I. Ein Faktum zur Einleitung: Mehrheit für die Wehrpflicht
Ist die Wehrpflicht am Ende? Noch ist es nicht so weit, jedenfalls nicht bei uns. International geht der Trend offenbar zu ihrer Abschaffung. Ihre Begründung ist schwieriger geworden, seit Belgien und die Niederlande -wie zuvor schon Großbritannien und die USA -ihre Streitkräfte auf ein Freiwilligensystem umgestellt und weitere Länder -insbesondere Frankreich -diesen Schritt angekündigt haben. Im Deutschen Bundestag sind 1996 parlamentarische Anträge zur Abschaffung der Wehrpflicht von Bündnis 90/Die Grünen und von der PDS eingebracht worden. Eine große überparteiliche Mehrheit der Abgeordneten plädiert indessen nach wie vor für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Politische Initiativen zu ihrer Abschaffung haben deshalb bislang keine Chance. Die Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht ist die wiederholt bekräftigte Politik der Bundesregierung. Und dafür gibt es eine Reihe guter Gründe.
Die Bevölkerung trägt die sicherheitspolitische Grundentscheidung zur Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht mehrheitlich mit oder toleriert sie doch. Es ist nicht zutreffend, daß die Wehrpflicht von den Bürgern als zunehmend illegitimer Eingriff des Staates in die Lebensplanung und Lebensgestaltung der jungen Männer empfunden wird. Im Gegenteil: Die Wehrpflicht hat in neuerer Zeit an gesellschaftlicher Unterstützung gewonnen, und zwar auch unter den davon unmittelbar betroffenen Jugendlichen. Repräsentative Bevölkerungsumfragen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr aus den Jahren 1995 und 1996 belegen den Stimmungswandel: Die Befürworter der Wehrpflicht haben aufgeholt, die Mehrheit ist gegen eine Freiwilligenarmee (ausgenommen allerdings die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 16 und 29 Jahren). Für die meisten Befragten ist die gegenwärtige Personal-struktur der deutschen Streitkräfte auch das Modell für die Zukunft: eine Mischung aus Wehrpflichtigen sowie Zeit-und Berufssoldaten. Nur 4, 7 Prozent der Bürger wünschten in der Umfrage vom Spätherbst 1996 die völlige Abschaffung der Bundeswehr; lediglich 1, 9 Prozent der 2 500 Befragten hielten den Dienst in der Bundeswehr und den zivilen Ersatzdienst gleichermaßen für „unwichtig“.
Wehrdienst und Zivildienst sind Leistungen, die von den Bürgern geschätzt werden und auf die sie offenbar nicht verzichten wollen, wobei der Zivildienst seit vielen Jahren höher bewertet wird als der Wehrdienst. Beide , Leistungspakete sind aber nur mit der allgemeinen Wehrpflicht zu haben. Dieser Zusammenhang ist vielen heute stärker bewußt als früher.
II. Das deutsche Wehrsystem: Ein weltweites Unikat
Die allgemeine Wehrpflicht ist in der Praxis zu einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer geworden. Sie sichert auf diese Weise nicht nur den Personalbedarf bei den Streitkräften, sondern darüber hinaus ein breites Spektrum gesellschaftspolitisch wertvoller und wichtiger sozialer Dienste. Während die friedensbewegten Gegner der Wehrpflicht (und der Bundeswehr) diese Entwicklung nicht gerne sehen, werden wir vom Ausland um unser ausgebautes System von Diensten für die Gemeinschaft beneidet. Der Zivildienst stabilisiert indirekt die allgemeine Wehrpflicht. Deshalb gibt es in der Öffentlichkeit gegen die Wehrpflicht kaum eine spürbare Opposition.
