Zur aktuellen Friedens-Unordnung
Frieden ist ein existenzerhaltender und existenz-entfaltender Prozeß. Er soll im Zusammenleben der Menschen und Völker Krieg, Gewalt, Ausbeutung, Armut, Hunger und Unterdrückung verhüten oder beseitigen. Er soll ferner die natürlichen Lebensgrundlagen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sowohl nutzen als auch für kommende Generationen bewahren.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg standen Ost-West-Konflikt und Kalter Krieg der Verwirklichung von Frieden im definierten Sinne entgegen. Die Hoffnung der Menschen, ja das Versprechen der Politik zu Zeiten des Ost-West-Gegensatzes aber war es, die großen existentiellen Probleme zu lösen, wenn nur erst einmal Abschreckungssystem und Nuklearkriegsgefahr überwunden wären. Entsprechend euphorisch waren die Begriffe, die das Ende des Ost-West-Konfliktes nach 1989 begleiteten: Gesprochen wurde von „Epochenbruch“, „Zeitenwende“, „Jahrhundertchance“ und „Neuer Weltordnung“. Endlich schien die Erfüllung aller Hoffnungen auf einen grundlegenden Friedensprozeß zum Greifen nahe.
Heute, nur wenige Jahre später, sieht die Realität in dramatischer Weise anders aus: Keine der hoch-gesteckten Erwartungen hat sich wirklich erfüllt. Vor allem kann von der endgültigen Beseitigung des Krieges nicht gesprochen werden. Im Gegenteil: Erstmals seit Jahrzehnten herrschte über Jahre hinweg auch mitten in Europa wieder Krieg. Spätestens seit August 1995 war auch die NATO -erstmals seit ihrer Gründung -quasi Kriegspartei.
Aber selbst wenn man zu Unrecht das Kriegsmorden im zerfallenden Jugoslawien als Nachwehen einer untergegangenen Ära abtut und ferner die Dutzende weiterer Konflikte, die auch nach 1989/90 noch immer blutig ausgetragen wurden und werden, als Betriebsunfälle ignoriert -von der Bildung einer stabilen Friedensordnung „auf Dauer“ oder von einem unumkehrbaren Prozeß in Richtung auf Frieden kann gleichwohl nicht die Rede sein. Dazu Bundespräsident Roman Herzog im Rahmen des Neujahrsempfangs für das Diplomatische Korps am 10. Januar 1996: „Wir sind weit entfernt von einer friedlichen Weltgesellschaft ... Im Jahr 2025 werden 8, 5 Milliarden Menschen ernährt und mit Energie versorgt werden müssen. Dieser Bevölkerungszuwachs wird zu über 90 Prozent in den Entwicklungsländern stattfinden. Die Vernichtung unserer natürlichen Lebensgrundlagen hält an. Der Armutsgraben zwischen Nord und Süd droht breiter zu werden, wenn es nicht gelingt, das Erhardsche Prinzip des Wohlstands für alle durchzusetzen. Dabei stehen wir vor einer neuen Aufgabe. Wir können diesen Wohlstand nicht mehr nur durch die Wachstumsmuster des Nordens erreichen. Zur umweltverträglichen nachhaltigen Entwicklung gibt es heute keine Alternative mehr.
Die globalen Armuts-und Umweltprobleme sind nicht mehr national, sondern nur noch multilateral zu lösen. Hunger und Unterernährung sind immer noch weit verbreitet. Das können wir ebenso wenig hinnehmen wie die Verletzung elementarer Menschenrechte. Wir werden die ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur durch die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit meistern können.“
Gerade aber diese von Bundespräsident Herzog angemahnte „internationale Zusammenarbeit“ kommt nicht voran, sie läßt im Gegenteil seit Ende des Ost-West-Konfliktes eher noch nach. Im jüngsten Jahresbericht „Strategie Survey 1996/97“, den das Londoner Internationale Institut für Strategische Studien (IISS) im April 1997 vorgelegt hat, wird deshalb an prominenter Stelle die Neigung der Regierungen zur introvertierten innenpolitischen Nabelschau und ihre Unfähigkeit zu globalem Handeln angeprangert. Bereits der erste Satz des Berichtes lautet: „Überall auf der Welt wurde 1996 die Außen-und Sicherheitspolitik mit einer alles durchdringenden und hartnäckigen Spießigkeit betrieben.“
Die Auswirkungen für Frieden und Sicherheit, Umwelt und Nachwelt sind verheerend. Nach einer Untersuchung des Worldwatch-Instituts, die Ende Mai 1997 in Washington vorgelegt wurde, hat z. B.der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen 1996 abermals einen Rekordwert erreicht. Zur Erinnerung: Auf dem sogenannten Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992 hatten 178 Staatsoberhäupter und Regierungsvertreter öffentlichkeitswirksam den „Frieden mit der Natur“ deklamiert. Im fünften Jahr nach Rio stiegen gleichwohl die Kohlenstoff-Emissionen bei der Verbrennung von Öl, Kohle und Gas auf die gewaltige Menge von schätzungsweise 6, 25 Milliarden Tonnen.
