I. Das Bild im Westen
„Fast alles, was man über ihre Religion und ihre Rechtsprechung sagt, ist falsch, und die Schlüsse, die man alle Tage daraus zieht, sind zu wenig begründet.“ So beschrieb 765 Voltaire 1 die abendländische Literatur über die Türken, den Islam und die Muslime. Würde sein Urteil heute anders ausfallen? Soweit es um das Verhältnis von Islam und Menschenrechten geht, ist das Gegenteil zu befürchten. Zwar hat es Konjunktur, sich kritisch mit diesem Verhältnis auseinanderzusetzen: Seit der Auflösung des Ost-West-Konflikts, der den internationalen Menschenrechtsdiskurs in den ersten Jahrzehnten nach der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 bestimmt hatte, kann man sicher sein, daß auch vom Islam die Rede ist. wenn über kulturell und religiös bedingte Hindernisse für die Universalisierung von Demokratie und Menschenrechten gesprochen wird. Inzwischen wird der Islam nicht selten geradezu als Paradigma für eine gleichheitsund freiheitsfeindliche Religion gehandelt.
Von einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten und Möglichkeiten, Islam und Menschenrechte in Einklang zu bringen, ist man indessen häufig weit entfernt. In der Begründung der behaupteten Unvereinbarkeit von Islam und Menschenrechten überwiegen fragwürdige Unterstellungen und Stereotypen wie etwa die Behauptung, der Islam kenne keine Gewaltenteilung -selbst fundamentalistische Muslime sprechen sich für eine solche aus -, oder die Vorstellung, der Islam sei ein starres System von Normen, das zu absolutem Gehorsam zwinge -ein Islamverständnis, das allenfalls muslimische Extremisten teilen dürften Auch die gegenwärtige Menschenrechts-praxis in vielen islamischen Ländern wird angeführt, als würde diese das Verhältnis der islamischen Religion zum Menschenrechtskonzept authentisch reflektieren. Daß gegen islamisch legitimiertes Unrecht fast überall auch Opposition betrieben wird, die sich ebenfalls auf den Islam beruft, scheint indessen als wenig aussagekräftig angesehen zu werden. Selbst die philosophischen Tiefen der Rechtsbegründung werden nicht gescheut, um den menschenrechtsfeindlichen Charakter des Islam zu beweisen: Der Islam sei schon deswegen mit der Menschenrechtsidee unvereinbar, weil diese dem Menschen Rechte von Natur aus zugestehe, während jener sie nur als gottgegeben ansehen könne. Übersehen wird dabei, daß sich religiöse und naturrechtliche Begründungen der Menschenrechte prinzipiell nicht unterscheiden. Beide dienen dazu, bestimmte Rechtsinhalte auf einer metarechtlichen Ebene zu verwurzeln und sie so menschlicher Disposition zu entziehen. Während das Naturrechtskonzept die übergeordnete Autorität, die der Mensch zu respektieren hat, in der Natur lokalisiert, sehen theologische Menschenrechtsbegründungen diese in Gott. Zum Problem wird dies erst, wenn die Unterschiede in der Begründung der Rechte zu Differenzen auch im Inhalt der Rechte führen. Das muß jedoch keineswegs zwangsläufig der Fall sein.
