politischen Parteien derzeit von unten her austrocknen. Es gibt immer weniger junge Leute, die für diese Art von Partei-arbeit gewonnen werden können. Zweitens stellen politische Parteien eine einseitige Auswahl aus der Bevölkerung dar. Die Rituale und Prozeduren der Parteienpolitik begünstigen bestimmte Berufe und soziale Schichten und benachteiligen andere.

Ulrich Pfeiffer hat diese Probleme plastisch dargestellt. Er nennt diejenigen, die in politischen Parteien gute Chancen haben, „Zeitreiche“. Der Klassenkampf spielt sich sozusagen nicht mehr zwischen Geldreichen und Geldarmen ab, sondern zwischen Zeitreichen und Zeitarmen. Pfeiffers Analyse lautet folgendermaßen: „Man kann kaum etwas gegen (das) System (der politischen Parteien) einwenden. Die Mitgliedschaft ist offen. Man beteiligt sich an einem überschaubaren Orts-verein. Das System geht allerdings stillschweigend von der Annahme aus, daß die einzelnen über ähnliche Zeitbudgets verfügen, um für die Parteiarbeit präsent zu sein. Genau diese Voraussetzung ist heute immer weniger erfüllt. Die Arbeitszeiten oder die zeitlichen Beanspruchungen durch Beruf und Familie haben sich extrem aufgefächert. Immer mehr erwerbstätige Mütter verfügen kaum noch über Freizeit. Immer mehr Freiberufliche, Manager, Spitzenbeamte oder Erwerbstätige in technisch anspruchsvollen Berufen, in denen ein ständiges Lernen Voraussetzung des beruflichen Erfolgs wird, können kaum Zeit und Energie aufbringen, um sich, ständig am Binnenleben einer Partei zu beteiligen. Die Gesellschaft läßt sich immer ausgepräger in zeitreiche und zeitarme Menschen aufteilen. Zwar hat der Tag für jeden 24

Stunden, doch immer mehr können von einer 40-Stunden-Woche nur träumen und sind ständig bis an ihre Kapazitätsgrenze durch berufliche und familiäre Pflichten ausgelastet. Der Zeitfraß der Parteiarbeit kann nur von denen verkraftet werden, die über viel Zeit verfügen.“

Die Folge dieses Selektionsprozesses ist klar. Die Zeitreichen, ob Lehrer, Angestellte der Kommunen, Beamte, Rentner etc. bleiben unter sich. Die Erfahrungen von Selbständigen, technischer Intelligenz, Unternehmen, Freiberuflern, erwerbstätigen Müttern etc. bleiben ausgeblendet. Die Bedürfnisse dieser Ausgesperrten (denen man immer entgegenhalten kann, sie könnten sich in den Parteigremien ja engagieren, wenn sie nur wollten) werden in die Kommunikationsprozesse nicht eingespeist. Die Konsequenz ist eben Erfahrungsverdünnung. Das Tempo der Bewältigung neuer Themen wird langsamer. Sprache und Themenwahl, Kommunikationsformen und Personalauswahl der Volksparteien genügen der Realität unserer Gesellschaft nicht mehr, weil wichtige Eliten ausgesperrt bleiben. Das, was in der Gesellschaft diskutiert wird, dringt viel zu langsam in die Gremien der Parteien vor. Also fallen die Parteien immer mehr der Verachtung anheim.

Ich stelle dieses Phänomen an einem extremen Beispiel dar. Eine der schwächeren Organisationen der SPD ist der Bayerische Landesverband. Es handelt sich um eine Organisation von immerhin rund 100 000 Mitgliedern, die aber stark überaltert ist und seit vier Jahrzehnten keine Regierungsverantwortung mehr hatte. Daraus resultieren Minderwertigkeitskomplexe und ängstliche Abschottungstendenzen. Die Folge: Viele Jahre hat diese Organisation den Versuch gemacht, mit einem Hirschhornknopf-Image in der unteren Mittelschicht Wähler zu gewinnen. Ein einfacher Nachahmungsprozeß: Da die Träger von Hirschhornknopf-Trachtenanzügen in vielen oberbayerischen Dörfern und Kleinstädten sozusagen die Macht repräsentierten, versuchte die Minderheitspartei nicht etwa, neue soziale Schichten zu gewinnen, sondern kopierte die Mehrheitspartei CSU. Bei der bayerischen Bevölkerung lösten diese Bemühungen eine Mischung von Rührung und Belustigung aus. Erst neuerdings hat die bayerische SPD, motiviert durch eine neue Führung, wieder 30 Prozent der Wählerschaft erreicht.

