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Kommentar und Replik Wirtschaftsethik und Moral Zum Beitrag von Karl Homann: Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral (B 21/97) | APuZ 30-31/1997 | bpb.de

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Kommentar und Replik Wirtschaftsethik und Moral Zum Beitrag von Karl Homann: Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral (B 21/97)

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Zusammenfassung

Kommentar und Replik. Wirtschaftsethik und Moral. Zum Beitrag von Karl Homann: Individualisierung: Verfall der Moral? Zum ökonomischen Fundament'aller Moral (B 21/97)

Karl Homann wendet sich in seinem Beitrag gegen einen Moralappell, wie er vom Fraktionsvorsitzenden der CDU, Wolfgang Schäuble, geäußert wurde. Der Politiker beklagt den Verlust sozialen Zusammenhalts und die damit verbundene Wertekrise und fordert „Mut zur Erziehung", aktives Eintreten für Überzeugungen und „gemeinschaftliche Verantwortung auf gemeinsamer Wertebasis" als dem „einigenden Band".

Homann lehnt diesen Versuch moralischer Aufrüstung nachdrücklich ab. Nach ihm ist im Abendland sozialer Wandel immer mit der Auflösung überkommener Moralvorstellungen einhergegangen, was deren Vorkämpfer nicht selten mit dem Leben bezahlten. Die von ihm angeführten Personen allerdings belegen das nicht: Ob Sokrates vor allem einen sozialen Wandel herbeiführen wollte, könnte man unterschiedlich beurteilen; Jesus Christus gehört nicht in diesen Kontext, da sich sein Heilswerk überhaupt nicht als Beispiel dafür interpretieren läßt: Es zielt nicht auf gesellschaftliche Veränderung, sondern trägt eschatologischen Charakter (vgl. Joh. 18, 36).

Auf den ersten Blick scheinen Homanns Darlegungen einzuleuchten. Es besteht der Eindruck, daß in unserer modernen Gesellschaft tatsächlich die Vorteils-/Nachteilskalkulation von entscheidender Bedeutung geworden ist. Vor allem die Säkularisierung in der Bevölkerung hat dazu geführt, daß an die Stelle einer allgemein anerkannten moralischen Autorität die Vielzahl individueller Absichten und Überzeugungen getreten ist. Es scheint geradezu unmöglich zu sein, einen gemeinsamen „Nenner" zu finden, der für alle verbindlich ist; damit bleibt offensichtlich nur das jeweils vorhandene Interesse als Moment übrig, auf das man -national wie international -alle ansprechen kann. Wenn es gelingt, auf der Basis einer derartigen „Anreizethik" Regeln zu erstellen, nach der alle bereit sind, sich zu richten, müßte man gewissermaßen das Ei des Columbus gefunden haben.

Eine genauere Untersuchung der Homannschen These läßt jedoch Zweifel aufkommen. Bei einer Unterscheidung zwischen „Handlungen" und „Handlungsbedingungen" so, wie er sie vorstellt, findet in gewissem Umfang eine Entpersönlichung der Ethik statt: Die Akteure -nach ihm nicht nur im Bereich der Wirtschaftsethik -sind frei, alles zu tun, was nicht durch die Handlungsbedingungen ausdrücklich ausgeschlossen wird. Solange sie diese Bedingungen nicht übertreten, sind sie in ihrem Handeln gerechtfertigt; kommt es zu Pannen, dann sind allein diejenigen verantwortlich, die die Handlungsbedingungen aufgestellt haben. Eine derartige Ablösung der Handelnden von grundsätzlichen ethischen Maßstäben ist nicht zu bejahen. Sie ist unrealistisch, und sie wird die gewünschte Gemeinsamkeit gerade nicht bringen.