In der westlichen Literatur zum Verhältnis von Islam und Menschenrechten ist zugleich fast durchweg eine weitgehende Vernachlässigung der gegenwärtigen und intensiven Diskussion zu eben diesem Thema im islamischen Kulturkreis festzustellen. Die vielfältige sunnitisch-arabische Literatur wird kaum zur Kenntnis genommen. Statt dessen werden häufig staatsrechtliche Vorstellungen als islamisch zugrunde gelegt, die mehr oder weniger deutlich an den Ideen muslimischer Juristen des Mittelalters orientiert sind Deren Auffassungen mögen zwar für fundamentalistische Muslime vielleicht noch einen Referenzrahmen abgeben. Als repräsentativ für das aktuelle Islamverständnis können sie jedoch ebensowenig herangezogen werden, wie selbst wesentlich später wirkende abendländische Denker als Vertreter der modernen westlichen Menschenrechtsinterpretation gelten dürfen. So gingen etwa noch Kant und Rousseau von einer natürlichen und damit auch rechtlichen Überordnung des Mannes über die Frau aus
Die Defizite in der Auswertung der muslimischen Debatte zum Thema „Islam und Menschenrechte“ haben ganz offensichtlich sprachliche Gründe. Zitiert werden zumeist lediglich in europäischen Sprachen zugängliche Veröffentlichungen. Ludger Kühnhardt etwa erscheint eine kleine Auswahl solcher Publikationen als tragfähige Grundlage für so weitgehende Schlußfolgerungen wie die, im „politischen Denken des Islam“ akzeptiere man „einen Herrscher als Vizeregenten Allahs“ und es sei für den Gedanken der Volkssouveränität kein Raum. Doch auch die relativ anspruchsvolle Untersuchung der amerikanischen Juristin und Islamwissenschaftlerin Ann Elizabeth Mayer zitiert vor allem ältere, ins Englische übersetzte Publikationen -eine einseitig konservative Auswahl, die sie erstaunlicherweise als Sammlung von „middleground-positions“ bezeichnet und die aus ihrer Sicht das Urteil rechtfertigt, die islamische Menschenrechtsliteratur sei vernunftfeindlich und antiindividualistisch. Als einzigen Modernisten, der einen methodisch sauberen und zukunftsweisenden Ansatz verfolge, präsentiert Mayer den zumeist in englischer Sprache publizierenden Sudanesen Abdullahi Ahmed an-Na’im. Dessen eigenwillige Exegese der islamischen Rechtsquellen, die auf den Gedanken des Gründers der sudanesischen Bewegung der Republikanischen Bruderschaft, Mahmud Muhammad Taha, beruht, ist ohne Zweifel interessant. Sie ist jedoch keineswegs die einzige, die neue Wege eröffnet, und sie wurde bislang zumindest in der arabischen Welt kaum beachtet.
II. Ausgangspunkte einer Neubewertung
Am Anfang einer Neubewertung des Verhältnisses von Islam und Menschenrechten muß die Besinnung auf zwar wenig originelle, jedoch häufig mißachtete Ausgangspunkte stehen:
Erstens: „Den Islam“ gibt es nicht. Der Islam, wörtlich: Hingabe an Gott, ist weder ein statisches System noch ein monolithischer Block. Das ver steht sich von selbst, wenn man sich die lange und wechselvolle Geschichte dieser Religion sowie ihre geographische Ausbreitung und die damit verbundene Vielfalt der Bedingungen, unter denen sie ge-und erlebt wird, vergegenwärtigt. Hinzu kommt, daß im Islam eine autoritative Instanz, wie sie für katholische Christen der Papst darstellt, nicht existiert. Dies führt dazu, daß selbst über Grundlagen heftig gestritten wird. Zwar mag der Befund, die Muslime seien jedenfalls über die Authentizität des Koran als Wort Gottes einig, noch richtig sein. Er ist jedoch wenig aussagekräftig, solange die Meinungen darüber, was aus dieser Eigenschaft zu folgern ist, weit auseinandergehen. Entsprechend unterschiedlich sind auch die juristischen Positionen, die als islamisch definiert werden können.
Zweitens: Um eine Kultur wie den Islam auf ihre Vereinbarkeit mit dem Konzept der Menschenrechte zu untersuchen, muß sich die Analyse auf solches Material stützen, das Aufschluß über das innere Wertesystem einer Gesellschaft gibt Sie darf sich daher weder nur auf offizielle Stellungnahmen auf völkerrechtlicher Ebene noch auf Verfassungstexte stützen. Denn es besteht die Gefahr, daß solches Material nicht die politischen Werte und Traditionen der zu untersuchenden Kultur, sondern vielmehr die der jeweils herrschenden Eliten und der Tagespolitik widerspiegeln. Auch die Menschenrechtspraxis ist kein geeignetes Untersuchungsobjekt. Denn diese muß keineswegs das wahre Verhältnis einer Kultur zur Menschenrechtsidee wiedergeben, sondern ist Ergebnis einer diese Kultur zumeist eher mißachtenden Machtpolitik. Das mag ein Blick auf die menschenrechtliche Situation in Deutschland zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft verdeutlichen. Drittens: Die Frage, was statt dessen geeignet ist, das innere Wertesystem einer Gesellschaft zu reflektieren, ist schwer zu beantworten. Selbst wenn man dem Vorschlag folgt, vor allem Publikationen von dem islamischen Kulturkreis angehörigen Autoren zu untersuchen, besteht die Gefahr der Einseitigkeit. Und auch wenn man die Untersuchung, wie es hier geschehen soll, auf den sunnitisch-arabischen Islam beschränkt, ist das Untersuchungsfeld noch so groß, daß es unmöglich ist, die Vielzahl der vertretenen Positionen auch nur annähernd zu erfassen. Die ausgewerteten Stellungnahmen können daher nicht als repräsentativ, sondern lediglich als beispielhaft charakterisiert werden. Um dennoch zu aussagekräftigen Eindrücken von den Grenzen und Möglichkeiten der Rezeption der Menschenrechtsidee im islamischen Rechtskreis zu kommen, sollte die Untersuchung nicht nur auf einer möglichst breiten, sondern zugleich auf einer möglichst heterogenen Basis beruhen.