Angebliche Wehrungerechtigkeit ist kein Grund mehr, gegen die Wehrpflicht anzugehen. Mit der Einführung des Verwendungsgrads T 7 im Juli 1995 konnte die Zahl der nichtwehrdienstfähigen jungen Männer um ein Drittel verringert werden. Das heutige System sorgt damit für eine Wehr-bzw. Dienstgerechtigkeit „wie im Bilderbuch“ (Dieter Hackler, Bundesbeauftragter für den Zivildienst): 45, 4 Prozent eines männlichen Geburtsjahrgangs dienen in der Bundeswehr, und rund 30 Prozent leisten Zivildienst in den 35 000 anerkannten Beschäftigungsdienststellen; 3, 6 Prozent leisten Dienst im sogenannten externen Bedarf (Bundesgrenzschutz, Polizei, Feuerwehr. Katastrophenschutz); 15 Prozent sind nicht wehrdienstfähig, weitere 5 Prozent sind Wehrdienstausnahmen (Dritte-Söhne-Regelung, Theologiestudenten, Erhaltung des eigenen Betriebs), und 1 Prozent können weder erfaßt noch gemustert werden Alles in allem summiert sich das zu einer Heranziehungsquote (auch der Zivildienst gilt als Erfüllung der Wehrpflicht), wie es sie in dieser Höhe in Deutschland noch nie gegeben hat. Das ist jedenfalls die offizielle Argumentationslinie. Wehrgerechtigkeit ist im übrigen heute leichter erreichbar als früher: Der Geburtsjahrgang 1966 (West) zählte noch fast 490 000 junge Männer bei einem Streitkräftebedarf von jährlich rund 200 000 Grundwehrdienstleistenden. Heute beträgt die Jahrgangsstärke gesamtdeutsch um die 370 000 Mann bei einem Bedarf von 135 000 grundwehrdienstleistenden Soldaten
Festzuhalten bleibt, daß sich die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland gerade wegen der Möglichkeit, den Dienst in der Bundeswehr zu verweigern, in den 40 Jahren seit ihrer Wiedereinführung 1956/57 zu einem System entwickelt hat, das in dieser spezifischen Ausprägung nirgendwo sonst zu finden ist. Niemand hat das allerdings so geplant und gesteuert. Es ist unbeabsichtigtes Resultat einer Entwicklung, die im Jahr 1949 ihren Anfang nahm, als die Bundesrepublik Deutschland als erster Staat der Welt dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung verfassungsrechtlichen Rang verlieh.
III. Wehrdienst oder Zivildienst: Die Kraft des Faktischen
Ein Blick zurück auf die Entwicklung der Kriegsdienstverweigerungszahlen zeigt folgendes Bild Bis Ende der sechziger Jahre (in den Geburtsjahr-gängen 1938 bis 1947) war die Kriegsdienstverweigerung eher ein Muster sozialer Abweichung. Die Zahl der KDV-Anträge war gering, Verweigerer waren sozialtypische Ausnahmeerscheinungen. Ein ziviler Ersatzdienst wurde erst 1961 -vier Jahre nach Einberufung der ersten Wehrpflichtigen zur Bundeswehr -eingerichtet.
In einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne um 1968 herum verdoppelte sich die Zahl der Anträge, obschon in der Bevölkerung die Ableistung des Grundwehrdienstes nach wie vor als Bestandteil der Normalbiographie eines männlichen Jugendlichen begriffen wurde. Der KDV-Antrag galt auch als eine politisch motivierte Absage an den Staat. Zugleich wuchs die Konfrontation zwischen Kriegsdienstverweigerern und Soldaten. Die „Postkartennovelle“ von 1977 brachte einen weiteren sprunghaften Anstieg von Kriegsdienstverweigerern. Es genügte die bloße schriftliche Erklärung des ungedienten Wehrpflichtigen, vom Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch zu machen. Das Gesetz wurde zwar vom Bundesverfassungsgericht noch im Dezember 1977 außer Anwendung gesetzt und im April 1978 für verfassungswidrig erklärt. Seither hat sich aber die Vorstellung eines individuellen Wahlrechts zwischen Wehrdienst und Zivildienst breitgemacht. Daran hat auch die Regelung von 1983/84 nichts geändert. Nach dieser bis heute gültigen Gesetzes-lage reicht die Glaubhaftmachung der Gewissens-entscheidung sowie die Bereitschaft zur Ableistung des drei Monate längeren Zivildienstes (da Reservisten noch später mit Einberufungen zu Wehrübungen rechnen müssen) für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus.
