I. Transformationspolitischer Rahmen
Seit 1992 bemüht sich Rußland um den Aufbau eines demokratisch-marktwirtschaftlichen Systems und um die Überwindung der tiefen, durch den Zusammenbruch von Kommunismus und Sowjetunion ausgelösten Wirtschaftskrise. Inzwischen ist deutlich geworden, daß die russische Transformation weit schwieriger ausfällt, als zu Beginn erwartet wurde, und daß sie bisher in keinem Bereich zum Abschluß gekommen ist. Wo steht Rußland im Prozeß der Umgestaltung heute?
So wichtig klare Antworten für die außenpolitischen Akteure und für die ökonomischen Partner Rußlands auch sind: ein verläßliches Erfassen des gegenwärtigen Standes der russischen Transformation erweist sich als schwieriges Unterfangen. Schwer durchschaubare, oft gegenläufige Entwicklungen in Rußland und widersprüchliche Lagebeurteilungen außerhalb des Landes scheinen die fortdauernde Gültigkeit des alten Churchill-Wortes vom mehrfach verhüllten Rätsel Rußland zu bestätigen, fordern allerdings auch immer wieder zu neuen analytischen Annäherungen heraus.
Zur Bestimmung des gegenwärtigen Standes der russischen Umgestaltung ist es sinnvoll, die Struktur des Transformationsprozesses genauer zu betrachten. Beim Übergang von kommunistischen zu marktwirtschaftlich-demokratischen Systemen haben die Länder im Osten Europas fünf Etappen zu durchlaufen Diese sind zwar nicht immer klar abgrenzbar, ihre Unterscheidung ist aber zweckmäßig, wenn es um die Bestimmung länderspezifischer Positionen in der Transformation geht. Der Umgestaltungsprozeß beginnt in der Schlußphase des alten Systems, die -inhaltlich und in der Zeitspanne von Land zu Land verschieden -durch zunehmende Dysfunktionen und Stagnationserscheinungen sowie Versuche, die Niedergangspro-zesse mit systemimmanenten Reformen aufzuhalten und umzukehren, gekennzeichnet ist. Als zweite Transitionsetappe folgt die relativ kurze
Phase des Systemzusammenbruchs, in der sich die bisherigen Institutionen sowie Funktionsmechanismen von Planwirtschaft und totalitärer Diktatur auflösen, neue Institutionen und Koordinierungsmechanismen aber noch nicht geschaffen werden konnten. In der Wirtschaft ist ein mehr oder minder ausgeprägter Leistungseinbruch die Folge („Transformations-und Sezessionsrezession“).
Danach setzt drittens die Phase der politischen und ökonomischen Neuorientierung ein, die einerseits als Suchprozeß nach innovativen institutioneilen Regelungen, andererseits (und vor allem) als Kampf alter und neuer Eliten um Eigentum, Macht und Einfluß in Erscheinung tritt. Marx hatte diesen Prozeß im Kontext seiner Sicht der Sozial-geschichte bekanntlich als „primäre kapitalistische Akkumulation“ bezeichnet. In erfolgreichen Transformationsländern werden die Turbulenzen durch sozialen Konsens und funktionierende Staatlichkeit unter Kontrolle gehalten, und die Entwicklung geht relativ schnell in die vierte Phase, die Periode der politisch-ökonomischen Konsolidierung,über. Auf ihrer Grundlage stellt sich schließlich fünftens die Phase der „normalen“ Arbeitsweise der neuen Systeme ein, geprägt durch weitreichende Konvergenz mit marktwirtschaftlichen und demokratischen Verhältnissen in entwikkelten westlichen Ländern.
Kernfrage einer gelingenden Transformation ist, ob und wie schnell es möglich ist, den Übergang von der Phase der Neuorientierung zur Periode der Konsolidierung zu erreichen. Nach dem Grad des Erfolgs hierbei lassen sich die Transformationsländer in erster Linie unterscheiden, und hier liegen auch die besonderen Schwierigkeiten Rußlands. In der Konsolidierungsphase erfolgen (bzw. müssen erfolgen) -teils simultan, teils nacheinander -fünf gegenseitig abhängige bzw. sich wechselseitig stützende Teilvorgänge -Festigung der institutioneilen Grundlagen von Marktwirtschaft und Demokratie; -Ausbildung einer leistungsfähigen Repräsentation ökonomischer und politischer Interessen durch Verbände und Parteien;
-Anerkennung der veränderten ökonomischen und politischen Spielregeln durch relevante alte und neue Eliten;
-Akzeptanz des noch unvertrauten marktwirtschaftlich-demokratischen Umfelds von Seiten der Bevölkerung als Basis für Arbeitsmotivation und politische Stabilität sowie -Überwindung der Wirtschaftskrise durch makroökonomische Stabilisierung und anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung, der sich auch auf das Lebensniveau breiter Bevölkerungsschichten und den Grad ihrer sozialen Sicherung auswirkt.
Auf dem Hintergrund dieser Maßstäbe sollen im vorliegenden Beitrag drei miteinander verbundene Untersuchungsfelder behandelt werden: die gegenwärtige krisenhafte Wirtschaftslage Rußlands, der unbefriedigende Stand der marktwirtschaftlichen Transformation als der wichtigste Bestimmungsfaktor der negativen makroökonomischen Entwicklung sowie das problematische politische Umfeld von Wirtschaftsentwicklung und marktwirtschaftlichem Systemwechsel in Rußland in Verbindung mit Ausmaß und Chancen der wirtschaftspolitischen Neuorientierung seit dem Aufstieg von Tschubais und Nemzow in der russischen Regierung. Die Skizzierung von zwei alternativen Szenarien der wirtschaftlichen und politischen Zukunft Rußlands soll die Analyse beschließen.
II. Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung
Die meisten verfügbaren Indikatoren der realökonomischen Entwicklung in Rußland zeigen an, daß eine Trendwende zum Besseren noch immer auf sich warten läßt -von einem stabilen, sich selbst tragenden Aufschwung gar nicht zu reden. Das Tempo des wirtschaftlichen Leistungsrückgangs hat im Jahre 1996 in vielen Sektoren gegenüber dem Vorjahr sogar wieder zugenommen. Das russische Bruttoinlandsprodukt lag Ende 1996 um ca. 50 Prozent unter dem Stand von 1991, die Industrieproduktion um knapp 55 Prozent, und die Agrarerzeugung hatte im gleichen Zeitraum um etwa ein Drittel abgenommen. Besonders negativ aber wirkt sich auf die Chancen eines zukünftigen Wirtschaftsaufschwungs aus, daß das Volumen der Bruttoanlageinvestitionen seit 1991 um 75 Prozent zurückgegangen ist und der Rückgang der Kapitalbildung mit -18 Prozent auch 1996 wieder überproportional hoch ausfiel. Dabei wäre eine kräftige Zunahme der Investitionen als realökonomische Basis für die Überwindung der tiefen Transformationsrezession und die notwendige strukturelle Modernisierung der russischen Wirtschaft dringend erforderlich, vor allem auch im Hinblick auf den technologisch veralteten und zudem stark verschlissenen Kapitalstock. Auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede zu den Volkswirtschaften Ostmitteleuropas, wo außer der Produktion auch die Kapitalbildung inzwischen wieder expandiert, zum Teil mit Wachstumsraten, die deutlich über den gegenwärtig in Westeuropa erreichten Werten liegen.
In der russischen Außenwirtschaft erfolgte nach 1992 eine zügige Umlenkung der Handelsströme auf westliche Länder, wenn es zuletzt auch wieder Bemühungen um eine Neubelebung der Wirtschaftsbeziehungen zu Osteuropa gab. Rasches Exportwachstum bei Energie und Rohstoffen führte seit 1993 zu beträchtlichen Hartwährungsüberschüssen, begleitet allerdings von anhaltender Kapitalflucht. Die internationalen Schulden blieben hoch, Verhandlungen mit dem Pariser und Londoner Klub standen auf der Tagesordnung. Die rohstoffdominierte Exportwirtschaft Rußlands ist einerseits sicherlich ein wichtiger Stabilitätsfaktor und Investitionsmagnet. Andererseits erschwert sie das Entstehen moderner industrieller Exportpotentiale mit binnenwirtschaftlichen Rückwirkungen und wird damit ebenso in den Kontext der Deindustrialisierung gerückt wie der starke Konsumgüteranteil bei den Importen. Die ausländischen Direktinvestitionen sind zwar noch relativ gering, doch nehmen sie trotz anhaltender Investitionshindernisse zu und verbinden sich zunehmend mit Portfolioinvestitionen ausländischer Anleger, die als Finanzengagements freilich oft von flüchtigem Charakter sind.
In der Entwicklung des Rubel-Wechselkurses berühren sich Außenwirtschaft und monetäre Stabilität. Im Rahmen eines gleitenden Rubelkorridors („crawling-band-mechanism“) ist die russische Währung seit Juni 1995 relativ stabil geblieben. Die anhaltenden Exportüberschüsse sind ein Bestimmungsfaktor hierfür, die prinzipiell stabilitätsorientierte Politik von Regierung und Zentralbank unter Einflußnahme von IWF und Weltbank ein anderer. Seit 1994 ist die Inflationsrate deutlich zurückgegangen, wenn sie auch schwankend blieb. Daß sich die Tendenz zu monetärer Stabilität in Rußland festigt und die Geldent-Wertung einem Niveau zusteuert, das mit realer wirtschaftlicher Erholung vereinbar scheint, wird im allgemeinen als Haupterrungenschaft der russischen Wirtschaftspolitik gewertet. Die Rückführung der Inflation ist jedoch mit einer tiefen Krise der Staatsfinanzen verbunden, deren Meisterung inzwischen zum Hauptproblem der russischen Wirtschaftspolitik geworden ist. Aufgrund der rückläufigen Wirtschaftsleistung und zunehmender Steuerverweigerung wächst das Defizit des Föderalen Haushalts tendenziell an, obwohl öffentliche Leistungen -nicht zuletzt im Bildungsund Sozialbereich, aber auch beim Militär -abgebaut werden und Lohnzahlungen im öffentlichen Sektor unterbleiben. Gleichzeitig verringert die Überbeanspruchung des russischen Kapitalmarkts (sowie auch der verfügbaren ausländischen Unterstützungsmittel) zur Finanzierung des Budgetdefizits das für den angezielten Wirtschaftsaufschwung dringend erforderliche Investitionskapital. Ohne eine ausreichende Kapitalbildung können die Voraussetzungen für einen sich selbst tragenden Wachstumsprozeß nicht geschaffen werden. Hierzu wären nicht nur adäquate rechtliche und politische Rahmenbedingungen erforderlich, sondern auch investierbare Finanzmittel und attraktive Realkapitalrenditen, die ohne eine Änderung der Budgetsituation nicht zu gewährleisten sind.
Von der noch immer krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung sind auch die Lebensbedingungen der Bevölkerung in starkem Maße betroffen. Dies beeinträchtigt wiederum Stimmungslage sowie Arbeitsmotivation und ist zum Faktor einer potentiellen politischen Destabilisierung geworden. Die Reallöhne lagen Ende 1995 um 40 Prozent, die Realeinkommen pro Kopf um 45 Prozent unter dem Niveau von 1991, bei unterschiedlicher Entwicklung dieser beiden Aggregate in den einzelnen Jahren. Kennzeichnend ist weiter, daß fällige Löhne und Renten häufig mit Verspätung oder gar nicht ausgezahlt werden und daß die Einkommensverteilung durch eine starke Differenzierung geprägt ist. Allein von 1993 bis 1995 wuchs der Unterschied zwischen dem Einkommensniveau des wohlhabendsten und des ärmsten Zehntels der russischen Bevölkerung vom llfachen auf das 16fache an Parallel dazu vergrößerte sich von 1992 bis 1994 die Differenz zwischen den Pro-Kopf-Realeinkommen der reichsten und der ärmsten Regionen Rußlands vom 8fachen auf das 42fache Arme Bevölkerungsgruppen in armen Regionen sind vom Einkommensrückgang beson-ders stark betroffen. Die offene Arbeitslosigkeit ist zwar immer noch relativ gering (ILO-Quote knapp unter zehn Prozent), sie nimmt jedoch rasch zu und findet im Reservoir der umfangreichen versteckten Arbeitslosigkeit beträchtlichen Raum zur Expansion, wenn Privatisierung und Wettbewerb greifen sollten. Die Struktur der Arbeitslosigkeit differenziert sich aus. Neben Branchen und Regionen mit starken Produktionseinbrüchen sind Frauen und Jugendliche besonders betroffen. Insgesamt dürfte die Zukunft der russischen Transformation in starkem Maße davon abhängen, ob die trotz Geduld und Entbehrungsfähigkeit der Bevölkerung drohenden destabilisierenden Auswirkungen der gegenwärtigen sozialen Lage auf Dauer wirklich zu vermeiden sind.
