I. Die Mediatisierung des Jugendalltags
Jugendzeit ist Medienzeit und Jugendszenen sind vermehrt Medienszenen. Bereits eine oberflächliche Betrachtung der Beziehung zwischen Alltags-welt und Medienalltag läßt erahnen, wie gravierend die Medien die sozio-kulturelle Umgebung verändert haben und wie sehr sie zum Inbegriff universell verfügbarer Konsum-und Kulturgüter geworden sind. Überall gibt es Fernsehgeräte, Radioapparate, Schallplattenspieler, Zeitschriften, Bücher, Kino -und auch die sogenannten Neuen Medien erobern unaufhaltsam den (jugendlichen) Freizeitraum. „Einem kulturgeschichtlichen Trend folgend“, so kommentierte Hans-Dieter Kübler bereits Anfang der achtziger Jahre diese Entwicklung, „schreitet die Veralltäglichung der Massenmedien ständig voran. Immer unauffälliger und individualistischer fügen sie sich in die Lebenswelt des einzelnen und der Familien ein, immer unentbehrlicher und unausweichlicher machen sie sich dadurch.“
Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, in öffentlichen Diskussionen und wissenschaftlichen Publikationen immer wieder der Frage zu begegnen, welche individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der Medienboom hat und haben wird. Fest steht, wie medien-und kulturhistorische Studien belegen, daß die dominierenden Medien einer Kultur den kommunikativen Austausch formen und damit einen prägenden Einfluß auf die Wahrnehmungsweisen, Erkenntnisformen und die Inhalte der betreffenden Kultur ausüben. Auch wird niemand bestreiten, daß für die heutigen Kinder und Jugendlichen die Massenmedien eine außerordentlich wichtige Quelle von sozialisations-und alltagsrelevantem Material bilden. Aber es ist im Einzelfall ungemein schwierig, eine nachhaltige Wirkung ihrer unterschiedlichen Rollen-und Normofferten auf Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln empirisch offenzulegen, denn zu vielschichtig ist -gerade im Medien-zeitalter -das Sozialisationsgeschehen, als daß einzelne Wirkfaktoren eindeutig ausgrenzbar und damit objektivierbar wären. Michael Kunczik bringt das Dilemma der Wirkungsforschung auf den Punkt, wenn er feststellt: „Angesichts der komplexen Fragestellungen, die gegenwärtig von der Wirkungsforschung untersucht werden, sind eindeutige, unbezweifelbare Beweise gar nicht zu erwarten, weil die Randbedingungen, unter denen die Medien wirken, viel zu komplex sind, als daß es möglich wäre, sie in einem konsistenten Satz von Hypothesen zusammenzufassen.“
Natürlich impliziert diese Feststellung keinen Rekurs auf die immer wieder vertretene These der Wirkungslosigkeit der Massenmedien, aber sie macht deutlich, daß die mediale Spurensuche theoretisch und empirisch ein schwieriges Geschäft darstellt. Für die Forschungspraxis bedeutet dies, daß eine Medienforschung, die es sich zur Aufgabe macht, sowohl mediale Veralltäglichungsprozesse als auch den Einfluß von Medien auf die Formierung jugendspezifischer Verhaltensmuster und Rezeptionssettings zu thematisieren, eine hohe Sensibilität für lebensweltliche und biographische Kontexte entwickeln muß.
In mehrjähriger Arbeit hat die Trierer Forschungsgruppe „Medienkultur und Lebensformen“ durch eine Kombination von quantitativen und qualitativen Forschungsstrategien versucht, die notwendige Wirklichkeitsnähe herzustellen, um die Formen und Beweggründe jugendlicher Medienzuwendung ebenso offenzulegen wie ihre Aneignungsstile und Verarbeitungsweisen. Die zentrale forschungsleitende Perspektive gründet dabei in der Prämisse, daß Medien nicht an sich existieren, sondern immer nur für sich, d. h. in sozialen wie individuellen, kommerziellen wie kulturellen, biographischen wie aktuellen Deutungszusammenhängen. Man nutzt sie, lernt sie zu nutzen oder lehrt, wie sie zu nutzen sind. Man gestaltet seinen Tagesablauf, seine Freizeit mit ihnen. Ebenso werden die Phantasien, die Gefühle, die Wünsche und auch die persönlichen Beziehungen in der Interaktion mit den Medien verändert. Ein solches Verständnis von Medienrezeption zielt nicht auf eine kausal-analytische Interpretation (Was machen die Medien mit den Jugendlichen?), vielmehr geht es um die Rekonstruktion jener Realitäten, in denen Medien für die Rezipienten bedeutsam werden (Was machen die Jugendlichen mit den Medien?). Dabei hat sich gezeigt, daß die Vielfalt von Nutzungs- und Codierungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen, zur Herausbildung von spezialisierten personalen Identitäten und jugendeigenen Szenen und Spezialkulturen führen können.
II. Medien und Jugendszenen -ein Rückblick
Seit den fünfziger Jahren zeichnet sich im Jugend-bereich eine Entwicklung ab, wonach Medien unterschiedlichster Couleur vermehrt zu Kristallisationspunkten von Jugendszenen werden. Leitmedium war (und ist) dabei das Radio, Leitmilieu die Rock-und Popszene. Entstanden in den fünfziger Jahren in den USA, erlangte ihr ästhetisch-expressives Ausdrucksmittel, der Rock’n’ Roll, binnen weniger Jahre eine weltweite Popularität, ja er wurde zum musikalischen Signum einer ganzen Generation. Der Rocksänger Udo Lindenberg erinnert sich: „Damals, 1957, ich war elf, schoß aus dem Radio Elvis Presley mit , Tutti Frutti, und die ersten Takte verbannten meine bisherigen Lieblingslieder ... schlagartig aus meinem Frischlingsherzen. Worum es ging, verstand ich nicht, aber dieser Schluckaufgesang und die elektrisierende Musik rockten mich durch. ... Elvis Presley hatte mich angezündet, und ich dachte: Jetzt ist Erdbeben .“
Die Rockmusik knüpft an eine lange Tradition jugendlicher Musikbegeisterung an. Zwar stand bereits in der berühmten „Middletown-Studie“ im Amerika der zwanziger Jahre Radiohören an erster Stelle auf der Interessenliste junger Leute aber die Rockmusik markiert einen radikalen Wendepunkt jugendlichen Musikgeschmacks. An die Stelle der konventionellen Tanz-und Unterhaltungsmusik tritt eine neue, jugendeigene Musik, die ein Ausleben von momentanen Gefühlen und Selbstdarstellungsbedürfnissen gestattete, aber auch eine deutliche Grenzziehung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen vornahm. Diese war unüberhörbar und, durch die mit der Musik verknüpften Habitate (Kleidung, Sprache, Tanzstil etc.), auch unübersehbar. In der Rockmusik hat die Jugend ein symbolisches Ausdrucksmedium entdeckt, das die Unabhängigkeit und Unmittelbarkeit des gewünschten Lebensstils und -gefühls besonders nachdrücklich zur Geltung bringt. Sie eröffnet eine Gegenwelt zu den restaurativ-konsumptiven Routinen und Strukturen des Alltags, die -paradigmatisch in der Atmosphäre von Diskotheken und Festivals -eine demonstrative Inszenierung von Andersartigkeit ermöglicht. In diesen Kontexten findet gleichermaßen eine Wiederaneignung von Sinnlichkeit, die Erprobung erotisch-sexueller Ausstrahlung und Attraktivität, die Zurschaustellung der Szenenzugehörigkeit und eine Distanzierung vom bourgeoisen Lebensalltag statt. Rock ist also mehr als nur Musik, er ist eine Lebensphilosophie und stilistische Haltung mit einem ausgeprägten identitäts-und gemeinsamkeitsstiftenden Charakter. Daran vermochte auch die Kommerzialisierung, Inflationierung und Temporalisierung rockkultureller Stilmittel nichts zu ändern. Im Gegenteil, sie stimulierte eine wachsende Prozessierung und Selbstverwandlung der Szenen. Man vergegenwärtige sich nur die Abspaltung der verschiedenen Rock-Derivate (etwa Cog, Punk, New Wave, Heavy Metal), die unterschiedlichen Tanzstile (so bspw.den Twist, den Hully-Gully, den Waddle, den Breakdance) oder die Schaffung neuer stilbildender Objekte (u. a. das Motorrad und die Lederkleidung bei den Rockern oder der Irokesen-Look und die Sicherheitsnadeln bei den Punks). Auch innerhalb der Szenen gibt es eine enorme Dynamik, wie Diedrich Diedrichsen am Beispiel der Punkkultur aufzeigt: „Tatsächlich wechselten die Trends und die Felder der Rückgriffe in den ersten Jahren nach Punk fast monatlich. Ständig wurde die Musikindustrie aufs neue verunsichert, und bis 1982, dem Höhepunkt und dem Ende dieser Periode, tanzte kaum ein Erfolgskünstler länger als einen Sommer.“
Aber nicht nur die auf der Basis von auditiven Medien weltweit popularisierten Musikgenres führten zur Ausbildung von jugendspezifischen Subwelten, sondern auch -jedoch nicht im gleichen Ausmaß -das Medium „Film“ Auffällig ist dabei die bis in die Gegenwart reichende enge Verbindung zwischen Rockmusik und Film in Form eines Multi-Media-Arrangements, das vor allem in den sogenannten Videoclips oder Musik-videos einen neuen Wahrnehmungs-und Ausdrucksstil kultiviert hat Dies liegt einerseits an der Art und Weise, wie hier ästhetische Signale und Akzente gesetzt werden und -neben dem ästhetischen Surplus -zugleich eine Remythologisierung und Wiederverzauberung der Wirklichkeit stattfindet. Andererseits symbolisieren sie für viele Jugendliche -analog zur rockkulturellen Manifestation von Freiheit, Selbstbehauptung und Widerstand -einen Affront gegen die alltagsweltliche Geschmackskultur, die ihrerseits in den Clips lediglich oberflächliche Reizwaren erblickt.