Der massenhafte Gebrauch des Kriegsdienstverweigerungsrechts hat das ursprüngliche Regel-/Ausnahme-Verhältnis im allgemeinen Bewußtsein verwischt. Der Deutsche Bundestag und das Bundesverfassungsgericht haben den Vorrang der Regel vor der Ausnahme nicht geschützt (letzteres hat mit seinem „Soldaten-sind-Mörder“ -Urteil eher das Gegenteil bewirkt) und damit wesentlich zur heutigen Situation beigetragen. Wehrdienst und Zivildienst werden daher in der Öffentlichkeit pragmatisch als gleichwertige Alternativen begriffen. Welcher Dienst gewählt wird, liegt faktisch im Belieben des einzelnen. Wer will, geht zur Bundeswehr, wer nicht will, bleibt ihr fern. Das ist jedenfalls die gesellschaftliche Realität, auch wenn die Verfassung etwas anderes vorsieht. Dabei ist der qualitative wie Unterschied so einfach einschneidend: Der wehrpflichtige Soldat muß gegebenenfalls sein Leben einsetzen, vom Zivildienstler verlangt das niemand.
Dennoch hat sich die Neuregelung des Kriegsdienstverweigerungsrechts im großen und ganzen bewährt. Sie hat zu einem Zustand geführt, mit dem eigentlich alle zufrieden sein können: Die personelle Bedarfsdeckung der Bundeswehr ist gesichert. Mehr Wehrpflichtige könnte sie bei einer Gesamtpersonalstärke von 340 000 Soldaten ohnehin nicht aufnehmen. Wer heute als wehrpflichtiger Soldat zur Bundeswehr geht, ist quasi ein Freiwilliger. „Wehrunwillige“ junge Männer kommen in die Streitkräfte erst gar nicht hinein, sondern wandern schon bei der Musterung in den Zivildienst ab. Dort tragen sie als willkommene Helfer dazu bei, das Versorgungsniveau des zunehmend strapazierten Sozialsystems aufrechtzuerhalten. Für die Trägerorganisationen der freien Wohlfahrtspflege sind die Zivildienstleistenden unentbehrlich. Die von ihnen wahrgenommenen Aufgaben würden nicht oder nur unzureichend erfüllt, blieben sie allein marktwirtschaftlichem Wettbewerb oder völliger staatlicher Subventionierung überlassen. Der Zivildienst ist „preiswerter’ Bestandteil des Sozialsystems. Schließlich sorgt die Wehrpflicht auch noch für Nachwuchs bei Polizei, Grenzschutz, THW und Feuerwehr. Und der Anteil derjenigen, die wegen dauernder oder vorübergehender Wehrdienstunfähigkeit keinerlei Dienst leisten, ist von 22 Prozent auf 15 Prozent eines Geburtsjahrgangs zurückgegangen. Dieser optimale Zustand ist seit etwa zwei Jahren erreicht. Es ist deshalb verständlich, daß die Neigung zu erneuten Veränderungen nicht groß ist, zumal dafür aus sicherheitspolitischer Perspektive keinerlei Notwendigkeit besteht.
IV. Die sicherheitspolitische Begründung der Wehrpflicht und der Umfang der Bundeswehr
Die Kernaufgabe der Bundeswehr ist nach wie vor die Landes-und Bündnisverteidigung. Deutschland trägt die Hauptlast der konventionellen Verteidigungsfähigkeit Mitteleuropas. Auch die Krisenreaktionskräfte sind Bestandteil der Landes-und Bündnisverteidigung. Sie sind deren präsenteste Teile. Die Krisenreaktionskräfte sichern Auf-wuchs und Aufmarsch der Hauptverteidigungskräfte. Darüber hinaus ermöglichen sie einen rasch verfügbaren Beitrag für Einsätze von NATO und WEU. Und schließlich bilden sie das Kräftepotential, aus dem zahlenmäßig begrenzte Kontingente für UN-Einsätze kurzfristig bereitgestellt werden können. Das ist eine militär-und sicherheitspolitisch gänzlich andere Situation als beispielsweise in Frankreich.