Insgesamt erweist sich die anhaltende Wirtschaftskrise als schwere Hypothek für die politische und gesellschaftliche Konsolidierung Rußlands und liefert populistischen Führern von links und rechts (mögen sie Sjuganow, Lebed oder Schirinowski heißen) immer wieder wirksame demagogische Schlagwörter. Die Krise schwächt auch die internationale Wettbewerbsposition Rußlands, vergrößert den Widerspruch zwischen nicht aufgegebenen Großmachtambitionen und den für ihre Umsetzung zur Verfügung stehenden Ressourcen und verletzt so permanent das nationale Selbstwertgefühl der russischen politischen Klasse gleich welcher Richtung und Position. Zur Quantifizierung der erwähnten Diskrepanz zwischen Wollen und Können mag der Hinweis genügen, daß das Sozialprodukt der alten UdSSR an der Wende zu den neunziger Jahren auf gut 50 Prozent des damaligen US-amerikanischen Niveaus geschätzt wurde, während das BIP des heutigen Rußland unter zehn Prozent des amerikanischen Wertes liegt. Daß in Rußland der zur Überwindung der tiefen Transformationskrise erforderliche Wirtschaftsaufschwung noch nicht eingesetzt hat, führt schließlich auch im Vergleich mit anderen post-kommunistischen Staaten zu einer für die ökonomische Zukunft des Landes kritischen Frage: Deutet die gegenwärtige Situation auf ein im Vergleich zu den erfolgreichen Transformationsländern lediglich „verspätetes“ Rußland hin, dem in absehbarer Zeit eine wirtschaftliche Erholung nach ost-mitteleuropäischem Vorbild bevorsteht, mit zunehmender monetärer Stabilität, struktureller Modernisierung, beginnender Sanierung von Produktionsapparat und Infrastruktur sowie fortgesetzter Öffnung zur Weltwirtschaft? Oder ist das Szenario eines „abgekoppelten“ Rußland realistisch, bei dem sich partielle Erholungen und weitere partielle Niedergänge die Waage halten, Real-kapital für Unternehmen und Infrastruktur stark defizitär ist, der Lebensstandard größerer Bevöl15 kerungsschichten weiter fällt, die Inflation immer noch relativ hoch und die Rolle Rußlands in der Weltwirtschaft begrenzt bleibt? Viele Entwicklungen deuten gegenwärtig mehr auf eine größere Aktualität des zweiten Szenarios hin. Nimmt man die Gefahr einer eher langsamen und widersprüchlichen Entwicklung beim Aufbau der Marktwirtschaft hinzu, so entsteht ein ökonomisches Gesamtbild, das durchaus in das übergreifende außen-und systempolitische Szenario einer neuen Spaltung Europas hineinpaßt.
III. Stand und Probleme des marktwirtschaftlichen Systemwechsels
1. Allgemeine Tendenz Die analytische Abklärung der aufgezeigten Alternative macht es erforderlich, zum nächsten Untersuchungsfeld überzugehen, zum Stand des marktwirtschaftlichen Systemwechsels. Die Erfahrungen der erfolgreichen Transitionsländer zeigen nämlich in aller Deutlichkeit, daß ohne Fortschritte beim institutionellen Ausbau der Marktwirtschaft und ohne Akzeptanz marktwirtschaftlicher Spielregeln durch Bevölkerung und politische Klasse keine Überwindung der Transformationskrise erreichbar ist. Ohne Zweifel ist auch in Rußland der Durchbruch zur Marktwirtschaft gelungen Der Start erfolgte auf der Grundlage des von Jelzin im Oktober 1991 vorgelegten Reformprogramms Anfang 1992. Die Verfassung von 1993 setzte dann den konstitutionellen Rahmen für eine marktwirtschaftliche Ordnung, die zwar soziale Züge tragen soll, aber keinerlei Ansatz zeigt, „dritte Wege“ mit Mischungen markt-und planwirtschaftlicher Elemente festzuschreiben Seit Reformbeginn blieben systempolitische Entwicklung und wirtschaftspolitische Praxis durch eine kontinuierliche, wenn auch unterschiedlich intensive marktwirtschaftliche Grundtendenz bestimmt. Für die Stabilität dieser hauptsächlichen Ausrichtung gibt es eine Reihe von Gründen: -Der ökonomische Systemwechsel hat einen spontanen, nicht mehr zu stoppenden Charakter angenommen: „Systemwechsel von unten“ wurde zu einem dominierenden Grundzug der russischen Transition. -Politisch vertretbare und zugleich praktikable Alternativen zum generellen marktwirtschaftlichen Kurs sind nicht vorhanden, die alte Planwirtschaft hat sich gründlich desavouiert, ihre ökonomischen und politischen Voraussetzungen sind entfallen. -Die internationalen Rahmenbedingungen der russischen Wirtschaft, d. h. die Beispiele und Erfolge anderer Transformationsländer, die Einflußnahmen westlicher Staaten, Staaten-gruppen (G 7) und internationaler Wirtschaftsorganisationen sowie schließlich Außenhandel und internationaler Kapitalverkehr, stabilisieren den Trend zur Marktwirtschaft. -Schließlich wirkt sich auch das Eigentumsinteresse der oft aus der sowjetischen Nomenklatura hervorgegangenen ökonomischen Eliten Rußlands im Sinne einer Verstetigung des marktwirtschaftlichen Systemwechsels aus, allerdings in Form einer stark von Insidern geprägten Privatisierung mit entsprechenden negativen Auswirkungen auf Unternehmensleistung und Bereitschaft zum Strukturwandel.