Neben den musikzentrierten Jugendwelten inspirierte und initiierte der Kinofilm aber noch eine Reihe anderer Spezialkulturen. Sie reichen von den Western-und Indianerclubs über die Habitus-formen der jugendlichen „Bodybuilder“ und „Dirty Dancer“ bis hin zu den Fanclubs, die sich um einen Star oder einen einzelnen Film gruppieren. Als szenengenerierender Kultfilm und kommunikatives Kinoereignis schlechthin kann in diesem Zusammenhang die „Rocky Horror Picture Show“ angesehen werden. Seit dieses Filmspektakel 1976 erstmals aufgeführt wurde, haben sich binnen weniger Jahre weltweit unzählige Fan-gemeinden gebildet, die mittlerweile sogar in einer Art Dachverband (International Rocky Horror Fan Club) organisiert sind und mehrere Fan-magazine (z. B. The Transylvanian) herausgeben. Das Stammpublikum -einschlägige amerikanische Medienstudien sprechen hier auch von „veterans“ oder „regulars" -kommt meist in kleinen Cliquen in die Spät-oder Nachtvorstellung, wohl-ausgestattet mit verschiedenen Utensilien, etwa Reis, Wassersprüher, Zeitungen, Toilettenpapier, Wunderkerzen, die es dann an bestimmten Stellen des Films in den Einsatz zu bringen gilt. Nicht das Filmbetrachten ist also das eigentliche Erlebnis, sondern -ein Teil der Fans hat sich auch entsprechend der filmischen Protagonisten verkleidet -das totale Involvement und das ständige Wiederholen von camphaften Ritualen. Camp ist „keine natürliche Weise des Erlebens. Zum Wesen des Camp gehört vielmehr die Liebe zum Unnatürlichen: zum Trick und zur Übertreibung. Und Camp ist esoterisch -eine Art Geheimcode, ein Erken-nungszeichen kleiner urbaner Gruppen.“ Auch Kultfilme konstituieren mithin Jugendszenen, die in ironisch-exzentrischer Manier nicht nur gegen die Muster etablierter Filmkritik zu Felde ziehen, sondern durch eine außergewöhnliche Stilisierung auch die Erprobung und Erfahrung unkonventioneller Persönlichkeitsvorstellungen ermöglichen.
Dies ist auch das Ergebnis einer Studie, in der fundiert und szenennah die Entstehung und Reproduktion von zwei aktuellen filmischen Sonderwelten dargestellt wird, die sich um den Pop-und Filmstar „Madonna“ und die U. S. -amerikanische „Star-Trek“ -Serie gebildet haben Daß gerade die „Trekkies“ wohl zu den schillerndsten Jugend-szenen der Gegenwart gerechnet werden können, davon konnte sich der Autor auf einer Star-Trek-Party an der Fachhochschule in Trier überzeugen. Ihre atmosphärische Dichte und das bisweilen karnevaleske Treiben der jugendlichen Fangemeinde ist in folgender Schilderung gut wiedergegeben: „Die Mensa bietet ein ungewohntes Bild. Farbige Scheinwerfer und Spots tauchen den funktionalen Raum in ein unwirkliches Licht, verwandeln ihn in die Kommandobrücke des Raumschiffs . Enterprise. Die Gäste, die die , Brücke betreten, müssen hinter der Kasse durch einen dicken am Boden wabernden Nebel. Aus dem Hintergrund des Raums ertönt, noch gedämpft, die Star-Trek-Filmmusik. Auf großwandigen Leinwänden tauchen die Köpfe von Captain Kirk, Mr. Spock, Scotty und Pille auf ... Auch Guido Hertl war an diesem Abend unter den Gästen. Er ist der Gründer des Star-Trek-Fanclubs . Utopia Planitia Trier. In Deutschland, weiß er zu berichten, gibt es derzeit rund 20 Star-Trek-Fanclubs mit etwa 6 000 Mitgliedern. ... Für die Zukunft haben sich Hertl und seine Trekkies einiges vorgenommen. Eine Star-Trek-Filmnacht ist geplant, in der alle sechs bisherigen Kinofilme gezeigt werden sollen. Weiter wollen sie eine eigene Filmparodie drehen und eine Clubzeitschrift herausgeben. ... Punkt 23 Uhr: Scharfgebündelte Lichtstrahlen zerschneiden plötzlich den Raum. Aus sphärischen Tiefen hämmert ein durchdringender Sound. Sternenzeit, zwei drei Punkt null null: die Party hat begonnen -und die uniformierten Galaktiker scheinen ihre wahre Heimat gefunden zu haben.“
III. Medienvermittelte Jugendkulturen -aktuelle Forschungsbeispiele
1. Video-Cliquen Eine vergleichbare Beobachtung konnten wir in jugendlichen Video-Cliquen machen Gemeint sind hier bestimmte Gruppen von Jugendlichen, die sich mehr oder weniger regelmäßig harte (d. h. größtenteils indizierte) Action-und Horrorfilme ansehen. Für diese Jugendlichen sind ihre Film-Sessions, so nennen sie ihre Zusammenkünfte, eine Art Verlängerung des Kinosettings in den häuslichen, intimen Bereich und stellen gegenüber den Alltagsroutinen eine Sondersituation dar. Hier können sie ihrer Spontaneität, ihren Aktivitätsund Darstellungsbedürfnissen freien Lauf lassen, ohne den energischen Einspruch der Erwachsenen befürchten zu müssen. Hier können sie ihre Wünsche nach Abenteuer und Action, Gruseln und Thrill befriedigen, die im normalen Alltag kaum zugelassen sind. Videos grenzen mithin Alltag aus, sie schaffen eine Art Ausnahmesituation, in der die heutige soziale Stillegung des Körpers und die Disziplinierung der Gefühle aufgehoben ist.
Wie sehr gerade der zeitgenössische Horrorfilm -das passende Setting vorausgesetzt -in der Lage ist, dem allgemeinen Trend einer Politik des Spaßhabens und der Karnevalisierung des Alltags ein Forum zu bieten, dokumentiert auch nachstehende Beobachtung: „Der Besuch eines Festivals des phantastischen Films in Paris, das seit 1972 jährlich veranstaltet wird, war einer der Höhepunkte unserer Erkundung in die Sozialwelt der Horrorfans. Das außeralltägliche Spektakel, das sich im Zuschauerraum abspielte, erinnerte sehr stark an Bachtins Beschreibung des Karnevals als einer Form des volkstümlichen Vergnügens. Dieser ist durch Gelächter und physische Sensationen, durch Unsinn und Parodien, durch Exzentrizität und Übertreibung gekennzeichnet. Insofern stellt er auch eine Art Widerstand (im wörtlichen Sinn des Wortes) gegen Sinn, Subjektivität und Verantwortlichkeit dar. So war für die Fans der durch die Sprache übermittelte Sinn weniger wichtig als die durch das Spektakel der Bilder in Szene gesetzte Bedrohung, ebenso konnte sich keiner im Zuschauersaal dem karnevalesken Treiben entziehen. ... Die dem Lärm und den Bildern ausgesetzten Festivalteilnehmer waren -in der Regel mit Mehl beworfen -Teil des kollektiven Geschehens, in dem herkömmliche Distanzen zwischen Menschen relativiert und so eine Gegenwelt zum Alltag aufgebaut wurde.“ Aber es sind offensichtlich nicht nur die kleinen Fluchten aus der Monotonie des Alltags, die den Reiz der Videos ausmachen, sondern es ist auch die Möglichkeit, Frustrationen und aggressive Impulse beim Betrachten zu bewältigen. Während des Zusehens lebt der jugendliche Filmfan innerlich das aus, was er äußerlich nicht zeigen kann, weil aggressive Umgangsstile im Alltag in hohem Maße negativ sanktioniert sind. Diese Form medialer Sublimierung oder Austrocknung von Aggressivität kann demnach auch als eine Form von Katharsis interpretiert werden. So gesehen ist dann die Aneignung von spannungs-und actiongeladenen Videos ein funktionales Äquivalent zu Karneval, Sportveranstaltungen oder auch zu anderen, den Alltag zeitweise außer Kraft setzenden Festivitäten.
