Nach dem zu erwartenden Wahlsieg Tony Blairs scheint es, als ob Großbritannien seinen bisherigen Sonderweg in Europa auch in der inneren Verfassungspolitik verlassen wird. Gegenwärtig stellt das Vereinigte Königreich als Prototyp des „Westminster-Modells“ -zusammen mit seiner ehemaligen Kolonie Neuseeland -immer noch einen Sonderfall auf der internationalen Verfassungslandkarte dar Neuseeland hat allerdings in jüngster Zeit durch ein neues Wahlsystem, das dem der Bundesrepublik Deutschland ähnlich ist, sowie durch einige andere Reformen bereits seinen Abschied vom „Westminster-Modell“ genommen Wird nun auch das traditionsreiche Mutterland nach einem Machtwechsel, der 18 Jahre konservative Hegemonie beendet, viele seiner Besonderheiten aufgeben? Hier ist einige Skepsis angebracht, wenn man den aktuellen Wunsch nach Reformen, der zur Zeit Hochkonjunktur besitzt, mit einem Blick auf historische Parallelen interpretiert.
Ruf nach Reformen: neue Strophe eines alten Liedes
Noch in den fünfziger Jahren war das Loblied auf die vorbildliche britische Verfassung verbreitet. Sie wurde anderen Nationen zur Nachahmung empfohlen. Damals herrschte ein Klima von „congratulation and complacency, and condescension to less favoured lands" Seit den sechziger Jahren gewann dann eine selbstkritische Literatur unter dem Stichwort „What’s Wrong with Britain?“ mehr und mehr an Dramatik. Heute fragt ein soeben in neuer Auflage erschienenes Lehrbuch, ob das Land nicht von einem Modell vorbildlicher Politik zu einem Musterbeispiel dessen geworden sei, was man lieber vermeiden solle („pressures seem to be transforming Britain from a model of good politics to a model of what to avoid“)
Eine solche periodisch wiederkehrende Sack-und-Asche-Literatur ist allerdings nichts Neues. Ähnlich einem wiederkehrenden Kometen, der zur Beunruhigung der Beobachter vorbeizieht, wurden schon einmal vor nun über 80 Jahren (damals folgenlose) Forderungen nach ähnlichen Reformen, wie sie dann nach 1979 von Margaret Thatcher ziemlich radikal durchgeführt wurden, von der sogenannten „National Efficiency“ -Gruppe aufgestellt. Es handelte sich um eine Minderheit des britischen Establishment, die sehr kritisch über die Vorzüge, die das Land groß gemacht hatten, als Ursache seines Niedergangs dachten
Man hat in der allgemeinen Faszination, die zunächst das neue Phänomen des „Thatcherismus“ und dann die ganz unerwarteten Verheißungen von „New Labour“ ausgelöst haben, diese historischen Parallelen wenig beachtet. Auch Lady Thatcher hat diese in mehreren Punkten bestehende Verwandtschaft nicht gerade herausgekehrt -wäre dies doch dem Eingeständnis gleichgekommen, daß irgendwie ein Betriebsfehler in der britischen Politik eingebaut sein muß, wenn im Abstand von acht Jahrzehnten die gleichen Ursachen für einen vergleichbaren Niedergang namhaft gemacht wurden
In zwei wichtigen Punkten allerdings wich Margaret Thatcher von den Kassandras um die Jahrhundertwende ab: Während diese das kaiserliche Deutschland (freilich nicht seine autoritäre politische Verfassung, wohl aber seine moderne und effiziente Schulorganisation, Kommunalverwaltung, Sozialpolitik und Wirtschaftsverfassung) und daneben auch die japanischen Tugenden im Fernen Osten priesen lehnte Thatcher ausländische Vorbilder ab. Das neue Evangelium des Monetarismus war in ihren Augen eine zeitlos gültige Wahrheit ohne nationales Heimatland.
Zum anderen hatten die Damen und Herren der „National Efficiency" -Gruppe die Überwindung der Parteienkonkurrenz durch „konsensuale" Kabinette von Experten gefordert Thatcher setzte im Gegensatz dazu auf die Karte der hochgradig konzentrierten Exekutivmacht durch die Alleinregierung einer Mehrheitspartei.
Darüber zerbrachen einige bis dahin stillschweigend für gültig gehaltene Einverständnisse. Damit leitete sie zumindest teilweise einen Abschied vom englischen Sonderweg ein.
Im folgenden sollen zunächst in aller Kürze die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen Margaret Thatchers Reformprogramm und der „National Efficiency“ -Schule dokumentiert werden, die weder von ihr noch von ihren Kritikern so klar betont worden sind. Sodann soll die Verwirklichung dieser (gemeinsamen) Ziele aufgezeigt werden. Thatcher setzte diese Ziele mit der ihr eigenen Radikalität durch, die von vielen Beobachtern als durchaus „unenglisch“ empfunden worden ist, wohl aber im Einklang mit jener alten establishment-kritischen Richtung steht.
Thatchers Ziele: Effizienz ohne ausländische Vorbilder
Um 1900, als eine Reihe von Skandalen im Krieg gegen die Buren in Südafrika nicht nur die geringe Leistungsfähigkeit der britischen Verwaltung zutage brachte, sondern auch einen alarmierend schlechten Gesundheitszustand von Rekruten offenbarte, kam es (wie um 1854 schon im Krimkrieg) zu einer breiten Reformdebatte. Quer zu den politischen Parteien wurden von einer Gruppe establishment-verdrossener Politiker, Publizisten und Wissenschaftler die Grundzüge des britischen Systems in Frage gestellt. Ausgehend von der Einsicht, daß Großbritannien im wirtschaftlichen Wettbewerb mit Amerika, Deutschland und Japan zu unterliegen drohte, unternahm es die ideologische Strömung der „National Efficiency“, genuin englische Gewohnheiten, Glaubenssätze und Institutionen zu kritisieren. In einer später auch als Buch veröffentlichten Artikelserie der „Times“ wurde den Gewerkschaften Behinderung der Produktion vorgeworfen, ferner Opposition gegen die Einführung neuer Technologien und Erzwingung produktionsschädlicher Absprachen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften
Man pries die in Naturwissenschaft und Wirtschaftsunternehmen groß gewordenen „Experten“
und forderte ihre verstärkte Heranziehung in das Berufsbeamtentum, dessen primär geisteswissenschaftliche Ausbildung kritisiert wurde Man wünschte die Delegation von Aufgaben an Unterausschüsse des Kabinetts, in die (ähnlich wie dies Thatcher später verwirklichte) „Experten“ kooptiert werden sollten.