Verpassen wir die Jahrhundertchance von 1989/90? Ist sie zu spät gekommen? Leben wir bereits am Vorabend von Selbstzerstörung und Vernichtung? Auch das jüngste Friedensgutachten 1997 der drei führenden deutschen Friedensforschungsinstitute, das Mitte Juni 1997 erschien, gibt in weiten Teilen eine eher „düstere“ Antwort: „Die Politiker aller Länder scheuen es noch immer, sich den langfristig drohenden Trends entgegenzustellen. Substantiell hat sich deshalb seit der Konferenz von Rio nichts geändert. Niemand spricht mehr von der Versöhnung zwischen Ökonomie und Ökologie. Eingezwängt zwischen wirtschaftlicher Globalisierung und weltweiter Arbeitslosigkeit, zerstört die Menschheit weiterhin ihre eigenen Überlebensgrundlagen. Das globale Klima verändert sich signifikant mit jedem weiteren Jahr. Mit sinnlosen Ertragssteigerungen werden immer größere Teile des fruchtbaren Bodens degradiert und die Genressourcen der Natur weiter vernichtet. Die Weltmeere sind nahezu leergefischt; wegen des knapp gewordenen Trinkwassers drohen bereits bewaffnete Konflikte. Auch die Kluft zwischen Arm und Reich wächst unverändert. Während Teile Afrikas in Unregierbarkeit und Chaos versinken, erleben eine Anzahl ostasiatischer Länder einen beispiellosen wirtschaftlichen Boom, freilich zu Lasten eines Ausmaßes an Naturzerstörung, das selbst die wachstumsorientierte Weltbank besorgt macht.“
Zur gordischen Komplexität
Nochmals: Die Hoffnungen und hochgesteckten Erwartungen aus der Zeit des Ost-West-Konfliktes haben sich nicht erfüllt; die Versprechen, die mit der Überwindung des Kalten Krieges und des Abschreckungssystems verbunden wurden, sind von der Politik nicht eingehalten worden. Von der endgültigen Beseitigung von Krieg sowie andererseits der Bildung einer stabilen Friedensordnung „auf Dauer“ oder doch wenigstens von einem unumkehrbaren Prozeß in Richtung Frieden kann auch heute keine Rede sein. Zu viele existentielle politische, militärische, ökonomische, ökologische, technologische und selbst auch ethische und anthropologische Fragen und Probleme, Entwicklungen und Trends, Gefahren und Risiken, Fakten und Daten belegen das Gegenteil. Nicht zu vergessen auch ihre „gordische Komplexität“: Kommt es zum worst case, so zerbricht die Erde nicht unter dem Gewicht der Überbevölkerung allein. Die Menschheit verhungert, verdurstet oder erfriert ferner nicht nur am Mangel an Anbauflächen, Nahrung, Wasser und sonstigen Ressourcen. Die kommenden Generationen ersticken auch nicht allein an Abfall-und Schadstoffen oder ertrinken in den Sintfluten der Klimakatastrophen. Die Staaten zerbrechen nicht nur an Korruption, organisierter Kriminalität oder Massenarmut. Die Gesellschaften verfallen nicht lediglich durch die Wucht terroristischer Anschläge. Der Weltuntergang schließlich ist nicht das befürchtete nukleare Inferno. Es ist vielmehr die Menge und Vielschichtigkeit der Belastungen, das gordische Problem-knäuel, das in der Gegenwart immer rascher immer größer wird und der Menschheit endgültig eine friedliche Zukunft versperren könnte. Vielleicht wäre es möglich, jedes einzelne Problem in der Gegenwart noch zu lösen. Schon hier bin ich skeptisch! Lassen wir es aber zu, daß existentielle Probleme und Risiken auch weiterhin exponentiell zunehmen, und treten künftig mehrere gleichzeitig auf, so ist nicht nur die Grenze der Belastbarkeit des politisch-ökonomisch-ökologischen Systems erreicht, sondern vermutlich auch die Grenze der Problemlösungs-und Handlungsfähigkeit und damit auch der Friedensfähigkeit der Menschen überschritten.
Zu Recht hat deshalb Bundespräsident Roman Herzog in seiner „Berliner Rede“ am 26. April 1997 im Hotel Adlon unter dem Motto „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“ gemahnt: „Uns fehlt der Schwung zur Erneuerung, die Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen ... Unsere Eliten dürfen den notwendigen Reformen nicht hinterherlaufen, sie müssen an ihrer Spitze stehen.“ Fraglich allerdings ist, ob angesichts der angeführten gordischen Komplexität die Schlußfolgerung des Bundespräsidenten auch künftig und in jedem Fall noch Gültigkeit besitzt: „Ich behaupte: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“ Meines Erachtens haben wir schon heute -und um so mehr künftig -beides.Ist es denn ein Zufall, daß selbst auf Europa bezogen die „Jahrhundertchance“ des „Epochenbruchs“ von 1989/90 ungenutzt bleibt? In der Pariser Charta von 1990 haben die OSZE-Staaten noch euphorisch den Willen ihrer Völker verkündet, eine Friedensordnung auf der Basis ungeteilter Sicherheit in und für Europa zu bauen. Nur wenige Jahre später plant die NATO in einem einzigartigen historischen Rückschritt die Ausdehnung des Militärpaktes nach Osten. Obendrein tut sie es in überaus erstaunlicher Weise dilettantisch.