III. Die sunnitisch-arabische Menschenrechtsdiskussion
Folgt man dem skizzierten Ansatz, wird die Vielfalt der von Muslimen vertretenen Positionen schnell sichtbar. Diese Vielfalt kann hier lediglich angedeutet werden. Im Ergebnis reichen die Auffassungen von einem mehr oder weniger buchstäblichen Verständnis zumindest einiger koranischer Aussagen über säkularistische Stellungnahmen bis hin zu Versuchen, den Islam und das islamische Recht über ein neues Verständnis von Koran und Sunna vollkommen neu zu definieren. Trotz fließender Übergänge läßt dies eine Einteilung in islamistische, säkularistische und modernistische Positionen zu.
1. Islamistische Positionen
Der Islamismus wird zumeist -häufig unter dem Etikett des „Fundamentalismus“ -als homogene Einheit beschrieben Indessen werden selbst innerhalb der islamistischen Literatur des sunnitisch-arabischen Raums außerordentlich differenzierte Positionen zum Verhältnis von Islam und Menschenrechten bezogen. Ausgangspunkt aller islamistischen Autoren ist der Anspruch, der Islam sei Religion und Staat gleichermaßen und bedinge daher die Notwendigkeit eines islamischen Staates mit religiös legitimierten Rechtsvorschriften. Begründet wird diese Position in der Regel mit dem Vorbild des Propheten sowie mit Verweisen auf Bestimmungen des Korans. Der Prophet habe in der historischen Realität nicht lediglich als Religionsstifter gehandelt, sondern zugleich als politischer Führer auch einen Staat gegründet Als koranischer Anknüpfungspunkt dient vor allem Vers 4: 95: „Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott und dem Gesandten und denen unter euch, die zu befehlen haben!“
Als logische Konsequenz dieses Islamverständnisses wird es angesehen, daß auch die Menschenrechte als von Gott gesetzte Regeln gelten: Mit dem Islam seien die Menschenrechte „bereits vor 14 Jahrhunderten erklärt“ in der „vollständigsten Weise und mit den weitesten Grenzen“ „umfassend und tiefgründig festgelegt“ worden. Überdies wird die Verwurzelung der Menschenrechte in der Religion für notwendig gehalten, da sie dem Recht eine moralische und ethische Grundlage sowie eine „tiefe gefühlsmäßige Dimension verleihe“ und der Glaube ein sicherer Schutz für die Menschenrechte sei
Der eigene Anspruch wird jedoch -bei großen Unterschieden im einzelnen -zumeist nicht erfüllt. Zwar lassen sich aus dem Koran und den Überlieferungen über das Verhalten des Propheten Muhammad, der Sunna, durchaus demokratische Strukturen in dem Sinne begründen, daß das Volk innerhalb der durch den göttlichen Willen gesetzten Grenzen Recht setzen kann. Jedoch sind diese Grenzen in der islamistischen Interpretation in wichtigen Bereichen keineswegs deckungsgleich mit den dem demokratischen Willen durch die Menschenrechte gesetzten Schranken. Problemfelder sind insbesondere Positionen zur Religionsund Meinungsfreiheit, zum Gleichheitsrecht und zum Verbot von Körperstrafen:
Im Bereich der Religionsfreiheit dienen islamistischen Autoren Koranverse, die den Abfall vom Islam als zu verabscheuendes Unrecht beschreiben, als Begründung für das Verbot, die Religion zu wechseln oder sich auf andere Weise vom Islam abzuwenden. Ein in der Sunna enthaltener, angeblich vom Propheten gegebener Befehl, Abtrünnige zu töten, berechtigt nach Ansicht vieler sogar dazu, die Todesstrafe über den Apostaten zu verhängen. Steht bereits dies im krassen Gegensatz zur menschenrechtlich garantierten Religionsfreiheit, erhält das Apostasieverbot eine darüber noch weit hinausgehende freiheitsbedrohende Dimension: Weil die Islamisten den Islam als alle Lebensbereiche durchdringendes System ansehen, können nicht nur der offene Abfall vom Islam und als ketzerisch empfundene Kritik an ihrem Religionsverständnis als Verbrechen angesehen werden, sondern auch Äußerungen, die im säkularen Verständnis als politisch verstanden würden.
