I. Begriffe und Entscheidungsdefizite
„Krise“ bedeutet von ihrem griechischen Wort-Ursprung her „Scheidung“ eines Zustandes, in dem es zu entscheiden gilt, ob und wie eine grundlegende Verbesserung möglich werden könnte -und sollte. „Perspektive“ meint von ihrem lateinischen Wort-Ursprung her „Durchsicht“ bzw. „Fernsicht“. Dieser Zwischenruf behandelt Krisen- und Perspektivenentscheidungsfragen des Politikunterrichts, um die sich (nach meiner Leitthese) die gegenwärtig repräsentativ veröffentlichte Didaktik der politischen Bildung tendenziell herumdrückt: Warum werden -ähnlich wie bei Verbänden, Parteien und Parlamenten -
Grundlagenkontroversen nicht öffentlich begründet und konsequent ausgetragen? Wo werden die sich verschärfenden Krisen in Politik und Wirtschaft in ihren -interdependenten -System-und Sachzwängen zusammenhängend erklärt, deren absehbare Konsequenzen antizipiert, diese -mit prinzipiellen Alternativmodellen systematisch vergleichend -diskutiert?
Zwar machen immer wieder einzelne Wissenschaftler und Politiker sowie engagierte (Bürger) -Initiativen, Umweltschutz-, Friedens-und Menschenrechtsbewegungen auf diese Krisen -als solche -aufmerksam, überwiegend jedoch ohne volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Ihre Warnungen finden durchaus Resonanz in den Massenmedien. Auf deren Druck hin werden sogar von mitglieder-und kapitalstarken Verbänden und Parteien Denkschriften und Programme verfaßt. Regierungen geben Absichtserklärungen ab. Nationale und internationale Konferenzen vereinbaren Grundsatzerklärungen und Selbst-verpflichtungen ihrer Teilnehmerstaaten -„im Rahmen ihrer gesetzlichen, finanziellen und technischen Möglichkeiten“ -ohne strukturell korrigierende Maßnahmen und effektive Kontrollen. Diese Praktiken verfolgen auch prominente Autoren der politischen Bildung. In verdienstvollen Untersuchungen und Unterrichts-Modellen werden sie im einzelnen registriert, dokumentiert und auch kritisch kommentiert. Zu kurz jedoch kommen umfassendere Analysen der Wirtschaftsordnung(en), in denen sich globale Krisen entwikkeln, deren Wechselwirkungen humane Überlebensperspektiven insgesamt in Frage stellen. Erst recht zu kurz kommen Analysen der rechtlichen und ökonomischen Kompetenzen nationaler Parlamente und Regierungen sowie internationaler Kommissionen, die Kapitalkonzentrationen trans-kontinentaler Konzerne und Kartelle noch zu kontrollieren und zu (be) steuern, wenn sie diese Krisentendenzen noch stoppen oder gar umkehren wollen.
Zwar werden seit einiger Zeit im Deutschen Bundestag sowie in Tageszeitungen Nachrichtenmagazinen oder Buchpublikationen anspruchsvolle Debatten zur sogenannten „Globalisierung“ geführt. Diese erscheinen jedoch überwiegend defensiv. Offensive Gegenstrategien im Zuge einer internationalen Wirtschaftspolitik zugunsten einer wirksamen „Harmonisierung“ nationaler Steuern und Abgaben sowie einer kontrollierten Angleichung von Arbeits-, Sozial-und Umweltstandards kommen nicht zur Geltung -es sei denn, auf dem tendenziell niedrigsten Niveau.