Die vielfältigen kommunalen Schulbehörden und Einrichtungen der Sozialpflege wurden wegen der Zersplitterung ihrer Aufgaben sowie Verschwendung kritisiert und eine zentrale Koordination die-ser Aufgaben unter Beseitigung der anachronistischen kommunalen Instanzen gefordert: „English local government could be portrayed as the ultimate in amateurishness." Ähnlich wie Thatcher ihre Kritiker später als „Wets“ („Waschlappen“) abzutun pflegte, belegte diese Schule ihre Gegner mit den Schimpfwörtern „sentimentalists", „old women“ oder „mandarins“ Allerdings hatte diese Richtung damals wie heute mindestens einen Schönheitsfehler: Ähnlich wie Lady Margaret, deren Gatte seine Fabrik verkaufte, um sich dem Golfspiel zu widmen, blendete man auch damals gern die Einsicht aus, daß die als so dringend erforderlich bezeichneten britischen Experten unter den Wirtschaftsbossen im Vergleich zu ihrer amerikanischen und deutschen Konkurrenz selbst weitgehend Amateure waren Thatchers Berufung auf die vermeintlich „viktorianischen Werte“ krankte also daran, daß auch britische Industrieunternehmer schon früh die „postindustriellen“ Werte der Aristokratie annahmen
Die drei von der Minderheit der „National Efficiency“ kritisierten Institutionen -die Gewerkschaften, das Berufsbeamtentum und die Kommunalverwaltung -wurden von Thatcher grundlegend in der Weise geschwächt, wie dies schon die Systemkritiker um 1900 gewünscht hatten.
Schwächung der Immunität der Gewerkschaften
Typisch für den nicht gesetzlich regulierten, sondern in historischen Zufällen und Kompromissen entstandenen freien Wildwuchs der Arbeitsbeziehungen in einem Land ohne bürokratische Staats-tradition war bzw. ist die starke Zersplitterung der britischen Gewerkschaften. Im Vergleich zu den meisten anderen demokratischen Industrienationen zeichnen sich die Arbeitsbeziehungen in
Großbritannien durch ein fast völliges Fehlen positiv-rechtlicher Regulierungen aus: „So gibt es weder eine Arbeitsgerichtsbarkeit noch ein ausdrückliches Streikrecht, noch sind Organisation und interne Belange der Trade Unions rechtlich geregelt. Auch den kollektiven Abmachungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kommt nur der Charakter einer . Übereinkunft nicht aber eine rechtlich bindene Wirkung zu.“
Dem Common Law gelten Gewerkschaften im Prinzip (nach wie vor) als wettbewerbswidrig. Rechtswidrig ist der Streik und löst neben strafrechtlichen Sanktionen eine finanzielle Haftung für Schäden der Unternehmer aus. Will man am Common Law festhalten und trotzdem Streiks legalisieren, so kann das souveräne Parlament durch Statutenrecht, das alle anderen Rechte bedingungslos interpretiert, korrigiert oder bricht, in Ausnahme-regelungen den Gewerkschaften „Immunität“ gegen Schadensersatzansprüche aus Streikfolgen gewähren. In einer Pendelbewegung, die für eine Gesellschaft ohne Staatsverständnis, wohl aber mit gelegentlich durchgreifender (und überschießender) gesetzlicher Intervention des Parlaments in Wirtschaft und Gesellschaft charakteristisch ist, gewährte 1906 ein solches Parlamentsgesetz den Gewerkschaften „Immunität“ vor Schadensersatz-forderungen der Unternehmer aus Streikfolgen.
Anders als in Deutschland, „wo der Arbeitskampf nur akzeptiert wird, wenn alle anderen Einigungsmöglichkeiten im Laufe eines langen Verfahrens erschöpft sind, wurde in Großbritannien der direkte und offene Arbeitskonflikt bis in die siebziger Jahre als ein ganz normaler Tatbestand betrachtet“ Diese britische Besonderheit einer zersplitterten Regellosigkeit in der Organisation von Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen wurde nach dem Abflauen des Wachstumszyklus der Volkswirtschaft seit den sechziger Jahren als eine der Ursachen wirtschaftlichen Niedergangs empfunden.
Es war eine Labour-Regierung und nicht ein konservatives Kabinett, die zuerst den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der „Immunität“ vorlegte. Orientiert an amerikanischen, deutschen und kanadischen Regelungen, brach ihr Entwurf mit der traditionellen Vorstellung einer „Rechtsfreiheit“ Doch unter der Droder•Gewerkschaften hung einer Rebellion der Unterhausfraktion, in der zahlreiche Abgordnete traditionsgemäß durch die Gewerkschaften finanziert werden, ließ die Regierung Wilson das Reformprojekt 1969 fallen. Die sie ablösende konservative Regierung peitschte 1971 ein Gewerkschaftsgesetz durch das Unterhaus. Doch es scheiterte nicht nur am zivilen Ungehorsam sich auflehnender Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch am Zögern der Unternehmer, die Bestimmungen des Gesetzes überhaupt in Anspruch zu nehmen
Zwar widerrief die 1974 ins Amt gelangte Labour-Regierung das konservative Gewerkschaftsgesetz; sie übernahm aber viele seiner Bestimmungen, die Gewerkschaften und Arbeitnehmern die Möglichkeit rechtlicher Schritte einräumten. So gewöhnte man sich an den Gedanken, daß eine dem britischen System bisher fremde „Verrechtlichung“ der Arbeitsbeziehungen durchaus auch der Gewerkschaftsseite Vorteile bringen könnte. Im Bestreben, das Desaster des Scheiterns der konservativen Gesetzgebung unter Heath mit den im britischen Kontext schwer anwendbaren ausländischen Vorbildern zu vermeiden, wählte Thatcher eine andere Strategie, die individuelle „Klagerechte für Unternehmer und Arbeitnehmer“ gegen die Gewerkschaften eröffnete.