Andererseits gibt es trotz des inzwischen etablierten marktwirtschaftlichen Grundmusters überall Grenzen, Fehlentwicklungen und Gefahren für den systempolitischen Wandel, die deutlich machen, daß hier Reformen nicht erfolgen oder nicht ausreichend greifen. Dieses bisherige Ausbleiben wirklicher marktwirtschaftlicher Konsolidierung kann auf vielen, für ein Gelingen der Transformation zentralen Gebieten ausgemacht werden. Als wichtige Beispiele sollen im folgenden Liberalisierung, Privatisierung, Entwicklung der Banken sowie Aufbau eines neuen Steuer-und Finanzsystems ausführlicher behandelt werden. 2. Liberalisierung Die Liberalisierung der Preise und Löhne sowie die Aufhebung der planwirtschaftlichen Mengen-regulierungen für Produktion sowie Binnen-und Außenhandel standen am Beginn der russischen Transformationspolitik Sie gehörten zu den Hauptelementen des russischen Reformpro-gramms vom Oktober 1991 und blieben auch später eine zentrale Zielsetzung der Wirtschaftstransformation. Die entsprechenden Richtlinien für die Liberalisierung von Preisen und Mengen traten (mit bestimmten Ausnahmen, vor allem im Energiebereich) im Januar 1992 in Kraft. Sie galten zunächst für ganz Rußland. Seit März 1992 wurden den Regionen Vollmachten erteilt, die Liberalisierungsprogramme nach ihren Vorstellungen zu modifizieren. Viele Regionen führten neue Preisregelungen ein, die mit teilweise erheblichen Subventionen verbunden waren. Eine beträchtliche regionale Preisdifferenzierung war die Folge, und auch die bald einsetzenden Versuche des Zentrums, die Kontrolle über den Liberalisierungsprozeß durch neue normative Regelungen zurückzugewinnen, konnten die Alleingänge der Föderationssubjekte nicht unterbinden. Auch für die anderen Liberalisierungsbereiche (Löhne, Außenhandelsregelungen) bestehen regionale Unterschiede, die teils auf Sonderkonzessionen der russischen Zentralregierung, teils auf Eigenmächtigkeiten der regionalen Exekutiven beruhen. Insgesamt ist ein Gemisch von unklaren Zuständigkeiten zwischen zentralrussischen Organen und Regionalorganen, instabilen und widersprüchlichen Gesetzgebungsakten sowie wechselnden Konstellationen im Machtverhältnis von Zentrum und Regionen entstanden, das sich nachteilig auf die verläßliche Institutionalisierung einer homogenen und transparenten Marktwirtschaft in Ruß-land auswirkt. Gleichzeitig werden dadurch die Vorteile, die mit einer unterschiedlichen regionalen Wirtschaftsdynamik für den Aufschwung der Wirtschaftsleistung verbunden sein könnten, zu einem beträchtlichen Teil zunichte gemacht. So dokumentiert auch die Liberalisierungsproblematik ein Grunddilemma der Transformation in einem großen Land mit beträchtlichen Entwicklungs-und Strukturunterschieden. Setzt einerseits Transformation dort in Anbetracht begrenzter Wirkungsmöglichkeiten des Zentrums regionale Selbständigkeit voraus, fehlt andererseits aber -wie es in Rußland noch der Fall ist -ein leistungsfähiger Föderalismus, so vergrößert der zunehmende Regionalismus in starkem Maße die ohnehin schon bestehenden ökonomischen Funktionsprobleme. 3. Privatisierung Das Entstehen von betrieblichem Privateigentum ist zentraler Bestandteil jeder Wirtschaftstransformation und hat als Beitrag zur Bildung marktwirtschaftlicher Institutionen, als Instrument zur Veränderung der Wirtschaftsmentalität, als Voraussetzung für das Entstehen tendenziell staatsunabhängiger Interessenverbände und damit letztlich auch als potentieller Beitrag zur Entwicklung einer pluralistischen Demokratie nicht nur ökonomische Bedeutung. Der postkommunistische Weg zu einer privaten Eigentumsordnung in Rußland begann bereits einige Jahre vor der Verkündung der Massenprivatisierung auf Voucher-Basis (Voucher = Anteilsgutschein) zur Jahresmitte 1992 Die Voucher-Privatisierung führte allerdings ab 1993 zu einer wesentlichen Beschleunigung der (zunächst lediglich formalen) Entstaatlichung der russischen Wirtschaft. Sie wurde Mitte 1994 abgeschlossen Der quantitative Erfolg des russischen Privatisierungsprogramms war beträchtlich. Durch die „kleine“ Privatisierung ging die Mehrzahl der kleinen Staatsbetriebe in private Hände über, wobei Ausschreibung und direkter Verkauf die Hauptprivatisierungsmethoden waren. Daneben kam es zu zahlreichen Neugründungen kleiner Betriebe, vor allem im Dienstleistungsbereich Die Zahl der privaten Klein-und Mittelbetriebe in Rußland dürfte inzwischen die Millionengrenze überschritten haben, sie weisen einen Beschäftigungsumfang von 12-14 Mio. auf, ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt hat die Marge von 10 Prozent überschritten, und ihre Bedeutung für die Entstehung mittelständischer Schichten nimmt zu. Auch die „große“ Privatisierung (Privatisierung der staatlichen Mittel-und Großbetriebe) hat Fortschritte gemacht. Nachdem zunächst eine Umwandlung der Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften erfolgt war, kam es, meist über die in vielen Orten Rußlands durchgeführten Voucher-Auktionen, zur formalen Privatisierung ganzer Betriebe oder von Betriebsanteilen. Daneben war ein Kauf von Aktien gegen Bargeld möglich -ein Verfahren, das nach Abschluß der Voucher-Privatisierung zum einzigen Weg des Erwerbs von Unternehmensanteilen geworden ist.
