Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Der Marshall-Plan und die ökonomische Spaltung Europas | APuZ 22-23/1997 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 22-23/1997 Der Marshall-Plan in Europa 1947-1952 50 Jahre Marshall-Plan in Deutschland Der Marshall-Plan und die ökonomische Spaltung Europas

Der Marshall-Plan und die ökonomische Spaltung Europas

Walter Heering

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die westliche Perspektive des Marshall-Plans ist inzwischen weitläufig erforscht; relativ wenig bekannt ist indes die östliche Sichtweise. In diesem Beitrag wird u. a. das sowjetische Agieren auf der Pariser Konferenz vom Juni/Juli 1947 nachgezeichnet, auf der die Außenminister der UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs eine erste Klärung über grundsätzliche Aspekte des Angebots von US-Außenminister Marshall vornehmen wollten. Hintergrund für die zunächst eher abwartende Haltung der Sowjets war, daß sie die Offerte Marshalls politisch nicht einzuordnen vermochten. Als Molotow im Laufe der Konferenz die politischen und ökonomischen Implikationen begriff, ließ er die Konferenz platzen; die ordnungspolitischen Dimensionen des Marshall-Planes waren für Moskau inakzeptabel. Damit war auch für die Teilnahme aller Staaten im sowjetischen Einflußbereich eine negative Entscheidung gefallen. Die Vorgänge in einigen dieser Länder belegen allerdings, daß es Moskau nur nach massiver Intervention gelang, eine einheitliche Ablehnungsfront herzustellen. Diese Erfahrungen veranlaßten Stalin, nach neuen Wegen zu suchen, um seine Satellitenstaaten noch enger in den kommunistischen Block einzubinden. Im September 1947 wurde als erste Antwort das sogenannte Kommunistische Informationsbüro (Kominform) ins Leben gerufen; im Januar 1949 erfolgte die Gründung des RGW, der freilich nie die ihm zugedachte Bedeutung erhielt.

Als US-Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 anläßlich der Entgegennahme eines Ehrendoktorats der Harvard-Universität seine programmatische, nur wenige Minuten dauernde Rede hielt, setzte er damit eine Dynamik in Gang, die die Nachkriegswelt von Grund auf verändern sollte. Seine Anregungen wurden als Fanal verstanden, das in der Folgezeit eine fieberhafte wirtschaftliche und politische Aktivität hervorrief und die drohende Lethargie in Europa überwand Aus dieser Initiative entwickelte sich ein wirtschaftliches und politisches Programm -das European Recovery Program (ERP), kurz: Marshall-Plan -das mittlerweile nachgerade zu einem Mythos geworden ist.

Auch wenn die neuere Forschung an diesem Bild eine Reihe von Ergänzungen und Relativierungen vorgenommen hat, so bleibt doch ein imposanter Gesamteindruck bestehen. Die westliche Perspektive des Marshall-Plans wurde in unzähligen Dokumentenbänden, Monographien, Sammelbänden, Zeitschriftenaufsätzen und Zeitungsartikeln weitgehend ausgeleuchtet, obwohl für die Forschung immer noch genug zu tun bleibt Relativ unbekannt bzw. wenig öffentlich ist demgegenüber die östliche Perspektive. Das liegt natürlich hauptsächlich an der Quellenlage, an der sich auch sieben Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eher wenig verändert hat; bis heute unzugängliche und unerschlossene Archive lassen hier für die Zukunft noch wesentliche Erkenntnisse erwarten. In diesem Beitrag wird der bisherige Forschungsstand zu diesem Aspekt zusammengefaßt und durch einige neuere Befunde ergänzt.

I. Die Haltung der Sowjetunion zum Marshall-Plan

In seiner Rede hatte Außenminister Marshall allgemein von Europa gesprochen, jedoch nicht präzisiert, was er darunter verstanden wissen wollte. Durch diese vage Sprachregelung ausgelöste Irritationen hinsichtlich des Geltungsbereiches seines Angebotes haben ihn veranlaßt, auf einer Pressekonferenz am 12. Juni 1947 klarzustellen, „daß er bei seinem Vorschlag ... Großbritannien und die Sowjet-Union einbeziehe; er verstehe unter dem Begriff , Europaalle die Gebiete, die westlich von Asien liegen “ . Es gab in der Rede indes noch eine weitere Passage, die zu Spekulationen Anlaß geben mußte. Mit Blick auf die sowjetische Obstruktionspolitik, die auf der Moskauer Außenministerkonferenz erneut klar zutage getreten war betonte Marshall: „Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos ... Jeder Regierung, die bereit ist, beim Wiederaufbau zu helfen, wird die volle Unterstützung der Regierung der Vereinigten Staaten gewährt werden, dessen bin ich sicher. Aber eine Regierung, die durch Machenschaften versucht, die Gesundung der anderen Länder zu hemmen, kann von uns keine Hilfe erwarten. Darüber hinaus werden alle Regierungen, politische Parteien oder Gruppen, die es darauf abgesehen haben, das menschliche Elend zu einem Dauerzustand zu machen, um in politischer oder anderer Hinsicht Nutzen daraus zu ziehen, auf den Widerstand der Vereinigten Staaten stoßen.“

Hatten die Sowjets auf die Verkündigung der „Truman-Doktrin“ vom 12. März 1947 (Zusicherung amerikanischer Hilfe „für die in ihrer Freiheit bedrohten freien Völker“) prompt mit einer scharfen verbalen Zurückweisung reagiert, in ihrer praktischen Politik allerdings den Willen zum Einlenken signalisiert, so verhielten sie sich gegenüber der Ankündigung Marshalls erstaunlich abwartend. Erst am 16. Juni nahm das Zentralorgan der KPdSU, die „Prawda“, zu der Rede Stellung; sie bezeichnete den Vorschlag als Fortsetzung des Truman-Plans, mittels US-Dollars politischen Druck auszuüben

Bereits am 14. Juni hatten die britische und französische Regierung bei der sowjetischen Regierung angefragt, ob diese zu einem Meinungsaustausch über das Marshall-Angebot bereit wäre; am 18. Juni erfolgte eine förmliche Einladung zu einer Drei-Mächte-Außenministerkonferenz, die am 23. Juni in Paris beginnen sollte. Den Tagungsort hatte man mit Bedacht vorgeschlagen, um die Sowjets nicht zu verprellen; an der Regierung Frankreichs war seinerzeit auch die KPF beteiligt. Moskau hatte es freilich überhaupt nicht eilig, sich festzulegen; mehrfach ersuchte Außenminister Molotow seine britisch-französischen Amtskollegen, Bevin und Bidault, um nähere Informationen über die geplante amerikanische Initiative, die diese jedoch ebenfalls nicht zu liefern vermochten. Am 23. Juni -dem Tag, an dem die Konferenz gemäß ursprünglicher Planung zusammentreten sollte -nahm die Sowjetunion die britisch-französische Einladung schließlich doch an. Die Geheimverhandlungen begannen am 27. Juni; einer Anregung der Briten folgend, waren nicht einmal amerikanische Beobachter zugegen.