Auch in der universitären Didaktik der politischen Bildung werden offensichtlich keine prinzipiellen Systemkontroversen mehr dargestellt und aufgear-beitet Nicht nur bei vielen Studenten und Schülern wächst die Unlust an „bloßen Theorien“ der Politik, erst recht der Ökonomie. Beliebter sind „Praxisobjekte“. Wenn aber bereits Studierende der Sprach-und Sozialwissenschaften „sich das Lesen aufteilen“, Theoriediskussionen oft nur noch mit erheblichen (Autoren-) Druckkostenzuschüssen veröffentlicht werden können, diesen Konzeptionen zudem häufig primär der Einwand entgegengehalten wird, es fehlten die „realistischen“ Unterrichtsmodelle, dann verschwindet die Anregung bzw. die Fähigkeit zu einem Denken in systemkritischen Perspektiven und Alternativen, das sich nach erklärten Prinzipien, Regeln und Kriterien rechtfertigt vor dem „Utopie“ -bzw. „Akzeptanz“ -Ein-oder Vorwand: „Wie soll das gehen?“ „Ist das Jugendlichen und Wählern noch vermittelbar?“
Wie weit kann dieses gängige Argument noch zur Ausrede umfunktionalisiert werden? Hätte der Frage nach den realistischen (Aus-) Wegen aus der Krise nicht zunächst die Frage nach den Wegen in die Krise vorauszugehen? Hat politische Bildung sich mit der verfassungstheoretischen Feststellung des parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaates i. S.des Art. 20, II GG zu begnügen, daß „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht“, ohne die „besonderen Organe der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt“ politikwissenschaftlichempirisch zu befragen, wohin diese Gewalt im einzelnen gegangen bzw. wie mit ihren Steuer-Mitteln umgegangen worden ist
Wäre nicht die gängige Frage nach „realistischen Wegen“ argumentativ zu konfrontieren mit der konzeptionellen Vor-Frage nach deren Zielen und Zwecken sowie nach den Kategorien und Kriterien ihrer vergleichenden Beurteilungen? Waren die Grundsatzdiskussionen in den siebziger Jahren zwischen Hilligen, Schmiederer, Roloff, Giesecke und Sutor über die Positionen politischer Bildung zu gerechten und gemeinwohlverpflichteten Staats-, Rechts-und Wirtschaftsordnungen inhaltlich nicht berechtigt -wenn sie auch nicht formal über oberste Lernziele mitentscheiden konnten?
Meine Kritik kann nicht den Kolleginnen und Kollegen in Schule und Hochschule gelten, die immer noch bemüht sind, diesen Theorieverlusten politischer Bildung argumentativ entgegenzutreten. Doch wie lange können sie noch den Sorgen um den methodischen und substantiellen (Wissenschafts-) Anspruch des Politikunterrichts, um seine politisch-ökonomische Systemrelevanz, um seine sozial-politische Bildungsperspektive gerecht werden? Was können und wollen sie dem modisch opportunen „mainstream“ der Sozialpädagogisierung, Individualisierung und Moralisierung der politischen Bildung entgegenhalten, der sich historischen Herrschaftsanalysen und Ideologiekritiken entfremdet hat?
II. Entmachtung der Politik -Entwertung politischer Bildung
Meine These bzw. Diskussion des Verlustes der Politik sowie der Ökonomie im Politikunterricht strukturiere ich unter drei Perspektiven:
1. Die Entmachtung (parlamentarisch-demokratischer)
Politik wurde bisher nicht angemessen politikwissenschaftlich erforscht.
2. Die aus dieser (vor allem ökonomischen bzw.
technologischen) Ohnmacht der Politik resultierende Entwertung der politischen Bildung wurde nicht entsprechend analysiert bzw. politikdidaktisch thematisiert.
3. Statt dessen wurden dem Politikunterricht wesentliche Teile seiner politik'wissenschafthchen bzw. politikdidaktischen Substanzen entzogen (während Theorie-Spezialisierungen weiter von der Unterrichtspraxis abstrahierten). Die Resultate dieser Entwicklung kritisiere ich wiederum unter drei Aspekten:
1. Der begriffskonsequente, wissenschaftlich-rechtliche Unterschied zwischen Politikunterricht und Werteerziehung ging verloren. Damit verbunden löste sich der Politikunterricht überwiegend in allgemeiner Sozialpädagogisierung auf.
Mit der Reduzierung der -veröffentlichten -
Politik auf massenmediale Personalisierungen und Symbolisierungen verschwanden die strukturellen Konflikte und Kontroversen, Perspektiven und Alternativen der Politik auch im Unterricht.3. Von dieser Politik und ihrem Unterricht versprachen sich die meisten Jugendlichen nichts mehr für ihre Zukunft. Das Fach wurde oft zur sogenannten „Laberstunde“ über allgemeine Sinnfragen ohne (fach) -wissenschaftliche Kategorien, Kriterien, Methoden und Systematisierungen. Es trat damit zu Recht an den Rand von Geschichte, Philosophie, Rechts-und Wirtschaftskunde.
