I. Einleitung
Vor wenigen Jahren hat der Philosoph Hermann Lübbe für eine Mediennutzungsethik plädiert. Diese müsse nach seiner Auffassung insbesondere von einer individuell gelebten Moral getragen werden. Inzwischen, so Lübbe, liegt „es beim Medien-konsumenten, aus Nutzen und Nachteil der Präsenz der Medien in unserem Alltag in Orientierung an zweckmäßigen, selbstbestimmten Regeln des Umgangs mit ihnen das Beste zu machen“ Solche und ähnlich lautende Aufforderungen haben einen ganz bestimmten Adressatenkreis. Sie richten sich sowohl an Verantwortungsträger im Bereich von Familie und Schule als auch unmittelbar an die handelnden Personen, etwa an Kinder und Jugendliche. Dabei ist eine Präferenz für alarmierende Rhetorik nicht untypisch. Moralisieren indes allein beseitigt noch nicht die Risiken, vor denen man warnt und über die man spricht. Obwohl man die Risiken häufig nicht präzise benennen kann, sondern eine diffuse Angst artikuliert, gewinnen ethische Postulate schnell die Oberhand. Niklas Luhmann führt dieses allgemein zu beobachtende Phänomen darauf zurück, daß aus der Not des Nichtwissens über die zu erwartenden Folgen häufig eine Tugend gemacht werde: „Mit Moral immunisiert man sich gegen die Evidenz des Nichtwissens, weil die moralisch bessere Meinung sich mit ihren eigenen Argumenten bestätigen kann.“ Diese Feststellung dürfte auch auf Diskussionen über den richtigen Umgang mit Medienangeboten übertragbar sein. Sie impliziert gleichwohl nicht, daß eine solche Verfahrensweise falsch oder unangebracht ist. Im Rahmen eines Mediengesprächs über die Kommunikationsgesellschaft der Zukunft äußerte sich Bundespräsident Roman Herzog beispielsweise wie folgt: „Man darf den Leuten nicht vorschreiben, was sie zu wollen haben. Aber das entbindet die Akteure nicht von der Pflicht, kennt-lieh zu machen, was vielleicht wünschbarer, vernünftiger, richtiger wäre.“ Diese einleitenden Ausführungen beschreiben demnach auch eine Diskussion, die das Angebot der Medien und unterschiedliche Formen der Inanspruchnahme zum Problem machen. Gegen den übermäßigen Konsum wird das Argument der selbstauferlegten Beschränkung und Kontrolle ins Feld geführt, aber auch der Hinweis auf die Souveränität des Rezipienten, der'keiner Anleitung zur Mündigkeit bedürfe. Auffallend ist, welche Kompetenzen dabei insbesondere den sehr jungen Mediennutzern mittlerweile zugeschrieben werden. Der vorliegende Beitrag möchte hierüber nicht spekulieren, sondern einige Befunde zusammentragen, die sich mit der Kompetenz und Souveränität von jungen Mediennutzern auseinandersetzen. Dabei sind verschiedene Forschungstraditionen zu kommentieren und in ein Gefüge zu bringen. Nach einer kurzen Diskussion der Begriffe Kindheit und Jugend werden einige Ergebnisse der entwicklungspsychologisch orientierten Medienforschung dargestellt. Allgemeinere Theorien, die sich mit einer Konvergenz verschiedener Sozialisationsphasen beschäftigen, werden im Anschluß daran kurz referiert. Unter dem Stichwort „Mediatisierung“ werden schließlich Entwicklungen beschrieben, die ein frühes Eindringen von Medieninhalten in die Kindheit und Jugend problematisieren.
II. Zur Definition von Kindheit und Jugend
Die Abgrenzung der Lebensphasen Kindheit und Jugend wird häufig damit begründet, daß sich in diesen Lebensabschnitten qualitative Unterschiede im Bereich der individuell zu bewältigenden Aufgaben ergeben. Die Kindheit kann im allgemeinen als jene Lebensphase betrachtet werden, in der elementare kognitive, d. h. Wahrnehmungsund soziale Fähigkeiten erlernt und ausgeformt werden, die dann in späteren Lebensphasen als Basiswissen wirksam bleiben, aber auf völlig andere Lebensaufgaben angewendet werden müssen. Entsprechend einer an physiologischen Kriterien orientierten Definition zum Übergang von der Kindheit ins Jugendalter umfassen die ersten zwölf Jahre bis zum Eintritt der Pubertät die Kindheitsphase. Hierbei müssen wichtige Entwicklungsetappen (Klein-und Vorschulkind, Kinder in der ersten Schulphase usw.) unterschieden werden. Der Beginn der Pubertät läßt sich nicht präzise bestimmen, die pubertäre Phase wird aber z. B. in einer Klassifikation von Schäfers auf die Alters-jahrgänge der 13-bis 18jährigen konzentriert. Und hier wird auch von den Jugendlichen im engeren Sinne gesprochen Mit dem Übergang in die Jugendphase gehen wichtige psychologische und soziale Veränderungen einher, insbesondere der Ablösungsprozeß von primären Bezugspersonen und die Entwicklung einer eigenen Identität Die an den Jugendlichen gestellten Erwartungen und Anforderungen erweitern sich und damit auch die Handlungsspielräume und Entfaltungsmöglichkeiten, die sowohl als Chance als auch als Belastung empfunden werden können. Gerade für die Jugendphase sind zum Teil sehr diffuse normative Vorstellungen über deren Ausgestaltung typisch.
Trotz der hier skizzierten Abgrenzungsversuche verschiedener Lebensphasen sind gegenläufige Tendenzen erkennbar, die den Jugendlichen, aber auch den Kindern, Erwachsenenkompetenzen zuschreiben. Den Status des Erwerbstätigen erreichen sie -je nach Ausbildungsgang -relativ spät, am Konsum partizipieren dürfen oder sollen sie schon sehr früh. Während über die rechtliche Bedeutung von Altersstufen relativ klare Vorstellungen bestehen scheinen in anderen Bereichen, insbesondere der altersadäquaten Mediennutzung, immer niedrigere Grenzen angesetzt zu werden.
