Auch fast acht Jahre nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur bleibt die Art und Weise umstritten, wie die Geschichte der DDR aufzuarbeiten ist. Die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit wird durch schwere Alltags-Probleme belastet, soziale Schwierigkeiten sowie Gleichgültigkeit oder Apathie drohen -beim einzelnen wie in der Öffentlichkeit -die Realitäten der zugrundegegangenen SED-Diktatur zu verdrängen. Zum Vergleich: Im Jahre acht nach dem Weltkriegsende, 1953, war die terroristische NS-Diktatur sowohl durch den „Kalten Krieg“ als auch durch das „Wirtschaftswunder“ schon weitgehend beiseite geschoben
Doch das darf kein Grund dafür sein, heute ähnlich über die jüngste Geschichte einfach hinwegzugehen. Denn dieses Verhalten nach 1945 hatte Verwerfungen im Denken und Handeln der Individuen wie in der öffentlichen Meinung verursacht; in manchen Bereichen wurden „die Nazis wieder gesellschaftsfähig“ So war es erst die nächste Generation, die seit den sechziger und siebziger Jahren Aufklärung fordert über die Verbrechen der NS-Diktatur. Bis heute ist die Thematik keineswegs „bewältigt“.
Daraus sollte jetzt die Lehre gezogen werden, keinerlei Verdrängung zu dulden. Das öffentliche Geschichtsbild hat politisch-moralischen Einfluß auf die Gesellschaft. Es trägt wesentlich dazu bei, in welchem Licht die Gegenwart wie die Zukunft gesehen werden. Eine rasche, tiefgreifende und umfassende Aufarbeitung, eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und Stalinismus, mit der gesamten Nachkriegsgeschichte des geteilten Deutschland ist notwendig. Dies kann und muß sich direkt an die Diskussionen über die NS-Diktatur anschließen, denn ohne das barbarische Hitler-Regime hätte es keine SED-Diktatur gegeben:
Erst wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion kam dann im Gefolge des Krieges die Rote Armee als Besatzung nach Deutschland. Und nur dadurch konnte in der SBZ/DDR der Stalinismus übertragen werden.
Voraussetzung der politischen Aufarbeitung ist die wissenschaftliche Erforschung der DDR-Geschichte. Das heißt selbstverständlich nicht, daß die wissenschaftliche Forschung zuerst und die politisch-moralische Aufarbeitung danach erfolgen kann. Natürlich muß beides gleichzeitig geschehen. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte setzt aber fundiertes Wissen voraus, soll diese nicht ins Emotionale abgleiten oder gar zum politischen Instrument verkommen.
Solche Gefahr besteht, wenn die Wissenschaft nicht die Grundlagen erforscht. Denn sie kann erklären, um was es eigentlich geht, welche Fakten offenzulegen und zu berücksichtigen sind. Kenntnislücken müssen geschlossen, Strukturen untersucht, Verantwortlichkeiten benannt, Ursachen sowie Folgen der SED-Diktatur aufgeklärt werden. Wissenschaftliche Analysen dienen auch der Versachlichung -tragen also dazu bei, daß die Aufarbeitung nicht in die Irre geht, Legendenbildung ebenso wie Verdrängung keine Chance haben.
Heute ist die Wissenschaft weiter als im erwähnten „Vergleichsjahr“ 1953. Die Erforschung der NS-Gewaltherrschaft hatte damals gerade erst begonnen. Seit 1952 untersuchte das Institut für Zeitgeschichte in München (1949/50 als Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit gegründet) das Unrechtssystem. Doch obwohl wir gegenwärtig viel besser dastehen mit zahlreichen Forschungen zur DDR-Geschichte reicht das noch nicht aus. Die Ansicht mancher Historiker und Bildungspolitiker, über die DDR werde momentan eher zuviel als zuwenig geforscht, ist falsch. Im Gegenteil, es sind intensivere Anstrengungen nötig, eine stärkere Förderung der Forschung zu 40 Jahren DDR-Geschichte ist notwendig, um bei diesem Aufarbeitungsprozeß erfolgreich voranzukommen.
Günstige Voraussetzungen erleichtern inzwischen die weitere Forschung: Der Archivzugang ist allgemein möglich und es existiert bereits ein beachtlicher Forschungsstand. Dennoch sind mancherlei Probleme zu erkennen. Auf einige soll hier hingewiesen werden, wobei die wenigen knappen Beispiele aus der jüngsten Zeit keinen allgemeinen Überblick geben, aber Trends und Tendenzen verdeutlichen können.
Möglichkeiten und „Schieflagen“ des Archivzugangs
Zeithistoriker befinden sich generell in einer schwierigen Situation, denn Archivalien sind im allgemeinen erst nach 30 oder gar 50 Jahren der Forschung zugänglich. Insofern ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR-Geschichte in einer weitaus besseren Position: Ihr stehen im wesentlichen die relevanten Akten zur Verfügung. Mit der Öffnung der DDR-Archive nach der deutschen Vereinigung, insbesondere mit der Schaffung der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv (SAPMO) wurde für die DDR-Hinterlassenschaften die übliche 30-Jahre-Sperrfrist aufgehoben. Die Wissenschaftler erhielten die einmalige Gelegenheit, die Entwicklung und die Verhältnisse der DDR von Anfang bis Ende auch anhand ihrer internen Dokumente zu analysieren. Allerdings sind noch nicht alle Akten erschlossen. Damit die Forschung sämtliche Quellen benutzen kann, ist die rasche Erschließung von Archivalien und Nachlässen mit Nachdruck zu fordern.