Mitte 1994 belief sich die Gesamtzahl der privatisierten Unternehmen auf über 100 000, d. h. auf drei Viertel aller damals existierenden, selbständig bilanzierenden Staatsbetriebe. Seitdem die russische Privatisierungspolitik von der Methode der Voucher-Auktionen zum Verkauf von Unternehmen bzw. Anteilen daran übergegangen ist, hat sich das Tempo der Privatisierung wesentlich verlangsamt Während der Anteil der im staatlichen und im gemischten Sektor der russischen Volkswirtschaft (zu letzterem gehören vor allem Kapitalgesellschaften mit staatlicher Beteiligung) Beschäftigten an den gesamten Erwerbstätigen im Jahre 1993, d. h. in der Hauptphase der Voucher-Privatisierung, um zehn Prozentpunkte abnahm, betrug der entsprechende Rückgang 1994 und 1995 nur noch jeweils ca. vier Prozentpunkte. 1996 hat sich das Privatisierungstempo weiter abgeschwächt, soll aber jetzt durch entsprechende Maßnahmen der russischen Regierung (u. a. Verkäufe von Anteilen staatlicher Unternehmen im Öl-, Elektrizitäts-und Versicherungssektor) wieder erhöht werden. Insgesamt wurden vom Beginn der „großen“ Privatisierung bis zur Jahresmitte 1996 knapp zwei Drittel der im Privatisierungsprogramm aufgelisteten Unternehmen ganz oder teilweise privatisiert. Der Beitrag des privaten Sektors zum russischen Bruttoinlandsprodukt wird für Mitte 1996 auf insgesamt 60 Prozent geschätzt.
Wenn der Verlauf der Privatisierung in Rußland im Vergleich mit den fortgeschrittenen Transformationsländern Ostmitteleuropas in formal-quantitiver Hinsicht auch als durchaus erfolgreich bezeichnet werden kann, so macht die Analyse der funktionalen und gesellschaftlichen Wirklichkeit des neuen privaten Sektors doch zahlreiche, teilweise gravierende Schwachpunkte evident, die eher von einem „privatoiden“ als von einem tatsächlich funktionierenden Privatsektor sprechen lassen Diese Schwachpunkte hängen teils mit ungünstigen systempolitischen, wirtschaftstrukturellen und makroökonomischen Rahmenbedingungen, teils mit konservativen Verhaltensstrukturen (marktfremde ökonomische Kultur), teils mit dem prekären Verhältnis zwischen Privatisierung und der Verbreitung aller Arten von Kriminalität zusammen. Unter dem Stichwort „systempolitische Rahmenbedingungen“ ist insbesondere auf die institutionell unzureichend entwickelte und kaum auf Effizienz und Innovation hinwirkende Unternehmenskontrolle (corporate governance) hinzuweisen. Diese wiederum hat vielfältige Ursachen. Von besonderer Bedeutung sind der vorherrschende Charakter der russischen Privatisierung als einer überwiegenden Insider-privatisierung (Nomenklatura-Privatisierung); der noch zu wenig entwickelte Wettbewerb zwischen den Unternehmen (durch neue Formen der Wirtschaftskonzentration wie die Finanz-und Industriegruppen dürfte er eher weiter beeinträchtigt werden) sowie die infolge öffentlicher Subventionsneigung immer noch zu weichen betrieblichen Budgetschranken.
So fehlt es bei der gegenwärtigen Geld-und Finanzpolitik, die sich trotz zunehmender, teilweise auch erfolgreicher Bemühungen um monetäre Stabilisierung immer noch zu sehr am Liquiditätsbedarf der Betriebe orientiert, an funktionierenden Finanzinstitutionen, von denen einerseits Druck auf eine Effizienzsteigerung ausgeht, die anderseits aber auch das für die Sanierung des unzureichenden Kapitalstocks und die erforderliche Umstrukturierung der Wirtschaft notwendige Kapital zu mobilisieren in der Lage sind. Die immer noch gewährten Subventionen hängen wiederum mit den Spannungen zwischen der Privatisierung und den aus der Sowjetzeit geerbten real-wirtschaftlichen Strukturen zusammen (u. a. hoher Anteil der Schwer-und Rüstungsindustrie, ineffiziente zivile Industrie, generelle Überbesetzung der Betriebe mit Arbeitskräften). Diese Strukturen drohen bei einer effizienzorientierten Privatisierung wegzubrechen und führen zu staatlicher Unterstützung, die wiederum die Orientierung der Unternehmen auf mehr Effizienz blockiert. Auf die Beeinflussung der staatlichen Wirtschafts-und Finanzpolitik zugunsten bestimmter Zweige und Unternehmen ist auch die Tätigkeit von Interessengruppen ausgerichtet, die bei der Allokation von Haushalts-und Außerhaushaltsmitteln, aber auch in vielen anderen Politikbereichen festzustellen ist, etwa bei der Besetzung höherer Regierungsposten, bei der Gesetzgebung und Schaffung neuer Institutionen sowie bei der Festlegung wirtschaftspolitischer Prioritäten. Unter dem Stichwort „Verhaltensweisen“ ist anzumerken, daß die lange Dauer der administrativen Planwirtschaft im Zusammenwirken mit historischen Prägungen aus vorsowjetischer Zeit die ökonomische Kultur in Rußland nachhaltig beeinflußt hat. Wenn auch innerhalb und außerhalb Rußlands umstritten ist, in welchem Maße von der russischen ökonomischen Kultur negative Einflüsse auf das Funktionieren von privater Eigentumsordnung und Marktwirtschaft ausgehen, so herrscht doch die Auffassung vor, daß sich die in der jüngeren und entfernteren sowjetisch-russischen Vergangenheit geprägten ökonomischen Einstellungen und Verhaltenstypen für den marktwirtschaftlichen Systemwechsel als eher bremsend denn als förder- lieh erweisen. Dies hat sich u. a. auch an den zumeist langsamen Reaktionen der Betriebsleiter auf Änderungen makroökonomischer Vorgaben im Transformationsprozeß gezeigt. So haben sich viele Unternehmen selbst im Falle härterer Budgetschranken, wie sie etwa im ersten Halbjahr 1992 verfügt wurden, nicht mit Effizienzsteigerung und Strukturwandel an die veränderten Bedingungen angepaßt, sondern im alten Stil weitergewirtschaftet und sich untereinander exzessiv verschuldet.