Schon der ungeschützte Gebrauch des Begriffs „Gesellschaft" ist problematisch. Sie besteht . per definitionem'strukturell aus Interessenverbänden. Diese suchen, wenn sie politische bzw. wirtschaftliche Zielsetzungen haben, möglichst viel Macht auf sich zu konzentrieren, um die Bedingungen in ihrem Sinn zu formen. Gelingt es ihnen, die Staatsgewalt zu erringen, dann werden sie die Gesetze -Bedingungen -nach ihren Vorstellungen gestalten. Besonders -nicht ausschließlich! -die Geschichte der Demokratie bietet dafür genügend Beispiele. Gruppeninteresse aber ist, vor allem bei ideologisch geprägten Verbänden, nicht unbedingt auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet, sondern vorrangig auf die Wahrung und Durchsetzung eigener Wünsche und Absichten.

Der von Homann nicht berücksichtigte Machtfaktor wirkt sich nicht nur politisch, sondern besonders wirtschaftlich im globalen Bereich aus. Industriell hochentwickelte Staaten haben viel bessere Möglichkeiten, ihre Bedingungen zu diktieren und ihnen Geltung zu verschaffen, als das durch „unterentwikkelte" Länder der Fall ist; die Geschichte mindestens der letzten vier Jahrzehnte hat das deutlich illustriert. Oder meint Homann im Ernst, daß beispielsweise die USA oder auch Deutschland kompromißbereit wären, wenn etwa Nordkorea oder Libyen die Respektierung ihrer Überzeugungen erwarten und berücksichtigt wissen wollen?

Nicht anders ist es im nationalen Bereich: Die „TanteEmma-Läden" gingen ein, weil sie der Konkurrenz der Warenhäuser und -ketten nicht gewachsen waren, schon gar nicht im Blick auf ihre Kapitalreserven. Gelingt es einem cleveren Geschäftsmann, in eine Marktlücke zu stoßen, so wird man ihn in der Regel nach kurzer Zeit ausbooten und sie selbst ausfüllen. Macht er eine epochale Erfindung, so wird die Konkurrenz alles tun, ihn an Produktion und Absatz zu hindern, wenn er damit ihre Produkte gefährden könnte. Es ist so gut wie ausgeschlossen, Handlungsbedingungen zu schaffen, die sämtliche Unterdrückungs-und Ausbeutungsbemühungen unterbinden. Ich widerspreche Karl Homann nicht, wenn er betont, daß eine besonders hohe moralische Verantwortung bei denen liegt, die die Handlungsbedingungen erstellen; dagegen stimme ich nicht mit ihm überein, wenn er pauschal alle Akteure von vornherein moralisch entlastet, solange sie die geltenden -formulierten -Bedingungen nicht verletzen. Abgesehen davon, daß bei einer derartigen Gewichtung am Ende eine unüberschaubare Masse von Regelungen herauskommen muß, wenn alle Eventualitäten berücksichtigt sein sollen: Es werden immer Lücken bleiben, die von dem, der sie wahrnimmt, auf Kosten seiner Konkurrenten ausgenutzt werden können.

Anders ausgedrückt: Die einseitige Verlagerung der ethischen Verantwortung auf die Seite der Handlungsbedingungen und damit auf diejenigen, die diese festlegen, führt nicht zu einer tragfähigen ökonomischen wie politischen Ordnung und Praxis. Auch auf der Seite der Handelnden müssen moralische Voraussetzungen vorhanden sein, die über das hinausgehen, was durch die Handlungsbedingungen festgelegt werden kann. Dazu würde etwa schon die Bereitschaft gehören, diese unter allen Umständen einzuhalten, selbst dann, wenn dadurch der eigene Konkurs unvermeidlich wird. Sollte das tatsächlich im nationalen Bereich der Fall sein -viele Zeitungsmeldungen dieser Tage belegen leider auch das Gegenteil -, im internationalen Bereich wird sich in derartigen Fällen, etwa bei Überschuldung und drohendem Staatskollaps, die Frage sehr viel nachdrücklicher stellen und in der Regel nicht im Sinn irgendwelcher „Handlungsordnungen" beantwortet.

