Über den Sinn und die Qualität der „Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit“ bestand schon 1990 wenig Einvernehmen; und auch die Rückschau aus dem Blickwinkel des Jahres 1997 kann kaum den Eindruck vermitteln, als hätten sich die unterschiedlichen Beurteilungen des damaligen verfassungspolitischen Diskurses im Rahmen der Wiederherstellung der deutschen Einheit wesentlich geändert: War „die Zeit . . . reif für eine neue Verfassung“ oder hatte „unsere Zeit keinen Beruf für Verfassungsgebung“ War die Debatte durch die anstehende Fusion der beiden deutschen Staaten notwendig geworden, oder entsprang sie im wesentlichen einer „wiedervereinigungsbedingten Frustration“ der Linken?
Obwohl sich in diesen Fragen bereits andeutet, daß schon die Notwendigkeit einer Verfassungsdiskussion als solche umstritten war, wurde die „Verfassungsfrage“ zu einem zentralen Thema der Wiedervereinigung Deutschlands. Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR, die Auseinandersetzungen um den „richtigen“ Weg zur deutschen Einheit, die darauf folgenden Kontroversen um die Gestaltung des Einigungsvertrages und um die Interpretation der dort vorgenommenen „vereinigungsbedingten Verfassungsänderungen“, schließlich der Streit um die Einsetzung eines Verfassungsrates oder -ausschusses, die Beratungen und Empfehlungen der „Gemeinsamen Verfassungskommission von Deutschem Bundestag und Bundesrat“ und die vielen Initiativen von Bürgern, Organisationen und Verbänden markieren die Wegzeichen einer Debatte, die noch im Jahr 1989 begann und mit der 42. Änderung des Grundgesetzes im Herbst 1994 ihr vorläufiges Ende erfahren hat
Der Verfassungsdiskussion mangelte es keinesfalls an politischer Brisanz, im Gegenteil: Den Gegnern einer Verfassungsneuschöpfung wurde vorgeworfen, das Grundgesetz zur Heilslehre zu idealisieren, während die Verfechter eines diskursiven Revisionsprozesses der Geringschätzung des Grundgesetzes bezichtigt wurden Witterten die einen, so wurde gemutmaßt, in einer „herbeigeredeten Verfassungsdebatte“ die „Chance einer ganz anderen Repulik“, so verweigerten die anderen, wie angeklagt wurde, die Anerkennung der substantiell neuen Situation und verharrten ängstlich in ihrer selbsterschaffenen „Kontinuitätsillusion“. Mithin stand nicht etwa die Frage nach einem sinnvollen Ausmaß der Verfassungsrevision zur Diskussion, sondern vielmehr die Grundfrage nach dem Nutzen und der Notwendigkeit einer Verfassungsdebatte überhaupt. Gerade in Gestalt dieser „Diskussion um die Diskussion“ war die Verfassungsdebatte schon im Jahr 1990 weit mehr als irgendein tagespolitischer Disput. Der „Artikelstreit“ konnte sich nur deshalb zu einer Art „Glaubenskrieg“ entwickeln, weil mehr hinter ihm stand -nämlich zwei grundverschiedene Auffassungen über die Funktion einer Verfassung einerseits und -darauf fußend -zwei unterschied-liehe Bewertungen der verfassungsrechtlichen Bedeutung der deutschen Einheit andererseits
Im folgenden soll daher der Streit um den „besten“ Weg zur Herstellung der deutschen Einheit nachgezeichnet und die dahinterstehenden Auffassungen von Funktion und Leistungskraft einer Verfassung aufgezeigt werden (I). Ein Rückblick auf die Diskussion über die Normierung sozialer Staatsziele in der Gemeinsamen Verfassungskommission soll sodann deutlich machen, daß die Unterschiede im jeweiligen Verfassungsverständnis der Kontrahenten auch die einzelnen thematischen Auseinandersetzungen bestimmten, ohne daß es jedoch gelingen konnte, die grundsätzlichen Differenzen überhaupt als solche zu identifizieren oder gar zu beseitigen (II). Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, ob sich hinter den unterschiedlichen Verfassungskonzepten tatsächlich gegensätzliche, miteinander unvereinbare Auffassungen verbergen und ob dies eventuell Auswirkungen auf die Tragfähigkeit des Verfassungskonsenses hat (III).
I. Deutsche Einheit und Verfassungsverständnis
1. Der „Artikelstreit“
Nachdem sich abzuzeichnen begann, daß die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten schneller als erwartet und nach Maßgabe des Grundgesetzes verwirklicht werden konnte, rückten die verfassungsrechtlichen. Vorgaben der Präambel (alte Fassung [a. F. ]), des Art. 23 (a. F.) und des Art. 146 (a. F.) GG in den Mittelpunkt des Interesses, die bekanntlich von unterschiedlichen Prämissen ausgingen: Während Art. 23 (a. F.) GG die Möglichkeit eröffnete, das Grundgesetz auch „in anderen Teilen Deutschlands“ nach deren Beitritt in Kraft zu setzen, sprachen Präambel (a. F.) und Art. 146 (a. F.) GG davon, daß das „gesamte Deutsche Volk ... in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ habe und das Grundgesetz durch eine (neue) Verfassung, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, abgelöst werden könne. Um die Zweckmäßigkeit dieser beiden Optionen und ihr Verhältnis zueinander entwickelte sich seit Anfang 1990 eine Diskussion um den „besten“ Weg zur Einheit, die in Form des „Artikelstreits“ Ausdruck des eigentlichen Kristallisationspunkts der Kontroverse war, nämlich der „Verschränkung von Einheits-und Verfassungsdebatte“
Auf der einen Seite wurde dabei die Auffassung vertreten, daß verfassungsrechtlich eine Wahlmöglichkeit bestehe zwischen einer Vereinigung durch Beitritt und der durch Verfassungsneuschöpfung Die Frage, die es zu entscheiden gelte, sei daher vor allem eine über den Fortbestand des Grundgesetzes überhaupt: Zu wählen sei zwischen der Identitätswahrung des interpretatorisch durch die Rechtsprechung entfalteten Grundgesetzes einerseits oder dessen Aufgabe mitsamt der Verfassungsrechtsprechung eines Zeitraums von vierzig Jahren andererseits, mithin also „zwischen Verfassungskontinuität und Neuanfang“ In Anbetracht dieser Alternative sei verfassungsrechtlich einem Beitritt der DDR zum Bundesgebiet und damit auch zum Grundgesetz eindeutig der Vorrang zu geben: Da sich ein solches Vorgehen auf die freie Entscheidung der DDR durch eine demokratisch legitimierte Volkskammer stützen könne und damit die Einheit Deutschlands vollendet sei, werde das -weitergeltende -Grundgesetz mit dem Beitritt automatisch zur endgültigen gesamtdeutschen Verfassung. Solchermaßen durch den im März 1990 bekundeten Wählerwillen der DDR-Bevölkerung einerseits und eine über vierzigjährige westdeutsche Verfassungspraxis