Das mediale Abenteuer und die Ausnahmesituation, die Videos zu stimulieren vermögen, sind -und das war nicht unbedingt zu erwarten -eng verknüpft mit der Ausbildung von spezifischen Filmkompetenzen. Sind die Fans am Beginn ihrer Videokarriere primär durch eine voyeuristische Schaulust motiviert, so entwickeln sie im Laufe der Zeit auf der Basis von Filmerfahrung und Filmwissen differenziertere Sehpraxen, die es ihnen erlauben, auch spektakulärste Filmszenen wohldosiert zu erleben. Dabei ist den jugendlichen Videofreaks jederzeit bewußt, daß es sich bei den Action-und Horrorszenarien um reine Phantasiewelten handelt, ja mehr noch, die Differenz zwischen Fiktionalität und Realität ist nach-gerade konstitutiv für das Filmerleben.
Jugendliche Videofans sind also, dies gilt jedenfalls für den von uns untersuchten Typus, durchaus keine degenerierten Videoten, wie ihnen oft nachgesagt Gegenteil, erliegen nicht Im sie (im Sinne einer allmächtigen Wirkungsdoktrin) den reichlich vorhandenen Schockbildern vieler Videofilme, sie werden nicht zu Medienmarionetten, sondern eignen sich deren dramaturgische Gestaltungsmittel und dramatische Szenarien auf kompetente Weise an.
Allerdings ist nicht auszuschließen, daß es Umstände gibt, unter denen der Konsum von harten Videofilmen auch problematisch sein kann. So ist bspw.der Film „The Warriors“ zum Kultfilm von aggressiven Jugendbanden geworden. Über die Wirkung z. B. von „Rambo“ -Filmen in rechtsradikalen Gruppen wäre zu forschen. Was hier durchaus möglich erscheint, ist eine Bestätigungsund Verstärkertendenz. Denn in diesen Filmen werden -aufgrund der Alltagsnähe -Identifikationsfiguren und Handlungsmuster angeboten, die über den fiktiven Rahmen des Films hinaus an die vorhandene Gruppenideologie und Gewaltbereitschaft anschließbar sind 2. Die Fans der „Lindenstraße“
Wer an die Fans und Dauerseher der „Lindenstraße“ denkt, der dürfte sich in der Regel Hausfrauen mittleren oder höheren Alters -gegebenenfalls noch reifere Herren -vorstellen, die Sonntag für Sonntag um 18. 40 Uhr das Fernsehgerät einschalten und sich in eine seriale Welt mit prototypischen Dramatisierungen des bundesdeutschen Alltags-und Familienlebens entführen lassen. Jugendliche und junge Erwachsene wird man unter den Serienkonsumenten weniger vermuten. Aber die Begeisterung für die meisten Serien -und hier insbesondere für die „Lindenstraße“ -fügt sich keinem starren Zielgruppenschema. Vielmehr sind es in den von uns befragten Fanclubs gerade auch die Altersgruppen zwischen zwanzig und dreißig, die sich als Vielseher einstufen und eine starke Serienbindung bekunden
Ein wichtiges Motiv für das gemeinschaftliche „Lmdenstraßen“ -Erlebnis gründet in der kommunikativen Dichte und Besonderheit der Treffen. Geselligkeit, Ausgelassenheit und Ungezwungenheit sind angesagt, und dies keineswegs nur bei der neuesten sonntäglichen Serienfolge: „Ziel unseres Fanclubs ist es“, schreibt uns eine seit 1992bestehende Gruppe aus Wuppertal, „sich möglichst oft zu treffen und einfach Spaß zusammen zu haben.“ Ähnlich auch die Sicht einer Fangemeinschäft aus Velbert: „Es macht einen Heidenspaß, mit Freunden die einzelnen Folgen zu schauen, gemeinsam zu lachen und zu streiten, und alles andere auch einmal für eine Weile zu vergessen.“ Bisweilen erinnern die Schilderungen auch schon einmal an jugendliche Flip-Praxen mit einem ausgeprägt expressiven Charakter: „Manchmal geht es bei uns zu wie auf einer Kleinkunst-Bühne, nur viel chaotischer. Da werden Witze gemacht, da wird rumgealbert, da werden Zoten zum besten gegeben, beinah wie im Karneval“ (Fanclub Hannover). Oder wie es ein Fanclub aus Zweibrükken so anschaulich formuliert hat: „Man steigt in den „Lindenstraßen“ -Alltag ein, um aus dem realen Alltag auszusteigen.“
Neben der Dramatisierung und Transzendierung des Alltags ist es vor allem die Medienkompetenz der „Lindenstraßen“ -Fans, die beeindruckt. Sie sind nicht nur mit der Vielfalt der Themen und dem Darsteller-Ensemble vertraut, sondern es bereitet ihnen auch sichtlich Vergnügen, die narrative Struktur der Serie zu entschlüsseln. Eine längere Passage aus dem Brief der „Münchener Kult-gemeinde“ sei hier stellvertretend zitiert, um gleichermaßen sichtbar zu machen, wie durchweg elaboriert die Verstehens-und Deutungsleistungen der Fans sind und welche Produktivität und Kreativität sie in ihrer kulturellen Arena entfalten: „Weshalb also sehen wir uns die , Lindenstraße‘ an? Vor allem eben deshalb, weil es möglich ist, sie auf unterschiedlichen Ebenen, von verschiedenen Blickwinkeln her anzuschauen und zu diskutieren. Die oberflächliche Handlungsebene unterscheidet sich für viele unmerklich oder überhaupt nicht von anderen Serien. Meine Oma etwa guckt wahrscheinlich die , Lindenstraße'genauso wie das , Forsthaus Falkenau'oder was auch immer. Vielleicht ist ihr auch noch die zweite Ebene bewußt: die, Lindenstraße’ als Langzeit-Serie. Wir haben die Charaktere als ständige Begleiterinnen, sie werden älter mit uns, feiern, wählen, gehen zur Arbeit oder in die Schule. Alles genau so wie bei denjenigen, die vor dem Fernsehgerät sitzen. Auf einer dritten Ebene wird die bloße Handlung untergliedert in Konfrontationen mit verschiedenen sozialen Problemstellungen: Krankheit, Tod, Schwangerschaft, Drogen, Ehekrise, Homosexualität, Kindesmißhandlung, Pubertät, Sex, Rechtsradikalismus etc. Nun kann man darüber streiten, ob diese Themen angemessen dargestellt werden, aber ihr Vorkommen allein ist schon bemerkenswert. In welcher Serie etwa wäre ein Schwuler als Handlungsträger vorstellbar gewesen vor der , Lindeizstraße‘? Hier besteht die Chance, die Zuschauerinnen mit Themen zu konfrontieren, die sie im Alltag weit von sich schieben. Wie gesagt: inwieweit dies gelingt, mag fraglich sein. Und es gibt sogar noch eine vierte Ebene zu entdecken: die der Selbstironie und der , running gags'. Wo gibt’s das schon: Else Kling ist Satire in Höchstform, Matthias (, Stör ich?') eine Haßfigursondersgleichen, das Vorkommen der Serie in der Serie in Form von Gesprächen oder Fanartikeln schönste Selbstironie. Meinetwegen könnte diese Komponente, ohne allerdings in Klamauk auszuarten, noch um ein Vielfaches verstärkt werden!“
Die Differenziertheit und Reflektiertheit in der Auseinandersetzung mit der „Lindenstraße“ zeigt, wie wenig ihre Fans mit dem Stereotyp vom distanzlosen Zuschauer gemein haben. Auch die immer wieder unterstellte Vermischung von eigener Welt und Medienwelt entbehrt für sie jedweder Relevanz. Zwar schreiben die jugendlichen Fans den einzelnen Folgen Realitätscharakter zu, aber die dargestellte Alltagsnähe wird zugleich als Leistung einer Fiktion gesehen, als eine besondere Schauspiel-Leistung. Die „Lindenstraße“ ist in ihren Augen also keineswegs verfilmte Sozial-kunde oder die Aneinanderreihung eines pädagogischen Programms, wohl aber eine Themenressource, die eine weiche Kopplung an die eigene Biographie und Lebenswelt erlaubt: „Es sind zwar Alltagsgeschichten mit wechselnden zwischenmenschlichen Situationen und Beziehungsverhältnissen, also von daher Themen und Ereignisse wie im richtigen Leben. Aber selbst wenn man mit den Darstellern älter wird oder sieht, wie im Laufe der Zeit die Kinder in der , Linden-straße'wachsen, so ist und bleibt es doch eine Kulissen-und Filmstadt. Sie ist zwar kein potemkinsches Dorf, aber eben doch etwas Fiktives und Konstruiertes, eine Medienwelt und nicht die Wirklichkeit“(Fanclub Braunschweig).