Das Zögern der Sowjets deutet darauf hin, daß man sich in Moskau schwer tat, die amerikanische Initiative einzuordnen. Einerseits hatte die Sowjetunion Wirtschaftshilfe angesichts ihrer eigenen ökonomischen Lage sehr wohl nötig; die Reparationsfrage war in den Vier-Mächte-Verhandlungen nicht zu ihrer Zufriedenheit gelöst worden, und wenige Monate nach Kriegsende hatten die USA ihre Lend-Lease-Lieferungen, an denen auch die Sowjetunion partizipiert hatte, abrupt eingestellt Andererseits schien das Angebot Marshalls auf einer Linie mit der Truman-Doktrin zu liegen, so daß der Kreml mißtrauisch blieb Aus neueren Quellen ist inzwischen bekannt, daß in Moskau beide Interpretationen vertreten wurden

In einem Bericht an Molotow vom 24. Juni hatte der führende Sowjetökonom Eugen Varga folgende Analyse vorgelegt: „Der Marshall-Plan dient in erster Linie dazu, die bevorstehende Wirtschaftskrise zu meistern; daß diese Krise kommt, wird von niemandem in den USA geleugnet. Daher müssen die USA in ihrem eigenen Interesse mehr Kredite als jemals zuvor zur Verfügung stellen, um auf diese Weise die heimische Überproduktion loszuwerden, selbst wenn sie schon vorher wissen, daß ein Teil dieser Kredite niemals zurückgezahlt werden wird. ... In diesem Zusammenhang geht es bei dem Marshall-Plan um folgendes: Falls die USA in ihrem eigenen Interesse amerikanische Güter im Werte von Milliarden Dollar auf Kreditbasis unzuverlässigen Schuldnern zur Verfügung stellen, dann ist es notwendig, ein Maximum an politischen Vorteilen herauszuholen.“ In dieser Bewertung kommt die ideologisch bedingte, naive Erwartung zum Ausdruck, die USA ließen sich auch weiterhin als „nützlichen Idioten“ instrumentalisieren.

Demgegenüber betonte Botschafter Novikow in einem Telegramm an Molotow (ebenfalls vom 24. Juni) eher die politischen Dimensionen des Planes: „In diesem Zusammenhang bleiben die Hauptziele der amerikanischen Außenpolitik, derKern der Truman-Doktrin unverändert: den Demokratisierungsprozeß in Europa zu kontrollieren, die gegenüber der Sowjetunion feindlich eingestellten Kräfte zu stärken und günstige Bedingungen für amerikanisches Kapital in Europa und Asien zu schaffen. Eine grundlegende Analyse des Marshall-Plans zeigt, daß es letztlich darum geht, einen westeuropäischen Block als Instrument der amerikanischen Politik zu schaffen.“ Novikow nannte fünf Gründe, warum Marshall in seiner Rede auf einem Gesamtplan der europäischen Länder bestanden habe: 1. sollte die Überlegenheit der USA gegenüber Europa herausgestrichen werden; 2. biete dieses Vorgehen die Möglichkeit, „im Rahmen des gemeinsamen Hilfsprogrammes für Europa Forderungen nach einer wirtschaftlichen Einheit Deutschlands auf einer Bourgois-Basis zu stellen. Auf diese Weise wollen die USA eine vereinte Front der Bourgois-Staaten Europas gegen die UdSSR in der deutschen Frage herstellen“; 3. ergebe sich damit die Gelegenheit, „die Beseitigung des , Eisernen Vorhangs 4 zu fordern, als Vorbedingung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas“; 4. solle Druck zur Bildung eines antisowjetischen Blocks in Europa ausgeübt werden, wenn die Sowjetunion sich weigere, an dem Plan teilzunehmen; 5. könne die Sowjetunion dafür verantwortlich gemacht werden, falls die Initiative scheitern sollte. Novikow vermutete ein bloßes taktisches Manöver der Westalliierten; seiner Meinung nach war eine Beteiligung der Sowjetunion ernsthaft überhaupt nicht vorgesehen

Da nähere Informationen über die Höhe der bereitgestellten Mittel und über Bedingungen, an die ihre Vergabe geknüpft werden sollte, nicht zu erhalten waren, und die politische Realisierung des Plans angesichts massiver Kritik aus dem amerikanischen Kongreß sowieso fraglich erschien, entschloß sich die sowjetische Führung, an der Pariser Konferenz teilzunehmen. Unter den gegebenen Bedingungen war dies die rationalste Entscheidung, die Optionen offen ließ und zudem versprach, einen etwaigen Verhandlungsabbruch propagandistisch ausschlachten zu können. Molotow reiste am 26. Juni mit großem Gefolge an, um seinen Optimismus hinsichtlich eines positiven Ausgangs der Beratungen zu demonstrieren. Sein Auftreten am ersten Konferenztag entsprach dieser Absicht; ein französischer Diplomat notierte, Molotow sei „außergewöhnlich freundlich“ gewesen, „die Sowjets (wollten) um jeden Preis verhindem ..., daß die Franzosen oder Briten unter irgendeinem Vorwand die Konferenz abbrechen“

In seiner ersten Rede am 28. Juni gab sich Molotow „überraschend konstruktiv“; er unterstrich, daß der wirtschaftliche Wiederaufbau in Europa erleichtert würde, „wenn die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Produktionsmöglichkeiten in der Kriegszeit keineswegs zurückgingen, sondern sogar beträchtlich zunahmen, die von diesen Ländern benötigte Wirtschaftshilfe gewähren würde“ Vorbehalte machte er jedoch gegenüber dem französischen Vorschlag geltend, wonach ein allgemeines Wirtschaftsprogramm für die europäischen Länder ausgearbeitet und das Ausmaß der von ihnen gewünschten Hilfe festgestellt werden sollte. Demgegenüber forderte er, daß jedes Land selber darüber entscheiden sollte, welche Höhe der Kredite oder andere Hilfe es wünsche; solche internen Wirtschaftsfragen gehörten in die Souveränität eines jeden Staates, in die sich andere Staaten nicht einzumischen hätten