Um die konventionelle militärische Risikovorsorge in Zentraleuropa glaubwürdig gestalten zu können, bedarf es einer auch zahlenmäßig beachtlichen Truppenstärke und ebenso beträchtlicher Reserven. Wie groß die Bundeswehr sein muß, ist heute allerdings schwieriger begründbar als früher. Mathematisch ermitteln läßt sich die erforderliche Truppenstärke nicht, und neben sicherheitspolitischen Argumenten spielen auch bevölkerungs-, wirtschafts-und finanzpolitische Zwänge eine Rolle. Solche Überlegungen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1978 neben der sicherheitspolitischen Begründung der Wehrpflicht ausdrücklich zugelassen.
Unter Experten besteht weithin Einigkeit, daß die für Deutschland erforderliche Größenordnung aktiver Streitkräfte zwischen 330 000 und 370 000 Soldaten liegt Die Bundesregierung hat sich auch aus finanziellen Gründen für eine Truppe von 340 000 Mann entschieden. Damit befinden wir uns „schon am unteren Ende dieser Bandbreite“ (Vizeadmiral Hans Frank, Stellvertreter des Generalinspekteurs der Bundeswehr). Auch der amtierende Verteidigungsminister Volker Rühe hat eine Truppenstärke von 340 000 Soldaten als „unterste Grenze“ bezeichnet Tatsächlich hat Deutschland, bezogen auf seine Bevölkerungszahl, eine der kleinsten Armeen in Europa. Beim Streitkräfte-umfang und beim Verteidigungshaushalt haben wir uns weit von den Verbündeten entfernt. Wenn es beispielweise weiterhin politisches Bestreben ist, amerikanische Truppen dauerhaft in Europa zu halten -und davon 65 000 amerikanische Soldaten in Deutschland -, kann der personelle Umfang der Bundeswehr nicht weiter verringert werden.
Eine aktive Bundeswehr von 340 000 Soldaten (mit den zugehörigen Reserven) ist nur mit der allgemeinen Wehrpflicht machbar. Nur die Wehrpflicht ermöglicht große Streitkräfteumfänge einschließlich einer hohen Zahl ausgebildeter Reservisten zu erträglichen Kosten. Diesen eindeutigen Vorteil erreicht kein anderes Wehrsystem. Was hinzukommt, sind angenehme Nebeneffekte: die kostenlose militärische Nutzung zivil erworbener Kenntnisse und Fertigkeiten, die bessere Verankerung der Wehrpflichtarmee in Politik und Gesellschaft, die höhere Akzeptanz der Streitkräfte in der Bevölkerung, die ständige geistige Herausforderung des Kaderpersonals und schließlich die breite Rekrutierungsbasis für den Dienst als Zeit-und Berufssoldat aus dem Bestand der grundwehrdienstleistenden Soldaten.
V. Die Rekrutierungsprobleme einer Freiwilligenarmee
Bleibt es bei der politischen Entscheidung, zumindest mittelfristig eine Bundeswehr von 340 000 Soldaten beizubehalten, braucht über Aufrechterhaltung oder Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht nicht gestritten zu werden. Eine Freiwilligenarmee dieser Größe ist weder rekrutierbar noch bezahlbar. Trotz hoher Arbeitslosigkeit und eines freundlichen Meinungsklimas in der Bevölkerung gelingt es der Bundeswehr derzeit nur mit viel Mühe, den in der gegenwärtigen Personal-struktur vorgesehenen Bestand von rund 200 000 Zeit-und Berufssoldaten zu halten. Fast 90 Prozent der zur Bestandserhaltung jährlich anzuwerbenden 23 000 Freiwilligen haben in der heutigen Struktur die Chance, Unteroffizier oder Offizier zu werden. In einer reinen Freiwilligenarmee wäre das anders. Dort werden nicht nur . Häuptlinge'gebraucht, sondern auch , Indianer', d. h. Mannschaften in großer Zahl. Etwa die Hälfte der Freiwilligen hätte keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten. Damit entfiele ein wesentlicher Verpflichtungsanreiz.