Für die Fans ist wichtig, daß es sich bei den Handlungsepisoden der Serie um Erzählungen, Fiktionen und Konstruktionen handelt, also um eine Form künstlerisch verdichteter Realität, und nicht einfach um die Doppelung oder Verlängerung der eigenen Erfahrungs-und Lebenswelt. Auch der immer wieder als Bestätigung für den schwindenden Abstand zwischen seriellem Schein und alltäglichem Sein gedeutete Tourismus zu den Drehorten kommt eher einer Entzauberung gleich, bei der den Fans der Charakter des Kunst-Produkts und seiner Machart nachhaltig vor Augen gestellt wird. Es ist gerade das Erkennen der Differenz von Serien-und Alltagswelt, das die „Lindenstraße“ zum Sehvergnügen für sie werden läßt. Sie sind gleichsam Wanderer zwischen den Welten, wobei die Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Realität zum konstitutiven Moment ihrer Aneignungs-und Erlebnisformen wird. Oder wie Angela Keppler es so treffend formuliert hat: „Das Interesse für die fingierte Wirklichkeit der Serie wird von einem Interesse für die Künstlichkeit des Fingierens -und sogar für das Spiel zwischen beiden Elementen -begleitet. ... Der Serien-Zuschauer sucht und findet in der Serie seiner Wahl ein , Widerspiel‘ zur Form seiner eigenen Existenz. Das Leben mit einer Serie, wie sehr diese auch auf den Anschein der Nähe zum wirklichen Leben angelegt sein mag, ist ein Leben zwischen der Spannung zwischen Leben und Serie. Dieses Beispiel (der Fans der , Lindenstraße; W. V.) zeigt, daß diejenigen, die blind für die Gesetze einer Fernsehserie wären, gar kein Vergnügen an ihr haben könnten.“ 3. Elektronische Spielwiesen Auch das Aufkommen der sogenannten „elektronischen Spielwiesen“ hat zur Formierung jugend-kultureller Sozialwelten beigetragen. Gemeint sind damit Tele-, Video-und Computerspiele, die zunehmend den jugendlichen Freizeitraum erobern. Ursprünglich zur Auflockerung ihrer Berufsarbeit von professionellen Programmierern 'erfunden, verselbständigte sich diese Entwicklung in kurzer Zeit in einer ungeheuren Fülle von Spielgeräten und -programmen. Mittlerweile sind -nicht zuletzt durch die fortschreitende Verbreitung des Computers -Gimmicks und Simulationen, Strategie-und Sportspiele, Adventures und Erotikons zu einer festen Spielgröße im Freizeit-budget geworden, deren graphische, tontechnische und kreative Möglichkeiten ein Faszinosum für junge Menschen -und zunehmend auch für Erwachsene -darstellen
Unstreitig ist in diesen neuzeitlichen Spielparadiesen eine Konzentration auf die abgeschlossene Welt des Spielrahmens und auf die eigenen Fähigkeiten zu beobachten, jedoch nicht im Sinne einer Individualistenkultur von weltabgewandten Einzelgängern, sondern in Form einer gruppensportlichen Auseinandersetzung mit anderen Spielakteuren. Zwar mag es im Einzelfall durchaus zur Abkapselung und Selbstisolierung kommen, aber das Bild vom Computerspieler, der in seinem Zimmer sitzt und hinter heruntergelassenen Rolläden seine perversen Phantasien austobt, ist ein Mythos.
Die Realität offenbart uns vielmehr eine differenzierte Fankultur mit eigenen Rekrutierungs-und Hierarchisierungsstrategien und mit gemeinsam geteilten Normen, Ritualen und Selbstverständlichkeiten, die der Spielnovize vielfach in Ratgebern und Regelwerken für Computerspieler nachlesen kann. Gelingt durch Übung, Wahrnehmungsund Gedächtnisschulung dann eines Tages der Sprung in die Klasse der Meister, dann eröffnen sich dem Spielbegeisterten neue Bedeutungs-und Bezugswelten, die -sei es im wettkampfmäßigen Leistungsvergleich oder im lustvoll-autonomen Eindringen in unerreichbar geglaubte Fantasy-Sphären -neben der Vergrößerung individueller Freiräume der Selbstdarstellung und Selbstdefinition auch eine zunehmende erlebnisorientierte Aufladung des Alltags bedeuten.
Dies ist auch das Ergebnis einer Studie, die die Kölner Medienpädagogen Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr durchgeführt haben: „Die Spiele faszinieren, weil sie von den Spielern benötigt werden, um , gute Gefühle'zu bekommen. Der Spielcomputer als , Mister feel good'ist begehrt, weil er positive Emotionen bewirken kann: Er vermag Vergnügen, Spaß und Freude zu bereiten, Gefühle von Leistungsfähigkeit und Kompetenz zu vermitteln sowie Distanz zur Lebenswelt zu schaffen. ... Das emotionale Erleben sollte dabei möglichst , dicht'und , intensiv'sein. Ein faszinierendes Spiel vermittelt ein . Wirklichkeitsgefühl'und bewirkt damit eine Steigerung des emotionalen Erlebens. Je wirklichkeitsgetreuer die virtuelle Welt“, so die Autoren, „desto höher die Erlebnisdichte.“
Das Eindringen in die virtuellen Spielwelten und die Fokussierung auf die Spielhandlung vermitteln hohe Spannung -und auch Entspannung. Spielen lenkt vom Alltag ab und wird bisweilen sogar zur Therapie. Vor allem die sogenannten „Abschießspiele“ bieten die Möglichkeit, aggressive Impulse auszuagieren. Gerade bei männlichen Jugendlichen konnten wir immer wieder beobachten, wie aus Alltagserfahrungen resultierende negative Gefühle wie Angst oder Wut durch bestimmte Spieltypen und -praktiken absorbiert werden. Nicht das Spiel erzeugt aversive Stimmungen und Affekte -jedenfalls haben wir hierfür keine Anhaltspunkte gefunden -, sondern außerhalb des Spiels gemachte Frusterfahrungen werden in den Spielrahmen übernommen und beim Spielen abgebaut. Die Tatsache, daß die Telespielbegeisterten ihren Erlebnishunger zunehmend auch in den zahlrei-chen Computernetzen stillen, ist aber auch Anlaß zu manch kritischem Kommentar: Denn es sind nicht zuletzt indizierte oder sogar beschlagnahmte Spiele, wie etwa „Mortal Combat“, über die sich die Freaks via Netz austauschen: „Die weltweite Spielergemeinde führt ganze Bibliotheken, in denen alle erforschten Tastenfolgen verzeichnet sind. Zahllose Mail-Boxen bieten Schwarze Bretter, auf denen die Spieler die Kombinatorik von Magenkrätsche und Überwurf erörtern. Auch im Internet lagert reichlich Lehrmaterial.“ Daß den Jugendschutzbehörden diese Entwicklung Sorge bereitet, ist nur zu verständlich. So weist die Vorsitzende der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, Elke Monssen-Engberding, mit Recht darauf hin, daß geeignete Kontrollmaßnahmen nicht mehr Ländersache sein können, sondern eine „internationale Vereinbarung gefunden werden müsse“ Allerdings zeichnet sich derzeit in diesem Punkt zwischen den Gegnern und den Befürwortern von Interventionsmaßnahmen, die bisweilen auch bis zu äußerst rigiden Zensurforderungen reichen, noch keine einvernehmliche Lösung ab 4. Computer-und Netzszenen Auch das Herzstück der Neuen Medien -der Computer -ist ein idealer Anknüpfungspunkt für jugendkulturelle Sozialwelten geworden. In mehreren Studien konnten wir zeigen, daß sich der Computer einen festen Platz im Handlungsfeld der jungen Generation erobert hat. Bezeichnend für die meisten jugendlichen Anwender ist dabei -ähnlich wie bei den Erwachsenen -eine instrumentelle Orientierung: Sie gebrauchen den Computer als ein Werkzeug, mit dem bestimmte alltägliche Arbeiten oder Funktionen eleganter und schneller bewerkstelligt werden können, d. h„ ihr Nutzungsprofil ist vorrangig auf Routine und Entlastung angelegt. Dieser konventionelle User-Typus soll im folgenden aber nicht näher behandelt werden.