In seinem Reisegepäck hatte Molotow freilich eindeutige Direktiven des Kremls diese verpflichteten ihn dazu, einerseits alle erdenklichen Informationen über die Modalitäten der amerikanischen Hilfe zu sammeln. In konkreten Fragen müßte andererseits „die sowjetische Delegation jede Unterstützung ablehnen, die die Souveränität der Länder einschränken oder zu ihrer wirtschaftlichen Versklavung führen kann. Bei der Behandlung dieser Frage soll die sowjetische Delegation klarmachen, daß die Sowjetunion jene Bedingungen, die an die Hilfe für Griechenland und die Türkei geknüpft worden sind, ablehnt.“ Ebenso sollten „mögliche Vorschläge über die Bildung eines europäischen Hilfsprogrammes“ blockiert werden, „die die industrielle Entwicklung Osteuropas behindert und die wirtschaftlichen Beziehungen der einzelnen europäischen Länder aus der Vorkriegszeit verstärkt“. Gegenüber einer etwaigen Teilnahme Deutschlands an dem Hilfsprogramm sollte die Delegation eine harte Linie vertreten; diese Teilnahme könne erst erfolgen, nachdem eine Regelung der sowjetischen Reparationsansprüche und die Errichtung einer Viermächtekontrolle des Ruhrgebietes erreicht worden seien.

Tatsächlich erwiesen sich die westlichen und sowjetischen Vorstellungen als nicht kompatibel. Durch einen Spion im Foreign Office, der über Gespräche zwischen dem amerikanischen Unter-staatssekretär William Clayton und den Briten berichtet hatte, war Moskau darüber informiert; ein entsprechendes Telegramm erhielt Molotow am 30. Juni von seinem Stellvertreter Wyschinski. Als mutmaßliche Inhalte der amerikanisch-britischen Konsultationen wurden fünf Punkte genannt: 1. sollte der Marshall-Plan dem Wiederaufbau Europas dienen und keine Fortsetzung der UNRRA-Hilfe sein; 2. sollten verschiedene Unterausschüsse für einzelne Wirtschaftssektoren unter Führung eines Hauptausschusses gebildet werden; 3. sollte jede der Organisationen zur Durchführung des Programmes außerhalb der Vereinten Nationen arbeiten, in denen Deutschland kein Mitglied war; 4. werde Deutschland für die Wirtschaft Europas nach wie vor eine entscheidende Rolle spielen; 5. würden sich Großbritannien und die USA Reparationszahlungen aus der laufenden Produktion an die Sowjetunion widersetzen

Obwohl solche bilateralen Gespräche an sich keine Besonderheit waren, verstärkten sie das Mißtrauen der Sowjets. Hinzu kamen die inhaltlichen, ordnungsstrategischen Differenzen, die nur auf den ersten Blick eher marginal erscheinen Tatsächlich mußte den Sowjets spätestens jetzt klar geworden sein, daß nichts weniger als die wirtschaftliche Integration Europas zur Debatte stand, eine Rekonstruktion und Vertiefung europäischer und globaler Arbeitsteilung und Handelsverflechtung. Die USA schienen darüber hinaus nicht länger gewillt, die sowjetische Hinhaltetaktik zu tolerieren; sie waren fest entschlossen, mit ihren westlichen Verbündeten den eingeschlagenen Weg zu forcieren -mit oder ohne Beteiligung der UdSSR (das Bekanntwerden bilateraler westlicher Konsultationen vermittelte den Sowjets eben dieses Signal). Auch waren die USA keinesfalls bereit, einen Blankoscheck auszustellen und Geld ohne Bedingungen zu verschenken; Ziel des Hilfsprogramms sollte die wirtschaftliche und politische Stabilität der begünstigten Länder in möglichst kurzer Zeit sein.

Es war von daher völlig klar, daß die Vereinigten Staaten bei der Verwendung der knapper werdenden eigenen Mittel sich ein gewichtiges Mitspracherecht ausbedingen mußten. Sie verlangten von den Europäern ein Höchstmaß an Eigeninitiative -nicht zuletzt, um die finanzielle Belastung der amerikanischen Steuerzahler zu minimieren, aber auch aus prinzipiellen Gründen. Dies konnte nur auf dem Wege einer intensiven multilateralen Zusammenarbeit der europäischen Staaten realisiert werden Schließlich war den Amerikanern seit geraumer Zeit auch klar, daß Deutschland für den europäischen Genesungsprozeß eine maßgebliche Rolle spielen würde; die moralisch-naive Vorstellung, den Lebensstandard der Deutschen von vornherein auf den seiner Nachbarn einzufrieren war letztlich nur auf Kosten von deren eigenen Entwicklungsmöglichkeiten zu realisieren. Bei aller Berechtigung und Notwendigkeit zur Bestrafung der Deutschen für die von ihren Führern, mit ihrer Unterstützung oder doch zumindest weitgehender Billigung verursachte Katastrophe konnte dies ä la longue kaum eine vernünftige Politik sein

Die Sowjetunion mußte bei diesem Arrangement um ihren Einfluß auf die ostmitteleuropäischen Länder fürchten, die teilweise noch immer stark vom Außenhandel mit Westeuropa abhingen und deren prosowjetische Orientierung zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs gesichert war; das konnte Moskau nicht riskieren. Es spricht für die Rationalität ihres Machtkalküls, daß die Sowjets an dieser Stelle das Handtuch warfen. Nach anfänglicher Irritation waren Stalin und seine Berater zu einer völlig realistischen Einschätzung der amerikanischen Initiative gelangt Daß sie sie aus ihrer ideologischen Perspektive nur als „imperialistisches Machwerk“ interpretieren konnten und jede propagandistische Möglichkeit zu ihrer Diffamierung ergriffen, versteht sich von selbst.