Waren die Gewerkschaften durch das Parlaments-gesetz von 1906 vor dem Zugriff der nach Gewohnheitsrecht urteilenden Richter durch Immunität geschützt worden, so hob die Regierung Thatcher diese „Abriegelung“ nicht ganz, sondern nur in wesentlichen Teilen auf. Im Prinzip behielten die Gewerkschaften diese englische Besonderheit; aber sie verloren sie, wenn sie nicht bestimmte Regeln vor Ausrufung eines Streiks beachteten: Urabstimmungen wurden gesetzlich vorgeschrieben, Sympathie-und Unterstützungsstreiks wurden verboten. Das Vermögen der Gewerkschaften kann erstmals seit 1906 durch Gerichte beschlagnahmt werden, wenn die Ausrufung von Streiks nicht bestimmten gesetzlichen Bedingungen entspricht. Gewerkschaften wurden für Handlungen ihrer Mitglieder bei ungesetzlichen Streiks haftbar gemacht.
Andererseits erwiesen sich Streiks, die durch geheime Abstimmung genehmigt wurden, als sehr erfolgreich, „weil anders als bei der früheren Praxis des Händehebens der Anwesenden es den Unternehmern schwerfiel, die Legimität solcher Begehren zu bezweifeln“ Selbst die Labour-Führer Kinnock und Blair haben wiederholt betont, daß die Gewerkschaftsgesetze der Regierung Thatcher auch im Falle eines Wahlsieges der Labour Party beibehalten werden sollten. Im Gegensatz zum kontinentaleuropäischen Recht waren (und sind) aber in Großbritanninen nach wie vor „Koalitionsbildung und Streik ... keine Freiheiten mit dem Charakter einer positiven Gewährleistung“
Arbeits-und Sozialpolitik: Britische Alleingänge
In der Regelung der Arbeitsbedingungen vertieften die konservativen Regierungen noch den Graben, der von alters her zwischen Großbritannien und dem übrigen Westeuropa besteht. Wechselnde Regierungen hatten bereits lange vor Thatcher, schon seit 1963, die gesetzlichen Mindeststandards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf als unvereinbar mit der britischen Praxis der freien Vereinbarung in kollektiven Arbeitsverträgen bezeichnet Das Vereinigte Königreich ist das einzige Land Europas, das keine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit und keine Regelung der Arbeitsbedingungen kennt, sondern diese allein in Kollektivverträgen regelt. Eine frühere Gesetzgebung, die die zulässige Arbeitszeit von Frauen begrenzte, wurde sogar unter dem „Sex Discrimination Act“ (1986) aufgehoben
Mrs. Thatcher wies daher die angestrebte europäische Harmonisierung der Sozialpolitik schroff als „Sozialismus durch die Hintertür“ zurück. Die Sozialcharta, die Arbeitsbedingungen und Arbeitsrechte der Beschäftigten in ganz Europa vereinheitlichen sollte, wurde mit Ausnahme Großbritanniens von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet. Zwei Jahre später handelte John Major in Maastricht für Großbritannien eine Ausnahmeklausel zur Sozialcharta aus. Großbritannien verzichtete explizit auf eine Beschäftigungspolitik Die meisten der zwischen 1981 und 1991 neu geschaffenen 1, 2 Millionen Arbeitsplätze waren Teilzeitstellen
Großbritannien zieht mit seiner Verheißung der von keinen rigiden rechtlichen Schranken begrenzten Flexibilität ausländische Unternehmungen ins Land. Anstatt die Tugenden der Japaner den Briten zur Nachahmung zu empfehlen, wie dies die „National Efficiency“ -Schule getan hatte, zog die für ausländische Unternehmer attraktive Wirtschaftspolitik des Thatcherismus japanische Investoren ins Land. Mit Neugründungen auf der grünen Wiese bauten sie Fabriken mit japanischem Management und mit komplett neuen englischen Belegschaften als Stützpunkte innerhalb des Wirtschaftsraums der Europäischen Union auf
Weil sozialpolitische Maßnahmen der Europäischen Union Einstimmigkeit erfordern, legt Großbritannien sein Veto im Ministerrat ein. Insbesondere sperrt sich die Regierung aus Kostengründen gegen einen einheitlichen Mutterschaftsurlaub. Die Gemeinschaft sucht den britischen Alleingang zu umgehen, indem sie arbeitspolitische Maßnahmen wie gesetzliche Höchstgrenzen für Nachtarbeit und Urlaubsregelungen nicht als arbeits-und sozialpolitischen, sondern als gesundheitspolitischen Bereich definiert, in welchem Mehrheitsentscheidungen getroffen werden dürfen. Gegen diese Verabschiedung der Arbeitszeitdirektive als Gesundheitsmaßnahme hat Großbritannien den Europäischen Gerichtshof angerufen In ihrer positiven Sicht des europäischen Integrationsprozesses erblicken die Labour Party und die Gewerkschaften in einer Europäischen Sozialunion die Chance, soziale Mindeststandards der Arbeitnehmer im Betrieb in Zukunft wirksamer politisch zu regeln.