Im Mittelpunkt der Analyse steht vielmehr die Gruppe von Jugendlichen, die sich besonders intensiv und spezialisiert mit dem Computer in der Freizeit beschäftigt. Für diesen Personenkreis -im weiteren als Computerfreaks bezeichnet -ist die Nutzung des Rechners nicht nur ein zentrales Stekkenpferd, sondern ihre unterschiedlichen Aneignungs-und Verwendungsformen sind in ein komplexes Geflecht von Wissen, Erfahrungen und (sub) kulturellen Deutungsmustern eingebunden. Ob Hacker oder Programmierer, Cracker oder Mailbox-Fan, ihr Umgang mit dem Rechner ist durch einen hohen Grad von Professionalität und Kompetenz gekennzeichnet. Sie eignen sich -vielfach im Selbststudium -im Bereich der Hard-und Software ein Spezialwissen an, das ihnen gleichermaßen in den ausdifferenzierten Szenen der Computersozialwelt wie im Kreis der gestandenen, akademisch ausgebildeten Informatiker Geltung, Anerkennung und teilweise auch Bewunderung verschafft. Zwar sind die Übergänge zwischen den Szenen fließend, aber im Kern bestimmt sich jede Gruppierung durch eine exklusive Art des Umgangs mit dem Rechner, wobei szeneninterne Differenzierungsprozesse permanent neue Unter-gruppierungen entstehen lassen.
Der Computer ist für die Freaks -und dies ist ein weiteres zentrales Element ihres Nutzungsprofils -
immer auch ein evokatorisches Instrument, d. h.
eine besondere Herausforderung, der sie sich bisweilen enthusiastisch stellen. Er ermöglicht ihnen nämlich, etwas Neues zu schaffen, etwas zu entdecken und weiterzuentwickeln. Selbstgeschaffene oder selbstgesuchte Probleme werden zum Ansporn, Phantasie-und Leistungsreserven zu mobilisieren, sich in „neue Dimensionen“ vorzuwagen. Der Computer ist für die Freaks also nicht nur Werkzeug, sondern auch eine Art Zeitmaschine, die Exkursionen in fremde Welten erlaubt. Um so überraschender und befremdender ist das in Diskussionen und Publikationen immer wiederkehrende Unbehagen: Die Arbeit am Rechner nehme die Möglichkeit zur ursprünglichen Erfahrung. So finden wir etwa bei Joseph Wandl die Feststellung: „Ist die Schule schon ohnehin eine Stätte, in der , Welt‘ aus zweiter oder dritter Hand vermittelt wird, so besteht nun zukünftig die Gefahr, daß Computerbilder oder Computersimulationen in zunehmendem Maße für die Realität gehalten werden könnten.“
Unabhängig vom empirischen Gehalt solcher Feststellungen ist es ein soziologischer Allgemeinplatz, daß in modernen Gesellschaften die Menschen nur zu einem kleinen Teil der Realität Primärkontakte haben. Ob diese anderen -also medialen oder virtuellen -Wirklichkeiten eine Form „reduzierter Wirklichkeit“ oder gar einen „Realitätsverlust“ darstellen, wie immer wieder behauptet wird, ist aus soziologischer Sicht höchst zweifelhaft. Denn aus der Verschiebung von ursprünglicher zu vermittelter Erfahrung ein Verhältnis von Über-und Unterordnung, von wertvoll und zweitrangig, von gut und bedrohlich zu konstruieren, entspricht einer normativen Setzung und keiner anthropologischen Konstante. Wir haben uns beide Formen des Welterfahrens vielmehr als auf der gleichen Ebene liegend und einander ergänzend vorzustellen. Über alle Subszenen und Spezialisierungen hinweg ist für die Computerfreaks charakteristisch, daß die Tätigkeiten am Computer für sie immer auch expressiv codiert sind, d. h. über eine rein instrumentelle Verwendung hinausweisen. Zum einen sind sie eng mit Gefühlen, Ritualen, einem bestimmten Selbstverständnis und verstärkt einer eigenen Sprache verknüpft, zum anderen dienen sie der Selbstdarstellung, Kompetenzdemonstration und Szenenabgrenzung. Während der Computer im Beruf und vielfach auch im Alltag ein bloßes Arbeitsgerät, also Mittel zum Zweck, ist, wird er für die Freaks zum Selbstzweck. Seine Multi-funktionalität erlaubt Formen der Eigenaktivität und des Schöpferischen, die die Schaffung und Erkundung anderer Räume und Wirklichkeiten nachhaltig stimulieren. Zudem wird Computer-Kommunikation für sie keineswegs zum Substitut für personale und soziale Kommunikationsprozesse, vielmehr provoziert und potenziert das Dialogpotential des Computers die Bildung von neuen, szeneneigenen Interaktions-und Gesellungsformen
Ein weiteres Beispiel für die Entstehung neuer Spezialkulturen im Umfeld des Computers und seiner vernetzten Nutzung sind die sogenannten „Cyberpunks“, die in gewisser Weise die Kultur der „Hacker" aus den achtziger Jahren fortführen. Auch wenn der Begriff „Cyberpunk“ mittlerweile inflationär und unspezifisch in den Medien gebraucht wird, so steht dahinter dennoch eine Szene, die sich um die digitale Welt des Cyberspace gebildet hat. Eine schillernde Mixtur aus Technikbegeisterung, Science-Fiction-Vorlieben (vor allem an den Romanen von William Gibson) und Elementen der sogenannten „Underground cultures", wie z. B.des Punk, bilden den Orientierungsrahmen ihres Umgangs mit Computernetzen. Sehr anschaulich ist diese Art der Stil-Mischung oder Stil-Bricolage -gemeint ist eine alle Stilelemente umfassende Bastelmentalität, deren ästhetisches Signum, analog zur Cut-up-Technik in der Literatur oder der Collage in der Kunst, die Um-und Neugestaltung vorhandener kultureller Artefakte ist -in dem Kultmagazin „Mondo 2000“ dokumentiert.
Die japanischen „Computer-otaku“ bilden eine vergleichbare Szene. Volker Grassmuck beschreibt die „Otaku-Freaks“ folgendermaßen: „Otakus verabscheuen physischen Kontakt und lieben Medien, Technik und das Reich der Reproduktion und Simulation im allgemeinen. Sie reden nicht miteinander, sie , kommunizieren 4. Sie sind begeisterte Sammler und Verarbeiter von nutzlosen Artefakten und Informationen. Sie sind eine Untergrund-kultur, aber keine Gegner des Systems. Sie verändern, manipulieren und untergraben das System der Fertigprodukte, und zugleich sind sie die Apotheose der Konsumkultur. ... Sie sind die Kinder der Medien.“
Der Technikgebrauch in solchen Szenen ist durch vielschichtige ästhetische und expressive Codierungen gekennzeichnet. Wichtig ist den Cyberpunks auch die Erschließung neuer Wahrnehmungs-und Erlebnisformen. Man will durch eine Synthetisierung von Elementen aus dem Spiel-, Pop-und Computerkunstbereich in neue kulturelle und außeralltägliche Räume vorstoßen. Die Cyber-Freaks verstehen sich als eine Art Avantgarde des Virtuellen und Wegbereiter des globalen Dorfs, in dem intensive Kompetenz-, Erlebnis-und Gemeinschaftserfahrungen möglich werden. Rainer Winter kommt bei seiner Ethnographie der Cyberpunk-Szene zu ganz ähnlichen Beobachtungen: . „Mit gewöhnlichen Freaks teilen die Cyberpunks wohl die intensive Beschäftigung mit dem Computer, das Leben in den elektronischen Netzen, die als realer erlebt werden als die übrige Welt, und eine enthusiastische Auseinandersetzung mit der Technokultur. Das Wort Punk signalisiert aber auch eine oppositionelle Abgrenzung zu den dominanten Lebensstilen in der heutigen Zeit, die äußerlich erkennbar ist. So ist der Cyberpunk-Stil eine auffällige, wild aussehende Mode, die an die Schockästhetik der Punks anknüpft. , Industrieabfair wird recycelt, mit der schwarzen Kluft der Rocker verknüpft und mit neuen technologischen Gadgets aufgepeppt. Das Erscheinungsbild wird veredelt durch Bezüge zum Vampir-und apokalyptischen Katastrophenfilm, die auch durch die Schminke und die Frisur ausgedrückt werden. ... Die globale, uneingeschränkte Kommunikation in den gigantischen Computernetzen verdichtet sich für viele Cyberpunks zu einer mythischen Vision des Einswerdens mit einer Gemeinschaft Gleichgesinnter.“ 5. Die Techno-Szene Zu den schillerndsten Jugendkulturen der Gegenwart zählt fraglos die Techno-Szene. Sie ist jedoch mittlerweile in so viele Stilrichtungen und Unter-gruppierungen aufgespalten, daß selbst Insider von einem schwer durchschaubaren „Sammelsurium von Szenen, Stilen und Moden“ sprechen. Nach dem Vorbild der ursprünglichen Entstehungsorte der Musik, den Clubs von Chicago, Detroit und New York, in denen Disc-Jockeys (DJs) das Plattenauflegen zu einer neuen Kunstform machten, setzte sich diese Musikrichtung Anfang der neunziger Jahre auch in Deutschland durch. Getragen von einer Dauerpräsenz in Rundfunk und Fernsehen -und hier insbesondere in den Musikkanälen „Viva“ und „MTV“ unterstützt von szeneneigenen Kommunikationsmitteln wie den „Flyern“ (kunstvoll gestalteten Handzetteln) und „Fanmagazinen“ (z. B. Frontpage, Groove, Dizko 2000 etc.) und einer historisch einmaligen Vermarktung einer Jugendszene, wird Techno in kurzer Zeit zur mainstream-Jugendkultur, deren Anhängerschaft mittlerweile auf ca. zwei Millionen geschätzt wird Waren Plattenfirmen wie „Low Spirit“ oder „Eye Q“ und Clubs wie „Omen“ (Frankfurt am Main) oder „Tresor“ (Berlin) vor einem halben Jahrzehnt nur wenigen bekannt, so besitzen sie heute Kultstatus und werden von Kultfiguren, den DJs (wie etwa Sven Väth, Dr. Motte, Westbam), beherrscht, die eine ganze Jugendgeneration in Ekstase versetzen können.