Scheitert die gegenwärtige Politik bereits an und in Europa? Welche Berechtigung hat dann eigentlich noch die Hoffnung auf eine friedliche Lösung der existentiellen Menschheitsprobleme der Zukunft? Tiefe Skepsis ist angebracht. Schon heute gibt es keine befriedigenden Antworten auf eine Vielzahl von Fragen. Mehr noch: Schon heute sind Zweifel berechtigt, ob von Wissenschaft und Politik auch alle Probleme gesehen, ob auch wirklich alle Fragen -und überdies richtig -gestellt werden. In seiner Rede vor der Stiftung Wissenschaft und Politik am 13. März 1996 in Ebenhausen hat Bundespräsident Herzog für diese Situation das Bild des Rastelli gebraucht: „Die Zukunft ist unübersichtlicher als je zuvor. Eine neue Weltordnung ist nicht in Sicht. Manche nennen das Multi-polarität. Ich selber habe immer gesagt, bis 1989 war es Ping-Pong: Westen gegen Osten. Heute ist es Rastelli: Man arbeitet mit vielen Bällen gleichzeitig und weiß nicht, was herauskommt und wie lange man es durchhält. Niemand weiß beispielsweise, wie nukleare Abschreckung in einem multi-polaren System funktionieren soll ... im übrigen sind die drohenden Instabilitäten ja heute nicht mehr nur strategischer Natur. Soziale, ökologische, kulturelle Ungleichgewichte schaffen zusätzliche Sicherheitsrisiken, die den militärischen langfristig kaum nachstehen. Nie waren Politik und Wissenschaft stärker herausgefordert als heute.“
In der Realität freilich gibt es Politiker, darunter Bundesminister, die entgegen der Mahnung des Bundespräsidenten zur engeren Zusammenarbeit öffentlich die Studien und Ergebnisse wissenschaftlicher Institute und Stiftungen als irrelevant bezeichnen, sich damit brüsten, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen, und -das ist neu für die politische Kultur der Bundesrepublik -auch jeden Diskurs zu ihnen nicht genehmen Themen oder Positionen verweigern.
Aber selbst wenn man das Problem der „Ignoranz der Macht“ als zeitenunabhängig beiseite läßt: Wer eigentlich hat angesichts der Fülle der im ausgehenden 20. Jahrhundert zu bewältigenden und im friedensgefährdenden Sinne existentiellen und grenzüberschreitenden Probleme noch den Über-blick über ihre Gesamtheit und Komplexität? Von der Überbevölkerung bis zum Waldsterben? Von der Globalisierung bis zur Massenarbeitslosigkeit? Vom Welthunger bis zur Armutsmigration? Von der Klimaveränderung bis zum Ozonloch? Von der Desertifikation bis zum Artensterben? Vom kalkulierten Super-GAU bis zum Terrorismus mit Massenvernichtungsmitteln? Vom Krieg um Wasser bis zur ethnischen Säuberung? Vom Rüstungsexport bis zum Fundamentalismus? Von der Veränderung des Menschenbildes durch zivile Technologien bis hin zur Mißachtung der Menschenwürde durch sogenannte „exotische“ Waffen? Wer kennt die Vielschichtigkeit und Vernetztheit dieser und einer Vielzahl weiterer Gefahren und Probleme, ihrer Ursachen und ihrer Wechselwirkungen? Wer hat die Kraft, exponentielle Entwicklungen rechtzeitig zu stoppen? Wer kann gigantische Risiken und latente Katastrophen mit ihren voraussehbaren Folgen in ein rationales Kalkül für eine friedliche Gegenwart und Zukunft zusammenführen? Wer kann unter drastischem Zeitdruck die richtige Entscheidung fällen? Wer besitzt die Legitimation, über Grenzen hinweg zu entscheiden und zu handeln? Läßt sich das Knäuel der in-und miteinander verwobenen Probleme überhaupt noch gewaltlos entwirren, ohne noch größere Gefahren und Risiken heraufzubeschwören?
Das gesamte Wissen der Menschheit soll sich mittlerweile alle fünf bis sieben Jahre verdoppeln. In den letzten dreißig Jahren wurden mehr Informationen neu produziert als in den fünftausend Jahren zuvor. Jeden Tag werden weltweit eintausend Bücher publiziert und zwanzigtausend wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht. Eine Ausgabe der „New York Times“ enthält heute mehr Informationen als sie jemand, der im siebzehnten Jahrhundert in England lebte, während seines gesamten Lebens zur Verfügung hatte. -Warum gleichwohl so viele offene Fragen? Warum so wenige oder keine Antworten?
Gegenwärtig fühlt oder weiß (fast) jeder -von den Bürgerinnen und Bürgern über die Entscheidungsträger bis zum Bundespräsidenten -, daß große existentielle Probleme bestehen; (fast) keiner aus der politischen Klasse aber weiß, wie sie zu lösen sind, oder ist willens oder fähig, es zu tun. Eine ausweglose Situation? Oder typisch für eine vor-revolutionäre Zeit?Der deutsche Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker empfindet die gegenwärtige Zeit als prä-revolutionär; das amerikanische Mitglied des „Club of Rome“ Dennis Meadows sieht die Menschheit in „einer geradezu revolutionären Situation“; der Schweizer Unternehmensberater Gottlieb Güntern hat den Eindruck, „es braucht in Deutschland nicht mehr viel, dann könnte es explodieren“. Die Gefahr -so Güntern -„ist, daß sich Sekten wie Scientology dies zunutze machen“. Und was ist mit den Le Pens und den Schirinowskis unserer Welt?
Stehen wir am Vorabend von Destruktion und Vernichtung? Leben wir am Vorabend von Umbruch und Revolution? Was wird die nächste Zeit bringen? Die Apokalypse? Den friedlichen Bruch und Umbruch? Oder bleibt angesichts von Dilettantismus, Komplexität und Zeitknappheit nur noch das Durchschlagen des gordischen Knäuels, also das Schwert des Alexander?