Umgestaltung der öffentlichen Verwaltung
Die britische Zentralbürokratie unterscheidet sich in der „verspäteten Bürokratie“ des Vereinigten Königreichs stark von den übrigen Demokratien der Gegenwart. Ihren spöttischen Ehrennamen als „Mandarine“ verdankt die Verwaltungselite von etwa 800 Spitzenbeamten ihrer Ausbildung, ihrer Rekrutierung und ihrem Aufgabenverständnis als universal gebildete Generalisten. Ähnlich wie jene Beamten des alten China, die ihre überlegene Intelligenz durch literarische Leistungen wie das Verfassen von Gedichten unter Beweis stellen mußten, besitzen britische Beamte eine im internationalen Vergleich ganz ungewöhnlich starke Ausbildung in geisteswissenschaftlichen „Orchideenfächern“
Die humanistische Bildung -das Leitbild des nicht am Fachwissen orientierten Generalisten, der als „Amateur“, als Spezialist für das Allgemeine gilt -sowie die überproportionale Herkunft aus den elitären Universitäten Oxford und Cambridge waren bereits den Advokaten der „National Efficiency“ um 1900 ein Dorn im Auge Als man dann seit den sechziger Jahren Schuldige für die alt-neue „englische Krankheit“ geringer wirtschaftlicher Produktivität zu suchen begann, wurde die Zentralverwaltung hochgebildeter Amateure erneut zur Zielscheibe der Kritik. Ein von der Regierung eingesetzter überparteilicher Untersuchungsausschuß bemängelte 1968 das von den Spitzenbeamten gepflegte Amateurideal. „Die von der Fulton-Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Reform des Civil Service scheitertern jedoch am Widerstand der Mandarine.“
Margaret Thatcher war durch ihre soziale Herkunft (Tochter eines streng religiösen, der methodistischen Kirche außerhalb des staatskirchlichen Establishment angehörenden Ladenbesitzers), durch ihren „meritokratischen“ Aufstieg durch Bildung (Universitätsabschlüsse in Chemie und Jura) eine Außenseiterin innerhalb des konservativen Establishment. Über sie ging das geflügelte Wort eines Abgeordneten um, daß sie immer dann, wenn sie gestandene Vertreter einer etablierten Institution erblickte, die Versuchung unterdrücken mußte, ihnen mit dem Schlag ihrer Handtasche eins auszuwischen. Ein hoher Beamter, der 1979-1982 ihr Abteilungsleiter in Downing Street war, schrieb, er habe den Eindruck, daß ihr Temperament und ihre Herkunft sie ungeduldig werden ließen, nicht nur mit der Kultur und der Denkweise des Establishments, sondern sogarmit der dort gepflegten Redeweise, dem „way of talking“
Die Reformen der Ära Thatcher gestalteten den Civil Service tiefgreifend um. Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen dieser Reformen kommen zu dem Schluß, daß sie „geradezu revolutionären Charakter haben und die radikalste Umgestaltung der Zentralregierung in diesem Jahrhundert darstellen“ Ähnlich wie bei der Gewerkschaftsreform ging Margaret Thatcher in der Umgestaltung des Civil Service schrittweise vor: Es wurde ein Amt für „Effizienz“ eingerichtet, das die Ministerien zwang, für ihre Ausgaben klare Zielvorgaben zu formulieren und bei der Überwachung von Ausgaben ständig Kosten-Nutzen-Analysen anzustellen. Ein weiterer Schritt löste ganze Funktionsbereiche des öffentlichen Dienstes aus der Verantwortung der Ministerien heraus. Sie wurden teilweise selbständigen Einheiten übertragen, denen ein eigener Haushalt vorgegeben wurde. Ende 1995 arbeiteten bereits etwa drei Viertel aller Beamten in solchen halbautonomen Einheiten.
Außerdem wurde bei der Auswahl der Leiter dieser Behörden der neue Weg einer Besetzung mit auf drei bis fünf Jahre befristeten Arbeitsverträgen nach privatwirtschaftlichen Beurteilungskriterien eingeschlagen. Die öffentliche Ausschreibung der Leitungspositionen dieser aus der Zentralverwaltung ausgegliederten Behörden hat zur „Rekrutierung einer großen Zahl wirtschaftlich geschulter Fachleute geführt, die sich in ihrer Ausbildung und beruflichen Qualifikation wesentlich von den herkömmlichen Generalisten im Civil Service unterscheiden“
Die strikte Trennung zwischen Berufsbeamtentum und Politikern, die als Vorzug des englischen Sonderwegs im Gegensatz zur „Verfilzung“ der Bürokratien kontinentaleuropäischer Staaten empfunden wird, blieb allerdings erhalten. In kontinentaleuropäischen Ländern ist ein Wechsel zwischen Amt und Mandat erlaubt und üblich. Dagegen sind in Großbritanninen die beiden Sphären getrennt. Beamte müssen bereits bei der Kandidatur zum Unterhaus ihre Karriere ohne Garantie einer Rückkehr in den Staatsdienst aufgeben. So ist es kein Zufall, daß britische Beamte in international vergleichenden Studien mit Abstand den geringsten Kontakt zwischen Beamten und Parlamentariern pflegen
Für britisches Denken ist es schwer vorstellbar, daß ähnlich wie in den kontinentaleuropäischen Ländern vielversprechende Talente in ihrer Karriere mehrfach zwischen Politik und Verwaltung wechseln. Blair hat bereits signalisiert, daß er keine radikalen Umbesetzungen im Berufsbeamtentum vornehmen will. Auch dem verständlichen Wunsch seiner Ministerkandidaten, nach dem Vorbild kontinentaleuropäischer Staaten einen persönlichen Stab als Beamte auf Zeit zu ernennen, wurde durch Blair bereits ein Riegel vorgeschoben
Grund-und Freiheitsrechte: Zugzwang durch Straßburg
Die englische Methode der Sicherung individueller Grundrechte ist in vielem das komplette Gegenteil der kontinentaleuropäischen Praxis. In der klassischen Formulierung durch den Staatsrechtler Dicey liest sich das so: „ ... in unserem Lande sind die allgemeinen Verfassungsgrundsätze (wie z. B. das Recht auf persönliche Freiheit und das Versammlungsrecht) das Ergebnis richterlicher Entscheidungen, die von den Gerichten im Hinblick auf private Einzelpersonen gefällt wurden. In den Verfassungen vieler anderer Staaten resultiert dagegen die Gewährleistung der Rechte des Einzelnen -zumindest hat es so den Anschein -aus den allgemeinen Grundsätzen dieser Verfassungen. . . . Kurzum, unsere Verfassung ist eine von den Richtern gemachte Verfassung.“ Die Grundrechte der Engländer existieren als ererbter Rechtsbesitz des Gewohnheitsrechts ohne förmliche Anerkennung durch Parlament und Regierung. Sie werden nicht als unveräußerliche Menschenrechte über dem Staat verstanden. Nur eine Minderheit der Briten begreift die Freiheitsrechte als Menschenrechte, die in einem verstaatlichen Naturrecht wurzeln Deshalb können im Extremfall Ausländer, wie zuletzt die Internierung von Irakern in London anläßlich des Golfkriegs von 1991 zeigte, ohne den Schutz durch britische rechtsstaatliche Garantien in Haft genommen werden.