III. Entwicklungspsychologie und Medienkompetenz
Die einleitend skizzierte Problematik des Moralisierens findet ihre Entsprechung in einer Vorliebe für Schwarz-Weiß-Dramaturgien, wenn es um den Einfluß der Medien auf das Denken und Handeln der Menschen geht. Häufig wird hier pauschal von Medien auf der einen Seite und Rezipienten auf der anderen Seite ausgegangen. Zugleich wird die (vermeintliche) Zerstrittenheit der Forschung als ein Beleg für die Vertretbarkeit der eigenen Position herangezogen. Unverkennbar ist in diesem Zusammenhang eine Konzentration auf das Medium Fernsehen, das häufig mit einer vernachlässigten Lesekultur kontrastiert wird. In bezug auf diese beiden Medien -Fernsehen und Buch -findet man zahlreiche, von der entwicklungspsychologischen Forschung geleitete Medienanalysen, die in der hier zu behandelnden Frage nicht vernachlässigt werden sollten.
Mit dem Begriff „Laufbildmedium“ hat Hertha Sturm einen Sachverhalt beschrieben, der das Spezifische der Rezeption von Fernsehsendungen gegenüber der Nutzung anderer Medien beschreiben soll. Der Zuschauer tut danach alles: Er sieht, hört und liest und muß demnach in relativ kurzer Zeit eine Vielzahl von Signalen entschlüsseln (mehrfache Decodierungsleistung). Hertha Sturm hat eine sehr mediennahe Theorie entwickelt, die sich von noch darzustellenden, vorwiegend amerikanischen Theorien unterscheidet. Das Stichwort „Mediendramaturgie“ lenkt die Aufmerksamkeit zunächst auf formale und damit gestalterische Aspekte einer Fernsehsendung. Wichtig ist für Sturm und ihre gesamten Forschungsarbeiten aber immer die Wechselwirkung von formalen Gestaltungsmitteln und dadurch ausgelösten, insofern darbietungsabhängigen, inneren Aktivitäten gewesen. Die Basisannahme ihrer Theorie lautet, „daß menschliche Entwicklungen abhängig sind von Art und Zahl der das Individuum treffenden Außen-reize und den durch sie veranlaßten personalen Anpassungs-und Abwehrleistungen, also den personalen Verarbeitungsstrategien“
Je nach Medium gestalten sich diese inneren Aktivitäten unterschiedlich. Während der Hörer einer Radiosendung darauf mit der Entwicklung „innerer Bilder“ antworte, sei für den Fernsehkonsumenten typisch, daß er vorzugsweise „mit sendungsbegleitenden . inneren Verbalisierungen“ agiere und reagiere. Langjährige Erfahrungen als Leiterin des Schulfunks beim Südwestfunk (1945-1963) und parallel sich verstärkende Forschungen im universitären Bereich haben bei Hertha Sturm eine Theorie entstehen lassen, die unter dem Begriff „rezipientenorientierter Ansatz“ bekannt geworden ist. Mit dieser Theorie soll eine Zusammenführung von Wirkungs-und Nutzungsaspekten auf Seiten des Rezipienten geleistet werden. Sie verkürzt demnach den Blick nicht auf Fragen des Mediums oder auf Fragen der Bedürfnisse des Rezipienten, sondern führt beide Teile zusammen. Der rezipientenorientierte Ansatz „läßt sich demnach beschreiben als der Versuch, Medienwirkungen als Veränderungen von personalen und sozialen Befindlichkeiten zu verstehen, wie umgekehrt personale und soziale Befindlichkeiten im Hinblick auf Medienwirkungen als Steuerungsgrößen zu begreifen sind.“
Unter Bezugnahme auf die Theorie der formalen Intelligenzentwicklung von Jean Piaget hat Hertha Sturm zahlreiche Analysen zu der Frage durchgeführt, welche Medienpräsentationen für welche Rezipientengruppen in besonderer Weise geeignet sind. Für die Theorie von Piaget sind zwei Begriffe zentral: Assimilation und Akkommodation. Assimilation beschreibt die Integration von Umwelt-reizen in ein vorhandenes kognitives Gerüst, Akkommodation die Notwendigkeit, sich auf neue Umweltanforderungen anpassend einzustellen. Diese Wechselwirkung in einem annähernden Gleichgewichtszustand zu erhalten ist das Ziel. Dauernde Überforderungen führen zur Zunahme ausweichender Reaktionen. Übertragen auf die Mediendramaturgie kann es demnach zu drei Konstellationen kommen: Überforderung des Rezipienten, Unterforderung des Rezipienten, entwicklungspsychologisch angemessene Ansprache des Rezipienten. Piagets Theorie sowie seine Weiterentwicklung, z. B. durch Ann Colby und Lawrence Kohlberg, kann hier nicht im Detail beschrieben werden Es geht um den Nachweis, daß die Erforschung der Mediennutzung von Kindern auch von Annahmen ausgegangen ist und ausgeht, wonach kognitive Fähigkeiten mit Verarbeitungsmöglichkeiten von Außenreizen verknüpft werden. Insgesamt unterscheidet Piaget fünf Stufen der formalen Intelligenzentwicklung:
Stufe 1: die Phase der senso-motorischen Intelligenz (bis zirka 18 Monate);
Stufe 2: die Phase des symbolisch-vorbegrifflichen Denkens (bis zirka zum Alter von vier Jahren);
Stufe 3: die Phase des anschaulichen Denkens (viertes bis siebentes Lebensjahr);
Stufe 4: die Phase der konkreten Operationen (siebentes bis elftes Lebensjahr);
Stufe 5: die Phase der formalen Operationen (ab dem elften Lebensjahr).
Für die Phase des anschaulichen Denkens (zirka vier bis sieben Jahre) ist nach Piaget charakteristisch, daß die Vorstellungen, die man sich von bestimmten Handlungsabläufen bzw. Geschehnissen macht, nach dem Wenn-Dann-Muster verlaufen. Das Denken ist unidirektional und wird durch ein Übermaß an Lösungsmöglichkeiten überfordert. Für Fernsehdarbietungen folgert Hertha Sturm hieraus beispielsweise, daß Wort-Bild-Beziehungen in einer Sendung übereinstimmen sollten, viele Schnitte, Kamerafahrten und Überblendungen dagegen die Aufmerksamkeit und das Verstehen erschweren bzw. unmöglich machen.