Damit ist auch ein Problemkreis angesprochen, der bei Homann unter dem Stichwort „kontraintuitive Sätze" berührt wird: Diese enthalten so, wie sie formuliert sind, bestenfalls Halbwahrheiten. Was soll etwa der Satz: „Soziale Gerechtigkeit kann höchst ungerecht sein"? Wird hier nicht etwas ausgesprochen, was man heutzutage als Binsenweisheit bezeichnen kann? im Kontext der Homannschen Ausführungen gewinnt man allerdings den Eindruck, als habe er grundsätzlich etwas gegen soziale Gerechtigkeit, zumal wenn es an erster Stelle heißt: „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen." Dann müßte es nämlich gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen geben, und diese Annahme ist eine typische Illusion des klassischen Liberalismus. Nicht jeder ist gleich begabt, nicht jeder kann die gleichen Chancen haben. Das mag bitter sein, jedenfalls ist es die Realität. Eine der Allgemeinheit gegenüber verpflichtete ethische Grundhaltung wird das berücksichtigen und in bestimmten -nicht seltenen -Fällen zu der Erkenntnis kommen: „Teilen ist solidarischer als Wettbewerb." Es hängt immer von der jeweiligen Situation ab.

Es gibt eine Anzahl von Motiven für moralisches Handeln, die nicht einfach in Homanns Schema der Vorteils-/Nachteilskalkulation eingefügt werden können. Da wäre das Bewußtsein von Mitmenschlichkeit zu nennen, dazu oft persönliches Ehrgefühl und nicht zuletzt ein Volksbewußtsein, das mit einem überzogenen Nationalismus nicht das geringste zu tun hat. Wie es nicht möglich ist, etwa die Familie als bloße „Interessengemeinschaft" zu definieren und damit das ihrem Wesen Charakteristische auszuklammern, so ist es falsch, den Anreiz als einziges oder wenigstens primäres moralisches Motiv hinzustellen und die genannten Werte allenfalls in das Denkschema einer Vorteils-/Nachteilskalkulation einzuordnen. Wir haben damit noch nicht die religiöse Motivation angesprochen: Sie ist in unserem Land stärker, als Säkularisten es wahrhaben wollen; bei zunehmender Globalisierung wird dieses Moment zu den gewichtigsten Faktoren im Miteinander der Völker gehören, nicht zuletzt im Bereich der Ökonomie.

Homanns Behauptung, daß sozialer Wandel immer mit der Auflösung überkommener Moralvorstellungen verbunden ist, kann mit guten Argumenten bestritten werden. So wäre etwa zu untersuchen, ob die grundlegenden ethischen Prinzipien wechseln oder nur ihre Ausdrucksformen; in der Regel dürfte eher das letztere der Fall sein. Wo man es aber mit derartiger Rigorosität versucht hat, wie von Homann angenommen zu werden scheint, sind die betreffenden Systeme gescheitert. Das gilt für alle modernen Ideologien, die zeitweise die Macht besaßen, die Moral zu diktieren, angefangen beim Liberalismus bis hin zum Nazismus und Marxismus/Leninismus. Das wird auch in Zukunft der Fall sein. Denn es gibt Ordnungen, die allein das Zusammenleben ermöglichen; werden sie außer Kraft gesetzt, dann zieht das Chaos ein. Es ist das Recht und die Pflicht nicht nur verantwortlicher Personen und Instanzen, immer wieder darauf hinzuweisen und so an die Gesinnung zu appellieren. Homanns Polemik dagegen -Moral-appelle seien fundamentalistisch und „konservativ" in negativem Sinn usw. -ist nur zu begreifen, wenn es ihm um die Propagierung und Durchsetzung einer Anschauung geht, die ideologisch infiziert ist und deshalb die Realitäten nur insoweit wahrnimmt, als sie mit den eigenen Auffassungen übereinstimmen und diese zu bestätigen scheinen.

Selbst wenn es nicht seine Absicht sein sollte: Mit seinen Ausführungen über eine „Anreizethik" wird der Egoismus zur Tugend erhoben. Er soll Maßstab moralischen Handelns sein; andere Motivationen scheinen dagegen zwar möglich zu sein, aber im Grunde genommen der Vergangenheit anzugehören, über die der Fortschritt des „gesellschaftlichen Wandels" hinweggeschritten ist. So werden von Homann die Handlungsbedingungen in bestimmter Weise charakterisiert; entsprechen sie dem nicht, dann basieren sie auf einer vergangenen gesellschaftlichen Epoche, in der die Cesinnungsethik von Bedeutung war.