Vor allem aber mußte schon mehrfach auf eine „Schieflage“ beim Zugang zu den Archiven hingewiesen werden. Insbesondere bei der Diskussion der Deutschlandpolitik der siebziger und achtziger Jahre erwies sich diese Asymmetrie als eher hinderlich bzw. problematisch: Derzeit ist das Geschehen archivalisch nur aus den Quellen der DDR zu bearbeiten. Während fast alle dortigen Akten bis 1989/90 offen sind, gilt für sämtliche westdeutschen Unterlagen weiterhin die 30-Jahre-Sperrfrist. Wenn sich aber die Forschung von Mitte der sechziger Jahre ab allein mit den östlichen Quellenbeständen begnügen muß, wird die Aufarbeitung erschwert. Deshalb die Forderung: „Auch alle westdeutschen Akten der Forschung zugänglich machen.“ Auf dieses Problem hatte die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ bereits in ihrem Bericht von 1994 verwiesen. Es solle geprüft werden, „ob auch für die Bestände westlicher Archive eine vorzeitige Aufhebung der 30-Jahre-Sperrfrist möglich ist. Schon jetzt droht sich eine bedenkliche Asymmetrie der Forschung zu verfestigen.“
Nachdrücklich bleibt weiterhin darauf zu bestehen daß der Wissenschaft die Einsicht insbesondere in Überlieferungen der Parteien, des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen oder des Verfassungsschutzes und des BND für die Zeit bis 1989/90 gestattet wird.
Das gilt auch für die noch immer schwer zugänglichen russischen Archivalien Die Geschichtsschreibung über den Kommunismus, über die Komintern und den Bolschewismus benötigt dringend die Dokumente aus den russischen Archiven. Aber auch die Geschichte der SBZ/DDR, vor allem deren Anfänge, ist ohne Kenntnis der sowjetischen Akten nur fragmentarisch zu schreiben. Die Rolle der allmächtigen Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) bis 1949 kann in den Details erst durch Einsicht in deren (in verschiedenen russischen Archiven verstreuten) Akten analysiert werden Und der tatsächliche Spielraum der SED-Führung gegenüber den Herrschern im Kreml während der einzelnen Phasen der DDR-Geschichte ist nur anhand der sowjetischen Dokumente eindeutig darzustellen. Nach anfänglichen großen Erwartungen auf weitreichende Offenlegung der sowjetischen Archivalien nimmt in jüngster Zeit eher die Skepsis zu; es gibt z. T.sehr negative Erfahrungen
Eine zusätzliche Erschwernis könnte sich hier ergeben: Inzwischen haben einige deutsche Institutionen Kopien russischer Akten (z. T. in erheblichem Umfang) erhalten. Falls diese nicht in Quelleneditionen veröffentlicht werden, sondern nur dem internen Gebrauch dienen, bleibt auch hier nach den Kriterien für den allgemeinen Zugang der Forschung zu fragen. Jedenfalls muß eine weitere Schieflage verhindert werden. Sie könnte entstehen, wenn diese verfilmten oder kopierten Akten lediglich Mitarbeitern der entsprechenden Institutionen zur Verfügung stehen. Da die Kopien mit öffentlichen Mitteln erworben wurden, müssen sie der Forschung ebenso zugänglich sein wie die Materialien in anderen Archiven.
Die Bedeutung der Archivalien
Gesicherte wissenschaftliche Feststellungen sind erst aufgrund der Einsicht in diverse Dokumente zu treffen. Verifizierung oder Falsifizierung bestimmter Aussagen setzen die Analyse mehrerer historisch relevanter Quellen voraus. Bleiben dem Forscher aber Unterlagen verschlossen, schadet dies der Wahrheitsfindung. Und gerade dies muß für die Wissenschaft Anlaß genug sein, immer wieder auf die Öffnung sämtlicher Archive zu drängen.
Die Möglichkeit, nach dem Zusammenbruch der DDR Einsicht in die schriftliche Hinterlassenschaft der SED-Diktatur zu nehmen, hatte rasch eine Flut von Veröffentlichungen in den Medien, aber auch in der Wissenschaft ausgelöst. Dabei vermittelte die Publizierung früher geheimgehalteuer Dokumente durchaus neue Erkenntnisse Doch erfolgten anfangs auch „Schnellschüsse“. Es mangelte manchen Herausgebern an der nötigen Sorgfalt, an detaillierten Kenntnissen und an Ausgewogenheit. Immerhin half die Arbeit mit den nun zugänglichen Quellen auch, Legenden und Fälschungen von DDR-Historikern nachzuweisen und zu berichtigen. Allerdings war die Meinung über den Nutzen der Bestände in den östlichen Archiven durchaus kontrovers. Sie reichte von der Behauptung der „Lügenhaftigkeit“ aller DDR-Akten bis zum blinden Vertrauen in die „originäre“ Richtigkeit des (oft auch banalen) Inhalts der Hinterlassenschaft von SED und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).
Die Diskussion über die Akten des MfS beschäftigt ständig die Medien. Obwohl inzwischen gründliche Analysen zum MfS vorliegen blieb der Wert der 200 km Stasi-Unterlagen umstritten. Da sich das Interesse hauptsächlich auf die spektakulären IM-Berichte konzentrierte, rückte die alltägliche DDR-Wirklichkeit in ein falsches Licht. Zwar hat etwa der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Joachim Gauck, immer wieder darauf verwiesen, daß viele Bürger das Ansinnen der Stasi zur Mitarbeit abgelehnt hatten und nur eine winzige Minderheit der Bevölkerung in der DDR Stasi-Spitzel war. Dies geriet jedoch vielfach aus dem Blick -ebenso, daß sich auch zahlreiche Westdeutsche als Agenten des MfS betätigt hatten
Neben personenbezogenen Unterlagen, vor allem den berüchtigten IM-Berichten, traten die Sachakten, Lageberichte usw. in den Hintergrund, doch deren uneingeschränkter Zugang bleibt für die Forschung unerläßlich. Deshalb sind alle Forderungen nach „Schließung“ zurückzuweisen. Allerdings darf die Erforschung der DDR-Geschichte nicht eingeengt werden auf die „Aktivitäten“ des MfS, das „Schild und Schwert“ der SED. Dies ergäbe ein verzerrtes Bild der DDR-Geschichte, brächte ebenfalls „Asymmetrie“.