Sind sich die islamistischen Autoren über die Grundlagen von Tatbestand und Rechtsfolge der Apostasie noch weitgehend einig, zeigt sich im Detail rasch, wie unterschiedlich die Konsequenzen sind, die daraus gezogen werden: Das Extrem auf der einen Seite stellen militante Untergrundorganisationen dar, die sich etwa die „Errichtung der ganzen Religion, in jeder Seele und auf jedem Fußbreit der Erde, in jeder Organisation und in jeder Gesellschaft“ auf die Fahne geschrieben haben Verhältnismäßig liberale Stimmen betonen hingegen, der Islam lasse viel Raum für eine große Meinungsvielfalt Absolute Wahrheiten, die unterschiedliche Auffassungen ausschlössen, gebe es nur im religiösen, nicht aber im politischen Bereich, heißt es etwa -wobei aber offenbleibt, wo die Grenze zwischen diesen beiden Bereichen zu ziehen ist. Jedenfalls habe keine Partei das Recht, die Eigenschaft, dem göttlichen Willen zu entsprechen, für sich allein in Anspruch zu nehmen. Frauen sind nach islamistischem Rechtsverständnis den Männern im Arbeitsrecht, im Ehe-und Scheidungsrecht, im Kindschaftsrecht, im Erbrecht sowie in politischen Rechten nicht gleichgestellt. Wo vorhanden -etwa im Erbrecht -, werden detaillierte koranische Aussagen zur Begründung herangezogen. Wo solche Ansatzpunkte fehlen, zieht man sich auf Koran 4: 34 zurück, dessen herkömmliches Verständnis mit der Übersetzung Parets wiedergegeben werden kann: „Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott (sie von Natur vor diesen) ausgezeichnet hat. ..“ In anderen Bereichen selbst bei islamistischen Autoren durchaus erkennbare Versuche, koranische Aussagen neu zu deuten, sind in bezug auf das Verhältnis von Mann und Frau kaum festzustellen.
Nichtmuslime wurden vom orthodoxen islamischen Recht des Mittelalters zwar vergleichsweise tolerant behandelt, hatten jedoch eherechtliche und steuerrechtliche Differenzierungen hinzunehmen. Überdies wurden sie im Bereich der politischen Rechte diskriminiert. Heute ist in den Verfassungen fast aller islamischen Länder der Gleichheitsgrundsatz mit einem Verbot der Diskriminierung aufgrund religiöser Zugehörigkeit verankert, so daß die Diskussion von der Verfassungswirklichkeit weit entfernt ist. Dennoch scheint zumindest unter islamistischen Autoren Einigkeit über die Rechtmäßigkeit des an muslimische Frauen gerichteten Verbots zu bestehen, nichtmuslimische Männer zu heiraten. Wo es überhaupt angesprochen wird, wird ausdrücklich an ihm festgehalten. Im übrigen reicht das Spektrum der vertretenen Auffassungen von einer weitgehenden Orientierung am klassischen islamischen Recht bis hin zu Positionen, die Muslime und Nichtmuslime in fast allen Bereichen als gleichberechtigt ansehen wollen
Problematisch sind schließlich die Körperstrafen des orthodoxen islamischen Strafrechts, die soge-nannten //fldüf-Strafen. Sie beruhen zum Teil auf vergleichsweise eindeutigen koranischen Aussagen Unter Strafe gestellt werden neben der Verwirklichung des bereits oben beschriebenen Tat-bestandes der Apostasie insbesondere der außereheliche Geschlechtsverkehr, die Verleumdung wegen desselben, der Alkoholgenuß und der Diebstahl. Die Rechtsfolgen reichen von Peitschenhieben über das Abtrennen der Hand bis hin zur Todesstrafe. Der definitive und unabänderliche Charakter dieser Straftatbestände und der angeordneten Rechtsfolgen wird vor allem aus Koran 2: 229 abgeleitet: „Dies sind die Gebote (hudud) Gottes. Übertretet sie nicht!“ Vor allem letzteres dürfte die Ursache dafür sein, daß die Hadd-Strafen selbst von verhältnismäßig liberalen Islamisten nur relativiert, jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Nicht selten werden sie gar als Beweis für die Menschenrechtsfreundlichkeit des Islam angeführt. Die präventive Wirkung der Strafandrohungen schütze Leben, körperliche Unversehrtheit und die Ehre Selbst das Alkoholverbot wird in dieses Argumentationsmuster integriert: Es zeige, daß der Islam die menschliche Vernunft schützen wolle Von solcher Apologetik abgesehen, sind -neben Stimmen, die selbst die Praxis der Hadd-Strafen im Iran und Sudan nicht verurteilen wollen mehr oder weniger ausgeprägte Tendenzen zu einer restriktiven Anwendung sichtbar. So wird etwa dafür plädiert, zumindest die Rechtsfolgen durch den parlamentarischen Gesetzgeber anpassen zu lassen -dies sei auch schon zur Zeit der im Islam hochgeschätzten unmittelbaren Nachfolger des Propheten der Fall gewesen