Nun wird man nichts dagegen einwenden, wenn Anreize geschaffen werden, durch die die Erhaltung von Bedingungen schmackhaft gemacht wird. Die Frage ist jedoch, ob das zum Fundament nicht nur der Wirtschaftsethik, sondern der gesamten Ethik gemacht werden kann. Oder ob das, was eigentlich mit „Moral" bezeichnet wird, damit in ihrer Bedeutung und in ihrem Sinn entscheidend verändert wird. Dann aber sollte man die Begriffe „Ethik" bzw. „Moral"

nicht verwenden, sondern eine andere, Homanns Auffassungen entsprechende Terminologie verwenden. Anderenfalls handelt es sich um eine Irreführung. Seine Abwertung von Elternhaus, Kindergarten, Schule und Kirche zugunsten seiner ethischen Überzeugungen läßt ferner fragen, ob diese Institutionen wegen ihrer „konservativen" Moral zur gestrigen Gesellschaft gehören und sich in Richtung auf die vorgestellte „Anreizethik" hin wandeln müssen, wenn sie eine Zukunft haben wollen.

Weil Karl Homann auf Jesus von Nazareth sowie auf „Kirche" Bezug nimmt, sei abschließend kurz angemerkt: Christliche Ethik hat mit einem Utilitarismus nichts zu tun und kann deshalb überhaupt nicht im Schema einer Vorteils-/Nachteilskalkulation untergebracht werden. Vielmehr bemüht sich der glaubende Christ, mit seinem Verhalten Cott dem Herrn für die Erlösung zu danken, die ihm in Christus geschenkt wurde, und so den Allmächtigen zu verherrlichen. Das wirkt sich auf seine Stellung zum Mitmenschen aus, auch auf den verschiedenen Feldern der Ökonomie.

Pastor em. Drs. Hans-Lutz Poetsch *** In meinem Beitrag bestand die wichtigste Aufgabe darin, die grundlegende Idee einer „Anreizethik" in allgemein verständlicher Form zu erläutern. Zentral ist der Gedanke, daß keine Ethik, auch die christliche Ethik nicht, vom Menschen verlangen kann, dauerhaft und systematisch gegen seine Interessen zu verstoßen; Stützung, nicht Ersetzung, der „Moral" durch „Anreize" lautete daher das Programm. Eine zweite, nicht minder wichtige Aufgabe bestand darin, die hinter meinen Ausführungen stehende wissenschaftliche Konzeption -wiederum möglichst allgemein verständlich -deutlich werden zu lassen. Dabei standen im Mittelpunkt grundlegende theoretische Unterscheidungen, um auf diese Weise über die hochkomplexe Problematik der angemessenen Gestalt von Ethik für die moderne Welt aufzuklären.