Diese Krise des Politikunterrichts ist selbstverständlich nicht plötzlich und unvermittelt entstanden. Sie erscheint mir unter vier historischen Belastungen zu stehen: -Die Geschichte der politischen Bildung ’ an den Schulen Westdeutschlands begann (und verlief sich im Sinne des Wortes) von Anfang an unter falschem Namen: Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Welt-und Umweltkunde, Gesellschaftslehre bezeichneten den gleichen, gemeinsamen Umweg, nämlich die begriffliche Verfehlung des Politischen, d. h. die Konflikte und Kontroversen um die Regelung öffentlicher Angelegenheiten als organisierte Verteilungskämpfe um Macht und Geld, aber auch um die Perspektiven der Wirtschafts-, Staats-und Rechtsordnungen. -Dieser begrifflichen und konzeptuellen Verfehlung des Politischen entsprach die alibihafte Fächerzuordnung: Hinter der falschen Alternative: Fach oder fächerübergreifendes Prinzip konnte sich das eine hinter dem anderen Fach verstecken, um politische Bildung abschieben zu können. Exemplarisch dafür waren die Statuskämpfe zwischen Geschichte und Politik, als ob man sinnvoll Politik ohne ihre Geschichte verstehen könnte, als ob man Geschichte ohne politische Interessen aktualisieren sollte. -Anders als in den „Nachbar“ -Fächern Geschichte und Geographie fehlte es bis zum Ende der sechziger Jahre den meisten Politiklehrern an einer entsprechenden fachwissenschaftlichen Qualifikation. Ein Jahrzehnt später traf der abrupte Einstellungsstop der Lehrer die inzwischen politik-wissenschaftlich Examinierten mit an erster Stelle. -Die seinerzeit mehr oder weniger ideologischen Streitigkeiten um die „obersten Lernziele“ in den Rahmenrichtlinien Hessens und Nordrhein-Westfalens 1972/73 verhalfen zwar „Curriculumstrategen“ und Bildungspolitikern zu verbands-und parteipolitischen Profilierungen. Dem Politik-unterricht haben sie eher geschadet. Diese Parteipolitisierung trug dazu bei, den Unterricht in seiner sich ohnehin erst etablierenden fachwissenschaftlichen und schulischen Seriosität zu beeinträchtigen.
Dabei wäre das Dilemma der „obersten Lernziele“ von vornherein unter dem Anspruch verfassungssystematischer bzw. grundrechtslogischer (Begriffs-) Konsequenz zu analysieren gewesen:
-Entweder normierte man inhaltlich Lernziele, über die allgemeiner wissenschaftlicher Konsens bestand, allerdings unter dem Verdacht ihrer leerformelhaften Trivialität, da sie politische Kontroversen ausklammern, -oder aber man zerstritt sich zwischen a) einer sogenannten „linken“, emanzipatorischen „Systemkritik“, bis hin zu „Systemüberwindung“,
b) und einer sogenannten rechten „System-Bewahrung“
und „-Identifikation“, als ob der freiheitlich-pluralistische Rechtsstaat des Grundgesetzes wie ein ideologischer Vormund oder eine Staatskirche, wie eine Weltanschauungsbehörde oder ein Wissenschaftsschiedsrichteramt eine Weltanschauung, ein Menschenbild, eine Werteordnung, ein Wirtschafts-und Gesellschaftssystem inhaltlich gültig und verbindlich vorgeben dürfte, worauf staatliche Schulen hin zu erziehen hätten
Soweit politische Erziehung in der staatlichen Schule als Rechtsbegriff in Gesetzen und Rahmen-richtlinien politische (Wertej-Entscheidungen der Lehrer und Schüler normieren wollte, war ihre Anspruchsgrundlage wie etwa die „GrundwerteOrientierung“
des Bundesverfassungsgerichts vor allem vier grundrechtslogisch-verfassungssystematischen Einwänden ausgesetzt (welche die repräsentative Didaktik der politischen Bildung bisher nicht verarbeitet hat)
1. Methodisch-systematisch kontrollierbar sind widerspruchsfrei aus Wortlaut und Zusammenhang der Grundrechtsfreiheiten, Verfassungsgrundsätze, Einrichtungen, Kompetenzentscheidungen und Verfahrensordnungen des Grundgesetz-Textes keine rechtsverbindlichen Werteentscheidungen abzuleiten. Rechtsverbindlich können allein äußere Verhaltensweisen operationalisiert, kontrolliert und reglemen-tiert werden; Bekenntnis-, Meinungs-, Kunst-und Wissenschaftsfreiheiten jedoch dürfen inhaltlich nicht bestimmt bzw. zensiert werden.
2. Die (unterschiedlichen) Wertvorstellungen historischer Verfassungs(gesetz) geber dürfen der freien, werteoffenen Diskussion nicht entzogen werden.