Am Ende der Arbeit der 1. Enquete-Kommission des Bundestages zur SED-Diktatur betonte der SPD-Abgeordnete Markus Meckel -1990 letzter Außenminister der nunmehr freien DDR -, durchsie sei für viele deutlich geworden, „daß DDR-Geschichte nicht gleich Stasi-Geschichte ist“. Damit gab er auch den Historikern den Hinweis, zu unterscheiden zwischen dem SED-System und dem in der Diktatur gelebten Leben. Gewiß müßten sich die Bürger nach der eigenen Verantwortung fragen lassen: „Doch ist ein Leben in der Diktatur nicht einfach ein falsches Leben. Das Leben in der DDR war normaler, als es für viele heute vom Westen aus möglich erscheint.“ Dies hat die Forschung zu berücksichtigen. So notwendig weiterhin die Untersuchung der Herrschaftsstrukturen und ihrer Sicherung in der SED-Diktatur ist, gilt es doch auch den Alltag und die Sozialgeschichte verstärkt einzubeziehen, neue Fragestellungen einer sozialwissenschaftlichen Zeitgeschichtsanalyse zu finden, um genauere Einsicht zu bekommen
Ost-West-Gegensatz der Geschichtsschreibung
Gegenwärtig ist allerdings auch Tendenzen einer Nostalgie, die teilweise in Kreisen früherer DDR-Historiker anzutreffen sind, entgegenzutreten. Über ein falsches Geschichtsbild wird hier versucht, die SED-Diktatur zu verharmlosen: entweder durch Abschieben aller Verantwortlichkeiten auf die Sowjetunion oder aber mit der Behauptung, der Kalte Krieg habe die schlimme Unterdrückung in der DDR der fünfziger Jahre verursacht. Daran ist u. a. erkennbar, daß der jahrzehntelange Unterschied zwischen der Geschichtsschreibung in Ost und West über den Kommunismus und speziell die DDR noch nachwirkt. Die sogenannte Parteilichkeit bedeutete für kommunistische Historiker immer, daß sie die politische Linie der herrschenden Partei in der Vergangenheit und Gegenwart zu rechtfertigen hatten. Auch die Qualität einzelner Arbeiten wurde seinerzeit nicht nur vom „handwerklichen“ Können der Historiker, sondern ebenso von deren Parteinähe oder von dogmatischen Agitationsabsichten bestimmt. Mit ihrem Legitimationsauftrag instrumentalisierten, ja verfälschten sie die Zeitgeschichte, um „Beweise“ für das Axiom der stalinistischen Ideologie zu liefern, daß die Partei „immer recht“ habe. Das beschädigte die Historiographie, die zur Hofgeschichtsschreibung wurde, und hat nun negative Nachwirkungen für die Aufarbeitung
Die zahlreichen Veröffentlichungen aus dem Umfeld der PDS reichen von fundierten empirischen Untersuchungen bis zu apologetischen Schriften Zu den letzteren gehört natürlich ein Großteil der Memoiren, die geradezu den Buchmarkt überschwemmen. Das geht von den Rechtfertigungsversuchen früherer SED-Politbüro-Größen wie Hermann Axen, Kurt Hager, Alfred Neumann, Günter Mittag usw. bis zu denen damaliger MfS-Leute.
Ein besonders ärgerliches Beispiel sogenannter „Forschung“ sei hier erwähnt: eine Kollektivarbeit von ehemaligen MfS-Offizieren über den illegalen „Nachrichtendienst der KPD“ Wie sie im Vorwort schreiben, hatten sie ihre „Aktenstudien“ bereits „im Rahmen der Traditionspflege und Geschichtsaufarbeitung im MfS in Form von Forschungsberichten niedergelegt“. Tatsächlich aber haben sie an der berüchtigten Stasi-Hochschule Texte verfaßt, die dazu dienten, seinerzeit den Stasi-Angehörigen „Lehren“ für die Praxis zu vermitteln. Daß ehemalige MfS-Offiziere heute quasi ihre Stasi-Lehrbücher -früher als „Geheime Verschlußsache“ eingestufte „Forschungsberichte“ -ausschlachten und wenig verändert veröffentlichen, kann einem fast die Sprache verschlagen. Es werden seitenweise Darstellungen geboten, die wörtlich -sogar im Jargon -ihren damaligen „Stasi-Forschungsberichten“ entstammen. Dazwischen neu eingefügt sind -oft im Widerspruch zu beibehaltenen Aussagen -etliche Passagen mit kritischer Einschätzung der KPD. Doch der Forschungsstand wird nur sporadisch aufgenommen.
Wie tief noch immer Momente von Rechtfertigung der Geschichte der DDR und speziell der SED bei manchen ehemaligen SED-Historikern verinnerlicht sind, bewiesen sie mit der Schaffung einer „Gegen“ -Enquete-Kommission zur Bundestags-Enquete-Kommission oder ihren Beiträgen 1996 in der Diskussion zum 50. Jahrestag der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD Dabei zeigte sich aber auch, daß einige frühere DDR-Historiker nach dem Studium der Akten nun doch Distanz zur SED-Parteilichkeit entwickelt haben. Vor allem Andreas Malycha trug durch eine Quellenedition zu neuen Einsichten bei Ebenso hat der bekannte Historiker Rolf Badstübner in die Diskussion differenzierende Überlegungen eingebracht Dagegen halten etliche andere -wie beispielsweise Hans-Joachim Krusch -strikt an der altgewohnten Parteilichkeit fest, versuchen krampfhaft, überholte Positionen zu retten Doch jüngere Historiker aus der DDR, vor allem aus dem Umfeld des Unabhängigen Historikerverbandes, haben sich inzwischen in die gesamtdeutsche Forschungslandschaft fest integriert und sind mit kritischen Arbeiten zur DDR-Geschichte hervorgetreten Daher ist zu erwarten, daß der frühere Ost-West-Gegensatz zwischen der SED-Historiographie, die die DDR verherrlichte, und der pluralistischen westlichen Wissenschaft, die die DDR kritisch untersuchte, zunehmend an Bedeutung verliert.