Freilich ist die Achillesferse dieser Art von Grundrechtsverbürgung ihre rechtslogische Unvereinbarkeit mit der juristischen Souveränität des (im Regelfall von der Regierung beherrschten) Parlaments. Sollte es dem souveränen Parlament gefallen, Grundrechte ganz oder teilweise außer Kraft zu setzen, so ist dagegen nach britischem Recht keine Abhilfe vor Gericht möglich. Im Westminster-Modell gibt es keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Kein Gericht darf ein Parlamentsgesetz wegen eventueller Unvereinbarkeit mit den Grundrechten annullieren Nur die Abwahl der Regierung und die Hoffnung, die ins Amt gelangende Opposition möge ein skandalöses Gesetz widerrufen, stellt eine Sicherung gegen Mißbrauch dar.
In ihrer Neigung zu autoritären Entscheidungen unter Preisgabe traditioneller Grundsätze englischer Liberalität hätte Margaret Thatcher durchaus den frühen Advokaten einer „National Efficiency“ um die Jahrhundertwende viel Freude gemacht. Diese hatten Klagen über endlose parlamentarische Debatten ohne greifbares Ergebnis mit einem Ruf nach einem „Staatsmann“ verbunden, der das Empire vor Niedergang und Niederlagen schützen möge. Sie träumten, daß ein neuer patriotischer Führer so etwa wie einen „populistischen Cäsarismus“ ausüben würde
Die für die englische Tradition ungewöhnliche Radikalität der politischen Agenda von Margaret Thatcher mit ihrer handstreichartigen Beseitigung der Kommunalverwaltung von London, der Verhängung eines Verbots bestimmter Rundfunk-sendungen und der Verweigerung der Gewerkschaftszugehörigkeit für Beschäftigte in den Sicherheitsbehörden hat das Interesse an geschriebenen verfassungsrechtlichen Kontrollen geweckt. Premierministerin Thatcher ließ in der Flottenexpedition zur militärischen Befreiung der Falklandinseln von argentinischer Besetzung nicht nur die Herzen im Sinne von „Britannia rule the waves“ höher schlagen. Ihre Auslegung der Grundrechte trug ihr bei Kritikern auch den Ruf ein, ein „Waiving the Rules“ zu betreiben, sich über juristisch nicht erzwingbare, aber bisher für bindend erachtete Konventionalregeln hinwegzusetzen
Zwar hat Großbritannien die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte bereits 1951 unterzeichnet. Es hat aber als einziges Land der 21 Unterzeichnerstaaten diese nicht durch ein Parlamentsgesetz als unmittelbar geltendes Landesrecht anerkannt. Allerdings besitzen britische Staatsbürger die Möglichkeit, ihre Beschwerden, für die sie im Lande keinen Richter finden, zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zu tragen. Aus Großbritannien kommen daher auch die meisten Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen, etwa 800 jährlich, und kein anderes Land hat so viele Gerichtsentscheidungen (ca. ein Drittel) verloren. Ungefähr 80 britische Gesetze mußten als Reaktion auf Straßburger Gerichtsentscheidungen geändert werden
Die Erfahrung, daß die unkodifizierte, nur „teilweise aufgeschriebene“ Verfassung in manchen Punkten nur das ist, was die amtierende Regierung behauptet hat im Einklang mit den Entscheidungen des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs zu einem Reformbewußtsein und Reformdruck im Lande geführt. In einer teilweisen Anerkennung und Umdeutung dieser Reformforderungen hat John Major sich das Thema „Bürgerrechte zu eigen gemacht, er hat sogar den Begriff , Charter für seine Reforminitiativen übernommen“; seine Gesetz gewordene „Initiative beabsichtigt, die Einhaltung von staatlichen Standards für jeden Bürger einklagbar zu machen. Zu diesem Zwecke verpflichten sich öffentliche Organisationen, wie beispielsweise die Londoner U-Bahn, der staatliche Gesundheitsdienst, die Steuerbehörde oder das Arbeitsamt, Dienstleistungen bestimmter Qualität anzubieten. Versagen sie, sind sie gegenüber dem Bürger als Konsumenten in gewissem Umfange finanziell schadenersatzpflichtig“
Die Labour Party verpflichtete sich, nach der Regierungsübernahme die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte durch ein britisches Gesetz als unmittelbar geltendes Landesrecht anzuerkennen. Ferner hat sie ein neues Gesetz zur Sicherung der Informationsfreiheit versprochen Es würde die Strafbarkeit der Weitergabe von Informationen durch Beamte an Parlamentarier oder Journalisten mildern oder beseitigen Damit wäre Großbritannien einen Schritt weiter weg vom englischen Sonderweg und hätte sich der in anderen Demokratien üblichen Praxis angenähert.
Die Kommunalverwaltung: Bruch stillschweigender Einverständnisse
Eine der herausragenden Besonderheiten Großbritanniens „war die historisch in naturwüchsigem Wildwuchs entstandene Kommunalverwaltung ohne gesicherte Satzungsautonomie. Befugnisse wurden ihr nicht durch allgemeinverbindliche Gesetzesregelungen zugewiesen. ... Häufig waren sie Ergebnis lokaler Initiativen (, Private Local Bills 1), die zur Verabschiedung von auf die jeweiligen Gebietskörperschaften zugeschnittenen und nur diese betreffenden Parlamentsgesetzen führten. Erst die umfassende Neuordnung der Kommunalverwaltung Ende des 19. Jahrhunderts brachte eine stärkere Vereinheitlichung der Vielfalt lokaler Gremien und Zuständigkeiten“ Paradoxerweise ging am Ende des 19. Jahrhunderts gerade von diesen eher improvisiert entstandenen Gemeindebehörden jene Tendenz zur staatlichen Reglementierung aus, die sogar in einer Gesellschaft ohne bürokratische Staatsidee das Gefühl aufkommen ließ, eine „much-governed nation“ zu sein Schon früh kritisierte die „National Efficiency“ -Gruppe um die Jahrhundertwende die Kommunalverwaltungen in England und Wales als zu klein und zersplittert, um ihren Verantwortlichkeiten nachkommen zu können. Statt dessen schlug sie (folgenlos) ihre Auflösung und Ersetzung durch zentralisierte öffentliche Dienste vor
Trotz ihrer Bedeutsamkeit genoß die Kommunal-verwaltung im Vereinigten Königreich niemals Satzungsautonomie. Nach der alles beherrschenden Doktrin und Praxis der Souveränität des (von der Regierung gelenkten) Parlaments verdanken alle gewählten Vertretungskörperschaften unterhalb der Zentralebene ihre Existenz einem Parlamentsbeschluß. Was das Parlament gegeben hat, kann es auch jederzeit wieder aufheben. So können durch relative Mehrheit (eine verfassungsändernde qualifizierte Mehrheit ist unbekannt) die Zuständigkeiten der Kommunen nach dem Belieben der jeweiligen Mehrheitspartei im Unterhaus beschränkt oder erweitert werden.