andererseits anerkannt, könne dem Grundgesetz nämlich auch durch ein förmliches Verfassungsplebiszit keine neue Legitimation zugeführt werden Der größte Vorzug eines Beitritts nach Art. 23 sei letztlich der von ihm gewährleistete Zeitgewinn, weil sich dieses Verfahren als die schnellste, einfachste und sicherste Lösung erweisen werde. Denn damit könne man sich auf die anstehenden neuen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Anstrengungen konzentrieren, zu deren -einfachgesetzlicher -Bewältigung die Deutschen jetzt weitaus eher genötigt seien als sich in einen fundamentalen Konflikt über neue Verfassungswerte zu begeben Die Befürworter eines gesamtdeutschen Verfassungsgebungsprozesses beriefen sich dagegen zunächst darauf, daß das Grundgesetz nach wie vor provisorischen Charakter habe, wie sich insbesondere aus dem Wortlaut der Präambel -„für eine Übergangszeit“ -und darüber hinaus schon aus der Benennung „Grundgesetz“ ergebe, die in Art. 146 schließlich in deutlichem Gegensatz zu „Verfassung“ verwendet werde. Denn damit beschrieben die Präambel und Art. 146 des Grundgesetzes sowohl dessen zeitliche Geltungsdauer als auch seine sachliche Geltungskraft, während sich Art. 23 Satz 2 lediglich auf den räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes beziehe Die bloße räumliche Ausdehnung des grundgesetzlichen Geltungsbereiches durch einen Beitritt der DDR könne demnach die qualitative Erneuerung durch Verfassungsgebung keinesfalls ersetzen. Zwar habe sich -das wurde von keiner Seite ernst-haft bezweifelt -das Grundgesetz in seiner über vierzigjährigen Geltungsdauer für die Bonner Republik durchaus bewährt, doch sei nun, da das vom Parlamentarischen Rat verfassungsrechtlich gesetzte Politikziel erreicht werde, das „Ende der Übergangszeit“ und damit der Zeitpunkt gekommen, die mithin überholte historische Legitimation des Grundgesetzes zu erneuern. Jetzt sollten endlich auch „jene Deutschen, denen mitzuwirken versagt war“, in einen gesamtdeutschen Verfassungsgebungsprozeß mit einbezogen und -gegebenenfalls auch im Anschluß an einen Beitritt nach Art. 23 GG -gemäß Art. 146 GG die „freie Entscheidung“ des deutschen Volkes herbeigeführt werden
Denn mit der Wiedervereinigung komme auf das künftig gesamtdeutsche Verfassungsrecht eine immense Integrationsaufgabe zu, die es allein dadurch lösen könne, daß auch den Bürgern der DDR die Möglichkeit gegeben werde, sich in eine Verständigung um die künftig gemeinsamen verfassungsmäßigen Grundlagen einzubringen und die somit neu geschaffene konstitutionelle Ordnung (auch wenn sie die inhaltliche Form des Grundgesetzes beibehielte) durch ihr direktes Votum zu ihrer eigenen Verfassung zu machen. Damit werde schließlich dem gesamtdeutschen Gemeinwesen Gelegenheit gegeben, sowohl die negativen Erfahrungen im SED-Staat als auch die positiven Erfahrungen der Bürgerbewegungen und die glücklichen Momente der Wende in einem Prozeß der neuen und gegenseitigen Selbstverständigung zu verarbeiten und zu fixieren Es seien eben jene neuen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Herausforderungen, die nicht nur eine politische, sondern auch eine verfassungsrechtliche Reaktion in Gestalt einer solchen Neugründung erforderlich machten.
2. „Staatsverfassung“ versus „Bürgerverfassung“
Daß der „Artikelstreit“ tatsächlich auf zwei verschiedene Verfassungsverständnisse in den beiden verfassungspolitischen Lagern zurückzuführen ist, kommt schon in der unterschiedlichen Beurteilung zum Ausdruck, welchen Beitrag das Verfassungsrecht zur Bewältigung der anstehenden vereinigungsbedingten Probleme leisten könne und solle. Auf der einen Seite erwarteten die Vertreter einer Lösung nach Art. 146 GG zunächst eine ganze Menge von einer zukünftigen gesamtdeutschen Verfassung: Für sie „erschöpft sich die Bedeutung einer Verfassung nicht in ihrer juristischen Regelungsqualität“, sondern geht weit darüber hinaus, weil eine Verfassung nicht nur staatsorganisierendes rechtliches Regelwerk, sondern immer auch die „Selbstbeschreibung und Zielbestimmung einer Gesellschaft“ sei, ein „Selbstzeugnis kollektiver Existenz und Identität“ Eine Verfassung sei stets das Ergebnis eines Prozesses der „Selbstverständigung eines Volkes über seine politische Existenz und die Grundzüge der gesellschaftlichen Ordnung“ Dem Konsens, der aus diesem Selbstvergewisserungsprozeß erwachse, verleihe die Verfassung letztlich Verbindlichkeit, Bestimmtheit und Dauer. Als Konsensbasis des Gemeinwesens kommt der Verfassung nach diesem Verständnis somit eine äußerst wichtige metajuristische Aufgabe zu: Identitätsbestimmung und Integrationsstiftung Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von der Funktion einer Verfassung wird klar, wie die Befürworter der Option des Art. 146 GG die deutsche Einheit nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich begriffen: als Gründungssituation Das verfassungsrechtliche „Ende der Übergangszeit“ ergab sich also nicht allein dadurch, daß die ursprüngliche Legitimationsbasis des Grundgesetzes von 1949 entfallen sei, sondern ebenso dadurch, daß mit dem epochalen Ereignis der revolutionären Wende in der DDR und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine neue Gesellschaft entstehe. Weil damit eben nicht nur das Ende der DDR besiegelt, sondern auch das politische Selbstverständnis, die Identität der (alten) Bundesrepublik zwangsläufig fundamental verändert würde, bilde sich daher in Ost wie West ein neuer Identitäts-und Integrationsdruck. „Unverfaßtheit“ war daher die Diagnose -und deshalb sei nunmehr eine Verständigung über die Grundlagen des neuen gesamtdeutschen Staates notwendig geworden: „Verfassungsgebung“ hieß deshalb die Therapie. Denn jetzt gelte es, sich in einem offenen Diskurs und unter gleichberechtigter Beteiligung der Bürger in der DDR über die Identität des neuen gemeinsamen Staatswesens zu verständigen und Ost und West gleichermaßen -und gleichberechtigt -darin zu integrieren. Schon deshalb dürfe der DDR-Bevölkerung das Grundgesetz nicht einfach im Wege eines Beitritts übergestülpt werden. Vielmehr gelte es, ein seit 1989 gestiegenes Selbstvertrauen der Bürger ernst zu nehmen. Der künftige gesamtdeutsche Staat müsse sich daher der ausdrücklichen Zustimmung und Mitwirkung seiner Bürger versichern.