Auch für die Phase der konkreten Operationen gelte, daß der nunmehr sich entwickelnden Fähigkeit zum Nachvollzug verschiedener Bezüge und Standpunkte zu einer bestimmten Frage insbesondere in zeitlicher Hinsicht (Geschwindigkeit) Beachtung geschenkt werden sollte. Ein zu hohes Tempo der Sendung fördert oberflächliche Wahrnehmung und läßt den Rezipienten in einer Scheingewißheit über den Nachvollzug des Gesehenen zurück. Erst in der Phase der formal-abstrakten Operationen sei eine Stufe der Intelligenzentwicklung erreicht, die sich von einem konkreten Ereignis oder Gegenstand lösen könne.
In vielen, von Hertha Sturm empfohlenen Ableitungen für eine zuschauerfreundliche Mediendramaturgie wird auf die Bedeutung der dramaturgischen Pause verwiesen, sei es, daß für unter vierjährige Kinder das Verwenden von Standbildern empfohlen wird, sei es, daß für die Wenn-Dann-Phase Pausensetzungen gewünscht werden. Bekanntgeworden ist insbesondere der Begriff „fehlende Halbsekunde“. Auch hiermit verbindet sich eine Kritik an der Dominanz kurzzeitiger Angebotsmuster im Fernsehen. Lange Verweildauern bei einer Szene sind untypisch, der kurzfristige Wechsel ist Programm. Ein Bilder-Kaleidoskop aus massenmedialen Kurzfristigkeiten unterscheide die Fernsehwahrnehmung von der nicht-medienvermittelten Wahrnehmung, denn: „Ohne Medienvermittlung hat der Wahrnehmende fast in allen Situationen ein paar Halbsekunden Zeit zwischen der Erwartung eines Ereignisses und dessen Eintreffen.“ Zugleich wirkt sich diese Geschwindigkeit auf die Art und das Ausmaß der inneren Aktivitäten aus. Sabine Jörg spricht auch von einer inneren Leere, die ein leicht verfügbares Medium mit problemlos erreichbaren Reizen hinterlasse. Wer nicht lerne, Zeit sinnvoll zu gestalten, gerate in einen Teufelskreis. Das leicht Erreichbare siegt über die Kosten, die eigenes Tun erfordert. Dies ist auch ein Aspekt, der das Engagement von Erwachsenen betrifft. Die Dauerpräsenz des Fernsehens erhöht die Voraussetzungen für Verzichtbereitschaft
Diese Forschungstradition, die hier nur sehr knapp skizziert werden konnte, illustriert die Verknüpfung individueller Fähigkeiten mit Formen der Medienrezeption. Die Vielzahl der von Hertha Sturm und ihren Mitarbeitern erarbeiteten Wirkfaktoren ist sicherlich ein Grund dafür, daß ein systematischer Vergleich von Kindersendungen unter Berücksichtigung des „Wie der Präsentation“ bislang nicht vorliegt. Die Fernsehnutzung der unter 14jährigen läßt aber die Schlußfolgerung zu, daß schon aufgrund der Sehzeit (im Tagesablauf) eine Vielzahl von Sendungen rezipiert wird, die den gerade angedeuteten dramaturgischen Empfehlungen nicht folgen. Sabine Feierabend und Thomas Windgasse präsentieren Ergebnisse der kontinuierlichen Fernsehforschung, woraus hervorgeht, daß Kinder im Alter von drei bis dreizehn Jahren zwischen 93 und 101 Minuten täglich fernsehen. Für die Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren lauten die Durchschnittswerte für die betrachtete Zeitspanne (1992-1996) 66 bis 81 Minuten, für die Sechs-bis Neunjährigen schwanken die Angaben zwischen 99 Minuten für das Jahr 1993 und 96 Minuten für das Jahr 1996. Insbesondere aber in der Zeit zwischen 18 und 21 Uhr werden die meisten Kinder vor den Fernsehbild-schirmen registriert: „ 12 Prozent der Drei-bis Fünfjährigen -dies entspricht 300 000 Kindern -saßen während dieser Zeit an einem durchschnittlichen Wochentag vor dem Bildschirm, 16 Prozent bzw. 560 000 der Sechs-bis Neunjährigen und gar 22 Prozent der Zehn-bis 13jährigen, dies waren 690 000 Kinder.“
Der rezipientenorientierte Ansatz beschäftigt sich vorwiegend mit den Wechselwirkungen zwischen Medienangebot und Rezipientenreaktionen, nicht dagegen mit der Frage, welche Faktoren ein unterschiedliches Ausmaß der Mediennutzung begünstigen. Auch sagen die gerade kommentierten Durchschnittswerte noch nichts über Wenig-und Vielseher aus. Gegenüber einer vorwiegenden Verwendung von Mediennutzungsstatistiken wenden Michael Charlton und Klaus Neumann-Braun z. B. ein, daß darin das soziokulturelle Umfeld der Mediennutzung nicht widergespiegelt werde und damit auch individuelle Medien-Biographien in
Durchschnittswerten zu einem künstlichen Indikator zusammengefaßt werden Damit verbindet sich auch eine Kritik an der Dominanz standardisierter Erhebungstechniken im Rahmen der empirischen Medienforschung. Charlton und Neu-mann-Braun plädieren für ein Struktur-und Prozeßmodell der Medienrezeption, das mehrere Ebenen miteinander zu kombinieren versucht: -den Rezeptionsprozeß und die Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Medienangebot; -den Gesamtrahmen, in den die Mediennutzung eingebettet ist. Die Autoren sprechen von einem situativen und kulturellen Kontext. -die Analyse der Rezeptionsmotivation unter Berücksichtigung biographischer und lebens-weltlicher Aspekte
Hinsichtlich des situativen Kontextes wird für die Phase des Vor-und Grundschulalters auf die hohe Bedeutung des familiären Umfeldes hingewiesen. Schon sehr früh werden Medienerfahrungen durch Kinder in die Kindheitsphase hineingetragen, sei es durch das Nachspielen von Medienhelden oder durch die Spiegelung von Medienereignissen in gemalten Bildern. Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben kann den Kindern nicht allein überlassen werden. Hier ist die Schutzschildfunktion der Familie und vorschulischer Institutionen gefragt, womit nicht der Ausschluß von Medien und damit eine übermäßige Kontrolle gemeint ist.