Am 2. Juli 1947 hielt Molotow seine berühmte Schlußrede, die das vorzeitige Ende der Pariser Konferenz bedeutete. Obschon ideologisch verbrämt, faßte hier Molotow noch einmal die zentralen Meinungsverschiedenheiten zusammen und warnte Briten und Franzosen „vor den Folgen von Maßnahmen ..., die nicht die Vereinheitlichung der Bemühungen der europäischen Länder für den wirtschaftlichen Wiederaufbau nach dem Kriege bezwecken, sondern zu ganz anderen Ergebnissen führen, die mit den wahren Interessen der Völker Europas nichts gemein haben“

Mit dem „Nein“ der Sowjets war auch über die (Nicht-) Teilnahme der Staaten Ostmittel-und Südosteuropas innerhalb der sowjetischen Einflußsphäre entschieden. Darüber gab man sich in Washington, London und Paris keinerlei Illusionen hin; nicht zuletzt deshalb wurden auch in der Folgezeit mehrfache Versuche unternommen, Moskau doch noch von seiner ablehnenden Haltung abzubringen. Auf der anderen Seite hatten ökonomische Analysen die Amerikaner davon überzeugt, daß Osteuropa wirtschaftlich zwar von Westeuropa abhing, nicht aber (bzw. nur in geringerem Maße) umgekehrt Und letztlich war man wohl auch allseits erleichtert, den ökonomischen Neuanfang und Wiederaufbau (West) Europas ohne die Obstruktion der widerborstigen Sowjets vorantreiben zu können

Eine völlig andere Frage ist indes, ob der ganze Plan auf westlicher Seite von Anfang an nichts weiter war als ein abgekartetes Spiel, bei dem man die UdSSR und sogar die osteuropäischen Staaten auf keinen Fall dabei haben wollte Darüber kann man nur spekulieren! Kaum zu bestreiten dürfte sein, daß es in den USA und möglicherweise in noch stärkerem Maße in Großbritannien solche Tendenzen gegeben hat. Tatsache ist aber auch, daß die maßgeblichen Akteure in der US-Regierung sich darüber einig waren, daß die USA unter keinen Umständen die Verantwortung für ein geteiltes Europa übernehmen durften; daher war man aufs äußerste bemüht, den Sowjets weder in Worten noch in Taten einen Vorwand für einen Verhandlungsabbruch zu liefern

Der in diesem Zusammenhang von einigen Autoren vorgebrachte Vorwurf, wonach die USA die UdSSR nur formal zur Mitarbeit am Marshall-Plan aufgefordert, insgeheim jedoch auf deren Fernbleiben gehofft hätten, mag zutreffen und geht gleichwohl am Kern der Sache vorbei. Zurecht stellt Hakker dazu fest: „Wer so ... argumentiert, muß sich fragen lassen, unter welchen Bedingungen Stalin bereit gewesen wäre, eine ökonomische Hilfe seitens der USA in Erwägung zu ziehen.“ Gewiß war für Stalin das Marshall-Plan-Angebot unannehmbar, aber kaum deswegen, weil er im Kreis der Teilnehmer ein ungeliebter -obschon gebetener Gast -gewesen wäre. Man muß keineswegs eine vermeintliche (oder auch tatsächliche) „Verschwörung“ der Westalliierten bemühen, um zu erklären, warum Moskau das Angebot keinesfalls hätte akzeptieren können

II. Die Reaktionen der ostmittel-und südosteuropäischen Staaten

Tatsächlich gestaltete sich der einheitliche Boykott des Marshall-Planes durch die Staaten in der sowjetischen Einflußsphäre vielfältiger und z. T. dramatischer, als das vorhersehbare Resultat dergemeinsamen Ablehnung glauben machen könnte. Am 3. Juli 1947 luden die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs alle europäischen Länder mit Ausnahme der Sowjetunion, Deutschlands und Spaniens zu einer weiteren Konferenz nach Paris ein; diese sollte am 12. Juli beginnen und eine Antwort auf Außenminister Marshalls Offerte erarbeiten. Als Goodwill-Geste wurde der sowjetischen Botschaft in Paris eine Kopie der Einladung nebst Brief übergeben, in dem der Hoffnung Ausdruck verliehen wurde, die UdSSR möge ihre ablehnende Haltung überdenken

Von den osteuropäischen Ländern zeigten sich nur Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei offen an der Einladung interessiert; da unter den gegebenen Bedingungen von einem starken Interesse auch der übrigen Staaten im sowjetischen Einflußbereich ausgegangen werden kann, darf man vermuten, daß die meisten bereits vorab von Moskau entsprechend instruiert wurden. Am 8. Juli meldete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS, daß die polnische, die rumänische und die jugoslawische Regierung die Einladung nach Paris abgelehnt hätten, noch bevor beim französischen Außenminister auch nur eine formelle Absage eingegangen war Einen Tag später wurde die Einladung von der bulgarischen Regierung abgelehnt, und am 10. Juli erfolgten Zurückweisungen durch Jugoslawien, Ungarn, die CSSR und Finnland gleichzeitig veröffentlichte Radio Moskau die Ablehnung Albaniens.

Interessant sind die Geschehnisse in Jugoslawien. Am 9. Juni 1947, also bereits eine Woche vor der ersten offiziellen Äußerung der Sowjets zum Marshall-Plan, veröffentlichte die wichtigste jugoslawische Tageszeitung einen entsprechenden negativen Kommentar des Daily Worker, dem Organ der britischen KP. Eine derartige Brüskierung konnte Moskau kaum dulden; es zwang die jugoslawischen Kommunisten auf seine eher abwartende Linie, wobei diese allerdings erneut übers Ziel hinaus schossen. Am 27. Juni übermittelte die jugoslawische Regierung eine Note an die Regierungen der UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs, in der sie -unaufgefordert -ihre Bereitschaft zu Gesprächen über den Marshall-Plan bekundete Die endgültige Absage am 10. Juli beendete diese Eigenmächtigkeiten einstweilen.

Am dramatischsten aber verlief der Gleichschaltungsprozeß in der CSSR, die aufgrund ihrer ökonomischen und demokratischen Tradition dem Westen sehr nahe stand. In Prag existierte zu dieser Zeit (noch) eine Koalitionsregierung mit bürgerlicher Beteiligung, und die Rote Armee hatte sich gleichzeitig mit den amerikanischen Truppen schon wenige Monate nach Kriegsende aus dem Land zurückgezogen Am 8. Juni hatte die tschechoslowakische Regierung gegenüber der französischen Regierung ihre Zusage zur Teilnahme an der Pariser Marshall-Plan-Konferenz angekündigt; sie ging dabei davon aus, daß auch die polnische Regierung ihre Teilnahme zusagen würde. Daraufhin beorderte Stalin eine tschechoslowakische Regierungsdelegation nach Moskau, die dort in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni mit Stalin und Molotow im Kreml zusammentraf. Ein erst jüngst veröffentlichtes tschechisches Dokument enthält ein Wortprotokoll der Begegnung Manches deutet darauf hin, daß vor dem offiziellen Gespräch bereits entscheidende Vorklärungen stattgefunden haben Die Gäste Überboten sich in „vorauseilendem Gehorsam“; Stalin gab sich jovial und machte großzügige Zusagen hinsichtlich der ihm vorgetragenen Außenhandelsprobleme, die als Hauptgrund für die ins Auge gefaßte Beteiligung am Marshall-Plan genannt wurden Er ließ allerdings bei seinen Gesprächspartnern nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, daß er die Teilnahme an der Pariser Konferenz als einen gegen die Sowjetunion gerichteten, unfreundlichen Akt werten würde: „Für uns ist das eine Trage der Freundschaft 1’ . . . Wenn Sie nach Paris gehen, dann zeigen Sie, daß Sie gewillt sind, an einer Aktion teilzunehmen, die darauf abzielt, die Sowjetunion zu isolieren. Alle slawischen Staaten haben die Teilnahme verweigert, selbst Albanien hat sich nicht gescheut, abzulehnen, und deshalb glauben wir, daß Sie Ihre Zusage zurückziehen sollten. .. . Die Teilnahme an der Konferenz würde Sie ins falsche Licht setzen. Es wäre ein , Bruch der Front 4, ein Erfolg für die Westmächte. Die Schweiz und Schweden zögern noch. IhreZusage würde deren Entscheidung gewiß beeinflussen.“