Streitkultur
Nunmehr treten andere Probleme und „Fronten“ auf. Spürbar veränderte sich die Streitkultur innerhalb der Wissenschaft. Harte Auseinandersetzungen in der Sache sind unter Forschern unumgänglich. Doch war es nur die kommunistische Geschichtsschreibung, die als Legitimationsinstrument der Diktatur mit ihrer „Parteilichkeit“ auch immer zu persönlichen Injurien gegriffen hat. In der gesamtdeutschen Forschung zur DDR-Geschichte und zum Kommunismus hat sich allerdings neben der notwendigen inhaltlichen Debatte jetzt auch ein Mißklang eingeschlichen. Der immer härtere „Verteilungskampf“ um Ressourcen und Stellen führte zu personalisierten Auseinandersetzungen, wobei eine übersteigerte Profilierungssucht zu erkennen ist.
Kürzlich wurde beispielsweise in einer Habilitationsschrift die bisherige, von fast allen westlichen Historikern vertretene These, die KPD habe in der Weimarer Republik einen Wandlungsprozeß (Bolschewisierung, Stalinisierung) durchlaufen, mit recht dürftigen Argumenten in Frage gestellt. Nach dem Motto „Hoppla, jetzt komm’ ich“ wurde sogar jeder, der sich bisher mit der Geschichte der KPD befaßte, in einem Rundum-schlag arrogant attackiert. Dabei wimmelt es von Adjektiven wie absurd, falsch, fragwürdig, spekulativ, unzulässig und unwissend
Mit ähnlich „harten Bandagen“ wurde die alte westdeutsche DDR-Forschung von einigen anderen angegriffen. Der Vorwurf, die westdeutsche DDR-Forschung habe die SED-Diktatur verharmlost oder gar geschönt, ist in dieser generalisierenden Form falsch und zurückzuweisen. Die große Zahl der bis heute gültigen Forschungsergebnisse darf und kann nicht einfach negiert werden Gerade von der historischen DDR-Forschung der Bundesrepublik sind ohne Zugang zu östlichen Archiven wichtige und kritische Untersuchungen zur Entwicklung der SED-Diktatur erarbeitet worden Jedenfalls gab es (abgesehen von der margi-nalen Publizistik der DKP) keine von der SED gesteuerte Schönfärbung.
Auch die heutige Behauptung, in der Wissenschaft sei die Totalitarismustheorie geopfert worden, es sei deswegen zur Verharmlosung der SED-Diktatur gekommen, ist eine leichtfertige, pauschale Vereinfachung. Beispielsweise habe ich wie andere die DDR immer als totalitäres Regime beschrieben. Für den Historiker ist die Totalitarismuskonzeptionindes nicht besonders hilfreich, weil mit ihr im allgemeinen historische Wandlungen im Kommunismus ebensowenig zu erklären sind wie beispielsweise die Rolle der Opposition. Daher ist nicht zu akzeptieren, wenn derzeit verkündet wird, nur die Totalitarismustheorie habe die einzig richtige Einschätzung gegeben, alles andere seien Fehlinterpretationen gewesen.
Die DDR-Forschung war vielfältiger, als die jetzigen Angriffe auf sie erkennen lassen. Diese pluralistische Wissenschaft mußte unter schwierigen Bedingungen arbeiten, und bei aller Selbstkritik haben viele ihrer Ergebnisse Bestand. Wissenschaftliche Leistungen wie Fehler sind eben komplexer und daher differenzierter zu berurteilen, als eine simple Verschwörungstheorie weismachen will. Deshalb sollten wir uns hüten, dem aktuellen „Zeitgeist“ der Vereinfachung nachzugeben.
Auch bei dieser Kritik spielten außerwissenschaftliche Faktoren, wie etwa Verteilungkämpfe, eine Rolle; diese Debatten ließen manchmal „die Forschung selbst fast als Nebensache erscheinen“
Auffallend ist, daß dabei manch einer, der sich zuvor nie mit der DDR befaßt hatte (also auch keine Fehler machen konnte) die Feder führte. \ Inzwischen haben verschiedene Seiten aber signalisiert, daß diese Form der Auseinandersetzung von einem neuen Ansatz abgelöst werden muß, um, wie Manfred Wilke es nannte, „die vielbeschworene innere Einheit zu befördern“ Da zunehmend jüngere Wissenschaftler über die DDR-Geschichte forschen, könnten solche Diskussionen in Zukunft unbefangener und sachlicher werden Es bleibt zu hoffen, daß sich die wissenschaftlichen Debatten wieder auf die Inhalte konzentrieren und in zivilisierter Form vollziehen.
Blinde Aktengläubigkeit
Weit bedenklicher erscheint ein anderes Problem, das ebenfalls modische Trends bedient (und wohl auch mit der erwähnten Profilierungssucht zu tun hat). Bei blinder Aktengläubigkeit lassen Forscher oft die einfachsten Selbstverständlichkeiten und sogar wissenschaftliche Standards ihres Faches vermissen. Sensationeller Enthüllungen wegen wird vergessen, daß mit neu zugänglichen Akten erst recht quellenkritisch zu arbeiten ist. Für die Wissenschaft wichtig ist Gediegenheit statt Sensationshascherei. Doch wird von manchen Forschern der Wert von bisher unbekannten Archivalien generell überschätzt -obwohl über Strukturen und Methoden kommunistischer Herrschaft vieles längst bekannt war.