Zum Anti-Effizienz-Effekt von Demokratie
Die ausstehenden Antworten fallen nicht einfach vom Himmel, die dringend notwendigen Entscheidungen und Handlungen finden nicht im luftleeren Raum statt, vielmehr werden sie im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen, staatlicher Einheiten, politischer Herrschafts-und Regierungsformen gegeben, gefällt, vollzogen -oder aber eben verweigert, werden Zeit und Chancen vertan. Wer nach den „Grenzen der Handlungs-und Friedens-fähigkeit der Menschen in einer vor-revolutionären Zeit“ fragt, kommt deshalb an einer Kritik des politischen Systems selbst nicht vorbei. Dies gilt auch für die Demokratie. Sie ist aus meiner Sicht gegenwärtig keineswegs so selbstverständlich die Zwillingsschwester des Friedens, wie gemeinhin dargestellt.
Bereits 1762 hatte Jean-Jacques Rousseau im „Gesellschaftsvertrag“ festgehalten: „Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierungsform paßt für Menschen nicht.“ Und Immanuel Kant bestätigte 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“: „Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen, aber auch die schwerste zu stiften, vielmehr noch zu erhalten ist, dermaßen, daß viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären.“ Knapp zwei Jahrhunderte später hat Winston Churchill diese Kritik in seiner Weise vom Kopf auf die Füße gestellt: Demokratie ist das schlechteste Regierungssystem auf der Welt -mit Ausnahme aller anderen.
Zweifel an der Demokratie sind also nicht neu; Kritik scheint berechtigt und notwendig. Die Arbeiten von Experten wie Wilfried Röhrich, Hans Herbert von Arnim, Erwin K. Scheuch, Fritz W. Scharpf und anderen sind hierfür Beleg und Bestätigung. Themen wie die „Kanzlerdemokratie“, die „Parteiendemokratie“, die „Verbändedemokratie“, die „Marktdemokratie" und ähnliche mehr müssen offensichtlich immer wieder aufgegriffen und kritisch beleuchtet werden. Die Alternative wäre -auch in der Demokratie -die Gefahr des ungezügelten Machtmißbrauchs und daraus folgend die zunehmende Staats-und Politikverdrossenheit der Bürger und Bürgerinnen.
Recht verstanden, sind die genannten Gefahren allerdings keine substantiellen Schwächen der Demokratie, sondern systeminhärende Defizite und Unzulänglichkeiten, also bloße In-Effektivitäten. Sie sind insofern „nur“ Begleiterscheinungen -wenn auch zu bekämpfende -des Anti-Effizienz-Effektes von Demokratie.
Was heißt das? Rechtsstaatliche Demokratie ist anti-effizient in dem Sinne, daß sie Macht und Freiräume organisieren, sie aber auch zugleich beschränken muß. Gerade in der gleichzeitigen Optimierung der miteinander konkurrierenden Aufgaben liegt mit Blick auf die Existenzerhaltung und -entfaltung der Menschen auch die eigentliche (Garantie-) Funktion von Demokratie. Der Anti-Effizienz-Effekt ist also keineswegs ein Minus. Im Gegenteil: Will Demokratie ihren Namen verdienen, so muß dieser Effekt erhalten bzw. berücksichtigt werden. Gelegentliche Ineffizienz muß in Kauf genommen werden.
Zur Kunst des Politischen allerdings gehört es, Anti-Effizienz-Effekt und Garantiefunktion von Demokratie zu optimieren, zumindest aber im Lot zu halten. Laufen die „Begleiterscheinungen“ aus dem Ruder, so ist die Demokratie und sind mit ihr Staat und Gesellschaft in Gefahr. Nicht zuletzt auch deshalb muß Demokratie sich als solidarisch und wehrhaft zugleich verstehen. Solidarität und soziale Gerechtigkeit sind der Kitt eines demokratischen Gemeinwesens. Aber nur wenn die Demokratie auch wehrhaft ist, kann sie Macht organisieren und materielle Freiräume und Rechte auf Dauer garantieren. Nicht zuletzt deshalb ist Demokratie auch und vor allem ein Ordnungsrahmen mit Werte-Orientierung -allerdings ohne zum Obrigkeitsstaat zu deformieren. Erst Ordnung macht Vielfalt in gesellschaftlichem Rahmen möglich. Und nur auf der Basis von Werte-Verbindlichkeit, ja Werte-Konsens ist ein pluralistisches Gemeinwesen dauerhaft zu innerem Frieden fähig. Deshalb müssen einfache, wenn auch unbequeme Wahrheiten ausgesprochen und befolgt werden. Einige Beispiele zur Illustration: -Einwanderung und Zuzug müssen im Interesse sowohl der Alt-als auch der Neubürger „rational gesteuert werden“ können (Oskar Lafontaine/Rudolf Scharping), ohne durch den Vorwurf von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit denunziert zu werden; -demokratische Integration und kulturelle Assimilation sind zweierlei, ebenso wie auch kulturelle Vielfalt und Multikultur zweierlei sind (Bassam Tibi). Quelle eines friedlichen Miteinanders und eines demokratischen pluralistischen Interessenausgleichs ist eine anerkannte, verbindliche Werte-Orientierung; -es muß eine Antwort gefunden werden auf die Frage, welcher Verzicht dem einzelnen in der Demokratie abverlangt werden muß und darf, um Freiheit und materielle Lebensgrundlagen für alle zu erhalten; -es kann nicht sein, daß ein Teil der Menschen immer mehr Überstunden macht, ein zweiter Teil die täglichen Stunden der Erwerbsarbeit als Störfaktor in der Freizeitwoche ansieht, ein dritter, immer größer werdender Teil (in Deutschland derzeit über vier Millionen Menschen) händeringend Arbeit sucht; -eine funktionierende Gesellschaft hängt davon ab, ob die Last der Solidarität für die Erfolgreichen tragbar bleibt, aber auch, ob die Erfolgreichen begreifen, daß ihr Wohlergehen unlösbar -politisch wie wirtschaftlich -mit den Schwächeren verknüpft ist (Roman Herzog); -zur Unternehmenskultur gehört auch das Bekenntnis zu Verantwortung, zu Arbeits-, Steuer-und Sozialpatriotismus. Unternehmen haben Pflichten gegenüber Anteilseignern und Arbeitnehmern und gegenüber der Gemeinschaft.