Eine Mitte der achtziger Jahre durchgeführte Analyse zu den Auswirkungen eines erweiterten Medienangebots (insbesondere im Bereich des Fernsehens) auf das Familienleben und das Verhalten der einzelnen Mitglieder zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit und Lese-bzw. Fernsehhäufigkeit. Je höher die soziale Schicht war, der die Familie angehörte, desto niedriger war die Fernsehdauer und desto höher die Lesedauer. Diese Zusammenhänge zeigten sich allerdings in stärkerem Maße im Falle der Eltern, weniger bei den Kindern. Bettina Hurrelmann u. a. warnen daher vor einer leichtfertigen Zustimmung zu der sogenannten Verdrängungsthese, wonach Familien, in denen viel ferngesehen wird, zugleich auch jene seien, die wenig lesen. Dieser Kausalzusammenhang sei zu „simpel“ Dennoch: In der ebenfalls Ende der achtziger Jahre durchgeführten Studie „Kommunikationsverhalten und Medien“ wird festgestellt: „Buchleser nutzen in der Regel den gesamten Medien-verbund, während sich Wenig-oder Nichtleser zum Teil auf einige wenige Medien beschränken. Hier wird ein erster Ansatz für eine Polarisierung in der Bevölkerung erkennbar: Auf der einen Seite stehen jene, die das mediale Angebot in seiner Vielfalt zu nutzen wissen, und auf der anderen Seite jene, die sich bei der Auswahl beschränken und generell unterhaltenden und zerstreuenden Medienangeboten einen höheren Stellenwert einräumen.“ Entsprechend gilt auch, daß vielsehende Kinder häufiger vielsehende Eltern haben. Wo das elterliche Vorbild fehlt, wird der Weg zum Lesen zunächst weniger vorgezeichnet. Eine eher einseitige und damit vor allem auch auf das Medium Fernsehen konzentrierte Mediensozialisation werde vor allem in Familien gefördert, die nach Auffassung der Autoren in einem kulturellen und kommunikativen Vakuum leben. Anregungen für die Art und Weise des späteren Mediennutzungsverhaltens werden in dieser Situation und in diesem Umfeld kaum gegeben Kinder, die in diesen Familien aufwachsen, lesen nach den Ergebnissen der Studie wesentlich seltener als Kinder aus Haushalten, in denen eine Leseförderung bzw. ein ausgewogenes Medienverhältnis zu erreichen versucht wird Überhaupt zeichnet sich eine Verschiebung des allgemeinen Stellenwerts des Lesens aufgrund der nunmehr vorhandenen Medienkonkurrenz ab. Unter Hinweis auf die Problematik von historischen Generalisierungen kommt Bettina Hurrelmann zu dem Ergebnis: „Im Unterschied zum Fernsehen stiften Bücher in den (heutigen) Familien kaum Gemeinsamkeiten, sie organisieren kaum für die Familie wichtige soziale Situationen. Das ist ein unübersehbarer Unterschied zu den Lesesituationen, die uns als Erbauung und Belehrung, Sinnorientierung und Unterhaltung in Familienkontexten aus früheren Jahrhunderten bezeugt sind. Einige dieser Funktionen und Situationsbezüge scheint das Fernsehen inzwischen übernommen zu haben, das Lesen ist dagegen eine situationsabstrakte Tätigkeit geworden.“
Unbestritten dürfte aber nach wie vor sein, daß mit der Person des Lesers ein Ideal verknüpft wird, das die guten Eigenschaften eines mündigen Bürgers verkörpert. Leseförderung ist somit vor allem auch Gesellschafts-und Kulturpolitik. Im Medienbericht 1994 der Bundesregierung wird dem Lesen ein hoher Stellenwert beigemessen. Man bewertet „das Lesen als wesentlich zur Herausbildung von intellektuellen, kognitiven und emotionalen Fähigkeiten besonders bei Kindern und Jugendlichen“. Die Gesellschafts-und Kultur-politik der Bundesregierung .. ist daher bestrebt, dem Buch auch in Zukunft einen festen Stellenwert in der Mediennutzung des einzelnen zu bewahren. Ziel aller medienpädagogischen Initiativen ist die Stärkung der kritischen Urteils-fähigkeit und die Heranführung eines jeden einzelnen an einen kompetenten und verantwortlichen Umgang mit den Medien.“ Insbesondere Ergebnisse zur Lese-und Schreibfähigkeit von Haupt-schülern werden als aufschreckendes Ergebnis interpretiert Nach Untersuchungen von Rainer H. Lehmann u. a. hat ein Vergleich des Leseverständnisses der dritten und achten Jahrgangsstufe gezeigt, daß „insbesondere in der Hauptschule kaum ein Zugewinn gegenüber dem allgemeinen Durchschnitt gegen Ende der Grundschulzeit festzustellen“ ist.