Die Unfähigkeit der „real existierenden“ politischen Parteien, rasch auf neue Entwicklungen zu reagieren, liegt also in einer Verkapselung in ihrer Binnenkommunikation, die wiederum auf einer allzu engen Selektion ihrer Mitgliedschaft bzw. Aktivbürgerschaft beruht. Die Umdenkleistung moderner politischer Parteien ist zu gering. Zwar verfügen die meisten Parteizentralen über Grundlagen-und Zeitgeistforschung sowie Fremdbeobachtung. Sie können es aber nicht wagen, radikale Konsequenzen zur Debatte zu stellen, weil sie damit in ihrer Binnenkommunikation keinen Erfolg hätten. Diese Versäulung wird durch das Wahlsystem verstärkt. Da 50 Prozent der Abgeordneten über feste Listen bestimmt werden, über die nur Parteigremien entscheiden, ist es für Kandidaten in der Regel wichtiger, innerparteilichen Pressure-groups zu gefallen als der Mehrheit der Bevölkerung. Das Ergebnis ist eine immer größer werdende Kluft zwischen dem Zeitgespräch in den Parteien und dem Zeitgespräch in der Gesellschaft.

III.

Da die politischen Eliten dieses Defizit natürlich empfinden, sinnen sie auf Abhilfe. Wenn man durch die demokratischen Prozeduren („innerparteiliche Demokratie“) schon zu weit vom Wähler wegdriftet, muß man ein Medium erfinden, das eine Art telepathische Beziehung zu diesem unbekannten Wesen, dem Wähler, herstellt. Das ist der Spitzenkandidat, der Held, die Verkörperung. Also entwickelt sich zur Korrektur einer Fehlentwicklung eine weitere Fehlentwicklung: Man könnte sie -mit einem paradoxen Begriff -demokratischen Cäsarismus nennen. Zur Korrektur der zähen Binnenkommunikation der Zeitreichen erfindet man den Populisten an der Spitze. Wieder ein Kommunikationsprozeß. Der Kanzlerkandidat einer politischen Partei konkurriert selbstverständlich mit allen anderen Hauptdarstellern, die im Medium Fernsehen auftreten. Eine kleine Schicht von Spezialisten unterscheidet exakt zwischen der Tagesschau, in der der Kanzlerkandidat der SPD ein Statement abgibt, und dem Unterhaltungsfilm, in dem Michael Douglas einen amerikanischen Präsidenten spielt. Der normale Zuschauer bewertet beide als Hauptdarsteller. So konkurriert ein Politiker mit Michael Douglas. Die Mehrheit des Publikums vermißt an ihm Emotion, Charme, Pathos oder was immer. Das führt dazu, daß sich Parteien immer mehr nach Spitzenkandidaten sehnen, die Michael Douglas so ähnlich sind wie möglich. Man entscheidet sich -das englische Beispiel:

Tony Blair statt Gordon Brown. Das Auswahlkriterium für Spitzenleute ist ihre Fernsehtauglichkeit. Natürlich kann man fernsehtaugliche Spitzenpolitiker finden, die trotzdem noch Grundsätze, Kenntnis der Örtlichkeit und Sachkompetenz besitzen. Das ist aber nicht garantiert. Der Typus des Populisten, der als Medium engagiert ist, wird häufiger und häufiger. So wird die Verkapselung in Binnenkommunikation kompensiert durch Spitzenfiguren, die mit autoritären Kraftakten die demokratische Meinungsbildung ihrer Partei konterkarieren. Wie dabei eine sachgerechte Reform der Renten-oder der Krankenversicherung herauskommen soll, ist eine offene Frage.

IV.

Die dritte Kommunikationsstörung liegt in der Kommunikationsverweigerung, die die politischen Parteien in Deutschland mehr und mehr betreiben. Die deutsche politische Kultur ist „tantenhaft“ Sie ist von zahllosen Tabus bestimmt, über die man nicht diskutieren darf. Hintergrund dieser „Tantenhaftigkeit" sind falsche Ideen über die Führbarkeit einer Gesellschaft durch Meinungsmanipulation. Man kann das die deutsche „Publizistenideologie“ nennen, womit der eingewurzelte Wunsch vieler Journalisten, in die Politikerrolle zu schlüpfen, gemeint ist. Viele Journalisten stellen nicht das zur Debatte, was die Gesellschaft bewegt, sondern das, was die Gesellschaft ihrer Meinung nach bewegen sollte. Ausdruck der Publizistenideologie ist die als Ethos kostümierte Auffassung, man dürfe doch X oder Y kein „Podium bieten“. Wem ich ein Podium biete, sagen viele Journalisten, entscheide ich selbst. Die Folge ist eine immer größer werdende Kluft zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung.