Wenn in den westlichen Industriestaaten die Menschen keine angemessenen Beschäftigungsmöglichkeiten mehr finden und sozial abrutschen, gerät das gesamte gesellschaftliche Fundament ins Wanken (Henning Voscherau); -es ist zu fragen, ob die Wirtschaft dem Menschen dient oder der Mensch der Wirtschaft; -es ist kein Naturgesetz, daß in einer Demokratie bis zu 19 Behörden gefragt werden müssen, wenn man einen Produktionsbetrieb errichten will, obwohl er neue Arbeitsplätze schafft (Roman Herzog);
-was unserer Gesellschaft am meisten fehlt, sind zwei Dinge: Kreativität und Führung -in allen Bereichen (Gottlieb Güntern);
-die Verhütung organisierter Kriminalität verlangt einen starken Rechtsstaat. Eine Demokratie ohne Führung ist eine Einladung für das organisierte Verbrechen, für Rauschgift-und Waffenhandel, Falschgeldherstellung und -vertrieb, Schutzgelderpressung, illegales Glücksspiel, Prostitution, Zuhälterei, Menschenhandel und ähnliches mehr;
-das normale Rechtsempfinden, das Gefühl für das, was man tut und nicht tut, ist gegenwärtig durch das Fehlen ethischer Grundsätze und moralischer Barrieren so verkümmert, daß man sich fragen muß: Kann eine Gesellschaft unter solchen Umständen überhaupt leben? (Marion Gräfin Dönhoff).
Diese und ähnliche Beispiele sind bislang die Ausnahmen: Noch fehlt der Wille, die Entschlossenheit der Gesellschaft bzw.des Staates, öffentlich und deutlich zu sagen, was man will und was man nicht wjll -also das Gegenteil von gleichgültiger Beliebigkeit, von „anything goes“.
Was aber, wenn die Folgen der Freiräume -sei es als Fehlen der angesprochenen ethischen Grundsätze, sei es als „Raubtierkapitalismus“, sei es als organisierte Kriminalität und ähnliches mehr -existentiell bedrohlich und grenzüberschreitend sind? Was, wenn die Macht, diese Folgen zu bewältigen, diktatorische Züge tragen müßte? Wäre Demokratie dann nicht nur ineffizient, sondern auch defizient? Nochmals: Gelegentliche Ineffizienz muß in Kauf genommen werden. Defizienz hingegen wäre in Wahrheit das Ende der Demokratie.
Zur Defizienz der Demokratie
Künftig -oder besser: derzeit schon -geht es aber nicht länger allein um systeminhärente Defizite und Unzulänglichkeiten, also um bloße In-Effektivitäten. Gefordert ist vielmehr die friedliche Problembewältigungsfähigkeit des politischen Systems als solche, d. h. die Überlebensfähigkeit der Demokratie im Grundsatz: Ist die pluralistischeund nationalstaatlich verfaßte Demokratie nicht zu schwach (zu ineffizient), ja in ihrer Anlage sogar zu unvollständig (zu defizient), um mit den Problemen der nahen Zukunft fertig zu werden? Skepsis jedenfalls ist zum wiederholten Male mehr als angebracht: -Demokratie in der modernen Industriegesellschaft heißt „halbierte Demokratie“ (Ulrich Beck): Nur ein Teil der gesellschaftsgestaltenden Entscheidungskompetenzen ist im politischen System verankert und den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie unterworfen. Ein anderer Teil ist den Regeln öffentlicher Kontrolle und Rechtfertigung entzogen und der Investitionsfreiheit der Unternehmen und der Forschungsfreiheit der Wissenschaft ausgeliefert. Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt hierzu resignativ: „Die Einwirkungsmöglichkeiten einer Regierung ... in einer modernen industriellen Massendemokratie sind unendlich viel kleiner, als es im Schullehrbuch verzeichnet ist.“ Gesellschaftsveränderung und Zukunftsgestaltung werden auf diese Weise zu Nebenfolgen ökonomischer und wissenschaftlich-technischer Entscheidungen, betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen, Investitionsbindungen, Rationalisierungsprozessen und ähnlichem mehr. Die Politik vollzieht lediglich nach, was sie weder geplant hat noch entscheiden durfte, was sie nur begrenzt gestalten und beeinflussen kann, aber spätestens bei der Schadensbeseitigung doch voll verantworten muß. Die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland ist hierfür ein illustratives Beispiel unter vielen. -Demokratie bedeutet Herrschaft auf Zeit. Gerade der Versuch, über die Verknappung der Zeit die Gefahr des Machtmißbrauches zu beschneiden, führt in der Realität aber zu einem Typus von Politiker und Politikerin, der geneigt ist, eher gegenwartsorientiert und machterhaltungsfixiert zu entscheiden und zu handeln als zukunftsorientiert und/oder gar unpopulär. Wer mit Blick auf die Wiederwahl plant und entscheidet, kann -oder will -exponentielle Zeitrisiken weder erkennen noch einfangen. Läuft aber auch nur eine der Entwicklungen, die ein System destabilisieren können, exponentiell und nicht geradlinig ab, so verfällt das Gesamtsystem nicht gleichmäßig langsam; der Zusammenbruch erfolgt vielmehr überfallartig. -Demokratie erhält ihre formale Legitimation aus der „Herrschaft des Volkes“ durch gewählte Vertreter.