Hinzu kommt, daß eine Freiwilligenarmee auf die Bildung von Reserven nicht gänzlich wird verzichten können. Das bedeutet in Verbindung mit fehlenden Aufstiegsmöglichkeiten, daß ein beträchtlicher Teil der einzuwerbenden Freiwilligen nur als kurzdienende Zeitsoldaten für zwei bis sechs Jahre (SaZ 2-6) engagiert werden könnte. Kurze Dienstzeiten erhöhen wiederum den jährlichen Ergänzungsbedarf zur Bestandserhaltung. Eine Freiwilligenarmee von 350 000 Mann müßte jährlich rund 70 000 Neueinstellungen vornehmen; für eine von 250 000 würden jährlich etwa 50 000 Freiwillige gebraucht Anders ausgedrückt: Bei einer Freiwilligenarmee von 350 000 Mann müßte sich jeder vierte, bei 250 000 Mann jeder sechste junge Mann bei der Bundeswehr bewerben. Solche Bewerberquoten für den freiwilligen militärischen Dienst sind angesichts der beschriebenen Karriereaussichten völlig unrealistisch, selbst wenn die finanziellen Anreize noch erheblich verbessert würden. Schließlich sorgt die ungünstige Alters-struktur der deutschen Bevölkerung dafür, daß sich die Rekrutierungschancen einer Freiwilligen-armee mittel-und langfristig weiter verschlechtern. Schätzungen gehen dahin, daß eine reine Freiwilligenarmee in der Größenordnung von etwa 150 000 bis höchstens 200 000 Soldaten machbar und finanzierbar wäre. Das setzt unter anderem voraus, daß Frauen, wenn schon nicht unbeschränkt, so doch in erheblich größerem Umfang als bisher zum freiwilligen militärischen Dienst zugelassen werden. In der Tat gibt es in einer gänzlich freiwilligen Bundeswehr keinen stichhaltigen Grund mehr, dem weiblichen Bevölkerungsanteil den Zugang zum militärischen Berufsfeld zu verweigern. Die Auffassungen „von der Natur und der Bestimmung der Frau“ (MdB Elisabeth Schwarzkopf), die 1956 bei der Einfügung des Artikels 12a in das Grundgesetz zu einem militärischen Berufsverbot für Frauen führten, sind heute kaum mehr nachvollziehbar. In der jungen Generation stößt der weitgehende Ausschluß der Frauen eher auf Unverständnis. Auch das ist ein Resultat sozialen Wandels. Eine Freiwilligenarmee mit ihren zusätzlichen Berufschancen kann nicht nur dem männlichen Teil der Bevölkerung vorbehalten bleiben. Wer also die Wehrpflicht abschaffen will und auf Freiwilligkeit setzt, müßte konsequenterweise auch die Öffnung des Soldatenberufs für Frauen fordern. Das ist aber im aktuellen politischen Geschäft keineswegs so, und diese Inkonsequenz läßt die Vermutung zu, daß es den Kritikern der Wehrpflicht keineswegs immer nur um das beste Wehrsystem geht, sondern daß hier auch andere Motive eine Rolle spielen. Auch deshalb muß man die Argumente der Wehrpflicht-Gegner sorgsam sortieren.
Bei gleichbleibendem Auftrag sind die Personal-einsparungen beim Übergang von der Wehrpflicht zu Freiwilligenstreitkräften weit geringer, als von Laien gewöhnlich erwartet. Die Personalbetriebskosten der Freiwilligenarmee sind erheblich höher, die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Aufrechterhaltung einer Wehrpflichtarmee gegenüber einer Freiwilligenarmee gleicher Leistung dagegen geringer, als üblicherweise angenommen
Schließlich wäre eine Bundeswehr von 150 000 bis 200 000 Männern und Frauen sichtbarer Ausdruckeiner veränderten Sicherheitspolitik. Ob die Völkergemeinschaft, insbesondere die NATO-Verbündeten, eine deutsche Wendung hin zu Interventionsstreitkräften nach englischem und französischem Muster billigen würde, ist kaum anzunehmen, und selbst die grünen Gegner der Wehrpflicht können eine solche Entwicklung nicht wollen. Die Wehrpflicht ist deshalb auch ein Garant dafür, daß es sicherheitspolitisch bei der Schwerpunktaufgabe der Landes-und Bündnisverteidigung bleibt.