Die Gegenseite hielt indes eine völlig andere Vorgehensweise für angezeigt, weil für sie schon die verfassungsrechtliche Diagnose eine völlig andere war Von Unverfaßtheit könne gar keine Rede sein, stehe doch mit dem Grundgesetz eine Verfassung zur Verfügung, die zum einen im Westen unwidersprochene Geltungskraft besitze und auf deren Werte und Normen zum anderen gerade die Ziele der friedlichen Revolution in der DDR gerichtet gewesen seien. Der Glücksfall der deutschen Einheit sei also weniger ein Argument zur Ablösung des Grundgesetzes als vielmehr dessen nachdrückliche Bestätigung. Selbst wenn sich daher unter dem Dach der Verfassung die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern sollten, bedeute dies noch keinen Änderungsbedarf im Verfassungsrecht. Denn daß eine gesellschaftliche „Integration durch Verfassung“ möglich sei, wurde von den Vertretern dieser Richtung vehement bestritten: Identitäts-und Integrationsstiftung seien keine Aufgaben der Verfassung, sondern vielmehr des politischen Prozesses. Aufgabe der Verfassung sei es lediglich, diesen politischen Prozeß zu organisieren und ihn entscheidungsfähig zu machen, also Politik zu ermöglichen Damit stünde auf der Ebene der Verfassung lediglich zur Debatte, wie die Fusion der beiden Staaten organisatorisch-institutionell zu bewältigen sei, so daß auch künftig ein reibungsloses Funktionieren des politischen Apparates gewährleistet sei. Für diese Aufgabe gäbe es derzeit jedoch keine bessere Alternative als das Grundgesetz.
Die Herstellung der Verfassungseinheit wurde daher nicht als ein Problem der Selbstbehauptung der DDR-Bevölkerung, sondern als eine reine Zweckmäßigkeitsfrage begriffen. Die Verfechter des schnellen, weniger riskanten Beitritts beurteilten den Weg über Art. 23 GG gerade deshalb als den besten, weil sie die Möglichkeiten des Verfassungsrechts im wesentlichen darauf beschränkt sahen, einen möglichst reibungslosen technischen Ablauf der Staatenfusion zu garantieren. Die „Einheit , im übrigen 4“ herzustellen war für sie keine verfassungsrechtliche, sondern eine politische Aufgabe. Nach diesem Verständnis konstitutionalisiert die Verfassung also nur einen gesellschaftlichen Teilbereich, nämlich den der (verstaatlichten) Politik, und nicht die Gesellschaft insgesamt. Gegenstände verfassungsrechtlicher Regelungen sind demzufolge auch ausschließlich die staatlichen Organe, ihre Funktionen und Kompetenzen, aber keinesfalls das politische Selbstverständnis des sozialen Gemeinwesens.
Insgesamt standen sich damit zwei unterschiedliche Verfassungsverständnisse gegenüber, von denen eines die Verfassung als „Teilordnung“ begriff, die eine spezielle Teilaufgabe in der Gesellschaft -die Funktionsfähigkeit des politischen Systems -erfüllt, während die andere Lesart die Verfassung als gesellschaftliche „Grundordnung“ begriff, in der sich auch Fragen widerspiegeln, die das Gemeinwesen insgesamt betreffen: Es stand Staatsverfassung versus Bürgerverfassung oder, um es anders zu wenden, ein eher technisches Verfassungsverständnis gegen ein eher charakterisierendes Verfassungsverständnis Der zweite Verfassungsbegriff geht also über den ersten hinaus: Hätte für die einen das Verfassungsrecht mit der Organisation staatlicher Machtausübung seine eigentliche Aufgabe bereits erfüllt, oblag ihm nach Ansicht der anderen außerdem noch die Aufgabe, Auskunft über die Identität des Gemeinwesens zu geben. Im ersten Fall gelten damit Staat und Gesellschaft als zwei voneinander getrennte -und qua Verfassung voneinander zu trennende -Sphären; im zweiten Fall gehen Staat und Gesellschaft in dem verfassungsbegründenden Prozeß der Selbstvergewisserung eine (Teil-) Symbiose als Gemeinwesen ein -und werden so gleichermaßen zum Gegenstand der Verfassung.
Sah die eine Seite die Verfassungseinheit also bereits mit der Staatseinheit vollzogen, so war für die andere Seite die Verfassungseinheit erst dann verwirklicht, wenn auch die „innere Einheit“ ausreichenden Niederschlag in der Verfassungsurkunde gefunden hatte. Entsprechend fiel auch die Beurteilung der Eignung des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung aus:
Sah man die verfassungsrechtliche Herstellung der deutschen Einheit mit der Herstellung der Staatseinheit bereits als abgeschlossen an, so bot sich das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung geradezu an: Denn die westdeutsche Verfassung schien für die Organisation der staatlichen Einheit gut gerüstet und hatte ihr verfassungsrechtliches Ordnungsvermögen ja bereits in der alten Bundesrepublik erfolgreich unter Beweis gestellt. Warum also Experimente wagen?
Erkannte man die verfassungsrechtliche Herstellung der deutschen Einheit allerdings erst damit als abgeschlossen an, daß zusätzlich zur Staatseinheit auch die „innere Einheit“, also das Selbstverständnis des neuen gesamtdeutschen Gemeinwesens und die Belange der Bürger verfassungsrechtlich verankert werden, so mußte die ehemals provisorische Ordnung des alten west-lichen Teilstaats als unvollständig für die gebetene Neukonstitutionalisierung erscheinen: Schließlich beinhaltete das Grundgesetz nur den einen, west-lichen Teil jener sich neu bildenden gesamtdeutschen Identität und konnte daher als Integrationsangebot für die Ostdeutschen allenfalls unvollkommen bleiben. Warum also nicht die sich bietende Partizipations-und Integrationschance nutzen?
Zusätzlich zum „Artikelstreit“ und diesen zeitlich überdauernd bestand ein weiterer Aspekt der Verfassungsdiskussion um die deutsche Einheit in der Frage, welche Elemente in einer gesamtdeutschen Verfassung sinnvollerweise enthalten sein sollten. Neben der Verankerung direktdemokratischer Gesetzgebungsverfahren stand dabei insbesondere die Aufnahme sozialer Staatszielbestimmungen zur Debatte. Als „Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben -sachlich umschriebener Ziele -vorschreiben“, richten sich Staatszielbestimmungen dabei an alle drei Staatsgewalten, in erster Linie jedoch an den Gesetzgeber, der zur Verwirklichung und Konkretisierung des Verfassungsziels verpflichtet wird, „ohne daß damit jedoch ausgeschlossen sein muß, daß die Norm auch eine Auslegungsrichtlinie für Exekutive und Rechtsprechung ist“ 0. *S 2ta 9atsziele haben damit ausschließlich objektiv-rechtlichen Charakter; sie verpflichten die Staatsgewalt, ohne zugleich individuelle, subjektive Rechtsansprüche des einzelnen zu begründen.