Die Wahl erfolgt in der Gegenwart. Wähler und Gewählte leben und handeln in der Gegenwart. Demokratie bezieht ihre formale Legitimation also aus der Gegenwart für die Gegenwart. „Die Notwendigkeit zu entscheiden“, so Immanuel Kant, „reicht aber weiter, als die Möglichkeit zu erkennen.“ Eine formale Legitimation „aus der Zukunft“ ist gleichwohl ausgeschlossen. An ihre Stelle muß eine materielle Legitimation aus der Gegenwart „für die Zukunft“ treten. Deren formale Repräsentanten sind aber zugleich jene Gewählten, welche ihre auf Zeit verliehene Macht nutzen müssen, die aktuellen Bedürfnisse und Forderungen einer Wählermehrheit zu befriedigen, die sie wiederum brauchen, um sich kurz-und mittelfristig an der Macht zu halten -ungeachtet der langfristigen Folgen für Umwelt, Nachwelt und Frieden. -Demokratie lebt aus der Reversibilität, von der Veränderbarkeit von Mehrheitsentscheidungen. Aus unterlegenen Minderheiten sollen Mehrheiten werden können. Gefällte Entscheidungen sollen veränderbar sein. Zu den militärischen, ökonomischen, ökologischen und technologischen Risiken neuen Typs gehört aber ihre Unkalkulierbarkeit in dem Sinne, daß ihre Folgen unter Umständen eben nicht offen, sondern latent wirksam sind (Latenz der schleichenden Katastrophen); daß sie eben nicht in überschaubaren Zeiträumen, sondern möglicherweise erst über viele Generationen hinweg erkennbar sind (hyperfristige Langzeitwirkungen) oder eben nicht „geheilt“ werden können, weil der Schaden überdimensional groß (Schadensgigantismus) oder die Folgen nach Eintritt des Schadensfalles nicht mehr reversibel sind (Irreversibilität der Folgen). Stichworte sind Hiroshima und Nagasaki, die Giftgas-Katastrophe von Bhopal, die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl, das geklonte Schaf Dolly und vieles mehr. -Demokratie ist pluralistisch verfaßt, d. h., sie muß die empirisch feststellbare Meinungs-, Interessen-und Organisationsvielfalt der modernen Gesellschaft berücksichtigen und organisieren. Das Menschenbild des Pluralismus-Konzeptes ist das von freien und mündigen Bürgern, die (über Gruppen und Verbände) ihre Interessen in Konkurrenz mit den Interessen der anderen Bürger und Bürgerinnen vertreten. Ziele des „Konkurrenzkampfes“ sind dabei nicht -oder nicht a priori -Unterdrückung und Unterwerfung, sondern Ausgleich und Kompromiß. Entscheidungsbindungen, Lösungen auf Zeit und der Verlust längerfristiger Perspektiven sind allerdings die Nebenfolgen mit künftig dramatischen Auswirkungen. Erforderlich wäre eine „grand strategy“. An ihrer Stelle herrscht jedoch eine Politik des „Sich-Durchwurstelns“ (muddling through). Peter Glotz, Rita Süßmuth und Konrad Seitz schreibenhierzu in ihrem Buch „Die planlosen Eliten“: „Unsere Eliten arbeiten hoch kompetent und mit vorzüglichen Einzelergebnissen vor sich hin; aber sie sind isoliert, gehen nicht aufeinander ein und finden so zwar gelegentlich zu kippligen Kompromissen, kaum jemals aber zu dem, was auf dem alten, halb vergifteten, blutdurchtränkten Boden Europas unerläßlich wäre, um die Atmosphäre für entschlossenes Handeln zu schaffen: zu einer ethischen Debatte, zu vernünftigem, konsensorientiertem Argumentieren jenseits von klugem Egoismus, zu einer Langzeitstrategie“. -Demokratie ist (national-) staatlich ausgerichtet. Das bedeutet, daß die Legitimation ihrer politischen Entscheidungsträger und Akteure formal an den Staatsgrenzen endet, unabhängig von Sachfragen und deren Folgen und Wirkungen. Die Wirkungen der neuartigen Technologien sind aber Zeiten-und grenzüberschreitend, die Tag für Tag lokal produzierten Schad-und Giftstoffe befinden sich mittlerweile im weltweiten Austausch, die nur noch scheinbar individuellen Gesundheitsgefährdungen und regionalen Naturzerstörungen besitzen längst universellen Charakter. Wer z. B. Anfang der achtziger Jahre aus Angst vor der nuklearen „Nachrüstung“ in Europa auswanderte, tauschte möglicherweise die Nuklearkriegsfurcht gegen die hautkrebsverursachenden Folgen des Ozonlochs in Australien ein. Sind Demokratie und Nationalstaat mithin defizient, wenn nicht sogar obsolet?