3. Die (unterschiedlichen) Wertbegründungen und Erwartungen von Gesetzgebern, Verwaltungen und Gerichten dürfen die freien Bewertungen ihrer Adressaten nicht normieren. Verbindlich sind allein die rechtsförmigen, äußeren Entscheidungsergebnisse -unabhängig von deren inhaltlichen (Wert-) Akzeptanzen.
4. Der demokratische Rechtsstaat des Grundgesetzes ist in der staatlichen Schule gegenüber allen gesellschaftlich (erst recht wissenschaftlich)
vertretenen Wertvorstellungen in gleichen Verfahrensweisen zu inhaltlicher Nichtidentifikation, Neutralität, Pluralität, Offenheit und Toleranz verpflichtet. Er hat keine parteilichen Orientierungsentscheidungen vorzugeben.
III. Rechtlich-wissenschaftliche Organisationsregeln
Gegen eine grundgesetzlich und wissenschaftlich nicht zu rechtfertigende „linke“ wie „rechte“ (Werte-) Erziehung in der staatlichen Schule stelle ich drei Organisationsregeln zur Diskussion:
1. Der Politikunterricht kann und soll nur über Politik aufklären.
2. Im Politikunterricht sind die Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, zu analysieren und zu diskutieren, welche die Schüler qualifizieren, politisch mitbestimmen zu können.
3. Politische Gesinnungen, Einstellungen, Bereitschaften, Verhaltensweisen der Schüler können zwar Gegenstand (freiwilliger) Analyse und Diskussion werden, nicht jedoch verbindliche Lernziele.
Entgegenstehende sogenannte Erziehungsaufträge der staatlichen Schulen in verschiedenen Länder-verfassungen, Schulgesetzen, Rahmenrichtlinien stehen in rechtslogisch-verfassungssystematischem Widerspruch zu den ziel-und werteoffenen -Grundrechten der Schüler, -Erziehungsrechten der Eltern, -Beamtenpflichten der Lehrer zu politischer Mäßigung und Zurückhaltung, zu Unparteilich-keit, Pluralität, Offenheit und Toleranz, zu Nicht-Indoktrination und -Agitation, zu methodisch-systematischer Begründung und vergleichender Diskussion.
Wie anders sollen Schüler lernen, ihre Grundrechte selbst-und mitbestimmt, gewaltfrei und gleichberechtigt, in demokratisch-rechtsstaatlich geordneten Verfahren ausüben zu können? Ziele und Bewertungen ihrer Grundrechte läßt ihnen die Verfassung offen. Die Grenzen der Ausübung liegen allein im Mißbrauch, soweit damit andere in der gleichberechtigten Wahrnehmung ihrer Grundrechte behindert werden. Darauf haben die Lehrer hinzuweisen sowie deren Gründe und Gegengründe logisch prüfen zu lassen.
Ansonsten haben sie zu respektieren, wozu und wie die Schüler von ihren Grundrechten Gebrauch machen (wollen) -oder auch nicht. Denn diese Grundrechte enthalten keine -positiven -Pflichten: Niemand, auch kein Schüler, ist verpflichtet, seine Gesinnung, seine Meinung zu äußern, zu demonstrieren, zu koalieren, Petitionen zu verfassen, den Rechtsweg zu beschreiten, in Parteien mitzuwirken oder zu wählen. Die Lehrer haben lediglich das Recht und die Pflicht, mit den Schülern die Voraussetzungen, Bedingungen, Verfahren, Ziele, Mittel, Folgen, Risiken politischen Handelns bzw. Nichthandeins vergleichend zur Diskussion zu stellen. Welche Konsequenzen die Schüler daraus für ihre Einstellungen und (außerschulischen) Verhaltensweisen ableiten, geht die Lehrer -rechtlich -nichts an.
Bei einer möglichen (gesetzlichen) Neuregelung des Politikunterrichts in den neuen -und hoffentlich auch in den alten -Bundesländern sollten die Länderparlamente (analog zum Sexualkundebeschluß des BVerfG vom 21. 12. 1977 fünf Organisationsgrundsätze normieren:
1. Politikunterricht als eigenständiges Fach (mit einem Deputat von einer Doppelstunde in den Sekundarstufen I und II in Abstimmung mit Geschichte/Geographie bzw. Wahlkursen zur Rechts-und Wirtschaftslehre sowie Philosophie);
2. das Gebot der Zurückhaltung und Toleranz sowie der Offenheit für die vielfach im politischen Bereich möglichen Wertungen;
3. das Verbot jeder Indoktrinierung und Agitation der Schüler; 4. das Gebot fachwissenschaftlich-didaktischer Begründbarkeit und vergleichender Analyse und Diskussion;
5. die Pflicht, im voraus die Schüler und Eltern zu informieren über diese Kriterien, methodischen Lernziele, Themen und Unterrichtsmaterialien.