Die weltweit vergleichsweise ungewöhnliche Konzentration der Macht in den zentralen Institutionen in Westminster ist nur unter der ungeschriebenen Bedingung akzeptiert worden, daß der Einfluß des Staates auf die Gesellschaft gering bleibt und er große Bereiche des öffentlichen Lebens der Selbstregulierung durch die Interessengruppen überläßt Das stillschweigende Einverständnis, unter dem die Exekutivdominanz der Alleinherrschaft einer Mehrheitspartei akzeptiert wurde, bestand in der bereits von Bagehot formulierten Maxime: Parteiregierung ist in unserem englischen System nur deshalb dauerhaft möglich, weil sie mit Selbstbeschränkung ausgeübt wird In diesem Sinne wirkte die kommunale Selbstverwaltung als das „einzige Gegengewicht zur Londoner Zentralregierung und die einzige faktische Bremse gegen die dortige overbearing majority“
Diese ungeschriebene Konvention wurde durch Margaret Thatcher radikal aufgekündigt. Nicht nur wurden 1986 die von Labour-Mehrheiten dominierten Stadträte von Groß-London und sechs anderen großstädtischen Ballungsräumen durch Parlamentsgesetz kurzerhand beseitigt. Es wurden auch die Aufgaben der Gemeinden -insbesondere das Schulwesen -entweder auf die Zentralregierung oder auf selbständige Verwaltungsgremien verlagert. „Entstaatlichungsmaßnahmen im Schulsektor gehen mit der Zentralisierung der Curricula einher. ... Zumindest zu Thatchers Zeiten galten die Gemeinden ohnehin als Hort der Unbotmäßigkeit und der öffentlichen Verschwendung und darum als überflüssig wie ein Kropf. Mit dem Argument notwendiger Effizienzsteigerungen und Einsparungen wurden in mehreren Anläufen die Einnahmequellen der Gemeinden drastisch reduziert und die Gemeindeautonomie nachhaltig untergraben.“
Die Wiederherstellung der Kommunalverwaltung wird als erklärtes Ziel der Labour Party versprochen. Außerdem wird die Direktwahl der Bürgermeister der Großstädte in Aussicht gestellt Wenn nach dem Versprechen der Labour Party erneut Selbstverwaltungen in London und den übrigen Ballungsräumen eingeführt werden, bedeutet die tiefgreifende Umgestaltung und Zentralisierung der Aufgaben der Gemeinden durch Thatcher trotzdem das Ende des alten naturwüchsigen Wildwuchses des englischen Sonderwegs und die Angleichung an Methoden des Managements wie in den übrigen Großstädten der Welt.
Die Bank von England: Reformdruck durch Maastricht
Die Bank von England ist seit ihrer Verstaatlichung durch Labour unter Attlee (eine Maßnahme, die auch die Konservativen im Interesse der Möglichkeit politischer Wirtschaftssteuerung nicht rückgängig machten) de jure ein Instrument der jeweils alleinregierenden Mehrheitspartei in Westminster. Im internationalen Vergleich gilt die britische Zentralbank als hochgradig abhängig von den Weisungen der Regierung Diese Besonderheit ist ausnahmsweise einmal kein Ergebnis des historischen Sonderwegs. Ganz im Gegenteil beruhte seit dem 17. Jahrhundert die wirtschaftliche Blüte Großbritanniens im Unterschied zu dem durch Staatsbankrotte immer wieder gefährdeten kontinentaleuropäischen fürstlichen Absolutismus auf der Unabhängigkeit der Bank von England
Obwohl die Unabhängigkeit einer Zentralbank auch heute ein Kernstück einer monetaristischen Wirtschaftspolitik sein muß, unternahm die Premierministerin Thatcher, die sich als Anhängerin dieser Lehre bezeichnete, seit ihrem Amtsantritt 1979 keinerlei ernsthaften Versuch, der Bank von England größere Unabhängigkeit einzuräumen. In der Geld-und Währungspolitik hielt sie zäh an dieser britischen Besonderheit fest Dagegen besitzen sowohl die Deutsche Bundesbank als auch das geplante System der Europäischen Zentralbank eine gesetzlich garantierte Unabhängigkeit von der Regierung. Im britischen Denken ist nicht die Zentralbank für die Geldpolitik zuständig, sondern der Staatskanzler als Minister der demokratisch legitimierten Regierung. Diese britische Besonderheit muß unvermeidbar große Probleme in bezug auf die durch den Maastricht-Vertrag geplante Europäische Währungsunion mit ihrem System der Europäischen Zentralbank aufwerfen. Das Vereinigte Königreich gehört neben Dänemark deshalb auch zu den einzigen beiden Ländern, die sich eine Nichtbeitrittsklausel zur dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion vorbehalten haben.
Im Herbst 1992 sah sich Großbritannien aufgrund des Drucks der globalen Finanzmärkte gezwungen, das Europäische Währungssystem (EWS) zu verlassen. Im Gegensatz zu Italien, das ebenfalls durch die Marktkräfte zum Austritt gezwungen wurde, aber seine Bereitschaft zum Wiedereintritt bekräftigt hat, hat die Major-Regierung den erneuten britischen Beitritt für die Dauer des gegenwärtigen Parlaments definitiv ausgeschlossen. Blair hat sich darauf festgelegt, einen britischen Beitritt zur durch Maastricht II später geplanten vollen Währungsunion durch die Bevölkerung (entweder durch eine Volksabstimmung oder als Thema einer Neuwahl des Unterhauses) sanktionieren zu lassen 59.