Auch hier wird man offensichtlich mit dem Problem des Fehlens innerer Aktivitäten konfrontiert. Bei aller Vorsicht gegenüber voreiligen Schlußfolgerungen weisen diese und andere Befunde auf sich in bestimmten Altersjahrgängen und Schulsystemen kumulierende Effekte hin, die ein reduziertes Sprach-und Ausdrucksvermögen zur Folge haben bzw. haben können. Eine zu frühe und ausschließliche Konfrontation mit audiovisuellen Medienangeboten hat daran ihren Anteil. So beobachten Grundschullehrer bei Kindern, die in ihrer Freizeit häufig Computerspiele nutzen, eine Zunahme von „Ein-Wort-Sätzen“
Man muß solche Befunde und Beobachtungen ernst nehmen und darf sie nicht bagatellisieren. Der Generaleinwand mangelnder Differenzierung ist häufig auch nur auf den ersten Blick überzeugend. Man erinnert sich an die sehr populär gewordene Anti-Fernseh-Literatur, die in den siebziger Jahren auf sich aufmerksam machte. Marie Winn hatte mit ihrem Buch „Die Droge im Wohnzimmer“ auch auf das Phänomen der unterschiedlichen Spezialisierung der linken und rechten Gehirnhälfte hingewiesen und in diesem Zusammenhang die Vermutung ausgesprochen, „daß die Spezialisierung des kindlichen Gehirns beginnt, sobald sich dessen Sprachvermögen entwickelt, und daß danach in seiner kognitiven Entwicklung das verbale Denken eine immer wichtigere Rolle spielt.“ Und die Frage, die sie bereits damals stellte, lautete: „Wenn sich das Kind in den Jahren seiner stärksten Entwicklung (. . .) häufig einer lang andauernden nonverbalen, vorwiegend visuellen Beschäftigung widmet -wenn es de facto eine exzessive Stimulierung derjenigen geistigen Funktionen erfährt, die in der rechten Gehirnhälfte lokalisiert sind könnte sich dies nicht in erkennbarer Weise auf seine neurophysiologische Entwicklung auswirken?“ Heute spricht man von sensiblen Phasen und Entwicklungsfenstern, in denen sich kognitive Fähigkeiten vor allem entfalten.
IV. Konvergenz von Lebensphasen?
Häufig sind es von außen kommende Impulse, die eine Gesellschaft beunruhigen. Viele der Warnungen bezüglich der Wirkungen des Fernsehens kamen -wie gerade angedeutet -aus den Vereinigten Staaten. Die größte Aufmerksamkeit ist dabei Neil Postman zuteil geworden. Daß er unter der Überschrift „Konvergenz“ behandelt wird, hat mit seiner Behauptung zu tun, „daß sich das Verhalten, die Sprache, die Einstellungen und die Wünsche -und selbst die äußere Erscheinung -von Erwachsenen und Kindern immer weniger voneinander unterscheiden“ Die keineswegs unstrittige Aufnahme dieser Theorie äußerte sich beispielsweise in dem Urteil eines Rezensenten, der in Postmans Buch „ein emotional aufgeladenes Pamphlet“ sah. Die Grundaussage von Postman läßt sich -wiederum in stark verkürzter Form -wie folgt formulieren:
Das Verhalten der Menschen ändert sich, wenn sich die Zugangsmöglichkeiten zu Informationen verändern. Postman knüpft die Existenz von Kindheit an die Existenz von Geheimnissen. Und deshalb wundert es wohl auch manchen, daß Postman die Kindheit mit der Erfindung der Druckerpresse entstehen sieht. Das Mittelalter hatte keine Vorstellung von Kindheit, weil es kaum Differenzen zu den Erwachsenen gab. Wissen basierte weitgehend auf Mündlichkeit, die Kindheit endete mit sieben Jahren. Und warum? Postman antwortet:
„Weil die Kinder in diesem Alter die Sprache beherrschen.“ Die fehlende bzw. mangelnde Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen bedarf noch einer genaueren Erläuterung. Die Dominanz des Mündlichen in der Weitergabe von Informationen hat nach Postman den Effekt gehabt, daß Kinder und Erwachsene weitgehend in der gleichen sozialen Sphäre lebten und Kinder damit „im Mittelalter Zugang zu fast allen kulturell gebräuchlichen Verhaltensformen“ hatten. Das Zeitalter der Buchdruckkultur schuf dagegen die Möglichkeit, Wissen zu konservieren und es über Lesen zu erwerben. Es förderte die Entstehung von Wissen, von Wissenschaften und damit auch eine wachsende Notwendigkeit, dieses Wissen zu systematisieren. Dieser Erwerb erforderte Zeit und schuf eine Barriere zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt. Nicht alles war von vornherein verstehbar und verständlich. Eine Informationshierarchie existierte, die mündliche Kulturen sicherlich auch besaßen, aber aufgrund des Ausbreitungsradius dieser Informationen in ihrer differenzierenden Wirkung begrenzt blieben. „In einer literalen Welt müssen Kinder erst zu Erwachsenen werden; in einer nicht-literalen Welt dagegen ist es unnötig, zwischen Kindern und Erwachsenen genau zu unterscheiden, denn es gibt nur wenige Geheimnisse, und die Kultur braucht ihre Angehörigen nicht erst darin zu unterweisen, wie sie selbst zu begreifen ist.“
Mit dem Aufkommen der elektronischen Medien beginnt die Hochphase der Kindheit ihrem Ende entgegenzugehen. Vor allen Dingen das Fernsehen sei ein Medium, das die nun mühsam aufgebaute Hierarchie von Informationen wieder beseitige. Postman geht in seiner Beurteilung dieses Mediums noch wesentlich weiter und sieht in ihm „eineziemlich primitive, freilich unwiderstehliche Alternative zur linearen, sequentiellen Logik des gedruckten Wortes und tendiert dazu, die Härten einer an der Schrift orientierten Erziehung irrelevant zu machen“ Insofern hält er auch wenig von Versuchen eines kindgerechten Fernsehens. Die Theorie von Postman zeigt aber auch, daß er selbst keinen Anlaß zur Differenzierung sieht. Seine Kritik konzentriert sich auf das Medium und die davon ausgehende Botschaft, nicht auf spezifische Sendungen. Drei Gründe sind es, die nach seiner Auffassung die Trennungslinie zwischen Kindheit und Erwachsenenalter verwischen 1. Das Fernsehen bedarf keiner Unterweisung, um seine Form zu begreifen. Hier dominiert -
wie im vorschriftlichen Zeitalter -wieder das Visuelle.