II. Soziale Staatsziele und Verfassungsverständnis
Abseits der Definition bestanden jedoch höchst unterschiedliche Vorstellungen darüber, ob eine Verfassung wirklich mit solchen Staatszielen auszurüsten sei. Auch sie gehen im Kern auf unterschiedliche Auffassungen von der Funktion einer Verfassung zurück:
Wdr vom Blickpunkt eines rein staatlich-organisatorischen Verfassungsverständnisses aus Staat und Gesellschaft als zwei verfassungsrechtlich voneinander abgetrennte Sphären begreift, der kann sich damit begnügen, in der Verfassung zu beschreiben, was der Staat nicht darf. In diesem Fall würde der Staat verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, Eingriffe in einen vorstaatlich verstandenen Bereich der gesellschaftlichen und individuellen Freiheit zu unterlassen. Freiheit in diesem Sinne bedeutet das „Freisein von staatlichem Zwang“ und ist damit vornehmlich negativ definiert.
Wer dagegen in der Verfassung das Ergebnis eines Selbstverständigungsprozesses erblickt, der muß sich die Mühe machen zu beschreiben, worin der im Ergebnis erreichte verfassungsmäßige Konsens besteht und welchem Ziel und Zweck sich staatliches Handeln deswegen verpflichtet sieht. In diesem Fall würde der Staat verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, zur Erreichung des vorgegebenen Ziels in einer bestimmten Weise tätig zu werden. Dem Anspruch entsprechend, gesellschaftliche Integration herzustellen, wird daher das Verständnis der „Freiheit wovon“ mittels der Staatsziele um den Gedanken der „Freiheit wozu“ ergänzt und Freiheit dadurch positiv definiert
Die erste Variante setzt staatlichem Handeln also rechtliche Grenzen, die zweite fordert staatliches Handeln faktisch heraus und unterwirft es bestimmten Zielen. Entsprechen der ersten Variante damit die klassisch-liberalen (Abwehr-) Grundrechte, so findet die zweite ihre Entsprechung vornehmlich im Normtyp der Staatszielbestimmung.
Ob sich jemand für oder gegen die verfassungsrechtliche Verankerung von sozialen Staatszielen entscheidet, hängt also durchaus vom jeweiligen Verfassungsverständnis ab. Insgesamt bleibt damit festzuhalten, daß sich die Befürworter und die Gegner der Verankerung von sozialen Staatszielbestimmungen entlang der gleichen Linie gegenüber standen, die schon die Vertreter des charakterisierenden von denen des technischen Verfassungsverständisses trennte.
1. Soziale Staatsziele in den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission
Befürworter und Gegner sozialer Staatszielbestimmungen trafen schließlich nach der Herstellung der deutschen Einheit in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Deutschem Bundestag und Bundesrat (GVK) aufeinander In Rede standen hier unter anderem verschiedene Vorschläge der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen zu den Themen „Arbeit“ und „Wohnen“. Die Sozialdemokraten befürworteten dabei eine Ergänzung im Umfeld des Art. 20 GG um die folgenden beiden Regelungen „Der Staat trägt zur Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen bei. Er sichert im Rahmen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts einen hohen Beschäftigungsstand.“ „Der Staat fördert die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum. Er schützt das Wohnrecht von Mietern.“
Hatte die SPD somit ausdrücklich darauf verzichtet, irgendwelche subjektiven Ansprüche zu formulieren, und statt dessen eine rein objektiv-rechtliche Formulierung in die Diskussion gebracht, so waren die Vorschläge Wolfgang Ullmanns vom Bündnis 90/Die Grünen nicht von der gleichen Zurückhaltung gekennzeichnet. Seine Anträge enthielten im einzelnen sowohl das „Recht jedes Menschen auf Arbeit“ als auch das „Recht jedes Menschen auf eine angemessene Wohnung“, die als neue Art. 12 a und 13 a in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes eingefügt werden sollten
Angesichts der damit gebotenen Angriffsfläche führen die Gegner einer Einführung sozialer Staatsziele sogleich ein ganzes Arsenal an Ablehnungsgründen auf In puncto Verfassungsverständnis war ihr erstes Argument die Strukturwidrigkeit: Soziale Staatsziele paßten nicht in den „Duktus“ des Grundgesetzes, der sich durch das Konzept juristischer Kargheit auszeichne und daher bis auf wenige Ausnahmen auf die klassischliberalen Grundrechte beschränkt sei. Staatsziele, insbesondere die sozialen Staatsziele, hätten dagegen lediglich appellativen Charakter. Sie seien deshalb nicht nur entbehrlich, weil durch das Sozialstaatsgebot bereits abgedeckt, sondern auch problematisch, weil sie in der Gefahr stünden, das Verfassungsrecht in seiner juristischen Durchsetzbarkeit insgesamt zu entwerten. Weil sie juristisch nicht faßbar seien, enthielten sie lediglich leere Versprechungen, wohlmeinende „Verfassungslyrik“, die aber nichts anderes als falsche, durch die Verfassung nicht erfüllbare Hoffnungen erwecken würden. Die Verfassung, so summierte Rupert Scholz in der GVK die Bedenken, müsse daher „normativ stringent“ bleiben und könne nicht mit beliebig neuen Staatszielen angereichert oder überfrachtet werden.
Dem wiederum hatten die Befürworter sozialer Staatsziele aus ihrer Sicht der Dinge andere gute Gründe entgegenzusetzen: Für sie war es ein zentraler Punkt, dem Grundgesetz mittels der sozialen Staatsziele ein größeres Maß an Identifikations-und Integrationskraft zuzuführen, und zwar insbesondere mit Blick auf die Menschen im Osten Deutschlands. Gerade die Bundesverfassung könne einen wesentlichen Beitrag zur Über-windung immer noch bestehender innerlicher Spaltungen zwischen den beiden Teilen der neuen Bundesrepublik und damit auch zur Herstellung der Einheit im Bewußtsein leisten. Die Signalwirkung von sozialen Staatszielen hätte gerade im Hinblick auf die Bindung der Bürger an ihre Verfassung und ihren Staat besondere Bedeutung, weil damit deutlich gemacht würde, daß sich der Staat ihrer Probleme annehme und seine soziale Verpflichtung im aktuellen Stadium des Zusammenwachsens von Ost und West ernst nehme. Denn immerhin handele es sich bei den Themen „Arbeit“ und „Wohnen“ um zwei Bereiche, die die existentiellen Bedürfnisse jedes einzelnen und einen wesentlichen Teil der menschlichen Aktivität beträfen, so daß sich die Menschen durch die vorgeschlagenen Staatsziele mit ihren grundlegenden Lebensinteressen in der Verfassung wiederfinden könnten. So würde eine Stärkung der symbolischen und integrativen Kraft des Grundgesetzes auch eine notwendige Stärkung des gesamtdeutschen Verfassungspatriotismus bedeuten. Es ginge mithin darum, in der gegenwärtigen Umbruch-situation nunmehr das „Ethos“ des Staates, so die prägnante Formel von Jutta Limbach auch verfassungsrechtlich zu fixieren. Im übrigen denke niemand daran, Dinge zu versprechen, die man nicht halten könne, sondern vielmehr daran, dem staatlichen Handeln Direktiven zu geben, die durchaus rechtliche Wirksamkeit hätten, indem sie Bindungswirkung gegenüber dem Gesetzgeber entfalteten. Außerdem dienten soziale Staatsziele auch den Gerichten als Auslegungsrichtlinie und seien daher besonders im Verfahren der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle als rechtlich wirksamer Prüfungsmaßstab von Bedeutung.