VI. Die „Attraktivität“ des Wehrdienstes: Maßnahmen zur Stabilisierung der Wehrpflicht
Bundesregierung und Bundeswehr haben auf die wachsende Kritik an der Wehrpflicht reagiert und ein Maßnahmenbündel zu ihrer Stabilisierung beschlossen. Dabei geht es vor allem darum, den Grundwehrdienst so auszugestalten, daß die Streitkräfte mit dem Zivildienst konkurrieren können. Das ist eine absolut einmalige Ausgangssituation, wie sie so in keinem anderen Staat der Welt anzutreffen ist.
Die Streitkräfte müssen heute um den Wehrpflichtigen wie um einen Freiwilligen werben. Der tauglich gemusterte Wehrpflichtige trifft seine Wahl zwischen Wehrdienst oder Zivildienst auf der Grundlage einer persönlichen Nutzen-/Kosten-Analyse. Das ist die heutige gesellschaftliche Normalität. Die Kriegsdienstverweigerung ist meist nicht Ausdruck einer prononcierten Ablehnung der Bundeswehr, sondern Resultat einer persönlichen Güterabwägung. Dahinter steht ein machtvoller sozialer Prozeß. In der postmodernen Gesellschaft gibt es einen rasanten Verlust von bisher gültigen Koordinaten und Kontexten für den Lebensentwurf. Tradierte Normen und Muster verlieren an Bedeutung. Der Soziologe Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von einem „kategorialen Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“. Verlangt werden nunmehr individuelle Bewältigungsstrategien. Entscheidungen werden getroffen in einem Prozeß des Aushandelns mit sich selbst. Der einzelne ist sein eigenes „Planungsbüro“ (Ulrich Beck). Der Prozeß der „Individualisierung“ hat massiven Einfluß auf alle normativ geregelten Institutionen wie Ehe, Schule, Kirche, Parteien, Gewerkschaften -und natürlich auch auf die Bundeswehr. Bindungen und Beziehungen werden daraufhin überprüft, ob sie nützlich und vorteilhaft sind. Läßt sich die Frage nicht eindeutig positiv beantworten, werden sie aufgekündigt.
Deshalb muß es Anreize zur Ableistung des Grundwehrdienstes geben, und die Beweggründe müssen im Kalkül des jungen Wehrpflichtigen so positiv bewertet werden, daß er sich für den Dienst in der Bundeswehr entscheidet. Dazu Verteidigungsminister Volker Rühe: „Wir müssen uns daran gewöhnen, daß die für den Wehrdienst her-anstehenden Jugendlichen für den Dienst in den Streitkräften geworben und gewonnen werden müssen.“
Diesem Zweck dient die „Leitlinie zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und Steigerung der Attraktivität des Wehrdienstes“ vom 11. Mai 1996. Das Programm enthält mehr als ein halbes Hundert Einzelmaßnahmen, die vor, während und nach der Dienstzeit eingesetzt werden sollen, um den Grundwehrdienst attraktiver zu gestalten. Hinzu kommen zwei Dutzend „Maßnahmen zur Informationsarbeit“. Damit soll der Dialog mit den Schulen, den Jugendorganisationen und der Öffentlichkeit intensiviert, über die Dienst-und Lebenjbedingungen der Soldaten informiert und die Notwendigkeit des Wehrdienstes herausgestellt werden. Ob die überwiegend ideellen und damit schwer quantifizierbaren Maßnahmen des „Attraktivitätsprogramms“ die erhoffte Wirkung entfalten, läßt sich nicht zuverlässig beurteilen. Fundierte militärsoziologische Untersuchungen innerhalb der Bundeswehr gibt es seit Jahren nicht mehr. Was an Erkenntnissen vorliegt, wird nicht veröffentlicht.