An einem historischen Ereignis ist zu zeigen, daß aus früher verschlossenen Dokumenten heute nicht unbedingt wesentlich Neues ans Licht kommt. So war die Forschung etwa über den letzten Parteitag der KPD in der Weimarer Republik, über den 12. Parteitag im Juni 1929, recht gut informiert; es lag ja ein damals gedrucktes Protokoll vor Aber eine Geheimsitzung, die soge-nannte „geschlossene Sitzung“ des Parteitages, war darin nicht dokumentiert. Deren Protokoll lagert im SED-Archiv Doch was geht daraus Überraschendes hervor? Der Fund ist enttäuschend. Thälmanns „Geheimrede“ war ein bloßer Aufguß seiner bereits öffentlich vorgetragenen Ausführungen. Kippenbergers Informationen über den illegalen Apparat der Partei enthielten nicht mehr, als längst in der (illegalen) KPD-Zeitschrift „Oktober“ zu lesen war. Und selbst die Wahl der Mitglieder des ZK war so geheim, daß deren Namen im „Geheimprotokoll" nicht aufgeführt sind. In seinem internen Kassenbericht schließlich hatte Parteikassierer Arthur Goike die Delegierten beschwindelt, denn über die finanzielle Unterstützung aus Moskau sagte er nicht ein Wort. Auch ohne Einsicht in dieses „Geheimprotokoll“ war die Forschung zur KPD-Geschichte durch Auswertung anderer Dokumente schon viel weiter vorangekommen Solche generelle Erkenntnis bleibt bei der Begeisterung über den freien Zugang zu den kommunistischen Archivalien meist unbeachtet. Natürlich soll die Bedeutung der Quellen nicht heruntergespielt werden. Sie beweisen authentisch die Methoden der stalinistischen Diktatur bis ins Detail. Auf den Wert der Akten für die Wissenschaft wurde ja bereits hingewiesen. Und inzwischen gibt es eine Vielzahl von wichtigen Publikationen über die Geschichte des Kommunismus und der DDR, die sich auf Archivmaterial stützen. Über bestimmte Bereiche (Opposition, Verfolgung, Kirche, Jugend usw.) liegen sehr gute, quellengesättigte Untersuchungen vor. Darüber braucht hier nicht referiert zu werden. Zu nennen sind ebenso Quelleneditionen aus speziellen Archivbeständen. Dadurch wurden insbesondere über die Frühphase der SBZ/DDR neue Einzelheiten bekannt und Wissenslücken geschlossen.
Doch der hohe Standard von Quelleneditionen, gesetzt vor allem von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, wird häufig noch nicht erreicht. Editionen, die jetzt allgemein zugängliche Archivalien abdrucken, sind nur dann sinnvoll, wenn sie durch Register erschlossen sind und der Text selbst gut aufbereitet wird. Überdies ist nach der Relevanz der veröffentlichten Quellen zu fragen. Eine Dokumentation heißt beispielsweise „Entscheidungen der SED 1948“ Sie enthält aber lediglich die Protokolle des Parteivorstandes der SED, obwohl die „Entscheidungen“ damals im Zentral-sekretariat fielen oder von der SMAD getroffen wurden. Von der Dramatik der Stalinisierung der SED 1948 dringt so in diesen Sitzungsprotokollen kaum etwas durch, über den Prozeß der tatsächlichen Entscheidungsfindung geht daraus nichts hervor. Durch Mängel bei der Publikation gehen sogar interessante Details verloren oder sind gar nicht erkennbar. So wurden aus dem Protokoll der Sitzung des Parteivorstands vom 15. September 1948 ausgerechnet jene Passagen nicht wörtlich abgedruckt, in denen Wilhelm Pieck seine „Ergebenheit“ gegenüber Stalin äußerte und erklärt hatte, der gerade verstorbene Shdanow bleibe Vorbild bei der Aufgabe der SED, der Schaffung eines „neuen demokratischen, friedlichen und sozialistischen Großdeutschland“ (!) Solch „Leckerbissen“ fehlt in diesem Band, weil nur auf den Abdruck des Beileidstelegramms in „Neues Deutschland“ verwiesen wird, das Piecks „Ausrutscher“ jedoch nicht enthielt.
Bei den zahlreichen informativen Veröffentlichungen bisher unbekannter Dokumente in Zeitschriften gibt es hin und wieder ebenfalls Ungereimtheiten. So wird beim Referieren von Akten nicht verdeutlicht, in welchem konkreten Zusammenhang sie entstanden, wer sie verfaßte, an wen sie sich richteten usw. Auch werden seinerzeitige Auffassungen einfach als feststehende Tatsache übernommen. Beispielsweise wird in einer interessanten Darstellung über SMAD und SED in Berlin 1946 aus russischen Akten über „Fraktionen“ in der SED, über „Gruppierungen“ referiert. Aufgeführt sind darin: „die Moskauer, die Spanische, die Buchenwald-, die Sachsenhausen-, die Mauthausen-, die Waldheim-und die Auschwitz-Gruppe“ Als Beleg für diese Mitteilung wird nur eine Moskauer Archivnummer angegeben Offenbar nimmt der Autor aber ernst, daß die zufällig zwischen 1933 und 1945 in der Emigration oder in Lagern gemeinsam lebenden Kommunisten nach 1945 „Gruppierungen“ oder gar Fraktionen bildeten. Er unterläßt es, solch fast absurde Konstruktion quellenkritisch zu hinterfragen.
Der Autor geht sogar noch über die Aussagen des Berichts hinaus und schreibt: „Daneben existierten auch Vereinigungen des Nationalkomitees Freies Deutschland, der alten Illegalen oder der englischen Emigranten. Wahrscheinlich gab es daneben noch wesentlich mehr Gruppierungen, die jedoch schon von ihrer zahlenmäßigen Stärke her nicht den Einfluß der oben genannten erreichen konnten.“
Ein anderes Beispiel: In der russischen Zeitschrift „Istoritscheskij Archiw“ ist ein Brief des „Aktivi-sten“ in der Geheimorganisation der KPD, Karl Friedberg, an Stalin vom März 1933 abgedruckt In der Einleitung und den Fußnoten dazu zeigt sich, daß der Herausgeber Babitschenko das Wesentliche über die Person des Briefschreibers Friedberg nicht kennt. Er behauptet, Friedberg habe als „Partei“ -Pseudonym den Namen Karl Gröhl benutzt, tatsächlich war es jedoch umgekehrt. Und er meint, angeblich verliere sich alsbald seine Spur.
Diese Version entsteht, weil sich Babitschenko als Gewährsleute auf eben jene oben genannten Stasi-Offiziere und deren Buch über den „Nachrichtendienst“ der KPD stützt, das schlecht recherchiert ist. Obwohl Gröhl der erste Leiter dieses KPD„Nachrichtendienstes“ war, er 1933 emigrierte, aus der KPD austrat („Schluß mit dem Stalinismus“) und ab 1946 in Westdeutschland arbeitete, haben sie sich nicht kundig gemacht, und so mußte ihnen „entgehen“, daß Gröhl-Friedberg als Karl Retzlaw bis 1976 in der Bundesrepublik lebte und hier sogar seine Erinnerungen veröffentlichte.