Entscheidend für die Verbreitung und öffentliche Aufmerksamkeit der Techno-Szene waren und sind aber auch ihre Veranstaltungsformen, denn schon früh haben die Trendsetter erkannt, daß der klassische Diskotheken-und Partyrahmen dem Zuspruch, den diese Musik bei den Jugendlichen findet, nicht gerecht wird. Als vollkommerzialisierte Alternativen wurden Großveranstaltungen, die sogenannten „Events“ oder „Raves“ mit einer Dauer von zwölf Stunden bis zu mehreren Tagen, organisiert. Die „Maydays“ in der Dortmunder Westfalenhalle oder die „Loveparades“ auf dem Berliner Kurfürstendamm sind mittlerweile ebenso selbstverständliche Szenentreffpunkte wie die über das ganze Bundesgebiet verteilten Großraumdiscos. Welche extremen Gefühlslagen an diesen „Locations“ durch eine szenenspezifische Kombination von Musik, Raumdesign und Tanz entstehen können, kommt in nachfolgender Schilderung von Jörg Hunold und Baschar Al-Frangi sehr plastisch zum Ausdruck. „Am 7. und 8. Dezember 1996 fand in der Frankfurter Disco , Dorian Gray‘ anläßlich des Geburtstags von DJ Marc Spoon eine zweitägige Techno-Party statt, die wir im Rahmen unseres Forschungsseminars besucht haben. Der folgende Erlebnis-bericht soll unsere subjektiven Erfahrungen und Eindrücke dokumentieren, die wir auf dieser Veranstaltung, an der zwischen 6 000 und 7 000 in-und ausländische Raver teilnahmen, gesammelt haben. . . . Das , Gray‘ war aus gegebenem Anlaß von dem Kölner Künstler Siegbert Heil dekoriert worden. Durch einen langen, eigenwillig beleuchteten Stoff-tunnel gelangte man direkt ins Zentrum des Geschehens, das sich -sieht man einmal von dem Chill-Outund VIP-Bereich ab -auf drei Tanzhallen konzentrierte. Die drei verschiedenen , Zappelräume'(Szenenjargon) markierten jeweils eine andere musikalische Zone. So wurden in der Halle 1 vornehmlich Stilrichtungen wie Djungle, Breakbeat, Ragga-Muffin und Dub gespielt. In der Halle 2 dominierte dagegen ein ruhigerer Beat, basierend auf dem klassischen House-Sound, der mit Soulund Funkelementen abgemixt wurde. Richtig schnelle, laute und heftige Töne schlugen einem aus Halle 3 entgegen; hier wurde Gabber und Hardcore aufgelegt und bei mindestens 180 bpm (beats per minute) am meisten getanzt und geschwitzt. . . . Sobald man diese Halle betrat, schlug einem ein ohrenbetäubender Lärm entgegen, der die Luft aus den Lungen zu pressen schien und den gesamten Körper augenblicklich in vibrierende Bewegungen versetzte. Der gesamte Raum -von der Theke bis zur Tanzfläche -wurde von einer euphorischen, ekstatischen Menschenmasse bevölkert, die sich der Musik willenlos hingab und dem DJ völlig ausgeliefert war. Man spürte deutlich, daß die DJs nicht nur einfach zum Plattenauflegen gekommen waren, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Musik zelebrierten und sich vom Publikum bisweilen frenetisch feiern ließen. Jeder DJ wurde mit begeistertem Applaus der Menge empfangen und verabschiedet; jeder Übergang, jeder Rhythmus-und Beatwechsel von den Schwitzenden und Tobenden mit einem Trillerpfeifen-Konzert begleitet. .. . Die klassische Trennung von Thekenbereich, von wo man sich das bunte Treiben auf der Tanzfläche anschauen kann, und der Tanzfläche war gänzlich aufgehoben: Es wurde überall getanzt, auf der Theke, auf Boxen, in Nischen und Gängen. Dabei war die Intensität des Tanzes ganz von der Geschwindigkeit der gespielten Musik abhängig. Bei den langsamen und melodischen Klängen, die zum Teil an Walgesänge erinnerten und meist Übergänge zu anderen Stil-richtungen markierten, schienen die Leute beinahe stillzustehen. Sie bewegten bei oftmals geschlossenen Augen den Kopfleicht hin und her, ihre Körper paßten sich mit wiegenden Bewegungen den langsamen Rhythmen an. Wie in Trance erwarteten sie die nächsten heftigen Beats, die der DJ mit einem scheinbar ewig dauernden Trommelwirbel ankündigte. Als der langersehnte, donnernde Baß dann endlich einsetzte, gab es für die Tanzenden kein Halten mehr: Die in der Pause geschöpfte Kraft entlud sich in einem lauten Schrei, der manchmal sogar die Musik übertönte. Mit dem ersten Hammerschlag des Basses , erwachten'die Tänzer aus ihrem Trance-Zustand und setzten die Musik in explosive Bewegungen um. Der Tanz selbst war kein Gemeinschaftstanz, kein gemeinsames Auf und Ab; jeder tanzte für sich, kreierte seinen eigenen Stil. Und trotzdem merkte man, daß sich die Tänzer gegenseitig beobachteten und die Bewegungen der anderen in ihren eigenen Tanzstil miteinbezogen. . .. Auffällig war auch, daß viele Tänzer und Tänzerinnen ihre teilweise nur wenig bedeckten Körper bewußt zur Schau stellten. Männer und Frauen genossen es, ihre Körper zu zeigen, zu beobachten und beobachtet zu werden. Glänzender Schweiß auf nackter Haut, die rhythmischen Bewegungen, die den ganzen Körper erfaßten, gaben dem Tanz neben der ekstatischen auch eine nicht zu übersehende erotische Note. ... Es bildeten sich auch Paare und Gruppen, die offensichtlich miteinander tanzten. Innerhalb dieser Paare wechselten die Partner aber ständig, die Gruppen lösten sich auf und formierten sich an anderer Stelle neu. Unabhängig vom Geschlecht konnte man sich dazugesellen oder wieder allein tanzen. Ob man die Leute kannte oder nicht, ob man als Hetero mit Schwulen tanzte oder umgekehrt, es galt das Prinzip: Alles, was Spaß macht und jeder nach seiner Fasson. “
Für die Techno-Fans ist aber nicht nur das sinnlich-ekstatische Körper-und Gemeinschaftserlebnis charakteristisch, sondern auch eine besondere Form von Ästhetik und Stilisierung. Zwar entwikkelt jede Jugendkultur auf ihre Weise eine eigene Theatralik und ein eigenes System symbolischer Handlungsformen, die in einer Art Dialektik von Zuordnung und Abgrenzung gruppenspezifische Innen-/Außenverhältnisse konstituieren, aber die Techno-Szene hat das wichtigste Prinzip jugend-kultureller Stilbildung, die Bricolage, radikalisiert. Der Bogen stilistischer Selbst-und Szenengestaltung umfaßt dabei Musik, Tanz und Outfit ebenso wie Kommunikationsmedien und -muster.