Ich glaube, daß die tragenden theoretischen Differenzierungen, auf die ich sehr viel Mühe verwendet hatte, von Hans-Lutz Poetsch nicht bemerkt und/oder wieder zurückgenommen worden waren. Ohne solche Differenzierungen aber kann man eine seriöse Diskussion auf dem Niveau des gegenwärtigen Reflexionsstandes nicht führen. Um nicht mißverstanden zu werden: Meine theoretischen Unterscheidungen mögen unzweckmäßig sein, und selbstverständlich muß niemand meine Auffassungen teilen; aber das stillschweigende Fallenlassen der grundlegenden Unterscheidungen und die dann geübte moralische Kritik an meinen Ausführungen macht es unmöglich, die theoretischen Gründe für die Kritik zu erfahren und aus ihnen zu lernen. Die Differenzierungen werden einfach nivelliert, verwischt, wieder eingeebnet. Die Folge ist, daß über weite Strecken mehr oder weniger impressionistisch drauflos räsonniert wird. Ich will zunächst die drei wichtigsten Unterscheidungen ansprechen. 1. Ich habe den Unterschied von Handlungs-und Gesellschaftstheorie gründlich und umfänglich -und ich meine auch: verständlich -herausgearbeitet und deutlich gemacht, daß mein Thema grundsätzlich in die Gesellschaftstheorie gehört. Herr Poetsch liest aber meine Ausführungen als Handlungstheorie, und dann kommt -natürlich -oft Unsinn heraus, den ich so nie behauptet habe. So habe ich durchgängig zwischen der positiven Analyse der Chancen der Moral in der modernen Gesellschaft einerseits und der normativen Frage nach dem rechten Handeln des einzelnen, also einer inhaltlichen Ethik mit Handlungsanweisung an den einzelnen andererseits unterschieden: Dies wird ignoriert bzw. es wird das Fehlen einer Handlungstheorie, die nicht mein Thema war, kritisiert. 2. Ich habe strikt zwischen dem Theoriekonstrukt „homo oeconomicus" und dem „Menschen" unterschieden und es sogar als „trivial" bezeichnet, „daß der Mensch über ein viel reichhaltigeres Spektrum von Motiven als nur das Eigeninteresse" verfügt als der „homo oeconomicus": Genau dieses letzte Argument macht Herr Poetsch gegen mich geltend. Er weiß bzw. versteht offenbar nicht, daß methodisch saubere einzelwissenschaftliche Theoriebildung nicht einfach etwas über den „Menschen", wie er uns im Alltag begegnet, erzählen kann; so etwas hat mit Wissenschaft wenig zu tun. Theoriebildung beginnt oft mit kontraintuitiven Behauptungen. Wie ein Physiker im aufsteigenden Luftballon noch die Fallgesetze wirken sieht, so geht es für einen Wirtschaftsethiker im Wettbewerb -unter einer geeigneten Rahmenordnung selbstverständlich -um die Solidarität aller Menschen -oder um „Nächstenliebe", wenn es jemand gern theologisch hätte. 3. Meine Aussage, daß Ethik „konservativ" sei, ist nicht wertend oder abwertend gemeint gewesen, sondern analytisch: Als Theorie des richtigen Handelns ist Ethik „konservativ" nicht deswegen, weil sie „von gestern" wäre, sondern weil Ethik von ihrer grundlegenden Problemstellung her nach dem richtigen Handeln unter gegebenen Bedingungen fragt und damit eine Reform dieser Bedingungen paradigmatisch nicht in Betracht zieht. Herr Poetsch muß selbstverständlich diese Auffassung nicht teilen, aber diese Differenzierung sollte er schon zur Kenntnis nehmen, bevor er sie ablehnt. Hier wird die Unterscheidung zwischen einer bewertenden und einer analytischen Sprechweise nicht erkannt.

Ein weiterer Punkt ist der folgende: Herr Poetsch kreidet mir die Betonung der Handlungsbedingungen, der Rahmenordnung und der von ihnen ausgehenden „Anreize" an, trotzdem hebt er selbst zentral auf „Bedingungen" ab. So beklagt er, daß hochentwickelte Staaten den ärmeren Ländern ihre „Bedingungen" diktieren und verlangt nach „Ordnungen, die allein das Zusammenleben ermöglichen". Damit ist doch wohl nicht ein einheitliches dogmatisches Wertesystem für alle gemeint, sondern vielmehr Regeln, d. h. verbindliche Handlungsbedingungen. Jedenfalls sollten wir diese Lehre aus den europäischen Religionskriegen mit ihrem hohen Blutzoll gezogen haben, daß ein Gemeinwesen nicht auf einheitliche Wertüberzeugungen, sondern auf gemeinsam anerkannte Regeln -unter Anerkennung pluralistischer Wert-bzw. Glaubensüberzeugungen -gegründet sein muß.

Ein besonderes Kapitel sind schließlich die Berufungen von Herrn Poetsch auf die Theologie. Ich will hier nur zwei Punkte anführen.