Schon darin hatte Retzlaw seinen (jetzt in russischer Sprache veröffentlichten) Brief an Stalin erwähnt Auch hier die Frage: Wie kann bei Unkenntnis entscheidender Tatsachen ein historisches Dokument richtig eingeordnet werden, und warum solche „Schnellschüsse“?
Problematisch ist es auch, wenn aus relativ kleinen Quellenbeständen sehr weitreichende Schlüsse gezogen werden. Die bekannte Diskussion um die These von Wilfried Loth, der aus den im SED-Archiv aufbewahrten Notizen von Pieck ableitete, daß Ulbricht die Gründung der DDR gewissermaßen gegen den Willen Stalins durchgesetzt habe, war dafür symptomatisch.
Instrumentalisierung
Selbst politische Instrumentalisierungen wurden mit Archivalien „belegt“. Hier sei auf die Angriffe gegen Herbert Wehner verwiesen. Durch neue Aktenfunde in Moskau kam es 1993 zu einer Diskussion über Wehners Rolle bei den stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Nach einer wissenschaftlichen Publikation beschuldigten die Medien Herbert Wehner massiv. Die Auswirkungen der Säuberungen -etwa die Tatsache, daß Stalin mehr Spitzenpolitiker der KPD umbringen ließ als Hitler -gerieten wegen dieser Personalisierung in den Hintergrund. Im Wahlkampf 1994 steigerten sich die Vorwürfe gegen Wehner zu einer Schlammschlacht. Jetzt kamen auch unbekannte Akten zur Sprache: Angeblich waren im Januar 1994 im Archiv des früheren MfS „brisante“, belastende Unterlagen gegen den Politiker entdeckt worden. Gleichzeitig veröffentlichte Frau Seebacher-Brandt in ihrem Privatkrieg gegen die SPD Schnipselchen aus dem Nachlaß von Willy Brandt. Es wurde gar eine Abhängigkeit Wehners von der SED konstruiert.
Doch mit der Publizierung von Brandts Aufzeichnungen und vor allem, nachdem die Gauck-Behörde zwei Ordner mit Stasi-Material über Wehner vorlegte brach die Kampagne zusammen. Von den Anschuldigungen, er habe die „Sache der anderen Seite“ betrieben, blieb nach der Einsichtnahme in die Unterlagen nichts übrig. Daraus ging nämlich hervor, daß gerade Wehner für die SED lange Zeit als „Hauptfeind“ galt
Allerdings war dies nicht der einzige Versuch, durch einseitige Auswahl, parteiische Bewertung, ja Umbewertung von Bruchstücken aus Archivalien die Vergangenheit politisch zu „nutzen“. Im Wahljahr 1994 wurde auch die Geschichte der Deutschlandpolitik der Brandt-Scheel-Regierung ähnlich instrumentalisiert.
Quellenkritische Arbeit
Aber neben den Akten existieren auch andere Quellen, und es gibt einen Forschungsstand. Hinzu kommt die Überlegung, daß gerade bei der Bearbeitung früher so strikt geheimgehaltener Dokumente der kommunistischen Diktaturen noch über die übliche Quellenkritik hinauszugehen ist Hier ist nicht nur der historische Kontext zu berücksichtigen, dürfen Dokumente selbstverständlich nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden. Zu bedenken ist auch, ob die Hinterlassenschaft -etwa von Verfolgungsbehörden -nicht oft mehr über die Strukturen der Diktatur, über deren Mechanismen und Hierarchien aussagen als über den eigentlichen Gegenstand selbst. Was galt als sammlungswürdig, was wurde aus Geheimhaltungsgründen vernichtet oder (wie etwa telefonische Anweisungen oder Instrukteur-Aufträge) erst gar nicht schriftlich festgehalten?
Daher muß die Wertung der Akten von der Provenienz der Quellen abhängen. So ist bei Protokollen aus Führungsgremien, in denen deren Positionen fixiert wurden, eher von einem größeren Wahrheitsgehalt auszugehen als bei Niederschriften, mit denen Gruppen oder Personen bei übergeordneten Instanzen ihre eigene Bedeutung oder Erfolge nachzuweisen suchten. Erst recht sind subjektive Berichte, individuelle Einschätzungen und Vermerke anderen Quellen prüfend gegenüberzustellen. Darüber hinaus bleibt eine wahrscheinliche Voreingenommenheit aufgrund der Interessen oder ideologischen Überzeugungen der jeweiligen Verfasser kritisch zu hinterfragen. Obwohl dies alles selbstverständlich scheint, wird in jüngster Zeit in Arbeiten über den Kommunismus und über die DDR solche Vorgehensweise nicht immer praktiziert.
Offenbar wird beim Stolz über neue Quellenfunde so manche Binsenwahrheit vergessen, die zum Handwerkszeug des Historikers gehört und bereits im Proseminar gelehrt wird. Die quellenkritische Sicht verlangt doch, daß gerade bei Teilbeständen von Akten unbedingt die Rahmenbedingungen zu beachten sind. Archivalien sind mit anderen bereits gedruckten Quellen abzugleichen und gegebenenfalls durch Befragungen von Zeitzeugen zu ergänzen.
Es erstaunt schon, wenn heute in Beiträgen zwar Dutzende von Archivbelegen, aber keine Hinweise auf gedruckte Quellen zu finden sind. Gerade gedruckte Protokolle u. ä. machen doch deutlich, was die Führung jeweils veröffentlicht wissen wollte. Und beim Vergleich mit den archivierten Originalen sind darüber hinaus Kürzungen oder gar Manipulationen festzustellen und zu beurteilen. Bei den Wertungen mögen monokausale Erklärungen für komplexe Vorgänge in der Öffentlichkeit „gefragt“ sein, der Historiker hat tunlichst die kritische Differenzierung vorzunehmen, hat anstelle simpler Schwarzweißmalerei auch die „Grautöne“, die „Zwischentöne“ nicht zu vernachlässigen. Aus Archivalien allein entsteht noch kein zutreffendes Geschichtsbild; Quellen können eben nicht „aus eigener Kraft historische Erkenntnisse konstituieren“
Doch anstatt die herkömmliche Sicht mit Fakten aus den Quellen anzureichern, bisherige Darstellungen zu verifizieren oder zu falsifizieren, werden nicht selten ausgefallene Behauptungen verbreitet. An mehr Sachlichkeit statt spektakulärer „Enthüllungen“, weniger Aufgeregtheit und mehr Redlichkeit ist zu erinnern. Wenn der Kontext, d. h. die Zeitumstände und die Begrenztheit spezieller Überlieferungen, ungenügend berücksichtigt werden, kommt es zu Überinterpretationen, die von den Akten nicht gedeckt werden.