Es zeigt sich in diesem Zusammenhang, daß die Technostil-Produzenten ihren „semiotischen Guerillakrieg“ (Eco) auf zwei Ebenen führen: durch die Aneignung von szenentypischem Spezialwissen und durch die Verarbeitung von Allgemeinwissen. Ersteres ist z. B. in Plattenkritiken, Partyberichten und Internetdiskussionen der Fall, wo Techno-Fans musikspezifische Wortspiele, Zitate aüs Platten, parodierte Bandnamen u. ä., die nur für Eingeweihte verständlich sind, strategisch einsetzen, um bestimmte Einstellungen und ästhetische Präferenzen kundzutun. Letzteres trifft vor allem für die Falschlogos zu. Dabei handelt es sich um verfremdete Abwandlungen kommerzieller Markennamen, deren sprachlich-visuelle Formen mit neuen Inhalten gefüllt werden -aus „Dash“ wird „Hash“, aus „Aral“ wird „Anal“ die dann als Sticker oder T-Shirt-Aufdrucke neue Botschaften vermitteln
Aber nicht nur Werbung und Warenwelt werden zum Fundus für die Amalgamierung techno-spezifischer Stilelemente, auch Philosophie (z. B. Gilles Deleuze), Kunst (z. B. Dadaismus, Pop-Art), Literatur (z. B. Arno Schmitt) und Musik (z. B. Karl-heinz Stockhausen) werden zu einer Art von textuellem und kulturellem Steinbruch, aus dem sich die Stilschöpfer der Techno-Szene in anarchistischer Manier bedienen, um eine originelle und unverwechselbare szenische Emblematik und Stil-sprache zu kreieren. Nichts ist den Techno-Fans bei ihrer Stilisierung und Inszenierung heilig, am allerwenigsten das (kulturell) Heilige. Die alles samplende und umgestaltende Rave-Generation ist, so Ralf Vollbrecht, „die erste postmoderne Jugendkultur, .. . die nichts weniger sucht, als verbindliche Inhalte“ Daß das spielerische Stil-und Sinnbasteln und die ekstatischen Tanzerfahrungen dabei aber mit einem wachsenden Drogenkonsum einhergehen, wird oft übersehen. Szenentypische Sprachspiele und Redewendungen wie „Optik schieben“ oder „Film fahren“ für den Gebrauch von Ecstasy, Amphetaminen oder Speed dienen eher zur Verschleierung und Verharmlosung der Drogenproblematik als zur Aufhellung und realistischen Einschätzung
IV. Jugendliche Medienkulturen als Erlebnis-und Inszenierungsfelder
Die locker gefügte Anordnung von medial generierten und verdichteten jugendlichen Cliquen, Clubs und Szenen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit Sichtbar sollte allerdings geworden sein, daß der in der Jugend-und Freizeitsoziologie besonders herausgestellte und hinlänglich ausgewiesene Trend zur Separierung und Segregation von altershomogenen Gruppen als immer bedeutungsvoller werdende informelle Sozialisationsinstanzen in den untersuchten Medienspezialkulturen eine Fortsetzung und stilgebundene Steigerung findet. Sie repräsentieren einerseits „Identitätsmärkte“, wo Jugendliche frei vom Routine-und Anforderungscharakter ihrer sonstigen Rollenverpflichtungen Selbstdarstellungsstrategien erproben und einüben, sich gleichsam im Gruppen-Spiel und Gruppen-Spiegel ihrer personalen wie sozialen Identität vergewissern können. Andererseits sind sie aber auch „Kompetenzmärkte“, auf denen eine spezifische Sozialisierung und Formierung des Mediengebrauchs stattfindet. Vor allem die medien-und szenenerfahrenen Jugendlichen zeigen eine erstaunliche Produktivität und Kreativität im Umgang mit den Medien und ihren Inhalten. Ihre Partizipation am kollektiv geteilten Wissensspektrum und Bedeutungskosmos vertieft und festigt dabei eine genrespezifische Medienkompetenz und einen Spezialisierungsgrad, der weit über das mediale Alltagswissen hinausreicht. In den medialen Gebrauchsstilen der untersuchten Musik-, Film-, Computer-und Netzfreaks manifestiert sich aber nicht nur eine besondere Medien-kompetenz und Dekodierpraxis -mit Pierre Bourdieu könnte man hier auch von einer jugendeigenen Form von inkorporiertem kulturellen Kapital sprechen -, sondern sie stiften auch affektive Allianzen und szenentypische Erlebnisformen. Ihre Feten, Happenings und Sessions markieren (unter zivilisationstheoretischer Perspektive) eine Grenzüberschreitung der Alltags-ordnung und ein gesteigertes Bedürfnis nach Reizen und Stimulationen. Die von ihnen präferierten Medien übernehmen dabei die Funktion von Impulsgebern und Transformatoren. Sie konstituieren eine Sondersituation, in welcher die zivilisatorisch bedingte Disziplinierung der Affekte aufgebrochen und -wenigstens temporär -überwunden werden kann. Jan-Uwe Rogge deutet die Vehemenz, mit der Jugendliche das medienkulturelle Erlebnisangebot in Anspruch nehmen, als Ausdruck einer Grundstörung des Zivilisationsprozesses. Uns scheint es angemessener, angesichts der Pluralisierung und Diversifizierung jugendlicher Medien-und Affektkulturen eher von einer Partialisierung des Zivilisationsprozesses zu sprechen. Die Medienfreaks und ihre alltagstranszendierenden Praktiken sind Beispiele dafür, daß unter (post-) modernen Lebensbedingungen und Daseinsverhältnissen die affektuelle und erlebnis-mäßige Integration sich immer weniger gesamtgesellschaftlich als vielmehr in Spezialkulturen und abgegrenzten Raumzonen vollzieht. Was heute zählt, ist situationsangepaßtes Emotionsmanagement. „Rahmung“ und „Modulation“ im Sinne Erving Goffmans bestimmen jeweils, was zulässig und/oder gefordert ist. An die Stelle genereller Affektkontrollen tritt das Erlernen von Situationsdefinitionen und Trennregeln. Hier liegt freilich ein Sprengsatz, denn der Erwerb entsprechender Kompetenzen ist ein voraussetzungsvoller Prozeß, weil nicht absolute Gebote verinnerlicht werden müssen, sondern diffizile Konditionalprogramme. Die von uns untersuchten Medienfans verfügen über dieses Skript-bzw. Handlungswissen -freilich nicht von Anfang an. Es ist vielmehr Resultat und Endstufe einer spezifischen Rezeptions-und Medienkarriere. Vor allem die Freaks, also die Gruppe von Jugendlichen, die am tiefsten in der jeweiligen Spezialkultur verwurzelt sind, entwikkeln eine erstaunliche Virtuosität bei der Funktionalisierung äußerer (medienbestimmter) Umstände für innere (affektuelle) Zustände. Sie sind letztlich prototypische Repräsentanten der für die Gegenwartsgesellschaft diagnostizierten zunehmenden Dominanz von Erlebnisrationalität
V. Medien als Generatoren von jugendkultureller Differenzierung und alltagsästhetischer Praxis
Versucht man unsere Untersuchungsergebnisse unter einer stärker kultur-und differenzierungssoziologischen Perspektive zu betrachten, dann ist festzuhalten, daß die Vielfalt der Nutzungs-und Codierungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen, zur Herausbildung von neuen Spezialkulturen führen -und dies keineswegs nur im Jugendbereich. Verbunden ist hiermit eine Steigerung selbstgewählten und selbstdefinierten Lebens. Personale Identität wird verstärkt auch über mediale Spezialisierungen und Gruppierungen befestigt. Jenseits von Stand, Klasse und Schicht etablieren sich neue medien-und szenengebundene Gruppen und Milieus.
Diese Ergebnisse stehen in deutlichem Widerspruch zu der in bestimmten Kreisen der Kultur-kritik immer noch verbreiteten Überzeugung, die Kommunikationsmedien seien die großen kulturellen Gleichmacher oder gar die Produzenten einer farblos-eindimensionalen Einheitskultur. Analog zu Ralf Dahrendorfs Vorstellung von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ aus den sechziger Jahren wird hier -allerdings auf globalem Niveau -eine „nivellierte Weltkultur“ behauptet. Damit sollen die Entwicklungen und Folgen transkultureller Medien-Kommunikation gefaßt werden, die zu international vereinheitlichten Interaktionsmustern, Werten, Normen und Bedürfnissen beitragen. Siegfried Schmidt spricht in diesem Zusammenhang von Entdifferenzierungsphänomenen, die in -meist negativ konnotierten -Schlagworten wie Vermassung, Amerikanisierung oder auch Kommerzialisierung zum Ausdruck kommen. Mit Entdifferenzierung ist also gemeint, daß Massenmedien -und hier insbesondere das Fernsehen -zu weltweiten Standardisierungen führen. Barbara Sichtermann hat dies jüngst in ihrer Fernseh-Kritik in der „Zeit“ auf den Punkt gebracht: „Gegen die Amerikanisierung der deutschen -und nicht nur der deutschen -TV-Unterhaltung ist kein Kraut gewachsen.“ Die mit der weltweiten Vermarktung von Medien-produkten einhergehenden Angleichungsprozesse repräsentieren jedoch nur einen Wirkungsaspekt. Denn gleichzeitig -und das belegen unsere Forschungsergebnisse nachdrücklich -sind auch unübersehbare Differenzierungsprozesse in Gang gesetzt worden. So ermöglichen die verschiedenen Medien und Programmgattungen nicht nur neue Wahlmöglichkeiten, sondern eröffnen auch größere Handlungsspielräume und tragen damit zu einer Pluralisierung von Sinn-und Sozialwelten bei. Getragen von den Medien und ihren Angebotsformen differenzieren sich also sowohl neue Sinn-und Handlungsmuster als auch spezialisierte Gemeinschaften mit eigenen Stil-und Kommunikationsformen aus.