Am besten läßt sich dieses Problem am Beispiel Österreichs analysieren. Dort haben die beiden stärksten Parteien über Jahre versucht, den Rechtspopulisten Jörg Haider aus der öffentlichen Kommunikation auszugrenzen. Was in Deutschland mit Franz Schönhuber gelungen ist, weil er Mitglied der SS gewesen war und bei großen Auftritten schwitzte, gelang bei Haider nicht. Der ist nach 1945 geboren und benutzt das richtige Herrenparfüm. Der Versuch der Ausgrenzung hat ihm ein Märtyrer-Image verschafft. Er hat seinen Aufstieg geradezu begünstigt. Wie die Österreicher mit Haider verfahren, so verfahren die Deutschen mit der PDS. Eine öffentliche Diskussion mit Gregor Gysi z. B. widerspricht zumindest in der gesamten rechten Hälfte des politischen Spektrums, die rechte Mitte eingeschlossen, dem Komment. Das Ergebnis ist -jedenfalls in Ostdeutschland -dem in Österreich durchaus ähnlich.

Journalisten sind im System einer demokratischen Verfassung, z. B.des Grundgesetzes, Vermittler, nicht Strategen, die entscheiden, wer „aufgewertet“ wird und wer nicht. Die „Tantenhaftigkeit“ der deutschen politischen Kultur führt aber dazu, daß bewegende Debatten in der Politik kaum noch stattfinden. Die Extrempositionen werden ausgegrenzt, die großen Protagonisten (Bundeskanzler Kohl als Beispiel) stellen sich keinen kontroversen Debatten, also bleiben Diskussionen von wenig profilierten und wenig unterscheidbaren Repräsentanten der sogenannten „politischen Mitte“. Das Ergebnis: Das deutsche Volk interessiert sich weit mehr für Thomas Gottschalk, Boris Becker und das Nabtal-Duo als für politische Debatten.

V.

Soweit zur Analyse; wo aber läge die Therapie? Verschiedene Ideen dazu sind immer wieder entwickelt worden. Viel Chancen zur Verwirklichung haben sie derzeit nicht. -So stellt Ulrich Pfeiffer „die Konzeptionsvereine“ zur Debatte, die die Binnenkommunikation der politischen Parteien aufbrechen könnten. Konzeptionsvereine -als Gegenpol zu Ortsvereinen -sollten Organisationen sein, in denen sich Mitglieder zusammenschließen, die keinem Ortsverein als stimmberechtigte Mitglieder angehören, sich aber auf der Basis einer Zustimmung zu einer formulierten politischen Konzeption organisieren wollen. „Konzeptionsvereine hätten den Vorteil, daß man, gestützt auf schriftliche Äußerungen von Vorständen oder einzelnen Mitgliedern, eine Position beziehen kann. Politisches Engagement wäre nicht an seinen hohen Zeitaufwand gebunden. Die innere Verfassung von Konzeptionsvereinen wäre im übrigen natürlich nach den gleichen demokratischen Spielregeln zu organisieren wie die der Orts-vereine. Als wichtigste Veränderung wäre schriftliche Abstimmung nicht die Ausnahme, sondern die Regel.“ -Eine andere Idee zur Vitalisierung der inneren Struktur von politischen Parteien ist der virtuelle Ortsverein. Das sind Chat-Groups im Internet. Menschen treffen sich also nicht mehr im Hinterzimmer „Zum grünen Baum“, sondern in einer Mailbox. Sie können über ihren PC alle Themen, die sie für notwendig halten, zur Debatte stellen und bekommen rasch Rückmeldungen. Selbstverständlich könnte man nicht das gesamte politische Leben per E-Mail organisieren. Parlamente, Parteitage und andere Formen der Repräsentativdemokratie blieben notwendig. Über den virtuellen Ortsverein könnten sich aber auch die Zeitarmen in die politische Debatte einschalten, die über die klassischen politischen Strukturen heute mehr oder weniger ausgeschlossen bleiben. -Wenn die politischen Parteien selbst nicht reformierbar sind, weil die bisherigen Inhaber der innerparteilichen Macht an ihrer eigenen Entmachtung natürlich nicht mitwirken wollen, bliebe als Möglichkeit eine sanfte Entmachtung der Parteien selbst. Debattiert wurden die Volkswahl des Präsidenten (mit mäßiger Steigerung seiner Kompetenzen) und die Einführung von Volksbegehren auf Bundesebene. Es ist nur schwer einzusehen, daß die Franzosen über den Maastricht-Vertrag abstimmen durften, die Deutschen aber nicht. Und es ist fragwürdig, eine zentral wichtige politische Entscheidung, wie die Europäische Währungsunion in Parlamenten durchzusetzen, ohne die Gesellschaft insgesamt zu beteiligen. Die Gegenargumente sind bekannt. Sie offenbaren ein verlängertes Hindenburg-Syndrom der deutschen politischen Kultur. Man glaubt, daß nur durch eine Stellvertreter-Demokratie jener hemmungslosen Demagogie entgegengewirkt werden kann, mit der Adolf Hitler in den dreißiger Jahren an die Macht kam. Die These ist umstritten. Nur wenn die politischen Eliten all ihre Argumentationskunst aufbieten müssen, um eine Mehrheit des Volkes von -z. B. -der Währungsunion zu überzeugen, wird diese Währungsunion so tief im Bewußtsein der Massen verankert werden, daß sie funktionieren kann. Natürlich gibt es keinerlei Garantie für rational ablaufende Kommunikationsprozesse. Man kann mit vernünftigen Ideen beim Volk scheitern. Man kann, wie die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, mit vernünftigen Ideen aber auch beim Parlament scheitern. Man könnte sagen: Wenn die Parteien strukturelle Reformen nicht mehr zustande bringen, muß man der Gesellschaft mehr Möglichkeiten zur Intervention in das politische Geschäft geben. Allerdings haben solche Vorstellungen derzeit nur eine geringe Chance der Verwirklichung. Bleibt also alles beim alten? Das kann man ausschließen. Wenn der Sozialstaat ausrinnt, weil die Kraft zu seiner Reform fehlt; wenn die Renten unsicher werden, weil die Rentenformel nicht mehr stimmt; wenn die Besteuerung für bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu drückend wird, werden sich Veränderungen Bahn brechen. Hier kommt die deutsche Variante des Parlamentarismus ins Spiel. Da der Parlamentarische Rat in Reaktion auf die Krisenhaftigkeit der Weimarer Republik mit Föderalismus, Verhältniswahlrecht, Fünf-Prozent-Klausel, konstruktivem Mißtrauensvotum und der Beschränkung der Präsidentenrolle auf repräsentative Kompetenzen ein ausgesprochen „langsames“ politisches System konstruiert hat, sind eingreifende Veränderungen schwierig 4. Eine Umstellung institutioneller Arrangements wie im Großbritannien der Thatcher-Ära ist ausgeschlossen. Das hat eine fatale Konsequenz: Die zu Attentismus, Durchwurstelei und symbolischer Politik verurteilten oder jedenfalls angehaltenen politischen Eliten verlieren Stück für Stück ihre Reputation. Genau dieser Prozeß ist in Deutschland seit einem viertel Jahrhundert im Gang.