Rückfall hinter den Forschungsstand
Gravierender ist in diesem Zusammenhang aber eine andere bedenkliche Tatsache. Die Manie, aus Archivalien überraschende und „neue“ Thesen zu konstruieren, negiert bisherige Forschungen. Dabei wird der Forschungsstand kaum noch wahrgenommen, und so fallen eben manche „Quellen" -Untersuchungen hinter bereits erreichte fundierte Ergebnisse zurück. Dies ist offenbar ein Trend in der gegenwärtigen Kommunismus-Forschung Kürzlich wurden Briefe Stalins an Molotow veröffentlicht die sehr interessant sind. Im „einführenden Kommentar“ zum Briefband verliert sich der amerikanische Kommunismusforscher Lars T. Lih indes nicht nur in Nebensächlichkeiten. Er strapaziert außerdem seine These vom „antibürokratischen Szenario“, das er bei Stalin entdeckt haben will. Wenn Lih die Einschätzung Stalins als „engagierten gewissenhaften (!) Führer“ nicht „unbegründet“ findet, in ihm gar eine Mischung von „Manipulation und Aufrichtigkeit“ sieht, ist das verblüffend. Denn die bisherige Forschung beurteilt Stalin zu Recht ganz anders. Und auch in diesen Briefen Stalins an Molotow ist seine bekannte Machtbesessenheit und Rachsucht, sind seine Intrigen nachzulesen.
Lihs Behauptung, die abgedruckten Briefe würden „eine Revision unserer Sicht des Führungskampfes nach Lenins Tod“ nahelegen, ist abwegig. Aus dem eng begrenzten Quellenmaterial (es sind ja nur Briefe Stalins an seinen Paladin Molotow, und diese lediglich aus dem Zeitraum 1925 bis 1934, also vor den „Säuberungen“!) ist dies nicht zu belegen erst recht spricht der Forschungsstand dagegen Stalin gelangte als Chef des Parteiapparates zur Machtfülle. Er verstand es, andere auszunutzen, Parteiführer gegeneinander auszuspielen, im Hintergrund die Fäden zu ziehen und daraus zu profitieren. Die Einschätzung Stalins ist erheblich weiter gediehen, als es die Einführung zu diesem Briefband glauben machen möchte Ähnlich spektakulär aufgemacht erschien jetzt ein Buch über den „unbekannten Lenin“ Die Entdeckungen im „Geheimarchiv“ sollen Lenin heute sensationell entlarven. Doch aus den Dokumenten, in der Hauptsache Briefe aus den Jahren 1903 bis 1922, ergibt sich kein neues Lenin-Bild. So interessant einzelne Texte sind, die Tausende und Abertausende bereits veröffentlichter Briefe Lenins haben ihn doch längst als Revolutionär, als Machtmenschen, als Realpolitiker wie Ideologen gezeigt; dazu bedurfte es nicht der jetzt weiteren abgedruckten 113 Dokumente.
Zwar mögen einige drastische Beispiele, die Pipes für die Skrupellosigkeit Lenins beibringt, diese besonders kraß belegen, etwa der Aufruf vom 11. August 1918, 100 Kulaken aufzuhängen. Aber im Kern ist nichts überraschend Neues zu finden. Daß Lenin den 1918 vom raschen Untergang im Bürgerkrieg bedrohten Bolschewismus durch drakonische Maßnahmen zu retten suchte, geht aus der seit Jahrzehnten bekannten Korrespondenz hervor. Darin ist etwa zu lesen, daß er am 9. August 1918 die Anweisung gab: „Für den Besitz von Waffen Erschießung, Massenabtransport von Menschewiki“, oder ebenso am 20. August 1918 die Aufforderung, „die Rädelsführer der Kulaken zu erhängen" Diese Grausamkeiten (übrigens, die Gegenseite im Bürgerkrieg war kaum weniger rabiat) sind keineswegs erst jetzt zu enthüllen. Daher ist zu diesem Abdruck „sensationeller Aktenfunde“ einem Rezensenten zuzustimmen: „Der Hinweis auf die , Geheimarchive‘ macht also wieder einmal aus einer Sache etwas Besonderes, die im Grunde doch weitgehend bekannt war.“
So wie der Forschungsstand wegen aufsehenerregender „Aktenfunde“ manchmal gern „vergessen“ wird, so bleiben teilweise auch die zeitgenössischen Darlegungen unberücksichtigt. Beispielsweise wurden 1985 in der Arbeit von F. T. Stößel auch der „Fall Lohagen“, die Angriffe gegen den Altkommunisten Ernst Lohagen und schließlich seine Absetzung als SED-Landesvorsitzender von Sachsen, thematisiert Stößel hatte versucht, aufgrund des damals (auch in Zeitungen) veröffentlichten Materials diesen „Fall“ einzuschätzen. H. Müller-Enbergs ist dann in seinem Buch über Herrnstadt darauf noch eingegangen Inzwischen ist allerdings interessantes Quellenmaterial vorhanden, das den Hintergrund und das Ziel der Kampagne in der SED ebenso wie Ulbrichts Rolle deutlicher macht In einer „neuen Ulbricht-Biographie“ taucht 1995 der Name Lohagen aber nicht einmal auf Und selbst in einer gediegeneren, aus den Akten erarbeiteten Untersuchung von 1996 über die Säuberungen in der SED fehlt jeder Hinweis auf den „Fall Lohagen“
Das Ausblenden des Forschungsstandes und das Außerachtlassen der zeitgenössischen Arbeiten ist auch in manchen der vielen Artikel zu bemängeln, die jetzt anhand der archivalischen Quellen unser Wissen über den Kommunismus und die DDR erweitern können. Das Prinzip des „Windhundrennens“, d. h.der raschen Veröffentlichung eines „Fundes“, um sich zu profilieren und einer eventuellen Publizierung durch andere zuvorzukommen, erklärt die manchmal oberflächliche Kommentierung oder mangelhafte Beachtung des Forschungsstandes. Doch das schadet nicht nur den wissenschaftlichen Standards, sondern letztlich der Zunft und der Aufarbeitung der Geschichte.