Zur Unkalkulierbarkeit des Zeitfaktors
Wieviel Zeit bleibt, um diese und all die vorangegangenen Fragen zu beantworten, die angeführten Risiken und Gefahren zu analysieren, die genannten Probleme friedlich zu lösen? Stehen wir wirklich bereits am Vorabend von (Selbst-) Zerstörung und Vernichtung? Leben wir tatsächlich in einer vor-revolutionären Zeit? Die Antwort liegt u. a. in der Mathematik des exponentiellen Wachstums. Seit vielen Jahrtausenden sind die Menschen gewohnt, linear zu denken. In der Realität des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts verlaufen Entwicklungen aber zunehmend exponentiell. Das Bevölkerungswachstum ist hierfür ein brisantes Beispiel: Um das Jahr 1650 gab es ca. 500 Millionen Menschen auf der Erde mit einer jährlichen Wachstumsrate von etwa 0, 3 Prozent. Die Verdoppelungszeit betrug entsprechend ca. 250 Jahre. Bis 1900 stieg die Weltbevölkerung auf 1, 6 Milliarden an mit einer Wachstumsrate von 0, 5 Prozent. Die Verdoppelungszeit betrug jetzt nur noch 140 Jahre. 1970 erreichte die Bevölkerungszahl 3, 6 Milliarden Menschen bei einer Wachstumsrate von 2, 1 Prozent. Nur 20 Jahre später war bereits die Grenze von 5 Milliarden überschritten. „Das war“ -so Donella und Dennis L. Meadows, von denen diese Angaben stammen -„nun kein exponentielles Wachstum mehr, es war superexponentiell geworden, denn die Wachstumsrate selbst wuchs exponentiell.“
Doch nicht nur das Bevölkerungswachstum nimmt exponentiell zu. Zu den weiteren exponentiellen Entwicklungen gehören vermutlich die Konzentration der sogenannten Treibhausgase und die Gefährdung der Ozonschicht, die Luftverschmutzung und die Klimaveränderung, das Artensterben und die Vernichtungswirkung (Letalität) von Waffen etc. Läuft aber auch nur eine der Entwicklungen, die ein System -gleichgültig, ob ein politisches, militärisches, technisches oder biologisches -destabilisieren (können), exponentiell und nicht gradlinig ab, so verfällt das Gesamtsystem nicht gleichmäßig langsam, sondern zunehmend schneller. Zur Illustration ein einfaches Beispiel Setzen wir die Grenze für den Zusammenbruch eines Systems einmal willkürlich bei einer Punktzahl von 1 000 fest und nehmen wir die Ausgangszahl 2 und als Veränderungsrate ebenfalls die Zahl 2 pro Zeiteinheit, z. B. einem Jahr. Dann wird bei einer geradlinigen (linearen) Entwicklung, d. h. bei einer Zuwachsrate von jährlich plus 2, das System erst nach 500 Jahren zusammenbrechen. Gehen wir aber von einer Veränderungsrate mit dem Faktor 2, also einer jährlichen Verdoppelung aus, so liegt die Punktzahl im fünften Jahr zwar noch immer bei 32 und hat im neunten Jahr mit 512 erst die Hälfte der Grenze erreicht. Und doch wird bereits im folgenden zehnten Jahr mit 1 024 Punkten die Gefahrenzone von 1 000 überschritten.
Einschränkend ist zwar zu betonen, daß Analogiebildungen auf der Basis mathematischer Logik nicht mit der politischen Realität verwechselt werden dürfen. Und doch können Zahlenbeispiele -wie das angeführte -als Belege für eine Reihe vonAussagen zur Unkalkulierbarkeit des Zeitfaktors unter Bedingungen exponentiellen Wachstums herangezogen werden, z. B.:
-Lange Phasen relativer Stablität -im angeführten Zahlenbeispiel handelt es sich um neun Zehntel der gesamten Zeitperiode -lassen weder Rückschlüsse auf eine grundsätzliche Überlebensfähigkeit des Systems zu, noch dürfen sie im Sinne einer Extrapolation der Zeit-achse in die Zukunft hinein kalkuliert werden. -Die Dauer der relativen Stabilitätsphase entzieht sich der seriösen Kalkulation. Sie hängt von der Verträglichkeitsgrenze (dem Zusammenbruchslimit)
und dem Maß der jeweiligen Grenzüberziehung ab. Im Beispiel sind beide willkürlich gewählt; in der Realität sind beide zumeist unbekannt, oft fehlt sogar die Sensibilität für das Problem als solches.
-Das Ende kommt nach einer Phase relativer Stabilität scheinbar überfallartig. Es trifft die Menschen, die es gewöhnt sind, nur in linearen Entwicklungen zu denken, unerwartet und unvorbereitet.
-Die Zeitknappheit wird in der Endphase drastisch größer, die Handlungsfähigkeit nimmt dagegen rapide ab.