Noch von Moskau aus zogen die Tschechen am 10. Juli ihre Zusage für die Konferenz zurück; in der Begründung heißt es in enger Anlehnung an Stalins Direktive: „Es wird festgestellt, daß eine Anzahl von Ländern, insbesondere alle slawischen und andere Länder Mittel-und Osteuropas, die Einladung nicht angenommen haben. Folglich werden diejenigen Länder, mit denen die tschechoslowakische Republik enge wirtschaftliche und politische an Verträge gebundene Beziehungen unterhält, nicht an der Konferenz teilnehmen. Unter diesen Umständen würde die Teilnahme der Tschechoslowakei als ein gegen die Freundschaft mit der Sowjet-Union und anderen Verbündeten gerichteter Akt ausgelegt werden. Aus diesem Grunde beschließt die Regierung einstimmig, an der Konferenz nicht teilzunehmen.“

Nach seiner Rückkehr äußerte Masaryk gegenüber einem Freund: „Ich bin als Außenminister eines unabhängigen Staates nach Moskau gegangen und als Lakai der sowjetischen Regierung zurückgekehrt.“ Am 10. März 1948 wurde die Leiche Jan Masaryks im Hof des Außenministeriums gefunden die Umstände seines Todes sind bis heute noch nicht völlig geklärt.

Zu Jugoslawien gibt es noch ein bemerkenswertes Postskript: Bereits am 13. November 1947, ein gutes halbes Jahr vor dem Ausschluß Jugoslawiens aus dem sogenannten Kommunistischen Informationsbüro (Kominform) am 28. Juni 1948, verhandelte der jugoslawische Außenminister Simitsch mit US-Außenminister Marshall in Washington über Wirtschaftsbeziehungen seines Landes zu Westeuropa im Rahmen des Marshall-Planes Aber erst nachdem es im Laufe des Jahres 1949 zum endgültigen Bruch zwischen Moskau und Belgrad gekommen war, leitete Tito im Herbst 1950 auch eine vorsichtige Revision seiner Kritik am Marshall-Plan ein: „Wir sind nicht mehr der Auffassung, daß er so katastrophal ist, wie er von gewisser Seite beschrieben wird. Dies um so weniger, als er einigen Ländern -wie Italien und Frankreich -tatsächlich geholfen hat.“ Im Oktober 1954 erfolgte dann eine völlige Kehrtwendung:

Tito betonte, daß die USA „... für die Lösung der Nachkriegsschwierigkeiten einen grundsätzlich neuen Weg gefunden (haben): die obgleich vielleicht von nationalen Interessen inspirierte, dennoch außerordentlich wichtige und nützliche Wirtschaftshilfe in völlig neuem Rahmen, wobei insbesondere, soweit es unser Land betrifft, keine Bedingungen gestellt wurden, die unsere Souveränität und Unabhängigkeit beeinträchtigt hätten“

III. Die Folgen des Marshall-Planes für Osteuropa

Nachdem der Konflikt mit der Sowjetunion im Zuge der Marshall-Plan-Aktivitäten sich derart zugespitze hatte, war die Welt fast über Nacht eine andere geworden. Stalin gab nun jegliche Rücksichtnahme gegenüber den Westalliierten auf und verfolgte zielstrebig und mitunter äußerst brutal die Vollendung seiner Sowjetisierungspolitik in den Staaten seiner Einflußsphäre Die USA antworteten insbesondere mit einer Embargo-Politik, die verhindern sollte, daß die Sowjets in den Besitz strategischer Güter gelangen könnten. Diese Politik wurde seitens der USA im März 1948 begonnen einen Monat bevor der Kongreß in Washington nach abschließenden Beratungen den „Economic Cooperation Act“ verabschiedete, der den ERP-Aktivitäten einen gesetzlichen Rahmen geben sollte Ob die Embargo-Maßnahmen einen entscheidenden Einfluß auf die Handelsbeziehungen und damit auf die Arbeitsteilung zwischen Ost und West gehabt haben, ist bis heute umstritten. Diese These wird u. a. von Gerd Hardach vertreten aber etwa von Alfred Schüller und Hannelore Hamel kritisiert

Die Eigenmächtigkeiten seiner Satelliten in der Marshall-Plan-Frage hatte Stalin indes davon überzeugt, daß die von ihm bislang präferierte Politik bilateraler Beziehungen durch multilaterale Institutionen ergänzt werden müßte. Als erster Schritt wurde daher auf einer Warschauer Konferenz von Vertretern kommunistischer Par- teien aus Ost und West im September 1947 das Kommunistische Informationsbüro (Kominform) ins Leben gerufen Es sollte an die Stelle der 1943 von Stalin aufgelösten Kommunistischen Internationale (Komintern) treten. Im Gründungsdokument wird die „Zwei-Lager-Theorie“ entwickelt und der Marshall-Plan als aggressive, expansionistische Strategie des US-Imperialismus gegeißelt; einen besonderen Schwerpunkt bildet die diffamatorische Kritik an der Sozialdemokratie Westeuropas. Das Kominform spielte in der Folgezeit insbesondere eine maßgebliche Rolle im Konflikt Jugoslawiens mit Moskau