2. Das Fernsehen stellt keine komplexen Anforderungen an das Denken und Handeln der Menschen.
3. Das Fernsehen gliedert sein Publikum nicht.
Die Medien-Theoretiker betonen demnach die Bedeutung der Form. Auch hier taucht die Frage nach den Folgen des „Wie“ der Präsentation wieder auf. Während die Entwicklungspsychologie behauptet, daß es in bestimmten Altersstufen ganz bestimmte Realitätswahrnehmungen gibt, wird hier vermutet, daß eine Nivellierung stattfinde, weil bestimmte kognitive Fähigkeiten unterentwikkelt bleiben. Für Joshua Meyrowitz sind es aber vor allem auch Veränderungen sozialer Konventionen, die dazu führen, Kinder immer mehr als kleine Erwachsene zu behandeln. Und auch er analysiert, inwieweit dies in einem Zusammenhang mit Veränderungen von Kommunikationsmedien gesehen werden kann.
Postman und Meyrowitz verfolgen einen weitgehend ähnlichen Argumentationsstrang: „Wenn eine Gesellschaft das, was die Menschen verschiedener Altersgruppen wissen sollen, nicht klar abgrenzt, gibt es weniger Sozialisationsstadien.“ Während gedruckte Medien verschiedene Leserschaften haben, vereint das Fernsehen und hebt infolgedessen diese Differenzen auf. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Kind ein Buch liest, das es nicht versteht, ist geringer als die Wahrscheinlichkeit, daß es eine Sendung sieht, die nicht für Kinder gedacht ist. Sie mögen diese Sendungen vielleicht nicht so verstehen wie die Erwachsenen, aber sie empfinden diese Informationen faszinierender und zugänglicher als jene eines kompliziert geschriebenen Buches, das eine wirkliche Informationshierarchie aufbaut. Zugleich wird damit aber auch eine Tür zur Erwachsenenwelt geöffnet, die den Kindern Anlaß zu neuen Fragen und Antworten gibt. Die Informationsgrenze, die durch die Familie und den Wohnort gesetzt wird, öffnet sich durch elektronische Medien, und die Vorstellungen darüber, wie andere über bestimmte Themen denken, erweitern sich. „Der neue, durch die Medien vermittelte verallgemeinerte Andere umgeht die persönlichen sozialen und FamilienBeziehungen und wird als neue Perspektive von Millionen anderer Menschen geteilt.“ Damit wird es auch immer schwieriger, bestimmte Informationen von Kindern fernzuhalten. Die „BuchKultur“ ermöglichte noch eine „Konspiration der Erwachsenen“ Dagegen sei das Fernsehen ein Medium, das Informationswelten homogenisiere: „Es mag Kinderbücher und Erwachsenenbücher geben, doch es gibt kein Kinderfernsehen und Erwachsenenfernsehen. Es gibt einfach nur . Fernsehen.“ Die Allgegenwärtigkeit der Kommunikation hat demnach zur Folge, daß vormals exklusive Wissensbereiche aufgebrochen werden.
Gleichwohl laden solche Theorien zur Kritik ein. Sie fördern eine Indifferenz bezüglich der Inhalte und eine Überschätzung formaler Aspekte. Sie können desillusionierend auf Programm-Macher wirken, denen gutes und altersgerechtes Fernsehen ein ernstes Anliegen ist. Und überdies wird dem Zuschauer, insbesondere dem jüngeren, unterstellt, daß er mehr am Entdecken und Entlarven von Geheimnissen und weniger an Sendungen interessiert ist, die ihn ansprechen wollen. Daß es in diesem Bereich viele Formen der Ansprache gibt und Kinder wie Jugendliche als wichtige Kauf-kräfte entdeckt werden, lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Phänomen, das in Begriffen wie „Kinderkultur“ und „Medienkultur“ eine merkwürdige Überhöhung erfährt.
V. Mediatisierung von Kindheit und Jugend
Der Begriff „Mediatisierung“ gehört zu jenen Sprachschöpfungen, die im Zuge der Ausweitung der Medienangebote einen inflationären Gebrauch erfahren haben. Hier soll darunter mehreres verstanden werden: 1. eine Zunahme der medienvermittelten Erfahrung;
2. eine Zunahme des Stellenwerts elektronischer Medien für die Freizeitgestaltung von Kindern und Jugendlichen;
3. eine wachsende Verschmelzung von Medien-wirklichkeit und sozialer Wirklichkeit;
4. eine zunehmende Durchdringung des Alltags durch Medien-und Werbesymbolik.