Dem begegneten die Skeptiker wiederum mit Bedenken, nun aber nicht mehr mit dem Argument „unerfüllbare Versprechungen“, sondern in entgegengesetzter Richtung: Durch die sozialen Staatszielbestimmungen würde der Handlungsund Ermessensspielraum des Gesetzgebers unzumutbar eingeschränkt, und die Verfassung verlöre an Offenheit für die gesetzliche Ausgestaltung, die im einzelnen den politischen Organen Vorbehalten bleiben müsse. Gleichzeitig würde so der Judikative, namentlich dem Bundesverfassungsgericht, durch die Möglichkeit verbindlicher Auslegung solcher Programmsätze ein politischer Einfluß Zuwachsen, der das „wohlaustarierte Gleichgewicht der Gewalten“ empfindlich verschiebe. Davon ließen sich die Änderungsgegner auch nicht abbringen, als die Staatszielbefürworter geltend machten, daß doch mit den sozialen Staatszielen der staatlichen Gestaltungsfreiheit keine Grenzen gesetzt, sondern vielmehr nur eine Richtung gegeben werden sollte. Schließlich bedürfe es, so die ablehnende Meinung, doch gerade wegen der ausreichenden Umsetzung der angestrebten Politikziele schon durch das einfache Recht keiner besonderen Aufnahme dieser Politikziele in die Verfassung. Im Gegensatz zu jenen einfachrechtlichen Regelungen schaffe nämlich ein „Recht auf Arbeit“ noch keinen zusätzlichen Arbeitsplatz und auch ein „Recht auf Wohnung“ noch keine zusätzliche Wohnung. Denn nicht die Verfassung könne für mehr Arbeitsplätze und Wohnungen sorgen, sondern nur das System der sozialen Marktwirtschaft.
2. Kommunikationsprobleme
„Ethos“ der Verfassung versus „normative Stringenz“ der Verfassung -damit waren die verfassungspolitischen Zielvorgaben formuliert und die diskursive Trennungslinie auch in der Gemeinsamen Verfassungskommission klar gezogen: Wiederum stand die Forderung nach gesellschaftlicher Selbstverständigung gegen die Beschränkung auf rechtliche Ermöglichung von Politik, wiederum trafen charakterisierendes und technisches Verfassungsverständnis aufeinander. Aber nicht nur hier. Der Grundsatzkonflikt um die Frage, „was Verfassungen sollen und was Verfassungen können“ prägte zwar besonders deutlich, aber nicht ausschließlich die Diskussion um die sozialen Staats-ziele, sondern bestimmte fast alle strittigen Themen in der Kommission. Angefangen bei den Beratungen über eine direktdemokratische Ergänzung des Grundgesetzes über die Staatsziele in den Bereichen Umweltschutz und Gleichberechtigung bis hin zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Datenschutzes und zur Aufnahme des Begriffs der „inneren Einheit“ in die Präambel -die Aus-einandersetzung um das „richtige“ Verfassungsverständnis war in der GVK allgegenwärtig. Nur mit einem entscheidenden Manko: Der Konflikt zwischen den unterschiedlichen Verfassungsverständnissen wurde nicht als solcher erkannt, jedenfalls nicht als solcher benannt. Zwar wurde am Rande der Staatsziele-Debatte durchaus vereinzelt bemerkt, daß die Kontroverse um die sozialen Staatsziele auch mit unterschiedlichen Verfassungsverständnissen der Kontrahenten zu tun hätte Aber diese Einsicht wurde nicht zum Anlaß genommen, den thematischen Einzeldiskussionen in der GVK etwa eine klärende Generaldebatte voranzustellen mit dem Ziel, die unterschiedlichen Auffassungen über Funktion und Leistungskraft des Verfassungsrechts zumindest als solche zu identifizieren.
Die Folge dieses Versäumnisses waren massive Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den verfassungspolitischen Lagern. Denn den Kontrahenten wurde, so scheint es, nicht einmal deutlich, daß die jeweilige Gegenseite von einer ganz anderen Warte aus an die einschlägigen Probleme heranging: Während die eine Seite von der gesellschaftlichen Verfaßtheit auf Konsequenzen im Verfassungsrecht schloß, ging die andere Seite den umgekehrten Weg und hielt den „Duktus“ der Verfassung einem gesellschaftlichen „Zeitgeist“ entgegen. Auf diese Weise wurde auch bereits der Regelungsadressat der diskutierten Verfassungsänderung -die Bürger oder der Staat -nicht einheitlich identifiziert: Während die eine Seite eine Stärkung der Bürgersouveränität bezweckte, sah die andere Seite eine explizite Bindung der Staatssouveränität als nicht notwendig an -und damit redeten letztlich beide Seiten aneinander vorbei.
Indem die substantiellen Unterschiede über Aufgabe und Funktion der Verfassung weitgehend unkommentiert gegeneinanderstanden, fehlten der GVK aber schon von Anfang an die Voraussetzungen für erfolgversprechende Verhandlungen
Letztlich blieb deshalb sowohl die Frage offen, ob das Verfassungsrecht integrieren soll, als auch die Frage, ob es überhaupt integrieren kann. „Was Verfassungen sollen und was Verfassungen können“ -dieser Satz stand daher, mit einem deutlichen Fragezeichen versehen, nicht am Anfang der Kommissionsberatungen, sondern ungleich prononcierter eigentlich erst an ihrem Ende.