Schon am 11. Juli 1947 wurde in der UdSSR von einem Molotow-Plan berichtet, der durch ein System gegenseitiger Handelsbeziehungen ein Gegenstück zum Marshall-Plan bilden sollte Offenbar hatte man zwischenzeitlich auch in Moskau erkannt, daß eine stärkere wirtschaftliche Integration der osteuropäischen Staaten mit der Sowjetunion dringend erforderlich wäre; nur so könnte es auch gelingen, die Staaten politisch näher aneinander und insbesondere an die UdSSR zu binden. Dieses bilaterale Konzept wurde indes verworfen Es dauerte weitere eineinhalb Jahre, bis am 18. Januar 1949 im Gefolge einer Moskauer Wirtschaftskonferenz der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gegründet wurde. Das „dürftige Gründungskommunique“ (Hacker) wurde erst am 25. Januar 1949 veröffentlicht und bleibt hinsichtlich der Ziele und Organisationsform eigentümlich vage Daran läßt sich u. a. ablesen, daß die Sowjets über kein Integrationskonzept für Osteuropa (geschweige denn für Gesamteuropa) verfügten, das einen Vergleich mit dem Marshall-Plan hätte standhalten können. Von Beginn an zielte der RGW weiterhin auf primär bilaterale Beziehungen der Sowjetunion zu ihren Verbündeten ab, mittels derer eine einseitige Ausrichtung auf die ökonomischen und politischen Interessen der UdSSR realisiert werden sollte

Obwohl der RGW in den sechziger und siebziger Jahren eine etwas größere Rolle spielen sollte, gelang es nie, die mit ihm verknüpfte Hoffnung auf eine supranationale Planung zu verwirklichen. Als zentrales Problem erwies sich die dem Plansystem immanente „Autarkiefalle“, die im nationalen Rahmen insbesondere zur Kombinationswirtschäft geführt hat und sich auf internationaler . Ebene weiter potenzierte. Autarkie bedingt Parallel-Produktion, die effizienter Arbeitsteilung entgegenwirkt und daher wenig Anreize zur Entwicklung von Handelsbeziehungen schafft

IV. Marshall-Plan und Blockbildung

Rückblickend stellt sich das Jahr 1947 als ein Schicksalsjahr dar, in dem sich die nach dem Krieg latent vorhandene Spaltung Europas und der Welt in zwei Machtblöcke vollzog. Mit einiger Berechtigung wird dabei der 2. Juli 1947 -der Tag, an dem Molotow die Pariser Drei-Mächte-Außenministerkonferenz verließ -als der eigentliche Beginn des Kalten Krieges apostrophiert

Es scheint eher unwahrscheinlich, daß die Entwicklung ohne den Marshall-Plan einen grundsätzlich anderen Verlauf genommen hätte; er war lediglich Anlaß, nicht aber Ursache der Blockbildung. Soweit man dies angesichts der vielfältigen, z. T. auch widersprüchlichen Positionen der beteiligten Personen und Institutionen auf amerikanischer Seite wie auch zwischen den Westmächten überhaupt sagen kann, verfolgten die USA mit dem Marshall-Plan vornehmlich konstruktive Intentionen, namentlich eine ökonomische und politische Stabilisierung Europas, selbstredend im Sinne ihrer Weltanschauung und durchaus auch im eigenen Interesse; dabei gab es gewisse Essentials, zu denen aber kaum die Forcierung der politischen Blockbildung zählte. Diese wurde eher in Kauf genommen als angestrebt; darauf hat (obschon mit anderer Konnotation) insbesondere John Gimbel hingewiesen Daß die Westalliierten zugleich davon überzeugt waren, wirtschaftliche und politische Stabilität in Europa wären auch das wirksamste Mittel gegen eine Ausbreitung des Kommunismus, widerspricht dieser Interpretation nicht; die ideologische Spaltung existierte bereits lange vorher. Entscheidend war, daß die USA -im Unterschied zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg -eine langfristige Verantwortung für Europa undmit dem Marshall-Plan die europolitische Initiative übernahmen

Eine genauere Analyse zeigt, daß der MarshallPlan weder ein bloßes Hilfsprogramm für Europa und/oder die amerikanische Wirtschaft, noch eine „kalte“ Kriegserklärung and die UdSSR war; insoweit griffen beide ursprünglichen Interpretationen der Sowjets zu kurz. Demgegenüber handelte es sich primär um die Bündelung knapper Ressourcen zu einem umfassenden ökonomischen Wieder-aufbauprogramm, dessen ordnungspolitische Dimensionen eine Teilnahme der Sowjetunion allerdings nahezu zwangsläufig ausschlossen. Damit war eine Teilung Europas und der Welt in einen westlichen und in einen östlichen Wirtschaftsraum vorgezeichnet; erst die Reaktionen der Sowjetunion und ihre Machtpolitik ließen daraus auch ein politische Spaltung werden.

Die Blockbildung war letztlich durch das tiefe Mißtrauen der Sowjetunion gegenüber einer Außenwelt bedingt, die sie aus ihrer ideologischen Sicht nur als feindliche wahrnehmen konnte. Erst die Herstellung und Konsolidierung eines „Cordon sanitaire“, die mit der Sowjetisierung Osteuropas abgeschlossen wurde, machte insoweit das Verhalten der Sowjets einigermaßen berechenbar. Die Interimsphase war demgegenüber durch ein hohes Maß an Instabilität gekennzeichnet; diesen Zustand zu verlängern, wäre mutmaßlich wenig ratsam gewesen.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an zwei Äußerungen Stalins, die seine Denkweise deutlich machen. Gegenüber Milovan Djilas, dem Stellvertreter Titos, bemerkte Stalin im Frühjahr 1945 -wenige Wochen vor dem Kriegsende: „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.“ Und gegenüber den alliierten Verhandlungspartnern auf der Konferenz von Potsdam räumte Stalin ganz unverblümt ein: „Jede frei gewählte Regierung wäre antisowjetisch, und das können wir nicht zulassen.“

Den hohen Preis für diese Machtpolitik hatten nahezu ausschließlich die Völker im Machtbereich der UdSSR zu bezahlen; sie waren und sind die eigentlichen Verlierer des Kalten Krieges.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine detaillierte Chronik der Marshall-Plan-Aktivitäten zwischen dem 5. Juni 1947 (Marshalls Harvard-Rede) und dem 22. September 1947 (Annahme des Schlußberichtes durch die Pariser Wirtschaftskonferenz) nebst amtlicher Kurzfassung des Schlußdokumentes findet man in: Europa-Archiv, 2 (1947) 4, S. 913-924.