Gesetzlich regelungs-und parteiübergreifend konsensfähig erscheinen drei -formale -„oberste Lernziele“ zur Qualifizierung der Schüler im Sinne ihrer kognitiven Grundrechtsmündigkeit: 1. Grundkenntnisse der Schüler zu Organisationsstatuten und Entscheidungsprozessen in Verbänden, Parteien, Parlamenten, Regierungen, Verwaltungen und Gerichten;
2. Fertigkeiten zur Analyse und Diskussion regierungs-, partei-und verbandspolitischer Positionen und Programme am Beispiel von Original-quellen im Vergleich zur Berichterstattung und Kommentierung in Massenmedien;
3. Techniken, „in Wort und Schrift“ an der öffentlichen Meinungs-und Willensbildung teilnehmen zu können
Die darauf aufbauenden Rahmenrichtlinien sollten sich beschränken a) auf Grundsätze zur methodisch-systematischen Vermittlung und Prüfung von Kenntnissen und Fertigkeiten, politische Sachverhalte und Probleme quellenbelegt referieren, analysieren und vergleichend beurteilen zu können (dabei sollte ausdrücklich klargestellt werden: Die Lehrer haben nicht zu beurteilen, ob sie inhaltlich die „Wertungen“ der Schüler teilen, sondern ob diese nach allgemeinen, formalen Kriterien vertretbar sind, was die Präzision, Differenziertheit und Konsistenz von Kategorien und Argumentationen betrifft);
b) auf Hauptthemenbereiche (vor allem über Krisen und Perspektiven verschiedener Staats-, Rechts-und Wirtschaftsordnungen);
c) auf entsprechende fachwissenschaftlich-didaktische Kriterien für die Zulassung von Unterrichts-büchern.
IV. Entwertung politischer Bildung durch „Werte-Erziehung“
Meine grundrechtslogisch-verfassungssystematischen Einwände gegen die Verbindlichkeit jeder staatlich-schulischen (Werte-) Erziehung verbinde ich mit fünf philosophischen und historischen Kontrollfragen:
7. Kategorien und Kriterien:
Sind die Schlüsselbegriffe „Erziehung“ -„Werte“ -„Orientierung“ so eindeutig operationalisierbar definitorisch bestimmt und abgegrenzt, daß zwischen Befürwortern und Gegnern wirklich geklärt ist, wovon -terminologisch konsistent -die Rede ist, und wovon nicht? 2. Erkenntnisanalytische Paradigmen und Prämissen:
Sind die -unaufhebbaren -Vorläufigkeiten, Bedingtheiten, Begrenztheiten, Gerichtetheiten ihrer Grundannahmen und Sichtweisen so rekonstruiert, daß ihre Emanzipation aus historisch anachronistischen, metaphysischen Spekulationen, idealistischen Projektionen, (pseudo-) rationalistischen Fiktionen intersubjektiv überprüfbar werden kann? 3. Wissenschaftstheoretische Zuordnung:
Sind Grundlagenkontroversen der beiden großen, aktuellen Wissenschaftstheorien(„Kritische Theorie“ -„Kritischer Rationalismus“) auf deren Niveau so substantiiert geprüft, daß ihre diesbezüglichen „Orientierungen“ vergleichend diskutiert werden können? 4. Moralphilosophische Begründung:
Sind die originalen und aktuellen ethischen Grundlagentheorien und -kontroversen (vor allem zwischen „Deontologen" und „Regelutilitaristen“) so zugrunde gelegt, daß ihre erst danach erklärte „Orientierung“ explizit hergeleitet und vergleichend diskutiert werden kann?
5. Historisch-systematische Gesellschaftsanalyse: Sind die Bedingungen, Strukturen und -regelhaften -Prozesse von Gesellschafts-, Wirtschafts-und Rechtssystemen so analysiert, daß die (realen) Möglichkeiten, Grenzen und Funktionen ihrerPostulate ideologiekritisch und herrschaftsanalytisch diskutiert werden können?