Denn in parlamentarischen Demokratien vom Typus der deutschen sind zur Durchsetzung neuer Strukturen „Warmkatastrophen“ nötig. Willy Brandts sozialdemokratischer Reformismus war das Produkt der Jugendrevolte von 1968; solche „Revolten“ sind aber weder plan-noch kontrollierbar. Ihren Kern -in der Regel populistische Bewegungen -kann man nicht hegen wie den Brennstoffkreislauf eines Kernkraftwerks. Explosionen sind ganz und gar nicht auszuschließen. Hier liegt die Gefahr für die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland.

Man muß an den Übergang Frankreichs von der Vierten zur Fünften Republik denken. De Gaulle hat mit seiner persönlichen Autorität eine Erneuerung der Verfassung ermöglicht. Frankreich lebt mit ihr seit fast vier Jahrzehnten. Allerdings sind politische Systeme, die zur Krisenbewältigung jeweils einen de Gaulle brauchen, gefährdet. Statt de Gaulle könnte immer auch ein anderer kommen. Ein Fähnleinführer, ein Populist oder ein Condottiere.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ulrich Pfeiffer, Eine Partei der Zeitreichen und Immobilen. Folgerungen für eine Strukturreform, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 44 (1997) 5, S. 392 f.

  2. Vgl. Peter Glotz, Die Jahre der Verdrossenheit. Ein Tagebuch ohne Rücksichten, Stuttgart 1996.

  3. U. Pfeiffer (Anm. 1), S. 393.

Weitere Inhalte

Peter Glotz, Dr. phil., geb. 1939; Professor für Kommunikationswissenschaft und Rektor der Universität Erfurt; langjähriger Abgeordneter des Deutschen Bundestages und Bundesgeschäftsführer der SPD; ehern. Senator für Wissenschaft und Forschung in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Die Jahre der Verdrossenheit. Ein Tagebuch ohne Rücksichten, Stuttgart 1996; Im Kern verrottet? Fünf vor zwölf an Deutschlands Universitäten, Stuttgart 1996; (zus. mit Rita Süssmuth und Konrad Seitz) Die planlosen Eliten. Versäumen wir Deutschen die Zukunft?, München 1992.