2. Säkularistische Positionen
Säkularismus ist eine Weltanschauung, in der kein Anspruch der Religion besteht, die Inhalte, Formen und Funktionen staatlicher Ordnung zu bestimmen Der bekannteste Versuch, den islamischen Geltungsanspruch in diesem Sinne einzuschränken, dürfte von dem ägyptischen Juristen 'Ali 'Abd ar-Raziq (1888-1966) -stammen, der 1925 die Schrift „Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft“ veröffentlichte. Darin verneinte er die Einheit von Religion und Staat und plädierte für ein System, in dem Islam und Politik getrennten Sphären angehören. Der arabische Begriff für Säkularismus f'almaniyya) hat die negative Konnotation der Religionsfeindlichkeit. Eine Säkularisierung wird daher in der aktuellen arabisch-sunnitischen Debatte kaum noch explizit gefordert. Dennoch existieren vielbeachtete Stimmen, die -zum Teil unter ausdrücklicher Bezugnahme auf 'Abd ar-Raziq -ein System favorisieren, das sich durchäus als säkularistisch bezeichnen läßt. Als Beispiele für diese Position können die Ansätze des syrischen Soziologen Burhan Ghaliyun und des ägyptischen Juristen Muhammad Sa'id al-'Ashmawi dienen. Sowohl Ghaliyun als auch al-'Ashmawi stehen für ein Islamverständnis, in dem die islamischen Rechts-quellen nicht nur kein Hindernis für die Institutionalisierung eines menschenrechtsfreundlichen Rechtssystems darstellen, sondern ein solches System vielmehr voraussetzen. Beide Autoren sprechen den Aussagen von Koran und Sunna unter Berufung auf eben diese Rechtsquellen einen unmittelbaren politisch-rechtlichen Charakter ab. Sie begründen dies im wesentlichen mit folgenden Argumenten:
Schon die geringe Anzahl der juristisch relevanten Bestimmungen im Koran weise darauf hin, daß Gott den Menschen keine Verfassung und kein Gesetzbuch habe offenbaren wollen. Denn in diesem Fall, so die Argumentation al-'Ashmawis, wären die Bestimmungen wesentlich umfassender, detaillierter und präziser ausgefallen. Die Verse mit juristisch relevantem Inhalt machten jedoch allenfalls 1/75 des Korans aus, und selbst die zu diesem Bruchteil gehörenden Verse seien nicht so präzise, daß sie zur Grundlage für gerichtliche Entscheidungen gemacht werden könnten. Die Durchsetzung religiöser Gesetze bedürfe überdies staatlichen Zwanges. Dies aber widerspreche Koran 2: 256: „In der Religion gibt es keinen Zwang.“ und Koran 10: 99: „Willst Du nun die Menschen (dazu) zwingen, daß sie glauben?“
Das Vorbild des Propheten Muhammad könne nicht als Legitimation für eine Vermengung von Religion, Recht und Politik herangezogen werden. Muhammad habe eine besondere Position eingenommen, die den nachfolgenden Muslimen nicht zustehe. Dies gelte sowohl für seine Eigenschaft als religiöser und politischer Führer als auch für seine Rolle als Richter in der muslimischen Gemeinschaft. Denn nur der Prophet habe in direktem Kontakt zu Gott gestanden, und nur er habe daher durch ihn geleitet und kontrolliert werden können. Das von den Islamisten propagierte Verständnis der Souveränität Gottes sei schon deswegen falsch, weil es voraussetze, daß sich ein bestimmter göttlicher Wille aus den Rechtsquellen ableiten lasse. Dies gelinge aber selbst den Islamisten nicht, wie die Vielzahl von Meinungsunterschieden über den Bedeutungsgehalt von Koranversen unter ihren Religionsgelehrten zeige.