Diese Pluralisierung kann in zwei Bereichen verdeutlicht werden. Zum einen werden kulturelle Praxisformen dehierarchisiert, das heißt, die ehemals festgefügten Unterscheidungen einer hierarchisch strukturierten Hochkultur, die nur hohe und niedere Kultur, Wesentliches und Oberflächliches, guten und schlechten Geschmack kennt, werden ersetzt durch miteinander konkurrierende Spezialkulturen, die je nach Stilensemble spezifische Mediennutzungsformen, alltagsästhetische Schemata und Deutungsmuster entwickeln. Zum anderen mindert der horizontale Differenzierungsprozeß, der sich in immer neuen und zunehmend spezialisierteren Wahlnachbarschaften dokumentiert, auch die begriffliche Reichweite der Subkulturkonzepte, soweit sie noch von einem hierarchischen Verhältnis zwischen Kultur und Teilkultur ausgehen. Mit dem Begriff der Spezialkultur versuchen wir, diesen Transformationen Rechnung zu tragen. Gerade für die jugendlichen Medienkulturen trifft dies in besonderem Maße zu. Sie sind keine sub-oder gegenkulturellen Entwürfe, sondern sie verbinden die überkommene, hegemoniale Kultur mit verschiedensten Teilkulturen. Aber die Medien verdrängen nicht die anderen Wirklichkeiten, sondern pluralisieren sie.
VI. Jugendszenen als Orte selbst-bestimmten und kreativen Medienhandelns
An den kulturellen Orientierungen und ästhetischen Praktiken der von uns untersuchten Medien-freaks läßt sich zeigen, wie sehr die Dynamik des Marktes und seine fortschreitende Differenzierung immer neue Szenen mit je eigenen expressiven Mustern entstehen läßt. Die unterschiedlichen Medien und ihre differenzierten Aneignungsmodi können damit als integraler Bestandteil eines Prozesses interpretiert werden, dessen zeitdiagnostische Schlüsselbegriffe -Individualisierung, Traditionserosion, Pluralisierung von Lebensstilen -einen grundlegenden Wandel der Moderne signalisieren. Angesprochen ist die sukzessive Loslösung (und Auflösung) von kollektiv-bindenden Normen und Bezügen. Kategorien wie Herkunft, Geschlechtsrollen, Familie, Nachbarschaft, Religion verlieren in der Gegenwartsgesellschaft an Präge-kraft. Das bedeutet, ursprünglich gesellschaftlich vorgezeichnete Lebenspläne werden individuell verfügbar, geraten zunehmend in die Hoheit des einzelnen.
Wie kein anderer hat Hans Magnus Enzensberger den Zugewinn an Selbstbestimmung und Stil-exklusivität plastisch beschrieben, und zwar als eine die Gegenwart prägende Form der „Exotik des Alltags“, in der auch unsere Forschungen angesiedelt sind. Ob jugendliche Video-Cliquen oder die Fangruppen der „Lindenstraße“, ob Techno-Fans oder die sich in immer weitere Unter-gruppierungen aufspaltenden Computer-und Netzszenen, was hier sichtbar wird, sind kleine Lebenswelten, in deren szenischem Rahmen die In-Sider einerseits als eigenständige Gestalter alltäglicher Bezüge und Ordnungen in Erscheinung treten, andererseits aber auch eine sichtbare und expressiv-ausdrückliche Abgrenzungs-und Absetzbewegung auf soziokultureller Ebene vornehmen. Ihre jugendlichen Protagonisten annoncieren Stilgemeinschaften, die sich nahtlos in die buntplurale Welt zeitgenössischer Jugendformationen einfügen. Für diese gilt: „Die vornehmlich freizeit-bezogenen Szenen und Jugendkulturen verstärken eine Tendenz, daß Jugendliche nicht mehr für konventionelle Entwicklungs-und Persönlichkeitsvorstellungen verfügbar sind, denn sie wählen ... in sensibler Reaktion auf gesamtkulturelle Zustände und Angebote ihre eigenen Werte der Motivverwirklichung.“
Wie gehen nun die Jugendlichen mit der Entgrenzung der Optionen um? Festzustellen ist, daß unter Bedingungen wachsender Wahlmöglichkeiten das Leben nicht einfacher, auch nicht einfach glücklicher wird, denn expandierenden An-die
Sprüche sind schnell zu enttäuschen, und es können Desorientierungen und Stabilitätsverluste entstehen. „Angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten und kaum noch kalkulierbaren gesellschaftlichen Entwicklungen mehren sich die Zweifel, ob die getroffene Wahl nicht eine Festlegung darstellt, die das Eigentliche und Bessere gerade verpassen läßt. Besonders krisenhaft wird auch der Gegensatz zwischen kulturellen Freisetzungen einerseits und den Normierungen im Berufsbereich andererseits erfahren. Am deutlichsten zeigt sich dieses Spannungsverhältnis bei den Berufs-wünschen und den hohen Ansprüchen an die Berufsarbeit. Hier erfahren die Jugendlichen oft recht schnell (und auch nachdrücklich), wie eng die Grenzen des Machbaren gesteckt sein können; Enttäuschung und Verbitterung sind dann nicht selten die Folge.“ Welche Auswirkungen die Erfahrungen einer restriktiven; widersprüchlichen und segmentierten Alltagswelt auf den Personbildungsprozeß und die individuelle Identitätsarbeit haben, zählt derzeit wohl zu den brisantesten Fragen im Jugenddiskurs. Formulierungen wie „Patchwork-Identitäten“ „Collagen-Selbst“ „individuelles Sinn-Basteln" und „reflexives Selbst“ deuten die Richtung einer Neukonzeptualisierung des Identitätsbegriffs an, in der kreative Strategien der Selbstorganisation für möglich gehalten werden.
Vielleicht kann der Habitus der Medienfreaks gleichsam prototypisch dafür angesehen werden, daß Jugendliche im Malstrom der Moderne keineswegs untergehen müssen, nicht zwangsläufig zu Überwältigten von übermächtigen, medienbestimmten Daseinsverhältnissen werden, in denen „an die Stelle der Weltbilder ... die Bilderwelten getreten (sind)“ Vielmehr wird die Szene zum sozialen und medialen Ankerplatz, wo Kompetenzen in eigener Regie erworben werden. Man arrangiert sich mit den Herausforderungen der Medien-und Informationsgesellschaft, aber nicht passiv und erleidend, sondern produktiv und gestaltend. Ihre kognitive und kulturelle Mobilität macht sie zu einer Art von Nomaden in der „Multioptionsgesellschaft“ die sich auf realen wie fiktionalen Pfaden gleichermaßen heimisch fühlen. Vielleicht sind ihre Wanderungen bisweilen auch Gratwanderungen, aber als anomische Bedrohung werden sie nicht erlebt, sondern viel eher als selbstverständliche „neo-tribale Lebensform“ Letztlich ist gerade die Wahrnehmung und das Spiel mit der Differenz zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, Realität und Medialität resp. Virtualität gleichsam konstitutiv für ihre Medienkompetenz und ihre Erlebnisformen. Keineswegs verlieren sie den Kontakt zur Alltagsrealität, auch permutieren sie nicht im Sinne des Graffiti: „Life is xerox, we are just a copy.“ Vielmehr sind sie kompetente Pendler zwischen sozialen und medialen Welten, und dies nicht selten mit einer Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit, die an Woody Allens Film „The Purple Rose of Cairo“ erinnert, wo er seinen Helden aus der Leinwand treten und seine Heldin ins Imaginäre des cineastischen Spiels eintauchen läßt.
Künftige Jugend-und Medienforschung sollte ein besonderes Augenmerk auf die empirische Beobachtung und theoretische Konzeptualisierung dieser Prozesse jugendeigener Selbst-und Mediengestaltung richten. Allerdings darf sie sich angesichts des dynamischen Kommunikations-und Stilmarktes und seiner produktiven Inbesitznahme durch die Jugendlichen nicht in typologischen oder szenischen Momentaufnahmen erschöpfen. Denn selbst arrivierte Jugendforscher verlieren auf dem heutigen Jugendmarkt nur allzu leicht die Orientierung und stellen dann resigniert fest, daß die „unzähligen Varianten von Cliquen . . . und Jugendkulturen ... sich dem erklärenden und deutenden Zugriff entziehen“ Jugendkulturelle Feldrecherchen, so notwendig sie auch sind, müssen durch Rückgriff auf geeignete theoretische Konzepte Tiefenstrukturen offenlegen, die jenseits der Optionalitäten und Ambivalenzen der individualisierten Gesellschaft Mustererkennungen ermöglichen. Ansonsten läuft die Jugendforschung Gefahr, in die undankbare und unfruchtbare Rolle jenes „gehetzten Autisten“ zu geraten, den uns Ludwig Bechstein im Märchen vom „Hasen und Igel“ so meisterhaft vor Augen stellt.