Im Extremfall, z. B. bei einem Nuklearangriff mit Raketen hoher Letalität oder bei einer katastrophalen Entwicklung in Kernkraftwerken, fallen Vorwarnzeit und Entscheidungszeitpunkt nahezu zusammen, sind alternative Wege heraus aus der Apokalypse versperrt. Absoluter als durch den in der Gegenwart auf den Weg gebrachten alternativ-losen Kollaps von morgen kann aber die Vor-Zukunft über die Zukunft -oder präziser ausgedrückt:
kann die Menschheit von heute über die Nachwelt von morgen -nicht herrschen.
Gibt es eine Demokratie jenseits der Demokratie, wie wir sie kennen? Gibt es eine Friedensordnung jenseits der internationalen Unordnung, wie wir sie haben?
Die Zeit drängt! Ist die Demokratie also nicht nur unmodern? Steckt sie auch nicht lediglich nur in der Krise? Ist sie vielmehr defizient in dem Sinne, daß sie am Ende ist? Müssen wir also statt von einer „bloßen“ Demokratie-Defizienz von einer Defizienz-Demokratie ausgehen? Einer Demokra-tie, die unter anderem auch den Keim des Unfriedens in sich trägt? Schon diese Fragen muten uns, die wir in der Demokratie aufgewachsen sind, wie der revolutionäre Bruch eins Tabus, ja wie ein Sakrileg an. Vielleicht aber können Demokratie und Frieden doch gerettet werden? Vielleicht ist die Demokratie eben doch nur defizient in dem Sinne, daß sie „lediglich“ unvollendet ist, d. h., daß sie vervollständigt oder gar neu erfunden werden kann? Gibt es eine Demokratie jenseits der Demokratie, wie wir sie kennen? Gibt es eine Friedensordnung jenseits der internationalen Unordnung, wie wir sie haben?
Die Zeit drängt! Gleichwohl wäre es vermessen, die angeführten Fragen bei dem heutigen Stand des Wissens und der Diskussionen mit dem notwendigen Nachdruck beantworten zu wollen. Allerdings lassen sich Elemente und Überlegungen anführen, die eine Lösung des Defizienz-Problems bzw. eine Vollendung der Projekte Demokratie und Frieden wenn schon nicht in der Praxis, so doch zumindest in der Theorie erwarten lassen. Zu ihnen zähle ich u. a.: -eine neue Ethik für die technologische Zivilisation, wie sie Hans Jonas unter dem „Prinzip Verantwortung“ diskutiert hat;
-die Aufnahme expliziter Staatsziele (Umweltschutz, Artenschutz etc.) in die Verfassungen sowie die Ausweitung öffentlicher Bindungen und Selbstbindungen;
-die globale Neuorientierung von Politik im Sinne einer „Weltinnenpolitik“, wie sie von Carl Friedrich von Weizsäcker und anderen gefordert wird und die neben übernationalen Institutionen auch eine Globalisierung der Demokratie mit einschließt;
-die Schaffung regionaler Einrichtungen und Ordnungsrahmen, die unter dem Leitmotiv „Vom Recht des Stärkeren zur Stärke des Rechts“ stehen;
-die Stärkung staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungen auf der Basis von Werte-Verbindlichkeit und Werte-Konsens;
-die öffentliche Diskussion und Neubewertung der Qualitäten von Politikern und Politikerinnen inklusive deren Auswahlverfahren, wie es z. B.der Club of Rome fordert;
-ein „zweites Zeitmandat“ für Politiker und Politikerinnen, wie es Carl Bohret fordert, das Langzeitverantwortung und damit Nachwelt-verantwortung einbezieht;-und schließlich und vor allem die Überwindung des Prinzips der politischen Allzuständigkeit und des Generalistentums, ferner die Schaffung eigenständiger ordnungspolitischer Institutionen, die dem Druck der kurzfristigen Interessen entzogen sind, sowie die Gründung einer „vielspurigen Demokratie“ inklusive neuer sachbezogener Expertenparlamente.
Was ist die Alternative zu diesen -aus der Sicht von Teilen der gelähmten politischen Klasse gewiß Verteufelnswerten -Vorschlägen und Überlegungen? Bestenfalls eine Demokratie, die sich künftig lediglich aus den Selbstbestimmungs-und Partizipationsansprüchen der Bürger und Bürgerinnen definiert, aber vernünftige und friedliche Problemlösungen oder rationale Politikergebnisse nicht garantieren kann. Schlimmstenfalls eine Diktatur, welche die Vorzüge der Demokratie nicht kennt, aber ebenfalls keine Garantie gegen die „schleichenden Katastrophen“ (Carl Bohret) oder die Gefahr von Kriegen bietet. Begreifen wir aber, daß es sich bei den aufgezeigten Bedrohungen und Risiken für Gegenwart, Nachwelt und Frieden nicht um die Ineffizienz eines vollendeten „Projektes Demokratie“ handelt, sondern um die Defizienz eines in der Anlage noch unvollständigen Vorhabens, so gewinnt die Demokratie zumindest theoretisch ihre ursprüngliche Zukunftsoffenheit zurück -möglicherweise auch mit besseren Chancen für eine nachweltorientierte und friedliche Praxis.
Versteht man Zukunft als Nach-Gegenwart, andererseits Gegenwart als Vor-Zukunft, so wird eine Zukunft in Frieden nicht nur beherrschbar, sondern auch steuerbar. Ist die Zukunft der Menschheit also -weil steuerbar -doch auf Dauer friedlich und sicher? Noch müssen Politik und Wissenschaft die Antworten finden.