In jedem Falle kann bei einer Währungsunion die Weisungsabhängigkeit der Bank von England nicht aufrechterhalten werden, an die sich britische Politiker wechselnder Parteien als bequemes Mittel der politisch beeinflußten Wirtschaftslenkung gewöhnt haben. Einen dritten Weg zwischen voller Unabhängigkeit der Notenbank nach kontinentaleuropäischen Plänen und ihrer krassen Weisungsgebundenheit nach dem Westminster-Modell könnte eine Innovation in dem durch Reformen vielleicht auch für Großbritannien beispielgebenden Neuseeland bieten. In einem interessanten Plädoyer machte Andreas Busch darauf aufmerksam: Das Ziel einer Geldwertstabilität könnte auch durch die alternative Methodik verbindlich vereinbarter, bei Strafe des Verlusts der Stellung des Notenbankchefs einzuhaltender Inflationsrichtlinien erreicht werden
Nach dem neuen Zentralbankgesetz in dem (ehemaligen) Westminster-Modell Neuseeland sichern vier Regeln einen Schutz vor politisch verursachter Inflation: 1. Eine zwischen Regierung und Zentralbank ausgehandelte mittelfristige Inflationsrichtlinie, die veröffentlicht werden muß, legt ein anzupeilendes Richtmaß auf zwei oder drei Jahre fest. 2. Die Zentralbank, die zur Erreichung dieses Ziels verpflichtet ist, genießt in ihren Operationen völlige Unabhängigkeit. 3. Wenn die Zentralbank das in der Vereinbarung fixierte „Policy Target Agreement“ ohne triftige externe Gründe ver-fehlt, verliert der Gouverneur der Zentralbank seinen Posten. 4. Zwar kann die Regierung das gewählte Ziel bis zu 12 Monaten suspendieren. Ferner hat sie das Recht, neue Verhandlungen mit der Zentralbank über ein oberes Inflationsziel zu verlangen. Allerdings müssen diese Verhandlungen in aller Öffentlichkeit stattfinden.
In der Vergangenheit besaß Neuseeland -ähnlich wie das Mutterland -einen sehr geringen Grad von Unabhängigkeit der Zentralbank und extrem hohe Inflationsraten. Mit dem neuen Zentralbank-gesetz von 1989 sind die Inflationsraten deutlich gesunken. Großbritannien, das aufgrund seiner Verfassungstradition und des international vergleichsweise sehr hohen Nationalstolzes seiner Bevölkerung immer Vorbehalte hat, ausländische Vorbilder zu importieren, könnte vielleicht weniger Hemmungen haben, von Neuseeland, das früher die Prinzipien des Westminster-Modells besser noch als das Mutterland verwirklichte, Reformen zu übernehmen. Auch die Europäische Union könnte von einem solchen Modell profitieren
Obwohl in Großbritannien seit 1979 mit verschiedenen Inflationsobergrenzen experimentiert wird, fehlt im Gegensatz zum neuseeländischen Modell die operationale Eigenständigkeit der Zentralbank zur Erreichung der Ziele. Auch in den Reformplänen des Schatten-Finanzministers der gegenwärtigen Labour Opposition wird mit diesem britischen Sonderweg nicht gebrochen: „The real problem is that the chancellor retains the power to set interest rates, and that, as long as he does, he can set them for political rather than economic reasons. Unfortunately, Mr Brown does not propose to let the Bank set interest rates -, operational independence‘, in the jargon.“
Ironischerweise sind es die Japaner -das gepriesene Vorbild der „National Efficiency“ um die Jahrhundertwende -, die heute als Investoren von Industrieanlagen in Großbritannien laut darüber nachdenken und drohen, ihre europäischen Fabriken von Großbritannien auf den Kontinent zu verlagern, wenn sich das Land der Währungsunion fernhalten sollte. Denn Wechselkursschwankungen, für die das Pfund traditionell extrem anfällig ist, gefährden effiziente Planung
Reformen unter Blair: Ansätze und Aussichten
Seitdem die Labour Party 1992 ihre vierte Wahl-niederlage nacheinander erlitten hatte, wurden sowohl innerhalb der Führung der Partei als auch innerhalb der Gewerkschaften Reformen in die Wege geleitet. Die früher notorisch zerstrittene Labour Party, deren engagierte Aktivisten aus Prinzipientreue lieber „politischen Selbstmord“ begingen, als sich der Koordination durch das Kabinett (oder in der Opposition durch das Schattenkabinett) im Unterhaus zu fügen, handelt nun wie eine aus dem Katalog eines Lehrbuchs zur politischen Ökonomie geschnittene „stimmenmaximierende Ein-Mann-Partei“
Einiges spricht dafür, daß ein Premierminister Blair nach einem erdrutschartigen Machtwechsel Reformen einleiten könnte, die Großbritannien -den früher zum Musterbeispiel stilisierten Sonderfall auf der internationalen Verfassungslandkarte -den übrigen Demokratien in Westeuropa ähnlicher werden lassen. Thatchers Reformen der Gewerkschaften und die Umgestaltung der öffentlichen Verwaltung werden akzeptiert. Die Beendigung der britischen Alleingänge in der Arbeitsund Sozialpolitik liegen im Interesse der Gewerkschaften, die der Partei auch nach den internen Reformen der Parteisatzung, die das Blockstimmrecht der Gewerkschaften auf den Labour-Partei-tagen und andere Rechte beseitigten immer noch nahestehen.
Mit der Anerkennung von Mindeststandards der ILO und der britischen Unterschrift unter die europäische Sozialcharta, die bisher von den Konservativen verweigert wurde, würde ein innenpolitischer Konflikt zwischen Unternehmern und Gewerkschaften komfortabel auf die supranationale Ebene transportiert und durch Anerkennung internationaler Richtlinien ohne innenpolitische Streitigkeiten geregelt werden können. Damit wäre eine weitere Sonderstellung Großbritanniens in der internationalen Gemeinschaft beendet. Die irritierend häufige Verurteilung Großbritanniens durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof möchte Tony Blair beenden.