Zum einen wird einfach behauptet, daß das Wirken des Jesus von Nazareth mit „sozialem Wandel" nichts zu tun habe. Nun impliziert gerade der „eschatologische" Charakter der Botschaft des Jesus von Nazareth, den Herr Poetsch zu Recht geltend macht, eine Unterscheidung von einer politischen Messiaserwartung, und wenn dies noch mit dem Pathos vorgetragen wird: „Ihr habt gehört, daß den Alten gesagt worden ist,... Ich aber sage euch,.. (Mt. 5, 21), so ist das in der Sprache der modernen Sozialwissenschaft als „sozialer Wandel" par excellence zu bezeichnen. Erneut wird die moderne wissenschaftliche Begrifflichkeit nicht verstanden. Oder will Herr Poetsch es wirklich im Ernst verbieten, Themen, Inhalte etc. aus dem Zuständigkeitsbereich der Theologie auch profanwissenschaftlich zu bearbeiten? Das wäre eine Neuauflage des „Falls Galilei".

Zum zweiten wird die „Anreizethik" als Rechtfertigung des „Egoismus" und als „Utilitarismus" diskreditiert und für unvereinbar mit der christlichen Ethik gehalten. Ich fürchte, hier hat der Theologe einige Stellen der Bibel ausgelassen.

Während bei anderen Geboten aus dem Dekalog die „ökonomische" Begründung, d. h. die Begründung in allgemeinen Vorteilserwägungen, so klar ist, daß sie nicht mitgeliefert zu werden braucht, wird beim vierten Gebot die Begründung explizit hinzugesetzt: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird." (2 Mos 20, 12) In unserem Zusammenhang heißt das: Wenn du dich nach dem rechten Verhalten gegenüber deinen Eltern fragst, dann setze nicht etwa die Vorteilskalkulation aus, sondern kalkuliere richtig, nämlich bis zum Ende deines eigenen Lebens! Aus dem Neuen Testament will ich nur zwei Prinzipien anführen. Das Hauptgebot christlicher Ethik lautet: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst' (Mk 12, 31; Hervorhebung K. H.), oder, jetzt abgewandelt, aber durchaus sinngemäß: „Die Moral (im Original: der Sabbat) ist um des Menschen willen geschaffen, und nicht der Mensch um der Moral (des Sabbats) willen." (Mk 2, 27) Freilich darf man nicht in den spiegelbildlichen Fehler verfallen und diese Sätze allein lesen, vielmehr muß man sie im Zusammenhang mit anderen Sätzen sehen, die eher für Herrn Poetsch sprechen. Man muß also versuchen, beide Aussagereihen konsistent zu rekonstruieren. Mein Rekonstruktionsvorschlag sieht in aller Kürze so aus (wobei verständlich ist, daß ich nur die Grundidee -und nicht die Begründungen im einzelnen -zu vermitteln suchen kann): Moral und Vorteilskalkulation sind kein Widerspruch, das Verhältnis muß vielmehr -und das ist wieder das Thema meiner Replik -differenziert gesehen werden, etwa so: Das Handeln soll ohne Vorteilskalkulation den moralischen Normen folgen, die Begründung dieser Normen aber stellt ab auf Vorteile -für alle Menschen selbstverständlich. Der geschmähte Utilitarismus gründet auf genau solchen Differenzierungen zwischen verschiedenen Ebenen, für die Herr Poetsch offenbar kein Verständnis aufbringt.