3. Staatsziele als Staatszielrichtungsbestimmungen
Im Zusammenhang mit diesen Kommunikationsproblemen trat schließlich ein Phänomen in Erscheinung, das Wilhelm Hennis bereits 1968 als eine spezifisch deutsche Sehnsucht identifiziert hat -nämlich der Wunsch nach möglichst vollständiger Deckungsgleichheit von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit Insbesondere die vehemente Abwehrhaltung der Union und der FDP gegen die sozialen Staatsziele bot für die von Hennis als „quietistisch, resignativ, konservativ“ bezeichnete „bloße Leidenschaft der Entlarvung des toten Begriffs“ beredtes Beispiel. Mit ihrem Argument der „unerfüllbaren Verfassungsversprechungen“ übersahen die Reformgegner jedoch offenbar, daß der Verfassungstext nicht nur den bloßen verfassungsstaatlichen Status quo beurkundet, sondern durchaus auch Leitbilder für die künftige Gestaltung und Entwicklung des Gemeinwesens enthält. Denn für Union und Liberale ergaben sich ihre Zweifel offensichtlich daraus, daß sie davon ausgingen, eine derartige Regelung beschreibe den aktuellen Zustand der Verfassungswirklichkeit. Doch auch für die Sozialdemokraten und das Bündnis 90/Die Grünen beinhaltete die Staatszielbestimmung auch als Ziel augenscheinlich einen finalen Endzustand, nämlich „hohen Beschäftigungsstand“ und letztlich Vollbeschäftigung. Beide Positionen gingen damit in gewisser Weise davon aus, daß die Verfassung eine -gegenwärtige oder zukünftige -Wirklichkeit beschreibe, nämlich im ersten Fall den Ist-Zustand, im zweiten den Soll-Zustand. Das Spannungsverhältnis von Norm und Wirklichkeit stellt sich hier als Divergenz zwischen Ziel und Zustand dar -ist aber nicht unlösbar: Wenn man nämlich unter „Ziel“ nicht ein Endergebnis, sondern vielmehr eine Zielrichtung versteht, vermeidet man überhöhte Ansprüche an die Verfassung als Abbild der Realität. Damit wäre klargestellt, daß Staatszielbestimmungen, die dann als „Staatszie\nichtungsbestimmungen“ verstanden werden müßten, auf Dynamik angelegt sind in dem Sinne, daß sie nicht zwei starre Punkte -Ist-Zustand und Soll-Zustand -fixieren, sondern gerade die dazwischenliegende Strecke beschreiben, also einen Prozeß initiieren
So verstanden, könnten sich die sozialen Staats-ziele sehr viel einfacher dem Vorwurf leerer Versprechungen entziehen, denn „versprochen“ würde nicht ein Idealzustand, sondern ein Bemühen des Gesetzgebers: Staatsziele wären nicht Versprechen, sondern verfassungsrechtliche (An-) Forderungen, die dann auch durch das Bundesverfassungsgericht erzwungen werden könnten, ohne die gewaltenteilige Balance zwischen Legislative und Judikative unzulässig zu verschieben oder den Spielraum des Gesetzgebers unangemessen einzuengen. Denn als „Staatszielr/cAfnngsbestimmungen“ erfüllten die Staatsziele nicht mehr und nicht weniger als die klassische Verfassungsfunktion, politische Entscheidungsgewalt rechtlich einzubinden und auf Leitideen zu verpflichten, indem der Politik ein inhaltlicher Gestaltungsrahmen vorgegeben wird
Begreift man auf der einen Seite also Staatsziele als Staatszielrzch/uzigsbestimmungen, die einen Prozeß initiieren, dann schließt dies auf der anderen Seite schon die Formulierung sozialer Grundrechte nach Art von „Rechten auf.. aus. Der staatliche Schutz eines Rechtszustands kann nicht unter die Normenkategorie einer prozeßinitiierenden Staatszieln'c/mmgsbestimmung eingeordnet werden
Weitet man den Betrachtungsrahmen unter diesem Blickwinkel auf die Verfassung insgesamt aus, so wird deutlich, daß eine Verfassung keine gegenwärtigen oder künftigen Realitäten zu beschreiben hat, sondern Wege, Verfahren und Richtungen möglicher gesellschaftlicher Fortentwicklung aufzeigen soll. Die Verfassung, so hat es Dieter Grimm formuliert, „bildet ... nicht die soziale Wirklichkeit ab, sondern richtet Erwartungen an sie“; sie „bezieht also Distanz zur Wirklichkeit und gewinnt daraus erst das Vermögen, als Verhaltens-und Beurteilungsmaßstab für Politik zu dienen“ Die Verfassung enthält daher keinen „Entwurf für eine gute und gerechte Gesellschaft“ sie hält lediglich Mittel und Wege bereit, die einer Gesellschaft in ihrem Bemühen um Gerechtigkeit dienlich sein können.
III. Verfassungsverständnis und Verfassungskonsens
1. Unterschiedliche Deutungen des Grundgesetzes
Wie tiefgreifend die der GVK verborgen gebliebenen Unterschiede im Verfassungsverständnis -besonders auch im Zusammenhang mit den sozialen Staatszielen -tatsächlich waren und wie notwendig daher eine konfliktidentifizierende Vorklärung der unterschiedlichen Auffassungen gewesen wäre, wird auch daran deutlich, daß der Streit auf zwei verfassungsrechtlich unterschiedlich konstruierte Freiheitsbegriffe zurückgeht
Weil nach verfahrensmäßig-technischem Verfassungsverständnis Staat und Gesellschaft getrennt sind und lediglich die Rechtsbeziehungen zwischen beiden Sphären geklärt werden müssen, genügt es in diesem Fall, individuelle Freiheit rechtlich, eben in Form von Freiheitsrechten, abzusichern. Auf die reale Möglichkeit, diese Rechte in Anspruch zu nehmen, kommt es dagegen nach dieser Ansicht verfassungsrechtlich nicht an.
Anders dagegen bei den Vertretern des inhaltlich-charakterisierenden Verfassungsverständnisses: Weil ihr Verfassungskonzept die gesellschaftlichen Bedingungen der Freiheitsausübung mit umfaßt, müssen sie auch die tatsächliche Freiheitsausübung in den Blick nehmen. Damit geht der Freiheitsbegriff hier weiter: Gemeint ist nicht nur die rechtliche Möglichkeit des einzelnen, Freiheit in Anspruch zu nehmen, sondern auch die tatsächliche Möglichkeit, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen. Neben die rechtliche Freiheit tritt die reale Freiheit, deren Schutz auch das Bemühen um Herstellung der tatsächlichen Bedingungen von Freiheitsausübung beinhaltet.