Für Schottland und Wales hat Labour in seinem als Wahlkampfversprechen dokumentierten Regierungsprogramm sich für Regionalparlamente festgelegt. Somit würde in einem Europa, in dessen Ländern Regionalisierung seit längerem praktiziert wird, auch der durch Thatcher verstärkte extreme Zentralismus des Westminster-Modells beendet. So relativ einfach, wie die Ansätze zu Reformen sich auch ausnehmen mögen, sind die Aussichten ihrer Realisierung allerdings nicht. Vor allen durchzuführenden Reformen will eine künftige Labour-Regierung Volksentscheide durchführen. Was auf den ersten Blick wie ein sympathischer Tribut an die Selbstverständlichkeit demokratischer Prinzipien in einem Zeitalter mündiger Bürger aussieht, kann sich bei näherem Hinsehen durchaus als listige Methode zur Verhinderung von Reformen entpuppen. Schon einmal hat das seefahrende Albion ähnlich dem listenreichen Odysseus die Gewährung eines Regionalparlaments an Schottland durch ein qualifizierendes Quorum torpediert
Der britische Sonderweg in Europa kannte in allen Jahrhunderten seiner Verfassungsgeschichte vor 1975 keine Volksabstimmungen. Erst als die regierende Labour Party tief gespalten über die Frage des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft war, besann sie sich auf eine Volksabstimmung, um die (dann doch eintretende) Spaltung der Partei aufzuschieben. Im Gegensatz zur Referendumsdemokratie der Schweiz und anderen Staaten mit direkt-demokratischen Traditionen hat das Referendum in Großbritannien bisher als Verlegenheitslösung ambivalenten Zielen gedient. Das Referendum könnte als der „Pontius Pilatus der britischen Politik“ für Blair eine Methode werden, „ja“ zu sagen, aber „nein“ zu meinen und darauf zu hoffen, daß das Volk aufgrund geschickter Inszenierung durch die Führung eine Absage an Verfassungsreformen erteilt.
In der wichtigsten aller Reformen, die erst einen endgültigen Abschied vom Westminster-Modell einläuten würde, der Reform des extrem mehrheitsbildenden Wahlrechts, das Drittparteien mit einer indirekten Sperrklausel von etwas mehr als 30 Prozent diskriminiert, ist das Schattenkabinett geteilter Meinung. Blair selbst hält es lieber mit der von etwa drei Fünfteln der Bevölkerung (im Jahre 1987) geteilten Ansicht: Im Zielkonflikt zwischen fairer Proportionalität und der Chance zur Bildung einer Regierung aus nur einer Mehrheitspartei hält man lieber am alten Wahlrecht -ungeachtet seiner bekannten Verzerrung des Wählerwillens -fest
Ein weiteres Argument, das eher skeptisch für die Aussichten der Reformen stimmt, sind die Entscheidungskosten ihrer parlamentarischen Verabschiedung. Zeit ist die knappste aller Ressourcen auch in modernen Parlamenten Paradoxerweise gilt dies gerade im Westminster-Modell ungeachtet der ihm nachgesagten Beherrschung der Legislative durch die Exekutive. Nach alter Tradition verfallen nämlich Gesetze, die am Ende einer Sessionsperiode von nur einem Jahr nicht verabschiedet wurden, und müssen zurück auf den legislativen Hürdenlauf
Außerdem ist das Oberhaus im allgemeinen nicht so „zahnlos“, wie man meint. Bei Verfassungsreformen, die keine im unmittelbaren Staatshaushalt sichtbaren finanziellen Auswirkungen haben, besitzt es überdies ein suspensives Veto (das bei finanzwirksamen Gesetzen nicht gilt), so daß ein zusätzlicher Zeit-und Entscheidungsdruck durch möglichen Widerstand der von vielen bereits totgesagten Zweiten Kammer Reformen als aus Gründen der Zeitökonomie lieber vermeidbare Risiken erscheinen lassen kann. Ein bezeichnendes Schlag-licht resultiert aus der oft vergessenen Tatsache, daß ein neues Wahlrecht schon einmal in Großbritanninen in den dreißiger Jahren eingeführt worden wäre, wenn nicht nach seiner Billigung durch das Unterhaus das Oberhaus dieser Verfassungsänderung widersprochen hätte und die Reform dann auf die lange Bank geschoben worden wäre
Die persönliche Ausstrahlungskraft von Tony Blair, der auch seine Gegner als politischer Redner in Bann schlägt, ist eine Reinkarnation jenes in der britischen politischen Kultur überwiegenden Verlangens, sich mit Personen und nicht mit Prinzipien zu identifizieren Treue zu Personen und nicht zu Prinzipien ist nach Sidney Low das Wesen der britischen Parteipolitik. Immerhin wurde Low als der neue Bagehot zu Beginn unseres Jahrhunderts gepriesen, ehe sein Werk über „Die Regierung Englands“, das seit 1904 zahlreiche Auflagen erlebte, in Vergessenheit geriet
Daß die geschliffenen Aphorismen von Sidney Low ebenfalls wie die von Walter Bagehot auch heute zum größten Teil noch gültig sind und in Großbritannien die „personalistische Orientierung“ der politischen Kultur überwiegt ist auch durch die scharfen Sonden der international vergleichenden Meinungsforschung immer wieder erwiesen worden. So stimmten in der berühmten Civic-Culture-Studie von Almond und Verba die Briten mit 68 Prozent weitaus stärker als die Italiener, Amerikaner und selbst die (zumindest damals noch?) autoritätsgläubigen Deutschen der Frage-vorgabe zu: „Einige starke führende Persönlichkeiten würden unserem Lande mehr nützen als alle Gesetze und alles Diskutieren.“ (Die Autoren jener Studie hielten diese Antwort für so unglaubwürdig, daß sie diese erst gar-nicht veröffentlichten.) Doch wer die britische Kultur aus eigenem Erleben kennt, weiß das nicht autoritär gemeinte Ambiente dieser Aussage zu würdigen. So fügte bereits Low hinzu, die englische Nation könne „viel leichter den Glauben an eine Abstraktion als den Glauben an einen Menschen“ aufgeben
Blair beschrieb auf Einladung des „Economist“ seine Vision einer Verfassungsreform als „sensible, incremental change“ und pries -im Sinne der ehrwürdigen Tradition und im Gegensatz zur Verdrossenheit der alten und neuen „National Efficiency" -Ideologen -den Pragmatismus des Ancien regime: „Our unwritten Constitution has its vices. But its virtue is that it does not require neat Solutions.“ Dieser fröhliche Optimismus, der einem Premierminister Blair sicher das historische Verdikt eintragen würde, sehr „sound“ gewesen zu sein, läßt eher erwarten, daß tiefgreifende Reformen an Großbritannien wiedereinmalwie ein Kometvorbeiziehenwerden.