Diese Fragen richten sich nicht an die Theoretiker der Werte-Erziehung als akademisches Ritual. Erst ihre intersubjektiv offengelegten Begründungen und gegenseitigen Prüfungen erschließen die argumentativen Übergänge zu spezifischen Entscheidungs-Diskussionen politischer Bildung, nämlich ihren Leitfragen, d. h.
-der politischen Anachronizität -Aktualität von Traditionen und Konventionen hinter moralischen Postulaten;
-der sozialwissenschaftlichen Entmystifizierung ungesellschaftlicher Abstraktionen „ewiger Werte“ einer „metaphysischen Grundlegung des Sittengesetzes“;
-der Erklärung des historischen Fortschritts bei der Universalisierung von (ursprünglich bloßer)
Nächstenliebe (as sogenannte „Goldene Regel“ der Gegenseitigkeit) zum „Weltbürgertum“
als das widerspruchsfreie Kriterium gegen Standesprivilegien;
-der Konfrontation ethischer Grundsätze der Freiheit und Gleichheit mit ungleichen, ungerechten Arbeits-und Herrschaftsteilungen;
-der Analyse zunächst partikularer, ungleicher Vorteilsinteressen bzw. Nachteilskonsequenzen bei der widerspruchsfreien Gleichberechtigung und -Verpflichtung in allen öffentlichen Angelegenheiten;
-der tatsächlichen Voraussetzungen, Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des Könnens und Wollens in der Praxis ethischer Grundsätze;
-der gesellschaftlichen Gütekriterien hinter den „Dilemmata“ moralischer Urteilsstufen zur Gerechtigkeit als Selbstzweck
V. Entmachtung parlamentarisch-demokratischer Politik im Zuge der „Globalisierung“
Durch die Implosion des „real“ nicht existierenden Sozialismus (d. h. ohne reale demokratisch-sozialistische Alternative und Perspektive) 1989/90 hatten die Systeme der parlamentarisch-demokratisehen Rechts-und Sozialstaatlichkeit ihren militärischen, politischen, ökonomischen und ideologischen (Haupt-) Gegner verloren. Sie hatten den Rüstungswettlauf gewonnen, den Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt entschieden. Doch wo und wie haben sich die Reformfähigkeiten und -bereitschaften der westlichen Marktwirtschaften gezeigt? Wie haben diese sich auch ihren eigenen -miteinander verbundenen -Krisen der Hoch-rüstung, Umweltzerstörung, Massenarbeitslosigkeit, Staatsüberschuldungen, des organisierten Drogen-, Waffen-und Menschenhandels gestellt?
Zwar scheint inzwischen die Rüstungsproduktion bzw.der Waffenexport der USA, Englands, Frankreichs, Deutschlands (aber auch Rußlands und Chinas) ingesamt um ca. 20 Prozent zurückgegangen zu sein Von entsprechenden Umdispositionen der freigewordenen Gelder in den Umweltschutz (und damit zugleich in Millionen neue Arbeitsplätze) ist jedoch nichts bekannt. Der Umweltschutz tritt national und erst recht international auf der Stelle Danach schreitet der Raubbau an der Natur (vor allem in den Entwicklungsländern) noch schneller voran, als die Erde sich erholen kann.
Die Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industrieländern zeigt im Durchschnitt einen nominellen Sockel von mehr als zehn Prozent der statistisch erfaßten Erwerbstätigen mit realen, regionalen, saisonalen und konjunkturellen Schwankungen bis zum Doppelten -mit wachsender Tendenz insbesondere zuungunsten von Langzeitarbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Frührentnern. Diese nehmen staatliche Unterstützungen in Anspruch, die zudem einen wesentlichen Teil zur Überschuldung der staatlichen Haushalte beigetragen haben Inzwischen existiert kein größeres westliches Industrieland, dessen reales gesamtstaatliches Budgetdefizit kaum weniger als zwei Drittel seines jährlichen Bruttosozialproduktes ausmacht, dessen durchschnittliche jährliche Neuverschuldung nicht mehr als drei Prozent seines Bruttosozialprodukts entspricht, das nicht bald -wie die Bundesrepublik -jede vierte Steuermark nur für Schuldenzinsen (ohne Tilgung!) aufwenden muß. Ist die Perspektive so unwahrscheinlich, daß am Ende dieses Jahrhunderts die staatlichen Gesamtschulden perspektivisch (Renten, Pensionen, Krankenversicherungen) so weit an die privaten Geldvermögen heranreichen werden, daß keine andere Wahl mehr bliebe, als die Einführung der neuen gemeinsamen Euro-Währung mit einer Währungsreform zu verbinden?