Bei näherer Betrachtung fügt sich die Debatte damit ganz in den in der Rechtswissenschaft schon seit längerem geführten Streit um die Ausweitung der klassisch-liberalen Grundrechte zu objektiv-rechtlichen Schutzpflichten ein. Hier geht es um die Frage, in welchem Ausmaß bereits den jetzigen Grundrechten des Grundgesetzes nicht nur der Charakter von subjektiven Freiheitsrechten inne-wohnt, der staatliche Eingriffe in die Grundrechts-sphäre verbietet, sondern gleichzeitig auch das objektive Gebot an den Staat, sich schützend und fördernd vor das grundrechtliche Schutzgut zu stellen. Damit war für nicht wenige Vertreter der Staatsrechtslehre bereits im geltenden Grundgesetz der verfassungsrechtliche Boden für eine systemkonforme Verankerung von sozialen Staats-zielen bereitet
Doch in der Gemeinsamen Verfassungskommission kam auch dieser Sinnzusammenhang kaum zur Sprache. Lediglich in der Sachverständigen-Anhörung, die die GVK zum Thema „Staatsziele und Grundrechte“ durchführte, wurde deutlich, daß das jeweilige Verfassungsverständnis nicht nur die Beurteilung zusätzlicher Staatsziele prägte, sondern bereits die Sicht auf die bestehende Verfassungsrechtslage deutlich bestimmte: Während etwa der Sachverständige Josef Isensee davon ausging, daß „die Aufnahme der heute diskutierten Staatsziele und sozialen Rechte ... nicht in die Regelungsstruktur, in den Duktus des Grundgesetzes“ paßte, weil sich die Verfassung bis auf wenige Ausnahmen auf „einklagbare, subjektive Rechte im Grundrechtsteil, auf die klassischen Grundrechte liberaler Observanz“ beschränke, war Norman Paech der Meinung: „Sie passen hinein, sogar schon auf der Struktur des gegenwärtigen Grundgesetzes“, denn dort sei bereits vielfach „eine Mischung zwischen Freiheitsteilhabe und Staatszielbestimmungen vorhanden“
Die unterschiedliche Bewertung der sozialen Staatsziele ging also bereits auf unterschiedliche Interpretationen der geltenden Grundrechte zurück. Nicht nur die Gestalt eines künftigen, geänderten Grundgesetzes war daher im Streit; bereits die Gestalt des bestehenden Verfassungsrechts erschien je nach Betrachtungsweise in durchaus unterschiedlichem Licht. Offensichtlich wurden also die jeweils unterschiedlichen Verfassungsbegriffe auch auf das Grundgesetz projiziert, und zwar schon vor der deutschen Einheit. Durch die Ereignisse von 1989/90 sind die Auffassungsunterschiede lediglich offen zutage getreten, weil sie sich in der Verfassungsdiskussion erstmals offen entladen konnten und weil sie nun von der wissenschaftlichen Ebene gelöst und massiv auf die politische Bühne transportiert wurden.
So beantwortet sich auch die Frage, warum sich -scheinbar plötzlich und „aus heiterem Himmel“ -in der Verfassungsdebatte auch in bezug auf das Grundgesetz so sehr unterschiedliche Deutungen und Bewertungen gegenüberstanden, obwohl sich doch bis vor kurzem noch alle darin einig waren, daß das Grundgesetz die beste Verfassung sei, die die Deutschen je besaßen. Denn erst jetzt, wo sich die Gelegenheit bot, das Gute zu verbessern, stellte sich heraus, daß auch diese beste aller bisherigen deutschen Verfassungen offenbar stets aus durchaus verschiedenen Blickwinkeln gelobt worden war. Es blieb schließlich die Befürchtung, daß diese Blickwinkel so unterschiedlich sein könnten, daß sie sich letztlich als gegensätzliche offenbaren würden. Es stellte sich manchem sogar die Frage nach der Tragfähigkeit des Verfassungskonsenses
2. Gegensätzliche Verfassungsverständnisse?
In einer aktuellen Studie kommt Hermann Huba zu dem Schluß, „daß sich pathetisches (charakterisierendes, M B) und technisches Verfassungsverständnis nicht wechselseitig ergänzen können“ Zu unterschiedlich seien die Antworten auf die Frage, „was Verfassungen sollen und was Verfassungen können“, und zu verschieden die Maßstäbe, nach denen eine Verfassung beurteilt würde: Würden die einen, so Huba, der Verfassung die Legitimation von Macht als Hauptaufgabe zuschreiben, so stelle sich den anderen die Ermöglichung von Politik als die Hauptaufgabe einer Verfassung dar. Eine Verfassung könne aber „schwerlich zugleich im pathetischen Sinne (moralisch) legitim und im technischen Sinne (rechtlich) effektiv sein“ so daß sich von daher letztendlich zwei unvereinbare, gegensätzliche Konzepte gegenüberstünden.
Folgt man dieser Einschätzung und unterscheidet man mit Erhard Denninger fünf (mögliche) Funktionen einer Verfassung -Machterzeugung, Machtbegrenzung, Machtlegitimation, Gruppenintegration, Selbstvergewisserung -, dann würden nach der Auffassung Flubas die Vertreter des technischen Verfassungsverständnisses lediglich die ersten beiden „Basis“ -Etagen des Verfassungsgebäudes -Machterzeugung und Machtbegrenzung -bevölkern, während die Vertreter des „pathetischen“ Verfassungsverständnisses vornehmlich die nachfolgenden drei Stockwerke -Machtlegitimation, Gruppenintegration und Selbstvergewisserung -thematisch besetzt hielten. Ob dies wirklich zutrifft, ist jedoch fraglich. Möglich wäre nämlich auch, die verschiedenen Verfassungsbegriffe nicht als gegensätzlich, sondern lediglich als unterschiedlich weitreichend aufzufassen.
In diesem Fall würden sich die Vertreter des charakterisierenden Verfassungsverständnisses mit denen eines eher technischen Verfassungsverständnisses in den ersten beiden Stockwerken des Verfassungsgebäudes -Erzeugung und Begrenzung politischer Macht -durchaus treffen. Sie würden aber zum einen der dritten Etage -der Machtlegitimation -einen anderen Anstrich geben. Zum anderen würden sie neuen Wohnraum schaffen und dem Provisorium „Grundgesetz“ nun auch die aus ihrer Sicht fehlenden zwei Stockwerke hinzufügen wollen, um die Integrationsfunktion der Verfassung deutlicher als bisher zum Ausdruck zu bringen.
Eine solche „Aufstockung“ der Verfassung auf die vollen fünf Etagen mag den einen daher als architektonische Vollendung, den anderen eher als Überlastung der Fundamente erscheinen. Festzustellen bleibt jedoch, daß die Vertreter des charakterisierenden Verfassungsverständnisses von einer Verfassung nicht etwas völlig anderes, sondern lediglich mehr verlangten als bisher: Sie wollten ein aus ihrer Sicht „komplettiertes“, erweitertes Grundgesetz. Der charakterisierende Verfassungsbegriff ist damit im Vergleich zum technischen kein gegensätzlicher, sondern ein weitergehender: Er umfaßt alle fünf Verfassungsfunktionen -schließt also die ersten beiden keineswegs aus.