Der Islam statuiere die individuelle Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott -daß sich jemand zwischen den Gläubigen und Gott stelle, sei ihm fremd. Der Islam könne daher zwar keine rechtliche Relevanz haben, wohl aber die moralisch-ethische Grundlage darstellen, auf der das individuelle und kollektive Bewußtsein aufbaue. Dies sei gleichermaßen notwendig wie natürlich, da kein Staat ohne grundlegende und konsensfähige Werte existieren könne. Da niemand in der Lage sei, Gottes Willen zu erforschen, müsse ein Disput auf der Grundlage der Freiheit und Gleichheit der Menschen gewährleistet sein.
3. Modernistischer Islam
Säkularistische Vorstellungen wie die Ghaliyuns und al-'Ashmawis werden nicht nur von islamitischen Autoren kritisiert. Bedenken äußert auch ein so progressiver Muslim wie der Sudanese Abdullahi Ahmed an-Na'im. Er meint, die These, der Islam mache weder politisch noch rechtlich verbindliche Vorgaben, löse nicht die Probleme, die durch einige klare und definitive Aussagen in Koran und Sunna entstünden In der Tat legt das Vorgehen Ghaliyuns und al-'Ashmawis den Schluß nahe, daß es ohne eine Relativierung des Bedeutungsgehalts der Rechtsquellen nicht möglich ist, ein menschenrechtsfreundliches Islamverständnis zu entwickeln. Der damit notwendig verbundene Verzicht auf das Dogma der Authentizität des Korans als überall und ewig gültiges Wort Gottes ließe sich vermeiden, wenn man zu einem anderen Verständnis derjenigen koranischen Verse gelangen könnte, deren herkömmliche und islamistische Interpretation als menschenrechtswidrig identifiziert wurde. Eine solche Interpretation, die dem Islam weder eine unmittelbare politische und rechtliche Verbindlichkeit abspricht noch dem islamistisch-litteralistischen Rechtsverständnis folgt, versucht -neben vielen anderen -der Syrer Muhammad Shahrur. Sein Buch ist im arabischen Sprachraum auf so großes Interesse gestoßen, daß sich der „Economist“ veranlaßt sah, von einem „publication phenomenon“ zu sprechen.
Shahrur entwickelt in seinem Buch auf über 700 Seiten nicht nur unmittelbar juristisch relevante Gedanken, sondern einen auf dem koranischen Wortlaut aufbauenden Versuch, die Religion des Islam mit dem modernen Weltbild in Einklang zu bringen. Er kommt zu dem Schluß, daß der Koran es nicht nur erlaube, ein den menschenrechtlichen Erfordernissen entsprechendes Rechtssystem zu errichten, sondern dies in vielen Bereichen sogar gebiete. Seine Argumentation ist äußerst komplex. Wie er mit den oben als aus menschenrechtlicher Sicht problematisch identifizierten Koranversen umgeht, kann daher hier nur stark verkürzt wiedergegeben werden.