Allerdings muß ich, um nicht ungerecht zu werden, hervorheben, daß Herr Poetsch eine Unterscheidung verwendet, die grundlegend und von überragender Bedeutung ist und die ich daher gern aufgreife; ja, mein ganzes Konzept einer „Anreizethik" beruht im Grunde darauf. Ich meine die Unterscheidung zwischen „ethischen Prinzipien" und „ihren Ausdrucksformen". In meiner Sache heißt das: Aller Ethik, auch meiner Anreizethik, geht es zuallererst um die Solidarität aller Menschen -das ist das „Prinzip" (H. -L. Poetsch), die „regulative Idee" (I. Kant); die konkreten Handlungsnormen müssen sich aufgrund der Tatsache, daß sich die Lebensumstände der Menschen in der anonymen Groß-bzw. Weltgesellschaft von heute gegenüber der Zeit des Jesus von Nazareth grundlegend geändert haben, ebenfalls ändern, ohne daß allerdings damit das „Prinzip" aufgekündigt oder verletzt würde. Darin liegt begründet, daß unter der geeigneten Rahmenordnung und im Normalbetrieb demokratisch verfaßter Marktwirtschaften -also gesellschaftstheoretisch, nicht handlungstheoretisch -der Satz gilt: Wettbewerb ist solidarischer als Teilen. Es heißt „solidarischer", nicht etwa „effizienter", aber um die moralische Qualität von Wettbewerb unter den expliziten Bedingungen moderner, demokratisch verfaßter Marktwirtschaften zu verstehen, muß man sich auf die moderne Theorie einlassen. Genau das ist mein Ethik-Forschungsprogramm: in den Erscheinungen der modernen sozialen Welt nicht einfach Verfall, Egoismus und Utilitarismus zu sehen, sondern -bei geeigAus netem institutionellen Arrangement -kontraintuitiv die auf moderne Bedingungen umformulierten „Prinzipien", der abendländisch-christlichen Ethik wiederzuerkennen: Darum geht es.

Meine „Replik" ist scheinbar hart ausgefallen, vielleicht zu hart; ich bedaure das, ich kann das nur meinem Bemühen um theoretische Klarheit zuschreiben, die mich so strikt formulieren läßt. Persönlich habe ich für das Unbehagen gegenüber meiner -zugegeben: ungewohnten -Konzeption einer „Anreizethik", das Herr Poetsch in seiner Kritik artikuliert, zunächst einmal sehr viel Verständnis: Schließlich geht es vielen Menschen ganz ähnlich wie Herrn Hinweis der Redaktion Poetsch. Aber man tut der Sache keinen guten Dienst, wenn man bei einem solchen Unbehagen stehenbleibt und undifferenziert „Moral" propagiert. Die großen, unüberholbaren Gedanken der abendländisch-christlichen Ethik werden ihre weltgestaltende und weltverändernde Kraft nur behalten können, wenn ihre „Prinzipien" auf die neuen Bedingungen der jeweiligen Gegenwart umformuliert werden, wozu theoretische Differenzierungen von der Art, wie ich sie in meinem Beitrag entwickelt habe, unabdingbar sind.

Prof. DDr. Karl Homann Zu dem Beitrag „Zeitgeschichte in Deutschland vor und nach 1989" erhielt die Redaktion vom Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Dr. Johannes Tuchei, folgende Stellungnahme:

Im Heft B 26/97 von „Aus Politik und Zeitgeschichte" heißt es im Artikel von Klaus Schroeder und Jochen Staadt „Zeitgeschichte in Deutschland vor und nach 1989" auf S. 25: „Dem . gegenseitigen Nutzen'war Robert Havemann offenbar nicht nur in Ost-Berlin im Wege. In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die in den achtziger Jahren ihre bis heute aufrechterhaltene . zeitgebundene politische Dimension'erhielt, werden zwar die KPD-Führer in der Moskauer Emigration -Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck -in Wort und Bild gewürdigt, Robert Havemann existiert in dieser Ausstellung dagegen nicht, auch nicht seine Widerstandsgruppe „Europäische Union', die jüdischen Bürgern falsche Pässe besorgte, ein Informationsnetz in Behörden unterhielt sowie Kontakte zu Ausländergruppen in Arbeitslagern herstellte, um sie durch Flugblätter zu informieren und vor drohenden Razzien zu warnen."

Diese Tatsachenbehauptung ist falsch. Im Bereich 25 („Widerstand aus der Arbeiterschaft nach 1939") der ständigen Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand befindet sich eine Vertiefungsmappe zur „Europäischen Union", die u. a. enthält: -Fotos von Georg Groscurth und Robert Havemann, -das Urteil des Volksgerichtshofs gegen Havemann, Groscurth, Richter und Rentsch (16 Blatt), -die als Anlage zu diesem Urteil veröffentlichten Flugblätter der „Europäischen Union", -den Lebenslauf von Georg Groscurth, und schließlich auch zwei Exemplare der von Havemann im Zuchthaus Brandenburg zusammengestellten „Drahtlosen Nachrichten".

Fussnoten

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