Es bleibt die Frage, ob sich ein Gegensatz zwischen beiden Verfassungsverständnissen daraus ergibt, daß sie die Hauptaufgabe von Verfassungen unterschiedlich definieren. Auch hier scheint jedoch Zurückhaltung angebracht. Denn mit der Forderung nach einer Aufstockung des Verfassungsgebäudes sollten ja nicht die Fundamente aus den ersten beiden Etagen in ihrer Funktion ersetzt werden. Das spricht dafür, daß beide verfassungspolitischen Lager die Funktionen der Ermöglichung und Begrenzung von Politik übereinstimmend als die Hauptaufgabe einer Verfassung identifizieren. Es ist nur umstritten, ob einer Verfassung -und speziell dem Grundgesetz -über diese Hauptaufgabe hinaus nicht doch noch weitere -notwendige — Komplementäraufgaben zuzurechnen sind. Freilich wurden jene Komplementäraufgaben in der Verfassungsdebatte schnell zum Hauptstreitpunkt; sie bezeichnten aber auch nach charakterisierendem Verfassungsverständnis nicht die alleinige Hauptaufgabe von Verfassungen
Fraglich ist damit auch die kategorische Alternative „Negativ-oder Positivverfassung“, die Huba aus der „Gegensätzlichkeit“ der Verfassungsbegriffe herleitet. Jedenfalls wäre es bedauerlich, wenn man lediglich die Wahl hätte zwischen zwei Verfassungstypen, von denen einer -konservativ -„die Gesellschaft beschreibt, wie sie ist“, während der andere -progressiv -beschreibt, „was die Gesellschaft -noch -nicht ist“ Tatsächlich trifft auch diese Unterteilung die Sache nicht ganz. Denn wie oben bereits dargestellt, kann es nicht Aufgabe der Verfassung sein, den gegenwärtigen oder einen künftigen Status quo eines Gemeinwesens zu beschreiben. Es kann mithin in einer Verfassung nicht darum gehen, entweder die Gegenwart auf immer zu fixieren oder eine stets nur ideale Zukunft zu versprechen. Es geht darum, Wege der Entwicklung zwischen Gegenwart und Zukunft aufzuzeigen. Es steht deshalb auch nicht die von Huba beschriebene Alternative „Funktionsoptimierung oder Gesellschaftsverbesserung“ zur Debatte; denn es geht in der Verfassung nicht um die Verbesserung der Gesellschaft sondern um die Verbesserung der Problemlösungsfähigkeit der Gesellschaft Auch die beiden Idealtypen „Positivverfassung“ und „Negativverfassung“ müssen damit nicht unbedingt gegensätzlicher Natur sein. Vielmehr ergänzen auch sie sich gegenseitig. Denn keine „Positivverfassung“ würde ohne negative, staatsbegrenzende Elemente auskommen, ebensowenig wie eine „Negativverfassung“ ganz auf positive, staatscharakterisierende Elemente verzichten könnte. Die Frage müßte also genaugenommen nicht „Positiv-oder Negativverfassung?“ lauten sondern sie müßte nach dem optimalen Mischungsverhältnis von beiden gestellt werden.
3. Ein neuer Verfassungskonsens?!
In engem Zusammenhang mit diesem Mischungsverhältnis standen letztlich auch die Debatten, die abschließend in der GVK geführt wurden. Schließlich betraf insbesondere der Themenbereich der sozialen Staatsziele vor allem die Frage, inwieweit der Staat auf positiv formulierte Ziele verpflichtet werden sollte und könnte.
Am Ende machte sich jedoch besonders bei denjenigen Enttäuschung breit, die auf eine Reform des Grundgesetzes und auf eine sichtbare Aufstockung des Verfassungsgebäudes gehofft hatten. Sie konnten sich mit den meisten ihrer Vorschläge nicht durchsetzen. Demgegenüber empfanden sich die Vertreter des technischen Verfassungsbegriffes als Sieger der Verfassungsdiskussion, weil sie das Grundgesetz vor allzu utopischen Forderungen bewahrt hätten. Sie hatten -„verfassungstaktisch“ betrachtet -aber auch die besseren Karten in der Hand: In der Befürwortung der bloßen technischen Ordnungsfunktion der Verfassung brauchten sie keinen Widerspruch zu erwarten, weil dies auch Bestandteil des weitergehenden verfassungspolitischen Konzepts der Gegenseite war. Ging es dagegen um die verfassungsrechtliche -und explizit verfassungstextliche -Anerkennung einer über diesen Minimalkonsens hinausgehenden Verfassungsfunktion, so hatten sie -zumindest in der GVK -die Möglichkeit des Vetos auch gegen die (einfache) Mehrheit der übrigen Verfassungsinterpreten. Sie waren damit in der angenehmen Situation, sich überzeugen zu lassen, anstatt ihr Gegenüber überzeugen zu müssen. Dies war wesentlich durch die Mehrheitsverhältnisse bestimmt und dadurch, daß die Verfassungsbegriffe eben keine gegensätzlichen, sondern nur unterschiedlich weitreichende waren: Egal, wie man die Begründungslast theoretisch verteilen wollte -faktisch lag sie, bedingt durch das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit, bei den Reformbefürwortern
Wenn die Reformbefürworter mit ihren Änderungsvorhaben gescheitert sind, zeigt dies daher nur, daß sich die reformgegnerischen Verfechter eines technischen Verfassungsbegriffs nicht haben überzeugen lassen oder unbeweglich geblieben sind. Der „Vorrat an Gemeinsamkeiten“ den das Grundgesetz bereithält und der auch die unterschiedlichen verfassungspolitischen Lager miteinander verbindet, ist damit aber noch nicht kleiner geworden.
Die Erfolgsmeldung „Das Grundgesetz funktionierte einfach weiter!“ ist daher kein Beweis für den „Sieg“ des einen oder die „Niederlage“ des anderen Verfassungsverständnisses. Denn natürlich bestritt niemand, daß das Grundgesetz weiterfunktionieren würde -und sogar gut weiterfunktionieren würde. Noch einmal: Niemand wollte die Funktionskraft der ersten beiden Etagen im Verfassungsgebäude aushebeln oder ersetzen. Das bloß technische Funktionieren reichte nur vielen nicht aus. Mehr noch: Schon das bestehende Grundgesetz hat aus diesem Blickwinkel „nicht nur juristisch funktioniert. Es ist vielmehr auch zu einem wichtigen Integrationsfaktor für die bundes-republikanische Gesellschaft geworden.“ Es ging also darum, dem Grundgesetz über seine bloße technische Funktionsfähigkeit hinaus die Erfüllung zusätzlicher Funktionen (weiterhin) zu ermöglichen. Am Ende zeigt sich damit, daß auch nach der deutschen Einheit und der sie begleitenden Verfassungsdebatte ein tragfähiger „Vorrat an Gemeinsamkeiten“ besteht. Allerdings hat gerade die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission deutlich gemacht, daß der dort gefundene gemeinsame verfassungspolitische Nenner doch erheblich kleiner ist als die Konzepte über dem verfassungspolitischen Bruchstrich. Insofern hat die GVK besonders auch die Grenzen des Verfassungskonsenses in Gesamtdeutschland aufgezeigt: Der „neue“ Verfassungskonsens, derjenige nach der Verfassungsreform, ist weitgehend der „alte“ geblieben. Er ist damit nicht weniger tragfähig als vorher, aber seine Grenzen sind deutlicher geworden. Um eine mögliche Ausweitung dieser Grenzen -nicht um ihr konsensuales Inneres -wird aber auch in Zukunft gestritten werden.