  2. Stellvertretend für viele: Stanley Hoffmann/Charles S. Maier (Eds.), The Marshall Plan: A Retrospective, Boulder -London 1984; Michael J. Hogan, American Marshall Planners and the Search for a European Neocapitalism, in: American Historical Review, 90 (1985); Othmar Nikola Haberl/Lutz Niethammer (Hrsg.), Der Marshall-Plan und die europäische Linke, Frankfurt a. M. 1986; Charles P. Kindleberger, Marshall Plan Days, Boston u. a. 1987; Hans-Jürgen Schröder, Marshallplan, amerikanische Deutschlandpolitik und europäische Integration 1947-1950, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 18/87; Werner Abeishauser, Hilfe und Selbsthilfe. Zur Funktion des Marshallplans beim westdeutschen Wiederaufbau, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 37 (1989); Charles S. Maier/Günter Bischof (Hrsg.), Deutschland und der Marshall-Plan, Baden-Baden 1992; Gerd Hardach, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948-1952, München 1994.

  3. Europa-Archiv, 2 (1947) 4, S. 913.

  4. Zurückgekehrt von der Konferenz hielt Marshall am 28. April 1947 eine Rundfunkansprache, in deren Verlauf er die Situation in Europa und insbesondere in Deutschland prägnant umschrieb: „The patient is sinking while the doctors deliberate“ (zit. nach Thomas A. Bailey, The Marshall Plan Summer. An Eyewitness Report on Europe and the Russians in 1947, Stanford 1977, S. 1).

  5. Europa-Archiv, 2 (1947) 2, S. 821.

  6. Vgl. Europa-Archiv, 2 (1947) 4, S. 913.

  7. Vgl. Othmar Nikola Häberl, Die sowjetische Außenpolitik im Umbruchsjahr 1947, in: ders. /L. Niethammer (Anm. 2), S. 76 f.

  8. Mißtrauen gab es auch auf amerikanischer Seite: US-Botschafter Walter B. Smith kabelte am 23. Juni -dem Tag, an dem die Sowjets ihre Teilnahme an der Pariser Konferenz bestätigten -aus Moskau nach Washington, er vermute, Molotow werde eher mit destruktiven denn konstruktiven Absichten nach Paris gehen; vgl. Karel Kaplan/Vojtech Mastny, Stalin, Czechoslovakia, and the Marshall Plan: New Documentation from Czechoslovak Archives; in: Bohemia, 32 (1991), S. 139. Vojtech Mastny sieht Smiths damalige Vermutung durch Äußerungen Schdanows in seiner Grundsatzrede auf der Gründungskonferenz der Kominform im September 1947 bestätigt, wonach von vornherein klar gewesen sei, daß die UdSSR die amerikanische Hilfe zu Marshalls Bedingungen ablehnen und lediglich an der Konferenz teilnehmen wollten, um deren „wahren“ Charakter zu entlarven.

  9. Vgl. Rolf Steininger, Deutsche Geschichte seit 1945. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Band 1: 1945-1947, Frankfurt a. M. 1996, S. 290 ff.

  10. Vgl. Jens Hacker, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939-1980, Baden-Baden 1983, S. 331.

  11. Zit. n. R. Steininger (Anm. 9), S. 292.

  12. Ebd., S. 292.

  13. Vgl. ebd., S. 292 f.

  14. Zit. n. ebd., S. 294.

  15. Zit. n. J. Hacker (Anm. 10), S. 331.

  16. Vgl. ebd., S. 329 f.

  17. Vgl. R. Steininger (Anm. 9), S. 293 f.

  18. Vgl. ebd., S. 295.

  19. Rolf Steininger vertritt die These, „daß die Differenzen in der Sache .. . das Scheitern der Konferenz nicht wirklich rechtfertigten. Ein Kompromiß wäre wohl möglich gewesen, wäre der ernsthafte Wille dazu vorhanden gewesen; er war es nicht“ (ebd., S. 289). Der Zeitgeschichtler mag es einem ordnungstheoretisch orientierten Ökonomen nachsehen, aber nach Ansicht des Verfassers hätten die Differenzen kaum größer sein können.

  20. Vgl. H. -J. Schröder (Anm. 2). Gerade die neuere ökonomische Literatur zum Marshall-Plan betont solche ordnungspolitischen Aspekte. So sprechen Eichengreen und Uzan von einer Markt-und Vertrauenskrise in Europa, die durch den Marshall-Plan behoben werden konnte; vgl. Barry Eichengreen/Marc Uzan, The Marshall Plan: Economic Effects and Implications for Eastern Europe and the Former USSR, in: Economic Policy, 14 (1992). Berger und Ritschl konstatieren die Rekonstruktion der europäischen Arbeitsteilung durch den Marshall-Plan, mittels dessen institutionellen Rahmens eine Reihe von Kooperationsproblemen überwunden werden konnten; vgl. Helge Berger/Albrecht Ritschl, Die Rekonstruktion der Arbeitsteilung in Europa. Eine neue Sicht der Marshallplans, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 43 (1995).

  21. Vgl. Alexander Fischer/Martin Rißmann, Deutschland als Gegenstand alliierter Politik (1941-1949); in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band II: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Frankfurt a. M. -Baden-Baden 1995, S. 1323.

  22. Vgl. Charles P. Kindleberger, The Marshall Plan and the Cold War, in: ders. (Anm. 2), S. 94.

  23. „Es war von der Sache her undenkbar, daß an dieser Organisation (der OEEC) Staaten teilnahmen, die einer dezidiert anderen, planwirtschaftlich-autonomen Außenwirtschaftspolitik verpflichtet waren“. Ludolf Herbst, Der Mar-shallplan als Herrschaftsinstrument? Überlegungen zur Struktur amerikanischer Nachkriegspolitik. Antrittsvorlesung vom 12. Mai 1992, Institut für Geschichtswissenschaften am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1993,

  24. Europa-Archiv, 2 (1947) 2, S. 823.

  25. Vgl. L. Herbst (Anm. 23), S. 7.

  26. Charles Kindleberger hat im Vorwort zum Neuabdruck eines Aufsatzes von 1968 bemerkt: „There can be no doubt that the ranks in which my friends and I dwelt were much relieved, like Acheson and Bohlen, when the Soviet Union walked out of the Paris meeting in high dudgeon, rather than ostensibly going along and smothering the Operation in bear hugs“. Charles P. Kindleberger, (Anm. 22), S. 93.

  27. Vgl. Charles S. Maier, „Es geht um die Zukunft Deutschlands und damit um die Zukunft Europas“, in: ders. /G. Bischof (Anm. 2), S. 21 f.