Was schließlich die schwer durchschaubare Verflechtung von Privatisierung, kriminellem Verhalten und organisiertem Verbrechen in Rußland betrifft, so stellt sie vielfach die Hauptsorge der Bürger und Unternehmen dar, bremst ausländische Direktinvestitionen und erklärt immer wieder die große Popularität der Anwälte von „law and Order“ wie zuletzt A. Lebed. Die organisierte Kriminalität, die sich bis in die Spätphase der Perestroika, wenn nicht gar weiter zurückverfolgen läßt, in den letzten Jahren aber stark zunahm und auch gewalttätiger wurde, ist eng mit Bestechung und Korruption verbunden. Viele höhere und mittlere Funktionäre der zentralen und regionalen Exekutive sind aus Eigennutz oder unter Druck selbst kriminell geworden, fördern das organisierte Verbrechen und arbeiten mit ihm zusammen. Die Schwäche des Staates, insbesondere der Sicherheitsdienste und des Rechtssystems, ließen private Sicherheitstrupps entstehen, die teilweise wiederum selbst kriminell sind, Schutzgelder erpressen und mit verbrecherischen Methoden Schulden für gewisse Auftraggeber eintreiben. Insbesondere unterhalten zahlreiche Banken enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen. Im Vergleich zu den Summen, die mächtige kriminelle Gruppen dann wieder von privaten Betrieben erpressen, ist der Wert derartiger „Dienstleistungen“ allerdings gering. Auf der Unternehmerseite führen laxe Moral, Steuerdruck und unzureichende Kontrolle zu umfangreicher Steuervermeidung und -hinter-Ziehung. Eine andere Wurzel der Kriminalität ist die weitverbreitete Armut, die soziale Randgruppen produziert (Jugendliche ohne Berufschance, entlassene Soldaten) und für die Verlockungen unrechtmäßig erworbenen Reichtums anfällig macht. Alle Formen von kriminellem Verhalten und organisiertem Verbrechen in Rußland beeinträchtigen in starkem Maße die institutionelle und funktionale Festigung des unternehmerischen Privateigentums und damit die Konsolidierung der gesamten Transformation. Erfolge bei der Kriminalitätsbekämpfung erscheinen nur langfristig möglich, wenn sich die ökonomische Moral in Rußland ändert und die Einsicht einkehrt, daß Kriminalität mit hohen ökonomischen Transaktionskosten und großen persönlichen Risiken für die Urheber selbst verbunden ist und daß es Methoden zur Durchsetzung ökonomischer Interessen gibt, die auf lange Sicht sicherer und ergiebiger sind. Das Zustandekommen einer solchen Entwicklung setzt aber nicht nur fortschreitende Lernund Kontrollprozesse innerhalb der Gesellschaft, sondern auch das Entstehen einer neuen, mit Autorität und Sachverstand ausgestatteten Staatlichkeit in Rußland voraus. 4. Entstehung eines marktadäquaten Bankensystems Die Banken stellen einen zentralen Sonderbereich der neuen russischen Unternehmensstruktur dar. Ihre Entwicklung und zunehmende ökonomische Bedeutung innerhalb der marktwirtschaftlichen Transformation, aber auch ihre Schattenseiten von organisatorischen Mängeln und Dysfunktionen bis hin zur Durchmischung mit kriminellen Verhaltensweisen und organisiertem Verbrechen sind eng mit der Enstehung der neuen, zunehmend privaten Eigentumsordnung verbunden. Wie die Privatisierung, so begann auch der Aufbau eines modernen Bankensystems in Rußland in der Spätphase der Perestroika. Im Jahre 1988 wurde per Gesetz der UdSSR der Rahmen für die Gründung genossenschaftlicher Banken geschaffen, die die Entwicklung des sich herausbildenden nichtstaatlichen Unternehmenssektors unterstützen sollten. Das (Unions-) Bankgesetz von 1990 eröffnete dann die Möglichkeit, Banken in der Rechtsform von Aktiengesellschaften zu gründen. Die für eine behördliche Genehmigung erforderlichen Voraussetzungen waren gering. In der Folgezeit kam es aufgrund zunehmender Gegensätze zwischen der reformfreudigen russischen Regierung und einer eher konservativen Sowjetregierung zu einer Trennung der russischen von den sowjetischen Banken. In Rußland erfolgte zudem eine Aufspaltung der staatseigenen Banken in mehrere unabhängige Regionalbanken sowie vielfach auch eine Ausgliederung der betrieblichen und ministeriellen Finanzabteilungen in Form neuer, organisatorisch selbständiger, häufig aber noch eng mit Unternehmen und Wirtschaftszweigen verbundener Banken. In ihrer Gesamtheit hatten diese Entwicklungen zur Folge, daß die Zahl der russischen Banken sprunghaft zunahm. Hatte es 1989 in der damaligen RSFSR lediglich fünf Banken gegeben, sobelief sich die Zahl entsprechender Institute in der Rußländischen Föderation im Jahre 1992 auf 1 500 und im Jahre 1995 auf 2 500.