Die materielle Lage der wehrpflichtigen Soldaten hat das Wehrrechtsänderungsgesetz vom 22. Dezember 1995 deutlich verbessert. Heimatfern stationierte Wehrdienstleistende erhalten einen Mobilitätszuschlag von monatlich 90 DM (bei mehr als 50 bis unter 100 km) bzw. 180 DM (bei über 100 km). Die Beförderung zum Gefreiten erfolgt heute bereits nach drei Monaten und bringt 40 DM mehr Wehrsold. Für Mannschaften ist der neue Spitzendienstgrad Oberstabsgefreiter (Besoldungsgruppe A 5 mit Amtszulage) geschaffen worden Vor allem aber ist der Grundwehrdienstseit dem 1. Januar 1996 auf zehn Monate verkürzt worden (Zivildienst: 13 Monate). Zusätzlich gibt es das Angebot, im Anschluß an den Grundwehrdienst einen freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst von mindestens zwei bis maximal 13 Monaten zu leisten. Dafür werden zusätzlich zum Wehrsold für jeden vollen Monat 1 200 DM netto gezahlt. Weihnachts-und Entlassungsgeld erhöhen sich für jeden Monat zusätzlichen Wehrdienst um 37, 50 DM bzw. 150 DM. Die Auszahlung des doppelten Verpflegungsgeldes für dienstfreie Tage (monatlich 117 DM) und die Gewährung kostenloser wöchentlicher Heimfahrten zwischen Dienstort und Wohnort bleiben beim freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst ebenso erhalten wie die Unterhaltssicherungsleistungen und der Schutz des zivilen Arbeitsplatzes.
Das Angebot „W 10 plus“, wie es der Kürze halber genannt wird, hat sich als Erfolg erwiesen. Es ist finanziell attraktiv, und es ist ein außerordentlich flexibles Modell, das den Interessen und Bedürfnissen beider Seiten Rechnung trägt. Die Krisenreaktionsverbände des Heeres haben beispielsweise einen erheblichen Bedarf an längerdienenden Mannschaften, den sie nunmehr zu gleichen Teilen aus Soldaten auf Zeit (SaZ) und aus „Freiwillig zusätzlichen Wehrdienst Leistenden“ (FWDL) decken können. Haushaltsseitig sind den Krisenreaktionsverbänden des Heeres 14 800 FWDL zugestanden worden, und es gibt genug wehrpflichtige Interessenten, die im Wege des differenzierten Wehrdienstes dort länger dienen wollen. So tragen die freiwillig längerdienenden Wehrpflichtigen -ganz im Gegensatz zu anders-lautenden Befürchtungen -zu mehr Professionalität in den Streitkräften bei. Wie leistungsfähig die Wehrpflicht-Bundeswehr ist, hat sie bei internationalen Übungen und Vergleichswettkämpfen zur Genüge unter Beweis gestellt.
Schließlich ist das Bundesministerium der Verteidigung insofern auch noch eine Selbstbindung eingegangen, als Grundwehrdienstleistende nicht gegen ihren Willen zu Auslandseinsätzen im Rahmen friedenserhaltender und friedensschaffender Einsätze herangezogen werden. Der Dienstherr sieht davon ab, die Pflicht zum treuen Dienen, der nach § 7 Soldatengesetz alle militärischen Status-gruppen unterliegen, im Falle der wehrpflichtigen Soldaten (und der Angehörigen der Reserve) auf dem Befehlswege durchzusetzen. Grundwehrdienstleistende werden für die sogenannten besonderen Auslandsverwendungen nur dann herangezogen, wenn sie sich nach vorheriger Belehrung dazu freiwillig in schriftlicher Form bereit erklärt haben Diese Maßnahme, die im Rahmen dienstlicher Erfordernisse im Ermessen des Dienstherrn liegt, wird dem Selbstverständnis der Betroffenen gerecht: Der wehrpflichtige Soldat begreift sich als Heimatverteidiger. Er schützt sein Land, vielleicht noch den nächsten Nachbarn. Was darüber hinausgeht, ist in den Augen der wehrpflichtigen jungen Männer eine Sache für „Profis“. Für solche Aufgaben wollen sie Berufs-bzw. Zeitsoldaten oder aber eine Freiwilligenarmee.