  28. Vgl. J. Hacker (Anm. 10), S. 346. Interessant ist immerhin, daß dies auch für den „Architekten“ der sog. „Eindämmungspolitik“, den amerikanischen Diplomaten George F. Kennan galt, der als Leiter des Planungsstabes des US-Außenministeriums maßgeblich für die Ausarbeitung des Marshall-Plans verantwortlich zeichnete. Kennan hatte die Grundlinien seiner „Containment-Strategie“ in einem scharfsinnigen Aufsatz zum Sowjetsystem entwickelt, der in der Juli-Ausgabe 1947 der renommierten Zeitschrift „Foreign Affairs“ veröffentlicht wurde (vgl. X, The Sources of Soviet Conduct, in: Foreign Affairs, 25 (1947) 4) und auf den in diesem Zusammenhang gern verwiesen wird. Liest man diesen Beitrag sorgfältig, so wird deutlich, daß gerade Kennan sich gegen jegliche Art ultimativen außenpolitischen Abenteuertums wendet; statt dessen plädiert er für eine geduldige und stetige Politik aus einer Position der Stärke heraus (ebd., S. 575, 581).

  29. J. Hacker (Anm. 10), S. 345.

  30. Vgl. A. Fischer/M. Rißmann (Anm. 21), S. 1342.

  31. Vgl. Europa-Archiv, 2 (1947) 4, S. 915.

  32. Vgl. ebd., S. 915; J. Hacker (Anm. 10), S. 339.

  33. Obwohl Finnland zwar Anrainer der UdSSR, nicht aber zu deren unmittelbaren Einflußbereich zählte, reihte es sich in die Boykottfront ein, weil es Repressionen fürchtete; vgl. J. Hacker, ebd., S. 338.

  34. Vgl. Othmar Nikola Häberl, Jugoslawien in der Anfangsphase des Kalten Krieges. Vom vergeblichen Rehabilitierungsversuch gegenüber der UdSSR zur begrenzten Anlehnung an den Westen, in: ders. /L. Niethammer (Anm. 2), S. 317.

  35. Vgl. Jiri Kosta, Die Eingliederung der tschechoslowakischen Volkswirtschaft in die Wirtschaft Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, in: O. N. Haberl/L. Niethammer, ebd., sowie J. Hacker (Anm. 10), S. 362 ff.

  36. Vgl. K. Kaplan/V Mastny.

  37. Vgl. ebd., S. 142.

  38. Vgl. ebd., S. 136 f.

  39. Ebd., S. 135 f. (Übersetzung durch den Verfasser).

  40. Zit. n. Europa-Archiv, 2 (1947) 4, S. 915 f.

  41. Zit. n. R. Steininger (Anm. 9), S. 297.

  42. Vgl. J. Hacker (Anm. 10), S. 374.

  43. Vgl. Europa-Archiv, 3 (1948) 2, S. 1142. Im Herbst 1947 strebten im übrigen fast alle Volksdemokraten Osteuropas verstärkte Wirtschaftsbeziehungen mit westeuropäischen Staaten an, allerdings zumeist außerhalb des Rahmens des Marshall-Planes.

  44. zit. n. O. N. Häberl (Anm. 34), S. 327. Vgl. auch J. Hakker (Anm. 10), S. 333.

  45. Vgl. J. Hacker, ebd., S. 359 ff.

  46. Vgl. G. Hardach (Anm. 2), S. 185 ff.

  47. Vgl. Europa-Archiv, 3 (1948) 6/7, S. 1385 ff.

  48. Vgl. G. Hardach (Anm. 2), S. 12.

  49. Vgl. Alfred Schüller/Hannelore Hamel, Die Integration der DDR-Wirtschaft in den RGW. in: Deutscher Bundestag (Anm. 21), S. 2717; vgl. auch Ch. P. Kindleberger (Anm. 22),

  50. Vgl. J. Hacker (Anm. 10), S. 351 ff.

  51. Vgl. Europa-Archiv, 2 (1947) 4, S. 935 f.

  52. Vgl. J. Hacker (Anm. 10), S. 392 ff.

  53. Vgl. Europa-Archiv, 2 (1947) 4, S. 935 f.

  54. Vgl. A. Schüller/H. Hamel (Anm. 49), S. 2716.

  55. Vgl. Europa-Archiv, 4 (1949) 9, S. 2115 f.

  56. Vgl. A. Schüller/H. Hamel (Anm. 49), S. 2717.

  57. Vgl. J. Hacker (Anm. 10), S. 436 f.

  58. Gewöhnlich wird der Begriff „Cold War“ dem amerikanischen Journalisten Walter Lippmann zugeschrieben. Dieser scheint ihn indes nur popularisiert zu haben; die eigentliche begriffliche Invention erfolgte bereits im April 1947 durch Herbert Swope. Vgl. G. Hardach (Anm. 2), S. 39.

  59. Vgl. J. Hacker (Anm. 10), S. 343.

  60. Vgl. u. a. John Gimbel, Die Entstehung des Marshall-Plans, in: O. N. Haberl/L. Niethammer (Anm. 2), S. 25.

  61. Das kündigte sich bereits in der Stuttgarter Rede von Marshalls Amtsvorgänger, James F. Byrnes, am 6. September 1946 an; vgl. R. Steiniger (Anm. 9), S. 264.

  62. Zit. n. R. Steiniger (Anm. 9), S. 86.

  63. Zit. (in eigener Übersetzung) n. Hans-Jürgen Schröder, Von der Anerkennung zum Kalten Krieg: Die USA und die Sowjetunion 1933-1947, in: Gottfried Niedhart (Hrsg.), Der Westen und die Sowjetunion. Einstellungen und Politik gegenüber der UdSSR in Europa und in den USA seit 1917, Paderborn 1983, S. 187.

Weitere Inhalte

Walter Heering, Dr. rer. pol., geb. 1948; Wirtschaftswissenschaftler; seit 1994 Wissenschaftlicher Assistent beim Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Klaus Schroeder) Transformationsprozesse in ostdeutschen Unternehmen. Akteursbezogene Studien zur ökonomischen und sozialen Entwicklung in den neuen Bundesländern, Berlin 1995; Ökonomische Bedingungen und Konsequenzen des Transforrnationsprozesses in Ostdeutschland, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, (1996) 1; (zus. mit Klaus Schroeder) Zur Entwicklung der Frauenbeschäftigung in Ostdeutschland. Empirische Trends und subjektive Wahrnehmungen im deutschen Vereinigungsprozeß, in: Deutschland Archiv, 29 (1996) 3; Eigennutz und Gemeinsinn im sozialen Netz -Umbau des Sozialstaats aus liberal-konservativer Sicht, in: Politische Bildung, 29 (1996) 4.