Ein besonders drastisches Beispiel für solchen „Schnellschuß“ sei hier erwähnt. Im Moskauer Archiv des russischen Präsidenten wurden Briefe Ernst Thälmanns an Stalin aus dem deutschen Gefängnis 1939 bis 1941 entdeckt. Kaum kommentiert und ohne Anmerkungen publizierte sie eine deutsche Zeitschrift Erst jetzt hat sie mit zahlreichen Fußnoten erläutert (auf russisch) eine Moskauer Zeitschrift abgedruckt Eine wissenschaftliche Edition war indes durch das Institut für Zeitgeschichte vorgesehen. Doch überstürzt erschien vorher in Berlin eine Broschüre mit diesen Thälmann-Gefängnis-Briefen Die Herausgeber schrieben ein nichtssagendes Vorwort; es gibt weder einen wissenschaftlichen Apparat, noch eine erklärende Aufschlüsselung der Briefe. Es ist nur zu hoffen, daß solch unprofessioneller Umgang mit Archivalien nicht Schule macht.
Themenbereiche
Diese kritischen Überlegungen zur Erforschung des Kommunismus und insbesondere der DDR-Geschichte sollen nun allerdings die positive Seite, die insgesamt erfreuliche Aktivität der Wissenschaft sowie die Erfolge der Forschung in jüngster Zeit nicht überdecken. Damit wurden schon jetzt bestimmte Bereiche durch die Auswertung früher in den Archiven verschlossener Akten genauer rekonstruiert und analysiert, wie etwa die konkreten Machtmechanismen, die Praktiken der Geheimpolizei, Methoden und Tätigkeit der Führungsorgane, Umfang und Intentionen der berüchtigten Säuberungen usw.
In den einzelnen Ländern der früheren kommunistischen Herrschaftsregime sind indes sowohl der Zugang zu den Archiven, das Interesse an der jeweiligen Thematik als auch die materiellen Möglichkeiten der Wissenschaft recht verschieden. Die DDR-Forschung ist dabei privilegiert, und entsprechend gut sind die generellen Ergebnisse. Allerdings gibt es eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung, die auch hier zur Asymmetrie führen kann. Wie schon vor 1989 steht besonders die Frühphase der Entwicklung nach 1945 im Mittelpunkt gegenwärtiger Forschungen Inzwischen ist auch die Endphase der DDR auf größeres Interesse gestoßen. Hingegen werden die späten fünfziger, die sechziger und siebziger Jahre noch eher stiefmütterlich behandelt.
Wesentlicher ist die unterschiedliche Bearbeitung der Themenfelder. Schon bei der Aufzählung der Projekte bis Ende 1993 zeigten sich Disproportionen. Untersuchungen zur Kirchen-oder Kultur-politik, Stasi und zu Verfolgungen, zur Opposition, zum Zusammenbruch und Transformationsprozeß waren zahlreich vertreten. Dies ist aufgrund der Materiallage, des „Neuigkeitswertes“ und des Forschungsstandes kaum verwunderlich. Daran hat sich im Grundsatz auch in den letzten Jahren wenig geändert. Die Bevorzugung vieler dieser Themenfelder war indes zu erwarten Erfreulicherweise wendet sich die Forschung mittlerweile verstärkt wirtschaftsgeschichtlichen Fragestellungen zu. Erstaunlich ist nach wie vor das geringe Interesse an der SED sowie den Blockparteien Auch andere Komplexe sind weiterhin unterbelichtet, vor allem fehlen vergleichende Untersuchungen. Derzeit sind sowohl Vergleiche beider deutscher Diktaturen wie vor allem Vergleiche mit den Diktaturen der kommunistischen Parteien in den Ländern Osteuropas immer noch die Ausnahme
Obwohl die Sozialgeschichte inzwischen breiter erforscht wird, findet z. B. die Untersuchung der Gründe für systemkonformes oder oppositionelles Verhalten bestimmter sozialer Gruppen zu wenig Beachtung. Gleiches gilt für die bereits erwähnte sozialwissenschaftliche Zeitgeschichtsanalyse Wegen der bemängelten Schieflage des Archiv-zugangs fehlen immer noch Analysen zu den konkreten Entscheidungsprozessen der SED-Spitze, nämlich eventuellen Freiräumen und Grenzen gegenüber den sowjetischen Vorgaben. Solche Untersuchungen sind daher in den Forschungsprogrammen kaum aufgeführt. Das trifft ebenso zu für einzelne Phasen der Deutschlandpolitik oder die Außenpolitik der DDR.
Hinzuweisen ist noch auf eine andere Schwachstelle für die Forschung; hier ist das Problem finanzieller Förderung der Forschung in Zeiten leerer Kassen zu nennen. Für die Wissenschaft ist zu hoffen, daß die in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ diskutierte „Stiftung“ zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte dann auch der Forschungsförderung dient. Eine solche Stiftung könnte durch Projekt-förderung zusätzliche materielle Hilfe für die Forschungsarbeit vor allem junger Wissenschaftler an den entsprechenden Universitäten und Institutionen leisten.
Trotz der hier vorgetragenen Kritik bleibt doch positiv festzuhalten, daß die historische Erforschung des Kommunismus insgesamt vorankommt. Im Prozeß der Aufarbeitung der DDR-Geschichte kann die Wissenschaft daher Asymmetrien überwinden und somit ihre Forschungsaufgabe erfolgreich erfüllen.