Unter den Verweigerungsgründen spielen die Auslandseinsätze der Bundeswehr eine zentrale Rolle Die Bundeswehr ist deshalb mit der skizzierten Auswahlmaßnahme gut beraten, auch wenn sie der reinen Lehre von der allen Soldaten gemeinsamen Pflichtenbindung widerspricht. Sie befindet sich in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Inneren Führung, sie ist Ausdruck besonderer Fürsorge und sie begrenzt die auch von Ängstlichkeit gespeisten Verweigerungszahlen. Damit wirkt sie als zusätzlicher Stabilitätsanker zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht.
VII. Ein Resümee und eine Empfehlung: Wehrpflicht (vorerst) beibehalten
Das deutsche Wehrpflichtsystem funktioniert. Die personelle Bedarfsdeckung der Bundeswehr ist zumindest bis zur Jahrtausendwende sichergestellt. Die 1995 und 1996 eingeleiteten Maßnahmen und Modifikationen beginnen sich positiv auszuwirken. Die Leistungen der Wehrpflichtigen zur militärischen und zur sozialen Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werden von den Bürgern anerkannt. Ein Grundwehrdienst von zehn Monaten oder ein Zivildienst von 13 Monaten sind den jungen Männern durchaus zuzumuten. Der Leidensdruck ist nicht so groß, daß eine baldige Änderung geboten wäre.
Mag sein, daß die fernere Zukunft der Freiwilligenarmee gehört. Bis dahin hat es aber noch Zeit. Der mit einer so grundlegenden Umstellung verbundene organisatorische Aufwand ist enorm und wird von Außenstehenden leicht unterschätzt. Er träfe eine Bundeswehr, die seit 1990 immer neue Phasen der Reduzierung, der Restrukturierung und der Re-Stationierung hat über sich ergehen lassen müssen. Der Umbau der Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee von etwa 200 000 Männern und Frauen würde die Halbierung des gegenwärtigen Bestands an Offizieren und Unteroffizieren erfordern. Seit 1990 sind die Streitkräfte bereits von 580 000 auf heute 340 000 Soldaten geschrumpft. Die Bundeswehr hat über 330 Dienststellen aufgelöst, mehr als 200 Stützpunkte geschlossen und fast 12 000 Hektar Militärgelände zurückgegeben. Gleichzeitig sank der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt von 2, 82 Prozent in 1990 auf 1, 7 Prozent in 1995.
Mit den Folgen dieser einschneidenden Veränderungen haben die Streitkräfte noch heute zu tun. Strukturgerechte Personalverhältnisse sind erst im nächsten Jahrtausend erreichbar. Die bundesdeutsche Gesellschaft hat in den vergangenen Jahren jeweils kräftige Friedensdividenden kassiert. Auch die Verkürzung von Wehrdienst und Zivildienst ist Resultat einer verbesserten sicherheitspolitischen Lage. Weitere Modifikationen der Wehrpflicht sind denkbar. Ein abrupter Übergang zur Freiwilligenarmee würde die Bundeswehr -die bereits Jahre der Instabilität hinter sich hat -jedoch erneut einem Jahrzehnt der inneren Belastung durch Umstrukturierungen, Umgliederungen und Umstationierungen aussetzen. Das ist den Soldaten (und auch den 140 000 zivilen Mitarbeitern, von denen bei den Strukturüberlegungen selten die Rede ist) kaum mehr zuzumuten. Warum also nicht dem Ratschlag folgen und in den nächsten Jahren ruhig abwarten, welche Erfahrungen Belgier, Holländer und Franzosen beim Übergang zur Freiwilligenarmee machen werden? Über das Thema ließe sich dann nach der Jahrtausendwende -auch an diesem Ort -erneut debattieren.