Für viele Programm-Macher, so Helga Theunert u. a., sind Kinder „zwar kleine, aber vollkommene Wesen, die genau wissen, was sie wollen und mit Bedacht das aus der Fülle der Programme auswählen, was für sie gut ist“ Unter dem Oberthema „Lebensagentur Werbung“ fragte darüber hinaus z. B. die Zeitschrift „medien + erziehung“, ob es nicht ein Problem sei, daß jene, die für Werbung verantwortlich sind und damit gut verdienen, nunmehr auch die moralischen Maßstäbe in dieser Welt setzen. Der Begriff „Werbedruck“ soll in diesem Gesamtkontext die zunehmende Präsenz von Werbung für Kinder und Jugendliche verdeutlichen. Eine Vertreterin einer amerikanischen Werbeagentur wird mit dem Satz zitiert: „Du mußt die Kids den ganzen Tag lang erreichen. Du mußt zu einem festen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens werden.“ Die immer subtiler werdenden Methoden der Werbeansprache werden in Marketing-Mix-Konzeptionen gebündelt. Es geht um eine frühe Bindung der jungen Konsumenten, die in dieser Rolle gerne angesprochen und von den Werbe-treibenden auch als kompetent eingestuft werden. Diese Produktkompetenz wird mittlerweile in sogenannten „Kids Verbraucher Analysen“ dokumentiert, um den Nachweis führen zu können, daß, so Volker Nickel vom Zentralverband'der Werbe-wirtschaft, die „Welt der Waren [. . . ] schon in jungen Jahren differenziert erlebt und selbstsicher beurteilt [wird]. Bestimmte Marken sind bereits bei den Sechs-oder Siebenjährigen positiv und vor allem auch negativ verankert.“
Warum es dieser frühen Kompetenz bedarf, wird nicht gefragt. Sie ist -so wird argumentiert -ein wichtiger Bestandteil von Kaufentscheidungen, nicht nur der Kinder, sondern auch der Eltern. Hier will die Werbung Unterstützungsarbeit leisten. Club-Mitgliedschaften nehmen zu und schikken sich an, die Bedeutung von Statussymbolen zu erlangen. Über Schutzmaßnahmen diskutiert man mittlerweile auf europäischer Ebene, um dieser ökonomischen Durchdringung der Kindheit entgegenzuwirken
Die Dominanz des Fernsehens in diesem „Marketing-Mix“ läßt sich an den Antworten auf die Frage ablesen, woher man Werbung kennt 94, 6 Prozent der befragten Kinder im Alter von sechs bis dreizehn Jahren nannten das Fernsehen, mit deutlichem Abstand folgten der Hörfunk mit 28, 4 Prozent und Plakate mit 12, 9 Prozent. Das Fernsehen nannten 86, 6 Prozent der Sechsjährigen und 99, 1 Prozent der Zwölf-bis Dreizehnjährigen. Die Prozentpunktdifferenzen waren bei den zehn Jahre alten und älteren Befragten nur noch gering. Übereinstimmend wird in der Forschung auch die Auffassung vertreten, daß ein Teil der unter Sechsjährigen (37 Prozent der Vierjährigen, 21 Prozent der Fünfjährigen und 12 Prozent der Sechsjährigen) den Unterschied zwischen Werbung und Programm nicht kennen und erst mit zunehmendem Alter die Intentionen der Werbung erkannt werden. Zugleich nimmt auch die negative Einstellung gegenüber Werbung zu
Dennoch sind gerade in bezug auf Jugendliche Auffassungen vorzufinden, die von einem bereitwilligen Einlassen auf die Intentionen der Werbung sprechen. Darauf soll im folgenden abschließend eingegangen werden.
VI. Jugend und Medien
Daß es die Jugend nicht gibt, bedarf keiner ausführlichen Begründung. Man darf aber fragen, für wen jene sprechen, die ein Verstehen der Jugendphase ausschließen und dies auch mit deutlichen Worten artikulieren. 1993 war im Kursbuch zum Thema „Deutsche Jugend“ zu lesen: „Versucht nicht, uns zu verstehen. Ihr könnt uns untersuchen, befragen, interviewen, Statistiken über uns aufstellen, sie auswerten, sie interpretieren, verwerfen, Theorien entwickeln und diskutieren, Vermutungen anstellen, Schlüsse ziehen, Sachverhalte klären, Ergebnisse verkünden, sogar daran glauben. Unseretwegen. Aber Ihr werdet uns nicht verstehen. Wir sind anders als Ihr.“ Noch deutlicher ist das Urteil dieses Autors hinsichtlich der Beeinflussungsmöglichkeiten durch Werbung: „Wir kommen mit dieser falschen Welt besser zurecht als Eure Psychologen-generation, die die Welt der Werbung als das Reich des Bösen enttarnt hat und die endlos über Konzepte diskutiert, pädagogisch darauf einzugehen. Wir dagegen schalten einfach um oder gerade deswegen ein. Die Werbung ist Teil unserer Sozialisiation. Wir sind sie gewöhnt und weitgehend immun gegen sie.“ Diese Immunität betont die Eigenverantwortlichkeit und Souveränität im Umgang mit externen Ansprüchen und reklamiert für die Jugendphase den Wunsch nach Entfaltungsmöglichkeiten, über deren Ausgestaltung man selbst befindet. Obwohl sich darin ein sehr individueller Anspruch niederschlägt, wird dieser zugleich für alle eingefordert. Die Gruppen, die sich in der Jugendphase bilden, „sind nicht unbedingt gegen die Erwachsenenwelt gerichtet, aber sie sind eindeutig auf eine symbolische Betonung des eigenen Altersstatus hin orientiert“ Daß diese Symbole häufig aus dem Unterhaltungs-und Konsumbereich stammen, ist nicht neu. Neu ist aber die Beurteilung dieses Bereichs, sofern die zitierten Aussagen mehrheitsfähig sind. Folgt man der Auffassung von Klaus Janke und Stefan Niehues, dann sind die Szenen die Gesellschaftsordnung der neunziger Jahre. Und Szenen entstehen nach Meinung dieser Autoren überall dort, „wo Menschen freiwillig gemeinsame Interessen, Wertvorstellungen und Freizeitaktivitäten entwickeln oder ganz einfach die gleichen Konsumartikel schön finden“ Diese Szenen treten in Konkurrenz zu der meist ortsgebundenen Bezugsgruppe bzw. Gruppe der Gleichaltrigen und entfalten eine neue Form des temporären Zusammenschlusses von Gleichgesinnten. Von „tribalism" spricht der französische Soziologe Michel Maffesoli und meint damit auch eine neue Form der Mobilität, die durch die Ortsungebundenheit der gruppenverbindenden Symbolik ermöglicht wird. „Jugendkultur“, so Janke und Niehues, „verliert ihre lokale Angebundenheit. Die ganze Republik wird zur potentiellen Tummelwiese.“ Über die Kontinuität der Zugehörigkeit zu solchen Szenen weiß man wenig, behauptet aber, daß diesen in einer unübersichtlicher werdenden Welt eine wichtige identitätsstiftende Funktion zukomme. Vermutlich liegt in diesem Versuch, hohe Mobilität mit einem Bedürfnis nach Gemeinschaft zu verknüpfen, eine schwer lösbare Aufgabe.