Sind diese Überschuldungen der staatlichen Haushalte nicht auch zum wesentlichen Anteil auf die sogenannte Globalisierung zurückzuführen, d. h. auf den national und international völlig ungesteuerten und unkontrollierten Kapital-, Waren-und Arbeitskräfte-Verkehr, auf die fehlende „Harmonisierung“ von Steuern und Abgaben, auf die Nichtangleichung von Arbeits-, Sozial-und Umweltschutzstandards sowie auf die rechtliche, ökonomische und technische Ohnmacht (oder den fehlenden wirksamen politischen Willen?) nationaler Regierungen und Verwaltungen, Gerichte, internationaler Ministerräte und Kommissionen, um transnationale Subventionsbetrügereien, Steuerumgehungen, -hinterziehungen, -flucht, Geldwäsche, Drogen-, Waffen-und Menschenhandel, Rinderwahn und Schweinepest koordiniert an ihren Ursprüngen zu bekämpfen?
Verlieren nicht im Zuge der Globalisierung nationale Parlamente und Regierungen ihre Steuer-hoheit über transkontinentale Unternehmen, Kartelle, Banken und Versicherungen mit Milliardenumsätzen und Millionengewinnen anonymer Aktionäre? Steigen nicht im Zuge der Globalisierung die Warentermin-und Devisenspekulationsgewinne an den Börsen wie die Arbeitslosenraten und die Konkurse kleinerer und mittlerer Betriebe?
Welchen (fiskalischen) Spielraum haben da noch nationale Parlamente und Regierungen, durch Gesetze den Abbau von Überstunden, die Sicherung regulärer, sozial-und rentenversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit sowie durch ökologischen und sozialstaatlichen Umbau der Wirtschaft. zugleich Umweltschutz, relative Vollbeschäftigung und staatliche Entschuldung strukturell zu ermöglichen? Haben Gesetzgeber, Regierungen, Finanzbehörden und Gerichte nicht davor kapituliert, daß nur noch die Hälfte des privaten Einkommens und Vermögens in Deutschland besteuert wird, ein Viertel steuerfrei bleibt und das andere Viertel sich der Steuer entziehen kann? Warum werden die System-und Sachzwänge der sogenannten reinen Marktwirtschaft nicht auch an ihren Gemeinwohl-Resultaten gemessen anstatt nur an ihren Versprechungen?
Hätte man nicht z. B. vorher die Konsequenzen der Privatisierung von Bahn und Post sowie anderer öffentlicher Dienste („Freisetzung“ von Mitarbeitern, Erhöhung von Gebühren, „rationalisierender“ Abbau von Leistungen) unter der Perspektive „Kapitalisierung der Gewinne“ (für Aktionäre), „Sozialisierung der Verluste“ (für die Steuerzahler) antizipieren können?
VI. Globale Überlebensperspektiven von Politik, Ökonomie und politischer Bildung*
Damit sich mehr Jugendliche wieder für Politik und damit auch für den Politikunterricht interessieren, hätte dieser ihnen zu zeigen, wie und wozu sie -langfristig -an der Gestaltung der Politik mitwirken können. Dazu gehört die analytisch vergleichende Diskussion ihrer politischen Perspektiven. Dabei kann politische Bildung nicht überzeugender sein als die Politik, in der bzw. für die sie stattfindet. Aber die politische Bildung muß zumindest nicht dahinter Zurückbleiben. Sie kann sich bemühen, den Anschluß an die wissenschaftliche und seriöse publizistische Kommentierung nicht zu verlieren. Allerdings hat sich Politikdidaktik nicht anzumaßen, politische Kontroversen entscheiden zu wollen. Wie alle anderen Wissenschaften auch ist sie zu keinem Schiedsrichteramt befugt. Sie hätte jedoch diese Entscheidungsfragen in ihren Grundlagen-kontroversen zu behandeln.
Sie könnte und sollte -methodisch systematisierende -Fragen an die verantwortlichen Politiker richten:
-Wieweit nehmen sie globale Krisen angemessen wahr, prüfen sie wissenschaftliche Analysen, beraten und entscheiden sie Gegenmaßnahmen?
-Wie erklären und begründen sie die -ausschlaggebenden -Unterschiede zwischen ihren eigenen Zielen, Mitteln, Wegen und Bündnispartnern und denen konkurrierender Parteien und Verbände?