Die Ablösung des alten sowjetischen Bankensystems durch ein zweistufiges Bankensystem mit Notenbank und zahlreichen Geschäftsbanken entspricht im Prinzip den Erfordernissen der marktwirtschaftlichen Transformation. Allerdings kann von einer Konsolidierung des russischen Geschäftsbankensektors noch keine Rede sein. Folgende Hauptprobleme sind hervorzuheben: In einer großen Anzahl der Banken ist die Kapital-ausstattung zu gering und die Bildung von Rücklagen unzureichend; das Management verfügt oft nicht über ein adäquates professionelles Niveau; Buchhaltungs-und Publizitätsvorschriften sind noch in einem rudimentären Zustand. Angebote an beratenden und prüfenden Dienstleistungen (Steuer-und Finanzberater, Wirtschaftsprüfer) noch mangelhaft entwickelt; weit verbreitet ist die Neigung zu spekulativen, kurzfristigen Geschäften, und dies in Verbindung mit unzureichender Bankenaufsicht infolge schwach ausgebauter Lenkungs-sowie Kontrollinstrumente der Zentralbank. Auf der anderen Seite ist der politische Einfluß der großen Banken beträchtlich, und ihre Verbindung mit dem organisierten Verbrechen gestaltet sich in vielen Fällen eng, wenn auch schwer durchschaubar. Als die Bemühungen der russischen Regierung um eine Stabilisierung des monetären Bereichs der Wirtschaft Erfolge zeigten und die realen Zinssätze positiv wurden, verschlechterten sich die Aktionsbedingungen vieler Banken. Im Jahre 1995 wies ein Drittel der russischen Banken Verluste aus. Zwar hat Rußland bereits mit Maßnahmen zur Konsolidierung des Banksektors (Rücknahme von Lizenzen, Einschränkung bestimmter Aktivitäten) begonnen, doch existieren immer noch zahlreiche Banken mit sehr brüchiger ökonomischer Basis. Als weiteren Schritt zur Gewährleistung von mehr Solidität in einem für den Fortgang der ökonomischen Systemtransformation zentralen Wirtschaftssektor hat die russische Regierung mit der Weltbank und der EBRD die Durchführung eines Hilfs-und Beratungsprogramms vereinbart, das zu einer stufenweisen Einführung international üblicher und bewährter Bankrichtlinien in Rußland beitragen soll. 5. Reform des Steuer-und Finanzsystems Die Grundlage für ein neues, mit marktwirtschaftlichen Erfordernissen übereinstimmendes Steuersystem in Rußland wurde mit dem Gesetz über die Grundlagen des Steuersystems der Rußländischen Föderation gebildet, das mit Beginn der ökonomischen Systemtransformation Anfang 1992 in Kraft trat Zu den wichtigsten Einnahmequellen der öffentlichen Haushalte wurden die Mehrwertsteuer (später in Verbindung mit der speziellen Umsatzsteuer), die Gewinnsteuer der Betriebe, die Einkommensteuer sowie vermehrt spezielle Verbrauchsteuern. Die Etablierung einer formellen Finanzverfassung zur Regelung der Einnahmequellen und zur Bestimmung der Finanz-beziehungen zwischen den Staatsorganen auf den verschiedenen Verwaltungsebenen Rußlands (Finanzausgleich) erfolgte nicht. Statt dessen gab es eine Fülle einzelner, ja oft isolierter normativer Akte zur Steuergestaltung (Gesetze, Präsidenten-erlasse und Regierungsverordnungen) vor allem auf nationaler, aber auch auf regionaler Ebene. Das wünschenswerte Maß an Konsistenz, Stabilität und Verläßlichkeit der Abgaben-und Umverteilungsregelungen konnte damit bisher nicht erreicht werden. Im Gegenteil, die Unübersichtlichkeit und Zersplitterung der Steuern nahm tendenziell weiter zu. So ist die Zahl der Steuerarten von 1991 bis 1995 von ca. 40 auf ca. 70 angewachsen, in einzelnen Regionen noch darüber hinaus. Grund dafür ist in erster Linie, daß die regionalen und lokalen Verwaltungen in Anbetracht instabiler Steueraufteilungsquoten und ungewisser Ergebnisse von Verhandlungen über Ad-hoc-Transfers immer wieder versuchen, ihre finanzielle Situation über neue Steuern oder steuerähnliche Abgaben zu verbessern.
Insgesamt ist das russische Steuersystem durchaus auf dem Weg zu einer der Marktwirtschaft adäquaten Struktur. Es fehlt aber an institutioneller Verläßlichkeit, und es gibt immer wieder Tendenzen, die fiskalischen Zwecke (Beschaffung von Geld für öffentliche Ausgaben) vor die wirtschaftspolitischen Funktionen der Steuern (Funktionen auf den Gebieten der Ordnungs-, Verteilungs-, Struktur-und Konjunkturpolitik) treten zu lassen. Dies entspricht einmal dem Weiterwirken sowjetischer Verhaltensweisen, wo den Steuern (im Unterschied zur administrativen Mengenplanung) ja auch keine Allokationsfunktionen zugekommen waren. Hier schlägt sich aber ebenfalls der unzureichend gedeckte staatliche Finanzbedarf nieder, der dazu verleitet, mit hohen Steuern gerade die leistungsfähigen und dynamischen Betriebe (inklusive ausländischer Unternehmen) zu belasten, die aufgrund ordnungs-und konjunkturpolitischer Erwägungen eigentlich gefördert werden müßten. Umfangreiche Steuerhinterziehung ist in Anbetracht hoher Steuerbelastung, niedriger Steuermoral und unzureichender staatlicher Kontrollmöglichkeiten wiederum eine oft praktizierte Antwort der Unternehmen. Weniger als zwei Drittel der geplanten Steuermittel erreichten im ersten Vierteljahr 1997 die öffentlichen Kassen.
Es käme darauf an, den gegenwärtigen Circulus vitiosus zu durchbrechen, bei dem der Staat auf seinen verschiedenen Ebenen immer mehr und höhere Steuern einführt, die Unternehmen darauf mit immer neuen Strategien zur Steuervermeidung reagieren und die öffentlichen Kassen Defizite aufweisen, die nicht oder nur um den Preis einer weiteren Verengung der ohnehin geringen Spielräume für Kapitalbildung, einer umfangreichen Inanspruchnahme von Auslandsfinanzierung oder gar des Rückgriffs auf inflationäre Finanzierungsmethoden zu decken sind. Erforderlich ist also eine gründliche Steuerreform. Sie wurde auch wiederholt angekündigt, blieb aber immer wieder im ineffizienten politischen Entscheidungsprozeß stecken. Gegenwärtig wird ein neuer Anlauf gestartet, der nach der Umbildung der russischen Regierung vom Frühjahr 1997 mehr Aussicht auf Erfolg verspricht.
IV. Politische Aspekte des ökonomischen Systemwechsels in Rußland
Damit ist das nächste Feld der Analyse, der politische Rahmen der ökonomischen Entwicklung Rußlands, angesprochen. So wie die Wirtschaftskrise in erster Linie auf den unbefriedigenden Stand des marktwirtschaftlichen Aufbaus zurückzuführen ist, so hat der schlechte Zustand der russischen Marktwirtschaft wiederum in der bisherigen Labilität des politischen Systems seine hauptsächliche Ursache.
Ein institutionell zufriedenstellend ausgestaltetes politisches System, das mit wirklicher Regierungsautorität ausgestattet ist und auf einem ausreichend breiten gesellschaftlichen Konsens beruht, konnte sich in Rußland nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Totalitarismus noch nicht entwickeln. Von der Verfassung her ist die Rußländische Föderation ein semipräsidentielles System mit einer starken Position des Präsidenten und einem klaren Übergewicht des Zentrums gegenüber den Regionen, den 89 „Subjekten der Föderation“. De facto aber ist Jelzin ein relativ schwacher Präsident innerhalb eines verhältnismäßig schwachen Moskauer Zentrums geblieben.