Die Medien und ihre Angebote übernehmen in diesem Zusammenhang die Funktion der Vernetzung von Präferenzen und präsentieren Muster der Lebensgestaltung, die auf Imitation hoffen. Ein ganzer Medienverbund, sorgt für eine umfassende Präsenz der entsprechenden Ästhetik -ein Begriff, der zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Beschreibung dieser Jugendkulturen geworden ist. In der Verschmelzung von Angebot und Nachfrage wird indes das eigentlich Neue gesehen. Nach Luhmann ist folgendes zu beobachten: „Die Bedenken gegen Mitwirkung an Werbung = Mitwirkung am Kapitalismus entfallen. Die Adressaten der Werbung erlauben ein Zusammenwirken. Die Kultobjekte müssen, für kurze Zeit und deshalb desto wirksamer, inszeniert werden. Man bezeichnet sich selbst als Szene", als , Techno-Szene usw. mit einer offenen Seite für das, was nachher kommen wird.“ Offenheit impliziert ein notwendiges Maß an Standardisierung, das mit oberflächlichen Differenzierungen einhergeht. Die beschriebenen Szenen haben ihre eigene Hierarchie, die sich in dem mehr oder weniger kompetenten Umgang mit der szenetypischen Symbolik und Ausdrucksformen niederschlägt. Die Funktion der Massenmedien besteht vor allem in der Verbreitung und Mitvermarktung der Äußerlichkeiten dieser Szene. Und nicht jeder, der eine bestimmte Party besucht, wird sich schon als Mitglied der Szene empfinden.
Die Jugendphase mit Jugendkulturen zu identifizieren, ist selbst schon ein Symptom dieser Verschmelzung. Die häufige Betonung der Stilisierung des Lebens als Wesensmerkmal heutiger Jugend kann auch als Sieg für jene interpretiert werden, die von diesem vermeintlichen Wesenszug gut leben. Gegen diese mediatisierte Welt kommen eher nüchterne Beschreibungen der Mediennutzungsgewohnheiten Jugendlicher nicht an, weil sich dort ein Wettlauf um die bunteste Beschreibung noch nicht so sehr entfaltet hat. Aber auch dort, wo man sich auf eine Ermittlung der Präferenzen Jugendlicher konzentriert, werden thematische Vorlieben erkennbar. Eine im Jahr 1995 durchgeführte Telefonbefragung von 1 200 Jugendlichen im Alter von 14 bis 29 Jahren ergab z. B., daß die 14-bis 19jährigen in einer Informationssendung Beiträge zu Musik (90, 2 Prozent), Drogen/Gewalt/Jugendkriminalität (78, 5 Prozent), Schule/Beruf/Karriere (76, 6 Prozent) und Trends/Szene (68, 7 Prozent) stark bzw. eher vertreten sehen wollen, die Parteienpolitik landete mit 24, 5 Prozent auf der letzten Stelle 14-bis 19jährige werden auch von den Nachrichtensendungen und Nachrichtenmagazinen des Fernsehens kaum erreicht. Analysen der Daten der kontinuierlichen Femsehforschung belegen, daß nur 12, 8 Prozent dieser Altersgruppe in der Regel an einem Tag Nachrichtensendungen gesehen haben, für 20-bis 29jährige betrug der entsprechende Wert 18, 9 Prozent. Zum Vergleich: 50-bis 64jährige erreichen einen Anteilswert von 53,4Prozent, 65 Jahre und ältere Zuschauer sogar 64, 5 Prozent
Aber wer spricht hier für wen? Im Rahmen der Studie „Junge Zeitungsleser“ bemängelte ein Großteil der Jugendlichen, „daß meistens Probleme wie Drogensucht, Arbeitslosigkeit oder Gewalt an Schulen im Vordergrund stünden, wenn über ihre Altersgruppe berichtet würde“ Auch wenn diese Kritik seltener dem Fernsehen und dem Hörfunk vorgehalten wurde, bleibt ein Widerspruch zu den Befunden aus der Telefonbefragung, der Programmplaner und Redaktionen vor ein Rätsel stellen dürfte. Individuelle Interessen und soziale Erwünschtheit scheinen sich hier zu vermischen. Wovon sich Kinder und Jugendliche mehr leiten lassen, ist in einem von hoher Dynamik und institutionalisiertem Wechsel der Themen bestimmten Medienmarkt immer schwieriger zu beantworten. Schön, wer dann von sich behaupten kann, souverän zu sein.
VII. Fazit
Als zu Beginn der neunziger Jahre erneut eine Diskussion über den Anteil von Gewalt und Sexualität im deutschen Fernsehprogramm geführt wurde, verabschiedeten die privaten Fernsehsender im März 1993 eine „Konvention der Verantwortung“. Darin lautet ein wichtiger Satz, daß Kinder und Jugendliche verantwortungsbewußt an das Medium Fernsehen herangeführt werden müssen und daß Kinder-und Jugendprogramme einer besonderen Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Programm-inhalte bedürfen Das bedeute nicht den völligen Verzicht auf solche Programmelemente, sondern eine behutsame Heranführung der jungen Generation an die soziale Wirklichkeit. Im vorliegenden Beitrag war nicht von Gewalt die Rede, aber dennoch gilt dieser Satz für alle Sendungen, die sich als Zielgruppenprogramme für Kinder und Jugendliche verstehen.
Die Diskussion um den seit Anfang Januar 1997 sendenden Kinderkanal von ARD und ZDF hat gezeigt, daß die Vorstellungen über eine Lösung des Problems durch das Medium selbst sehr unterschiedlich eingeschätzt werden. Während Befürworter die gesellschaftliche Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, die Werbe-und Gewaltfreiheit und das Bemühen um altersgerechtes Fernsehen hervorheben, sehen Kritiker bzw. Gegner darin ein überflüssiges Konkurrenzprodukt zum Kinderprogramm von ARD und ZDF und eine Einladung zu noch mehr Fernsehen. Dieses Beispiel bestätigt einmal mehr, daß eine Konvention der Verantwortung nur wirkungsvoll sein kann, wenn sich Anbieter und Nachfrager daran halten. Der eingangs zitierte Hermann Lübbe meint: „Es wäre ein grober Irrtum anzunehmen, daß die Rechtsregeln, die den Medienbetrieb ordnen, uns als Medienkonsumenten von Zwängen der moralischen Selbstbestimmung entlasten könnten.“ Da diese Selbstbestimmung erst erlernt werden muß, sollte man sie nicht leichtfertig als vorhanden unterstellen. Wissen kann gerade hier evident sein.