-Wieweit geben sie rechtzeitig eigene politische Fehlentscheidungen zu bzw. treten nachweisbar verantwortlich für deren Folgen ein?
-Unterscheiden sie noch zwischen Opportunität und Legalität? Halten sie sich an geltende Gesetze, rechtskräftige Gerichtsurteile, verbindliche Parlamentsabstimmungen -auch ohne erst nachträgliche öffentliche Kontrollen? -Halten sie kompromißlos eindeutigen Abstand zu verdeckter Korruption und publizistischer Manipulation?
-Welche Gesetze verabschieden sie, welche internationalen Vereinbarungen treffen sie, welche Kontrollen führen sie durch, damit es nicht kommen wird -zu endgültig irreparablem ökologischem Kollaps von Böden, Wäldern, Wasser und Luft;
-zur Erschöpfung natürlicher Rohstoff-und Energiequellen, zu Herstellung, Vertrieb und möglichem Einsatz von Massentötungswaffen;
-zu weiteren Stellvertreter-oder Bürgerkriegen außerhalb der großen Industriestaaten (verlängert bzw. intensiviert durch deren Waffenlieferungen);
-zu Überbevölkerung und Verelendung in der sogenannten Dritten Welt;
-zu staatlicher Überschuldung und Massenarbeitslosigkeit;
-zu international organisierter Kriminalität bis zum Ruin sozialer Rechtsstaaten (durch die Verbindung von Geldwäsche, Drogen-, Waffen-und Menschenhandel)?
-Was tun sie, um der nächsten Generation ein anderes Erbe zu hinterlassen als Waffen, Schulden, Gifte und Drogen?
-Welche Perspektiven bieten sie an, für die sich politisches Lernen der Jugendlichen noch lohnen kann?
Eine globale Überlebensperspektive, für die sich politisches Lernen der Jugendlichen wieder lohnen soll, setzt nicht nur den -idealen -Willen ihrer Lehrer voraus. Ihre -materielle -Grundlage bestimmen die reale Politik und Ökonomie. Wenn deren verantwortliche Akteure den Primat international koordinierter und kontrollierter Politik endgültig aufgeben, kann auch der Politikunterricht keine Perspektive mehr gewinnen. Diese Perspektive bedarf historischer, politisch-ökonomischer Analysen der -regelhaften -interdependenten Ursachen, Bedingungen und Prozesse, die zu den globalen Überlebensgefahren geführt haben, in der Konfrontation mit notwendigen und möglichen Gegenstrategien in der öffentlichen Verantwortung parlamentarisch-demokratischer Rechtsstaaten
VII. Resümee
Meinen Zwischenruf zur Krisen-und Perspektivendämmerung des Politikunterrichts komprimiere ich in fünf -(hoffentlich) radikal konsequenten -Prioritäts-Fragen:
1. Warum stellt die Politik nicht politikwissenschaftliche Systemana\ysen in den Mittelpunkt ihrer Diskussion mit den Jugendlichen, um die strukturellen Faktorenverbindungen „globaler“
Krisen systematisch erklären zu können, obwohl diese die Zukunft menschlicher Kulturen bedrohen und -falls nicht beizeiten Lösungsansätze erarbeitet werden -letztlich auch dem Politik-unterricht jede Perspektive entziehen?
2. Warum erschließt die Politik nicht dementsprechend politikwissenschaftliche Grundlagenkontroversen zu eventuell möglichen, notwendigen Gegenstrategien in der Verantwortung parlamentarisch-demokratischer Rechtsstaaten?
3. Warum weicht die Politikdidaktik teilweise noch immer aus in eine personalisierende „Werteerziehung“;
warum konzentriert sie sich nicht auf die Analyse struktureller Konflikte zwischen Recht und Politik, Ökonomie und Ökologie?
4. Warum konzentriert sich die Politikdidaktik nicht auf die Vermittlung und Begründung notwendiger Kenntnisse und Fertigkeiten zur sachverständigen Analyse aktueller, öffentlicher Meinungs-und Entscheidungsverfahren sowie zum Vergleich von Zukunftsmodellen, welche die Perspektiven der Politik und damit auch des Politikunterrichts selbst wieder substantiell aussichtsreicher gestalten könnten?
5. Warum sollten nicht nach den Krisen globaler Konkurrenz-und Profitsysteme auch die Vergleichsperspektiven von Wirtschaftsordnungen diskutiert werden, die sich wieder an die Kriterien und Regeln parlamentarischer und sozialer Rechtsstaaten binden lassen -und nicht umgekehrt?