Shahrur geht mit der wohl einhelligen muslimischen Ansicht davon aus, der Koran enthalte die letzte und endgültige der drei Offenbarungsreligionen und damit die absolute, überall und zeitlos gültige Wahrheit Gottes. Dieser Anspruch bedeute jedoch keineswegs, daß der Mensch sich immer und überall nach einer bestimmten Interpretation dieser Wahrheit richten müsse. Im Gegenteil: Die absolute Wahrheit sei für den Menschen immer nur unvollständig begreifbar und müsse daher unterschiedlichen Interpretationen zugänglich sein. Nur so könne auch ihr universeller Geltungs anspruch bewahrt werden. Die Flexibilität des Koran komme auch in zahlreichen Versen zum Ausdruck, in denen der Islam zugleich als feststehend und als flexibel beschrieben werde
Die mit dieser Argumentation begründete Freiheit findet jedoch auch nach Shahrur ihre Grenzen. Diese verlaufen dort, wo der Koran Regelungen enthält, die ausdrücklich als hudud (Plural von Hadd) bezeichnet werden. Danach würden die oben beschriebenen hadd-Strafen ebenso freiheitsbegrenzend wirken wie viele der die Frau diskriminierenden Verse. Shahrur versteht den Begriff der hudud jedoch nicht wie die traditionelle und islamistische Lesart als „Gebote“ Gottes. Er versteht den Terminus vielmehr mit der ersten Bedeutung des modernen Sprachgebrauchs, demzufolge hudud sich etwß mit „äußerste Grenzen“ übersetzen läßt. Die dadurch eröffneten Möglichkeiten der Koraninterpretation liegen auf der Hand: Bestimmungen, die anordnen, daß der Frau in der Regel nur die Hälfte des männlichen Erbteils zusteht oder einem Dieb die Hand abzutrennen ist, stellen Shahrur zufolge keineswegs verbindliche Gebote dar, sondern sind lediglich das Äußerste dessen, was unter bestimmten historischen Bedingungen noch als berechtigt angesehen werden konnte. Diesseits dieser Grenzen bestünden zahllose Möglichkeiten für eine auf demokratischer Willensbildung beruhende Gesetzgebung. Shahrur verdeutlicht das plastisch mit einem Vergleich: Die Islamgelehrten, die versuchten, nicht die Grenzen des Rechts, sonderen das Recht selbst aus dem Koran abzuleiten, verhielten sich wie eine Fußballmannschaft, die nur auf den Grundlinien spiele. Bei richtiger Betrachtungsweise stehe hingegen das ganze Spielfeld zur Verfügung.
Seine „Grenzentheorie“ dient Shahrur dazu, das Verhältnis von Muslimen und Nichtmuslimen sowie von Männern und Frauen neu zu definieren. Für ihn ist „jeder Mensch, ob gläubig oder ungläubig“, Stellvertreter Gottes auf Erden. Denn der Allmächtige habe den Menschen dazu auserwählt, indem er ihn mit Vernunft versah. Dennoch sei der Mensch selbstverständlich an Gottes Wort gebunden. Dieses werde allerdings von fast allen Menschen befolgt: Denn die vom Koran aufgestellten Grenzen würden in kaum einem Land überschritten. Als unislamisch gilt für Shahrur nur ein Standpunkt, der außerhalb dieser Grenzen liegt, nicht auf der Idee der Gerechtigkeit aufbaut und sich gegen demokratische Entscheidungsfindung richtet. Was die rechtliche Stellung der Frau angeht, gelingt es Shahrur, selbst die in Koran 4: 34, 35 enthaltenen problematischen Bestimmungen über die Position der Frau in der Ehe im Sinne einer Gleichberechtigung der Geschlechter zu deuten. Ähnlich verfährt er mit den erbrechtlichen Vorschriften, dem koranischen Scheidungsrecht und der Frage des Arbeitsrechts der Frau.
IV. Fazit
Mit den islamischen Rechtsquellen lassen sich durchaus auch menschenrechtsfreundliche Positionen begründen. Es ist keineswegs „der Islam“, sondern allenfalls ein bestimmtes Islamverständnis, das Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Menschenrechtsidee im islamischen Kulturkreis bedingt.
Daß der Islamismus vielen Muslimen derzeit besonders attraktiv erscheint, hat viele Gründe. Eine Ursache ist sicherlich daß die Versuche vieler islamischer Länder, westliche Politik-und Rechts-vorstellungen zu übernehmen, keinen Erfolg gehabt haben. In nicht wenigen Staaten der islamischen Welt seien Begriffe wie Freiheit und Gleichheit nicht mehr als bedeutungslose Phrasen der staatlichen Propaganda geblieben, stellt der libysche Autor as-Sadiq an-Naihum fest Um so wichtiger sind Versuche, menschenrechtliche Standards aus der islamischen Kultur selbst heraus zu begründen. Gerade Autoren, die solche Versuche unternehmen, sollte man Gehör schenken, anstatt den Islam auf die Pamphlete islamistischer Ideologen zu reduzieren. Zu einer Verständigung der Kulturen gehört jedoch auch der Verzicht darauf, die Menschenrechte okzidental zu vereinnahmen Die möglichen Menschenrechtswurzeln sind vielfältig und nicht nur in der christlichen und westlichen Kultur verankert Auch der Islam kann ein fruchtbarer Boden für sie sein.