Zwar hat der Sieg des Amtsinhabers in der Präsidentschaftswahl vom Sommer 1996 den von vielen befürchteten Machtantritt des Kommunisten Sjuganow verhindert und die in Richtung einer Festigung der Demokratie wirkenden Tendenzen verstärkt. Doch gelang es dem russischen Präsidenten -auch aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit -lange nicht, den Wirrwarr konkurrierender Apparate zu überwinden, transparente sowie effiziente Entscheidungsstrukturen aufzubauen und ein Team leistungsfähiger Politiker um sich zu scharen.
Seit der Regierungsumbildung vom März und April dieses Jahres zeichnet sich hier zumindest die Möglichkeit eines Wandels ab Mit Anatoli Tschubais und Boris Nemzow wurden zwei konzeptionell marktwirtschaftlich ausgewiesene und in der Praxis bewährte Reformer zu Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt und weitere Führungspositionen mit Personen aus dem Umfeld von Tschubais besetzt.
Das von der neuen Regierung angekündigte Programm bedeutet einen neuen radikalen Versuch, die Wirtschaftskrise zu beenden und den marktwirtschaftlichen Aufbau voranzutreiben. Von Bedeutung sind weniger die genannten Einzel-ziele. Sie entsprechen bisherigen Ankündigungen und entbehren wie diese nicht einer populistischen Rhetorik: Haushaltssanierung und konsequente Stabilitätspolitik werden versprochen, Zahlung rückständiger Löhne und Konzentration der Sozialleistungen auf die bedürftigsten Bürger angekündigt. Programme zur Förderung von Industrie und Landwirtschaft sind vorgesehen, betrieben werden sollen ein verstärkter Kampf gegen Korruption und Verbrechen sowie die Begrenzung von Staatsaktivitäten und eine Reduzierung der Bürokratie. Was im Unterschied zu früher Fortschritte bringen könnte, sind Faktoren wie -die professionelle Qualität und Homogenität des neuen Teams, -die offensichtliche Rückendeckung durch den wiedererstarkten Jelzin, -die Zustimmung zumindest eines Teils der neuen Wirtschaftseliten sowie -die bald nach Einsetzung der neuen Regierung wieder angelaufene Unterstützung durch internationale Finanzinstitutionen und westliche Regierungen. Freilich bleiben gravierende Probleme: -Die ungünstige Wirtschaftslage, vor allem auch die soziale Situation der Bevölkerung, wird sich kurzfristig nicht verbessern; -die Arbeitslosigkeit wird weiter ansteigen; -reformblockierende Wirtschafts-und Sozial-strukturen sind nur langfristig zu verändern.
Nach wie vor gilt in Rußland wie anderswo: Neue Systeme werden letztendlich nicht gemacht, sie müssen sich entwickeln. Verbessert werden können allenfalls die Bedingungen eines zukünftigen systempolitischen Wandels.
V. Bilanz und Perspektiven
Die zukünftige Entwicklung Rußlands dürfte innerhalb der Spannbreite von zwei Szenarien erfolgen, die zwar im prinzipiellen Vorherrschen marktwirtschaftlicher Strukturen übereinstimmen, sich jedoch im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung der Marktwirtschaft, ihre Leistungsfähigkeit und ihre politische Bedeutung beträchtlich voneinander unterscheiden.
Szenario 1 besteht im Fortdauern der gegenwärtigen negativen Tendenzen hin zu einer monopolistischen und interventionistischen Marktwirtschaft.
Sie ist durch wenig Wachstumsdynamik, geringe Effizienz und langsamen strukturellen Wandel gekennzeichnet. Die Rolle Rußlands in der Weltwirtschaft bleibt bescheiden. Die ökonomischen Akteure sind nicht leistungs-, sondern renten-orientiert, und das Verhalten der Gesamtgesellschaft gegenüber den Ressourcen des Landes trägt einen parasitär-ausbeuterischen Charakter. In der russischen Innenpolitik liegen autoritäre Entwicklungen nahe, und die Außenpolitik wäre durch neue Konfrontationen und Unberechenbarkeiten geprägt. Ein solches Rußland entspricht den Interessen des Westens nicht.
Szenario 2 läuft auf den schwierigen Entwicklungsund Lernprozeß hin zur allmählichen Konsolidierung einer unternehmerischen Marktwirtschaft hinaus. Autorität und Kompetenz der Wirtschaftspolitik nehmen zu. Die zunehmende Bereitschaft der Unternehmer zu Innovation und Strukturanpassung läßt Effizienz und Lebensstandard wachsen. Die russische Wirtschaft integriert sich in die Weltwirtschaft. Kapital-und Güterströme nehmen zu. In der Innenpolitik festigen sich demokratische Prozesse, außenpolitisch nehmen Kooperationsbereitschaft und Berechenbarkeit zu.
In der vorliegenden Perzeption der Fakten bietet die russische Realität gegenwärtig bedauerlicherweise immer noch mehr Anhaltspunkte für eine Entwicklung in Richtung Variante 1, der leistungsschwachen monopolistischen und interventionistischen Marktwirtschaft. Ausgeschlossen ist der allmähliche Weg zu einer leistungsfähigen und wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft innerhalb eines demokratischen Milieus jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Voraussetzungen dafür haben sich durch die jüngsten Moskauer Entwicklungen wieder verbessert. Jetzt käme es auf das „Trittfassen“ der neuen Moskauer Wirtschaftspolitik an. Die verstärkte Öffnung der russischen Wirtschaft zur Weltwirtschaft müßte hinzukommen. Durch Konzepte, die den Aufgaben der Transformation in Rußland entsprechen und mit Strategien für eine Zusammenarbeit, die vom Wechsel der Tagesereignisse unabhängig sind, kann auch der Westen zu dieser Öffnung beitragen. Es gibt Gefahren für den Wandel hin zu Demokratie und Marktwirtschaft in Rußland, und die systempolitische Konsolidierung läßt auf sich warten, aber noch ist die Entwicklung offen; es gibt auch nach wie vor ein „window of opportunity“ für den Westen, die Entwicklung in Rußland in einem positiven Sinne zu beeinflussen.